Der Mann, der vom Fahrrad fiel und im Paradies erwachte - Roger Pihl - E-Book

Der Mann, der vom Fahrrad fiel und im Paradies erwachte E-Book

Roger Pihl

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Beschreibung

Lassen Sie sich inspirieren – Griesgram Valdemar wird Ihr Leben verändern.

Valdemar liegt nach einem Fahrradunfall im Krankenhaus – und liebt es! Er hat fürsorgliche Menschen um sich, ständig gibt es etwas Leckeres zu essen, und er muss sich um rein gar nichts kümmern. Wenn er doch für immer bleiben könnte … Moment mal – das kann er ja! Valdemar fällt absichtlich auf seine frisch operierte Schulter, schmeißt die falschen Tabletten ein und verirrt sich versehentlich auf dem Weg zur nächsten OP. Als er auf seinen Streifzügen durch das Krankenhaus entdeckt, dass der Hausmeister ein Geheimnis hütet, ist sein kriminalistischer Spürsinn geweckt und er selbst auf dem Weg ins Krankenhaus-Paradies …

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Deutsch von Daniela Stilzebach

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Mannen som ikke ville hjem« bei Juritzen Forlag, Oslo.
This publication of this translation has been made possible through the financial support ofNORLA, Norwegian Literature Abroard.
Copyright der Originalausgabe © 2014 by Roger Pihl Published by arrangement with the Kontext Agency Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Redaktion: Henrike Degenhardt Covergestaltung: www.buerosued.de BL · Herstellung: sto Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN 978-3-641-17713-3V002
www.limes-verlag.de

Buch

Valdemar liegt nach einem Fahrradunfall im Krankenhaus – und liebt es! Er hat fürsorgliche Menschen um sich, ständig gibt es etwas Leckeres zu essen, und er muss sich um rein gar nichts kümmern. Wenn er doch für immer bleiben könnte … Moment mal – das kann er ja! Valdemar fällt absichtlich auf seine frisch operierte Schulter, schmeißt die falschen Tabletten ein und verirrt sich versehentlich auf dem Weg zur nächsten OP. Als er auf seinen Streifzügen durch das Krankenhaus entdeckt, dass der Hausmeister ein Geheimnis hütet, ist sein kriminalistischer Spürsinn geweckt und er selbst auf dem Weg ins Krankenhaus-Paradies …

Autor

Roger Pihl, geboren 1954, ist ein norwegischer Schriftsteller. Bevor er sich seiner literarischen Karriere widmete, gründete Pihl eine Werbeagentur, eine Softwarefirma und ein Marktforschungsinstitut. Zudem ist Pihl Redakteur der Norwegischen Nationalenzyklopädie und Experte im Bereich dänischer Geografie.

1

Valdemar Vågen, zweiundfünfzigeinhalb Jahre alt, radelte langsam zwischen Friedhof und Krankenhaus entlang. Er hatte ausreichend Zeit und plante, exakt so spät anzukommen, dass alle anderen wichtigen Menschen mit Selbstachtung bereits beim Kongress angekommen waren. Frisch und mit geröteten Wangen wollte er das Fahrrad mit einer Hand, der linken, nach oben heben und mit der rechten Hand Kunden, Konkurrenten, Presseleute und Lieferanten charmant mit einem herzlichen Handschlag begrüßen. Der Jahreskongress der Firma war das größte Gesprächsthema der Branche, und alles, was kriechen und laufen konnte, war zugegen, um Valdemar Vågens Vortrag zu hören. Das war der einzige Tag des Jahres, an dem das Unternehmen Global Village Neuigkeiten preisgab. Das war der einzige Tag des Jahres, den er auf keinen Fall verpassen wollte. Das war der wichtigste aller Tage.

Für einen Mittwoch gab es kaum Verkehr. Der Kirchhof duftete nach Ginster und Kornelkirsche. Er schaute über das Meer aus Grabsteinen, die alle den Vorschriften entsprachen, was die zulässige Höhe und Breite betraf. Der Staat hatte festgelegt, dass im Tod alle Menschen gleich sein sollten. Aber warum sollten sie das, wenn sie zu Lebzeiten nicht gleich waren? Er wollte den Blick gerade in Richtung Krankenhaus wenden, als ein Sonnenstrahl ein goldenes Kreuz traf und das Gold in seinem Augenwinkel reflektiert wurde. Er schaute unwillkürlich weg, und sein Blick fiel auf ein goldenes Jerusalemkreuz. Das Symbol der letzten Pilgerfahrt des Menschen, der ultimativen Reise.

Ein umherirrender Federball, dem die Verkehrsvorschriften offensichtlich unbekannt waren, brachte Valdemar Vågen dazu, auf die linke Seite hinüberzuradeln. Der Federball war eine weiße Taube, und als sie auf die linke Seite des Weges spazierte, lenkte Valdemar hinüber auf die rechte. Aber als sei er magnetisch, tat die Taube das Gleiche, und zum Schluss musste Valdemar beide Bremsen zum Einsatz bringen, um den Vogel nicht zu überfahren.

Die Taube gurrte und sah ihn an, als wolle sie etwas von ihm. Als würde sie etwas sagen, aber Valdemar Vågen sprach kein Gurrisch. Oder wie hieß sie, die Sprache der Tauben?

»Was?«, fragte Valdemar Vågen.

Die Taube legte den Kopf schief, erst auf die eine Seite, dann auf die andere. Valdemar Vågen kopierte die Bewegung, fühlte sich aber wie ein Trottel, als er versuchte, die Taube zum Sprechen zu bewegen.

»Was?«, wiederholte Valdemar Vågen, ohne aber eine andere Reaktion zu erreichen, als dass die Taube auf den untersten Ast des nächstgelegenen Baumes flog, sich hinsetzte und ihm schweigend direkt in die Augen starrte. Er starrte zurück. Ein fremdes, unangenehmes Gefühl ergriff von ihm Besitz. Er fühlte sich verletzbar.

Er? Er, der nie krank gewesen war? Oder um genauer zu sein, er, der nie bei der Arbeit gefehlt hatte, ganz einfach weil er unentbehrlich war? War nicht Valdemar Vågen, der große Maschinist, immer vor Ort und sorgte dafür, dass die Räder geölt wurden und liefen, wie sie sollten? Ohne ihn würde die Firma zweifellos stillstehen. Er hatte seine Finger im Spiel, egal um was es ging. Daher konnte er nicht krank sein, nicht einen einzigen Tag. Egal was geschah, er war gezwungen, zur Arbeit zu kommen, auch wenn er zeitweise Schmerzstiller wie Süßigkeiten verspeiste. Die Beipackzettel waren eine Formalität, die zu lesen er längst aufgegeben hatte – waren die Nebenwirkungen auch noch so umfangreich und gravierend, dass sie jeden anderen als Valdemar in die Knie gezwungen hätten. Er konnte Fieber haben, blieb aus diesem Grund aber selbstverständlich nicht zu Hause. Sollte er es zu etwas bringen, musste er seinen Mann stehen und brutal gegenüber sich selbst sein. Und sollte es die Firma zu etwas bringen, musste Valdemar Vågen vorangehen und zeigen, wie es gemacht werden musste.

Einige Angestellte arbeiteten nur, um einen Ort zu haben, an dem sie zu Mittag essen konnten. Davon war Valdemar Vågen überzeugt. Durch eine Unachtsamkeit hatte er einen Drückeberger mit nahezu unbegrenztem Zugang zu Krankschreibungen eingestellt. Die Krankenscheine waren natürlich in Ordnung und immer in der nötigen Anzahl abgeliefert worden, sauber abgestempelt und unterschrieben. Dies war wahrscheinlich einem guten Freund mit medizinischer Ausbildung und Arztpraxis zu verdanken. Was bildete sich dieser Typ verdammt nochmal ein? Jeder konnte mal erschöpft oder ein bisschen erkältet sein, aber man schied aus diesem Grund nicht dahin oder ließ sich einfach krankschreiben. Wo waren die Ambitionen? Der Wunsch, einen guten Job zu machen? Der Wille, Opfer zu bringen, um die Karriereleiter nach oben zu klettern? Valdemar Vågen musste die Weichen für die Laufbahn des Betreffenden nur in Richtung Abstellgleis stellen, und nach ein paar Jahren im Abseits kündigte der Blaumacher und ging zurück in den öffentlichen Dienst, wo er die Verantwortung für eingeschobene, relative Nebensätze in öffentlichen Erklärungen bekam. Valdemar Vågen ließ sich den Fall eine Warnung sein. Stelle niemals jemanden ein, der sich im öffentlichen Dienst wohlfühlt, denn es gibt auch einen Grund, warum sich der Betreffende dort wohlfühlt. Kühe sind schließlich nie wilde Tiere gewesen und werden es niemals sein. Nach dem Mittagessen hatte dieser Schwächling selten etwas zustande gebracht. Sein Blut war ins Verdauungssystem gesickert, um sich der Kalorienbomben anzunehmen, die er zu sich genommen hatte, und er wurde träge und schläfrig. Den Rest des Tages hatte er sich auf schweren, lebensmüden Füßen umhergeschleppt und auf den Feierabend gewartet. Aus Gründen, die für Valdemar Vågen ein Rätsel bleiben sollten, war er zu seinem 40. Geburtstag eingeladen worden. Abgesehen von Valdemar Vågen hatte die Gesellschaft aus kommunalen und staatlichen Bürokraten bestanden, die alle Jacken mit Lederaufnähern an den Ellenbogen trugen. Möglicherweise war es eine Zierde, den Arbeitgeber vor Ort zu haben. Valdemar hatte eine Rede gehalten, in der er alle negativen Seiten des Schwächlings durchgenommen hatte, eine Mischung aus Fakten und Fiktion. Er hatte von den üppigen Mittagessen gesprochen, seinem ständig steigenden Körpermasseindex, fehlendem Glück bei den Frauen und lästiger Transpiration. Er hatte von seinem fehlenden Sinn für Finanzen und kreativen Gründen berichtet, um noch einen Lohnvorschuss zu bekommen. Valdemar Vågen hatte nichts unausgesprochen gelassen. Valdemar Vågen war gemein, an der Grenze zum Böswilligen gewesen. Valdemar Vågen war gemeiner gewesen, als er sich vorgestellt hatte, dass er es sein konnte. Die Rede wurde ein donnernder Erfolg. Die Festteilnehmer lachten und klopften sich auf die Schenkel, denn diese Idee gefiel ihnen. Alle fanden Valdemar Vågen amüsant. Er war nicht nur amüsant, sondern sogar das Amüsanteste des ganzen Abends. Einige Gäste kullerten sogar laut lachend über den Boden, um zu zeigen, wie amüsant sie die Rede fanden. Besonders als Valdemar deklamierte, dass es eigentlich er sei, der ein Geschenk dafür verdiente, es mit dem Jubilar auszuhalten. Aber Valdemar Vågen war eigentlich nicht amüsant. Valdemar Vågen machte nicht einmal irgendeinen Versuch, amüsant zu sein. Valdemar meinte es ernst. Jedes einzelne Wort. Manche verstehen keinen Spaß. Andere verstehen keinen Ernst.

Ebenso jäh, wie ihn die Taube gestoppt hatte, flog sie von dem Ast hinauf zum Krankenhaus und landete bei einem Dachfenster in einem alten, offenbar stillgelegten Flügel. Unzweckmäßig hohe Etagen, alte Fenster, lose Backsteine und bröckelnder Putz zeugten davon, dass neue Zeiten anbrechen mussten. Er umklammerte den Fahrradlenker und wollte weiterradeln, als er einen letzten Blick auf die Taube warf und meinte, hinter dem Dachfenster eine Bewegung gesehen zu haben. Komisch, dachte er, gelangte aber zu der Überzeugung, es müsse die Taube sein, die sich im Glas spiegelte.

Valdemar Vågen versuchte vergeblich, das Gefühl der Verletzbarkeit abzuschütteln, setzte sich auf das Fahrrad und strampelte weiter.

2

Valdemar war tief enttäuscht, dass sein Leben nicht vor seinen Augen Revue passierte. Er hatte gehört, dies wäre der Fall, wenn er einer lebensgefährlichen Situation ausgesetzt sei, aber so war es ganz einfach nicht. Er hatte keine Ahnung, wie das Missverständnis entstanden war, aber so wurde es in einer Flut von Büchern dargestellt, selbst von angesehenen und berühmten Autoren. Was versuchten sie eigentlich ihren Lesern einzureden? Dass sie ein gefährlicheres Leben führten, als sie es tatsächlich taten? Dass sie sich das Geschehen so vorstellten, während sie ihr sicheres und höchst ungefährliches Dasein an der Tastatur mit einem Glas Jahrgangsrotwein aus dem Rheingau fristeten?

Eines war sicher: Das Leben spielte sich nicht noch einmal vor Valdemars innerem Auge ab, als er einer lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt war. Auch wenn er lange genug gelebt und ausreichend erlebt hatte, um zumindest eine Kabarettnummer serviert zu bekommen. Nicht einmal als er sich an einem frisch geschliffenen Küchenmesser geschnitten hatte und das Blut in reißenden Strömen geflossen war, hatte er einen flüchtigen Schimmer von Kindheitserinnerungen gesehen. Auch als er den Wasserkessel trocken gekocht, die Wohnung in Brand gesetzt und es gerade so geschafft hatte, sich durch das Toilettenfenster nach draußen zu retten, bevor das Feuer auf das Reihenhaus übergriff, hatte das Kinounternehmen keinen Film für ihn abgespielt. Und als eine Tonne mit Eiszapfen nur wenige Zentimeter hinter ihm auf einen Gehweg im Zentrum gekracht war, hatte er nicht einmal einen winzig kleinen Sketch zu sehen bekommen. Nicht eine einzige Episode ließ sich aufspüren, als diese Unglücke eintrafen. Valdemar Vågen hatte genug lebensbedrohliche Situationen erlebt, dass er mit empirischen Belegen jedwede Behauptung von Revue-Aufführungen zurückweisen konnte.

Ganz im Gegenteil: Die Welt gefror zu Eis, als aus dem Nichts ein elektrischer Reiskocher auftauchte und direkt in sein Fahrrad krachte. Radweg oder nicht, der Autofahrer hatte keinerlei Grund dafür gefunden, sich an derartigen Details festzuhalten. Er wollte vorwärtskommen, so schnell wie möglich. Die Zeit blieb stehen, und das Bild fror ein, ungefähr so, wie es einzelne Computerprogramme in dem Augenblick taten, bevor er es geschafft hatte, wichtige Änderungen zu speichern. Bevor es krachte, gelang es Valdemar, enttäuscht zu sein, von einem weißen Elektroauto überfahren zu werden. Aber er schaffte es nicht einmal zu denken: »Verdammt nochmal, von einem beschissenen weißen, fünftürigen, elektrischen Reiskocher totgefahren zu werden, dem langweiligsten und geschlechtslosesten aller Transportmittel der Erdkugel. Warum muss ich eine unförmige Metallbox mit Gummimotor ins Gesicht bekommen und nicht ein ordentliches Auto?« So viel, wie er in den letzten zwölfeinhalb Jahren gearbeitet hatte, und so viele Steuern, wie er gezahlt hatte, sollte ihm zumindest die Ehre erwiesen werden, von einem in Deutschland produzierten Premiumwagen überfahren zu werden. Gern von einem Cabrio. Die Welt ist nicht gerecht. Valdemar schaffte es nicht, Derartiges zu denken.

In der japanischen Frontscheibe konnte Valdemar undeutlich das verdrehte graue Gesicht eines etwa dreißigjährigen Mannes mit weit aufgerissenen Augen und einem lautlos schreienden, weit geöffneten Mund erkennen. Er war frisch geduscht, und die Haare waren noch immer nass. Er hatte einen Hauch zu viel Rasierwasser verwendet, was ein paar griechischen Ahnen geschuldet war. Er hatte den Ansatz zu Geheimratsecken und würde innerhalb von zehn Jahren komplett kahlköpfig sein. Er hatte den Tag mit einem Frühstück in Gesellschaft seiner schwangeren Frau und seiner fünfjährigen Tochter begonnen. Die Schwangerschaft der Frau würde noch ungefähr zwei Monate andauern, sodass der Babybauch mehr als deutlich zu sehen war. Ihre Brüste waren größer, die Brustwarzen dunkler geworden, und die Drüsen bereiteten sich auf die kommende Milchproduktion vor. Die Stimmung am Frühstückstisch war unbekümmert und gut gewesen. Die Tochter hatte nicht versucht, sich mittels Schreien Cornflakes zu erbetteln, sondern mit gutem Appetit die mit Kaviar und braunem Ziegenkäse belegten Brote gegessen. Im Kindergarten war das Mädchen voller Freude angekommen, hatte den Vater umarmt, bevor es vergnügt zu den anderen Kindern gelaufen war. Sie hatte die Legosteine hervorgeholt, um einen Leuchtturm zu bauen, und sie hatte erzählt, dass sie als Erwachsene in einem Leuchtturm wohnen wollte. Das weiße Elektroauto hatte er erst vor ein paar Tagen im Autohaus abgeholt, finanziert mit einem Autokredit mit einer auf zehn Jahre angelegten Abzahlungsfrist. Zwar war der effektive Zins einige Prozente zu hoch, aber die Hypothek für das Haus war schon auf das Äußerste ausgereizt, und so war er den Haien der Kreditgesellschaften ausgeliefert. Der Autofahrer fühlte sich trotzdem einfach erfolgreich. Die Welt lächelte ihn an und lag ihm zu Füßen. Das war noch vor kaum mehr als fünf Minuten gewesen, und jetzt brach seine ganze Welt zusammen wie ein Kartenhaus bei Windstärke zehn. Der Autofahrer sah ein, dass er im nächsten Augenblick zum Mörder werden würde. Ein Automörder der schlimmsten Sorte. Dass er die Jahre bis zum Rentenalter hinter Schloss und Riegel verbringen würde, mit vereinzelten Ausgängen dann und wann. Verurteilt wegen fahrlässiger Tötung. Dass die Kinder mit einem Gefängnisinsassen als Vater aufwachsen müssten. Dass sie Spitznamen bekommen würden, die sie ein Leben lang verfolgen würden. Dass er ein Mann in gestreifter Gefängniskleidung werden würde. Mit Kette und Kugel um das Fußgelenk. Dass er von jetzt an jede Nacht mit der Gewissheit einschlafen würde, dass er, wenn er schweißgebadet aufwachte, die Leiche des Radfahrers vor sich sehen würde – nämlich Valdemars Leiche. Die Oberschenkelknochen, die aus seinem Körper herausstachen. Das Blut, das herausfloss und sich in kleinen glänzenden Lachen sammelte und langsam in der Morgensonne geronn. Die Glasscherben, die wie winzig kleine, leuchtende Schneekristalle verstreut umherlagen. Die weinende, zusammengebrochene Ehefrau, die allein die Verantwortung für die Erziehung der Kinder übernehmen müsste. Die Beerdigung des Radfahrers in kaltem Regenwetter. Die Karriere, die endlich Fahrt aufgenommen hatte, würde ausradiert, bevor die Glasscherben der Frontscheibe auf den Radweg splitterten. Bevor es den Airbags gelang, sich aufzublasen, würde er arbeitslos sein. Die Nachbarn würden mit den Fingern auf sein Haus zeigen und sagen: »Seht nur, dort wohnt er, der verfluchte Mörder. Er hat einen nichts ahnenden, unschuldigen Radfahrer totgefahren. Ihn einfach auf dem Radweg niedergemäht. Ohne jede Chance. Es stand in der Zeitung. Mit Fotos und so. Verdammter Automörder. Man kann nur hoffen, dass er nie wieder rauskommt und dort im Gefängnis verfault.« Und als wäre das nicht genug, würde er nicht anhalten können, um das Los zu kaufen. Genau das Los, das genau in dieser Woche mit einem unverschämt hohen Berg norwegischer Kronen aus der Lostrommel gezogen werden sollte und die Familie schuldenfrei gemacht hätte. Exakt dieses Los sollte stattdessen von einer Dame gekauft werden, die einen Englischen Cockerspaniel, der zeitweise auf den Namen »Athos« hörte, Gassi führte.

Valdemar begriff innerhalb einer Zehntelsekunde, dass er nicht rechtzeitig würde anhalten können, und bereitete sich darauf vor, sein Leben in der Rückschau zu sehen. So kam es nicht. Er sah lediglich diese kleine blasse, unscharfe Momentaufnahme eines zu Tode erschrockenen Autofahrers. Er schaffte gerade noch zu denken: »Nicht auch noch ich.« Dann krachte es irgendwie geräuschlos, das Auto verschwand, und alles wurde wundersam dunkel.

3

Valdemar Vågen hatte Radfahren eigentlich nie gemocht, aber so wie sich die Wirtschaft entwickelte, hatte er keine Wahl. Jeder, der in seiner Branche etwas auf sich hielt, radelte den Großen Ritt, und selbst wenn sie einander halb im Spaß fragten, ob sie teilnahmen, war es blutiger Ernst. Natürlich würden sie radeln. Sie wollten nicht nur radeln, sondern mussten auch das Diplom erlangen. In der Wirtschaft gab es zwei Typen von Führungskräften. Jene, die das Diplom schafften, und jene, die das Diplom nicht schafften. Valdemar Vågen selbst fuhr nicht ein einziges Rennen, denn es war ein Leichtes, jemanden dazu zu bringen, es unter seinem Namen für ihn zu fahren. Alles konnte man kaufen, auch das Diplom und einen vollständigen Bericht über den Verlauf des Rennens. Er nutzte für diese Aufgabe eine kleine selbstständige Firma, die gern ungewöhnliche Aushilfsjobs annahm. Die Firma war absolut diskret. Die Rechnungen waren fetter als jedes Weihnachtswürstchen, aber der Laden war jede Krone wert. Valdemar Vågen gelang es, mit großem Einfühlungsvermögen von dem Rennen zu erzählen. Besonders malerisch waren die Beschreibungen der Touren im Regen. Über den Matsch im Gesicht, wie sich er und andere mit ihm durch die Schmutzbäder infizierten, wie sie in den Tagen danach nicht von der Toilette kamen, wie die Fahrradkette schwerer und schwerer zu bewegen war, von den wund geriebenen Stellen durch den verfluchten Rucksack, und davon, dass er das Diplom aber doch in verhältnismäßig guter Zeit geschafft hatte. Gegenüber wichtigen Kunden war es strategisch geschickt, ein bisschen langsamer als sie gefahren zu sein. So fühlten sie sich überlegen.

Freilich musste er sich ein Fahrrad kaufen, um ein paar Runden damit zu drehen, um zu wissen, wovon die anderen redeten, aber den gut neunzig Kilometer langen Wahnsinn überließ er den anderen. Ob XT auf den Teilen stehen solle, hatten sie im Geschäft gefragt, und Valdemar Vågen hatte intuitiv verstanden, dass die richtige Antwort auf diese Frage Ja lautete. Das Zahnrad kostete zweitausend Kronen, das Kettenblatt das Dreifache, die Gabel sechstausend, die Felgen elftausend Kronen das Stück, und einen passenden Rahmen bekam er für fünfundfünfzigtausend. Er entschied sich konsequent für das Teuerste, denn in bester norwegischer Tradition sollte es auf keinen Fall an der Ausrüstung fehlen. Auf die Klingel hatte er zwar verzichtet, aber die hätte ihm auch nicht geholfen.

4

Nach dem Autounfall vor zwölfeinhalb Jahren hatte Valdemar eigentlich aufgehört zu leben. Er hatte gewartet, dass seine Frau mit den Töchtern nach Hause kam, aber nachdem der Nachmittag in den Abend übergegangen und es ihm nicht gelungen war, sie über das Handy zu erreichen, hatte er Unheil geahnt. Sie hatte immer Bescheid gegeben, wenn irgendetwas dazwischenkam, denn sie war selbst ein ängstlicher Mensch, der informiert werden wollte.

In seiner Familie war es üblich, von offenen Gewässern zu träumen, wenn jemand sterben sollte, und sowohl seine Mutter als auch seine Großmutter hatten diese sinnlose Fähigkeit besessen. Oder um was es sich dabei auch handelte. Er selbst hatte es meist als altmodischen Aberglauben abgetan, denn keine von ihnen hatte vor Eintreten des Todesfalls von dem Traum erzählt. Valdemar hielt es daher für etwas in der Art von »Hinterher ist man immer klüger«. Dennoch hatte er nicht widersprochen, als sie erklärten, vorab von dem Todesfall gewusst zu haben. Aber in den Wochen vor dem Unfall hatte er den Traum selbst gehabt. Sogar als er sich ein Mittagsschläfchen gegönnt hatte, war der Traum aufgetaucht. Ihm war, als würde er über einem leicht schwankenden Gewässer schweben, langsam über kleine Wellen gleiten und in die dunkle Tiefe blicken. Das Sonnenlicht schien nur milchig durch die Nebelwolken hindurch. Er hatte versucht, die Träume zu verdrängen, aber er war trotzdem erschrocken gewesen. Wenn er träumte, dass jemand sterben sollte, auf wen bezog es sich dann? Und je mehr er sich mit den Träumen beschäftigte, desto wirklicher wurden sie. Nachdem die Tage ohne Todesfall vergingen, wurde er immer sicherer, dass die Träume genau das waren: Träume, ein Produkt seiner Fantasie. Jeden Morgen hatte er versucht, sie von sich zu schieben, und darüber geschwiegen. Was hätte er darüber auch Vernünftiges sagen sollen? Seine Frau hätte seine Träume sicher als eine Art Hypochondrie abgetan, so bodenständig, wie sie immer gewesen war. Valdemar hatte sich entschieden, die Träume zu ignorieren und so zu tun, als hätten sie ihn nie heimgesucht. Bis zu diesem Abend, an dem er allein in dem großen Haus gesessen und gewartet hatte. In stummer Dunkelheit hatte er versucht, eine Erklärung zu finden. Das Auto könnte einen Platten haben. Es musste nichts Ernstes sein. Es konnte eine ganz natürliche Erklärung dafür geben, warum seine Familie nicht zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause kam. Es spielte keine Rolle, dass das Abendessen kalt geworden war. Es spielte keine Rolle, dass die Kinder viel zu spät ins Bett kommen würden. Hauptsache, sie kämen nach Hause. Das Auto könnte einen Platten haben, hatte er wiederholt. Das Benzin könnte auch ausgegangen sein. Ja durchaus, es konnte auch noch andere Erklärungen geben. Es war ihm nur keine eingefallen. Die Dunkelheit draußen hatte das Haus erfüllt, und er hatte kaum seine Hand vor Augen sehen können. Es spielte keine Rolle, er würde am Küchentisch sitzend warten, mit dem Handy vor sich. Jeden Augenblick hatte er erwartet, dass es klingeln würde, dass das grüne Display aufleuchten und den Namen seiner Frau anzeigen würde. Die Dunkelheit hatte sich enger um ihn gelegt, wie eine dicke Decke. Die Dunkelheit hatte ihn vor allem Bösen beschützen wollen, und solange er von ihr umgeben war, war er sicher gewesen. Die Dunkelheit war aus allen Ecken hervorgekrochen und hatte ihn getröstet. Ruhig, hatte die Dunkelheit gesagt, es muss nichts Ernstes sein. Solange er die Dunkelheit hatte, würde er nie allein sein. Plötzlich war ein schmaler Lichtstreifen auf den Küchentisch gefallen. Er war zusammengezuckt, hatte aus dem Fenster geschaut und den Mond erblickt. Eine karge Sichel zeugte von der abnehmenden Mondphase. Morgen würde er verschwunden sein. Valdemar lief es kalt den Rücken hinunter. Ohne sich darüber im Klaren zu sein, hatte er aufgehört zu hoffen und sich auf den zermalmenden Schlag vorbereitet. Alles, was er tun konnte, war in der Dunkelheit sitzen und warten. Draußen im Flur hatte er die alte Standuhr langsam ticken hören. Das Pendel war von Seite zu Seite geschwungen und hatte jedes Mal, wenn es den niedrigsten Punkt des Bogens erreicht hatte, ein metallisches Klacken von sich gegeben. Die Zeit vergeht nicht, hatte Valdemar gedacht, die Zeit läuft ab.

Er hatte nicht gewusst, auf was er warten sollte, hatte es aber in dem Augenblick verstanden, als es an der Tür klopfte. Es war ein vorsichtiges, höfliches und leicht nervöses Klopfen von einem Menschen, der nicht klingeln wollte, gewesen. Valdemar hatte sich langsam zur Tür geschleppt. Er hatte die Türklinke nach unten gedrückt und gleichzeitig den Schlüssel im Schloss herumgedreht. Im Schein der Straßenlaterne hatte ein Mann gestanden, den er nicht kannte. Ein dicker, recht kleiner und ausgesprochen ruhig wirkender Mann. Er war in Schwarz gekleidet, und an seinem Kragen steckte ein kleines weißes Viereck. »Valdemar Vågen?«, hatte er die Gestalt fragen hören, und Valdemar hatte schwach genickt. »Kann ich für einen Moment hereinkommen?«, hatte er weitergefragt, und Valdemar hatte ihn über die Türschwelle treten lassen. Der Mann hatte sich vorgestellt. Sie waren hinein zum Küchentisch gegangen, doch Valdemar war es nicht in den Sinn gekommen, das Licht einzuschalten. Er fand den Weg in die Küche blind. Vier Schritte geradeaus, drei nach links, zwei nach rechts und wieder drei nach rechts. Er hatte am Tischende gestanden. Der Pfarrer war dem Klang der schweren Schritte gefolgt und hatte sich an die entgegengesetzte Seite des Tisches gesetzt.

Jetzt kam es.

»Ich befürchte, ich habe schlechte Nachrichten«, hatte der Pfarrer gesagt.

»Ich weiß«, hatte Valdemar geantwortet. Die Worte hatten sich wie dicker Brei aus seinem Gaumen gepresst. Der Pfarrer war still geworden, hatte versucht zu entscheiden, wie er anfangen sollte. Selbst einem Pfarrer, mit all seiner Ausbildung und Erfahrung, können die Worte fehlen, wenn er erklären soll, dass eine Mutter und ihre zwei Töchter bei einem Verkehrsunfall getötet wurden. Wie sollte er auf behutsame Weise von dem osteuropäischen Laster erzählen, der auf der glatten Fahrbahn in hohem Tempo auf die andere Seite gefahren war und den entgegenkommenden PKW zermalmt hatte? Wie sollte er erzählen, dass die Insassen keine Chance hatten und auf der Stelle tot waren? Wie sollte er erklären, dass die Körper, die dieser Mann so oft umarmt hatte, deren Wärme und Duft er gespürt hatte, jetzt bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren?

»Manchmal gibt mir der Herr schwere Aufgaben auf«, hatte er gesagt. »Und andere Male legt Er mir noch schwerere Bürden auf. Es sind Stunden wie diese, in denen ich im Glauben wanke. Ich möchte versuchen, es mit den Worten Jesu auszudrücken: Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?«

Er hatte das seinetwegen gesagt, nicht wegen Valdemar. Denn die Sinnlosigkeit stellte ihn unbarmherzig auf die Probe. Der Pfarrer hatte so schonend er konnte von dem Unfall berichtet. Dabei hatte er alle möglichen Details ausgelassen und so getan, als kenne er sie nicht. Hatte erklärt, dass er selbst nicht am Unglücksort gewesen war, sondern nur mit der Polizei und dem Arzt gesprochen hatte. Valdemar war auf dem Stuhl zusammengesunken und wie ein verwahrloster, alter Mann sitzen geblieben. Seine Haare würden vor Anbruch des nächsten Morgens grau sein. Sein Leben würde zu Ende sein. Alles, wofür er gelebt hatte, alles, was er geliebt hatte, war verschwunden. Von der Zeit ausradiert. Er hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt, die Tränen hatten zwei kleine Lachen auf der abgenutzten Oberfläche gebildet. Die dünne Mondsichel hatte sich darin gespiegelt, aber der Pfarrer hatte noch eine Botschaft vorzubringen gehabt.

»Es muss nicht vollkommen vergebens gewesen sein«, hatte er gesagt. »Sie können das Leben anderer retten.«

Auch das hatte er so schonend erklärt, wie er konnte. Es war unmöglich, über die einzelnen Organe zu sprechen. Das wäre zu brutal gewesen. Der Pfarrer hatte erklärt, dass das Krankenhaus transplantieren und damit anderen Menschen das Leben schenken könne.

Valdemar hatte stumm genickt, sein Kopf ruhte noch immer auf der Tischplatte. Das Stirnbein hatte ein knirschendes Geräusch von sich gegeben.

»Der Herr segne Sie«, hatte der Pfarrer gesagt und ihm die Hand auf die Schulter gelegt.

Valdemar war die ganze Nacht über am Tisch sitzen geblieben, so lange bis sich die ersten Sonnenstrahlen durch die Kronen der Kiefern vor dem Küchenfenster drängten und ihn scharf blendeten. Er war vorsichtig aufgestanden. Wie ein Greis hatte er sich abstützen müssen, um nicht umzufallen. Steif, schwindlig und für einen Moment desorientiert. Dann holte ihn die Wirklichkeit wieder ein. Das Haus war still. Die Standuhr war stehen geblieben, es war ihm am Abend zuvor nicht in den Sinn gekommen, sie aufzuziehen. Der gewohnte Morgenlärm von Mädchen, die sich um das Badezimmer stritten, Rufe und Schreie nach Dingen, die nicht auffindbar waren, sowie der Geruch von Schulbroten fehlten komplett. Er hatte das Blut am Trommelfell vorbeirauschen hören, die Bewegungen in den Nackenwirbeln hören können. Er hatte nicht geträumt. Er war jetzt ganz allein. Das hieß, nicht ganz. Auf dem Sofa im Wohnzimmer hatte der Pfarrer geschlafen, den Mantel über sich gebreitet. Es hatte ungemütlich ausgesehen, also hatte Valdemar eine Decke über ihn gelegt, bevor er sich wieder an den Küchentisch setzte. Er hatte auf die Kühlschranktür gestarrt, auf die kleinen Bilder, die seine Mädchen gemalt hatten. Eines davon zeigte die Frau und die Töchter in einem Auto, während er vor dem Haus stand. In einer Sprechblase sagte er: »Fahr langsam.« Sie fuhr immer langsam und vorsichtig, aber was hatte das geholfen? Wäre sie ein bisschen schneller gefahren, nur ein bisschen unvorsichtiger, dann wären sie vielleicht nicht genau dort gewesen, nicht genau da. Als der Laster kam. Wären sie nur ein paar Sekunden früher losgefahren. Eine andere Zeichnung zeigte ein paar gelbe Blumen, dazu hatte die Jüngste geschrieben: »Ich umarme dich, wenn ich nach Hause komme.«

Valdemar war wieder zusammengesunken. Er war nicht imstande gewesen, an das zu denken, was vor ihm lag. Er hatte gehört, der Mensch hätte ungeahnte Kräfte, wenn es darauf ankam, aber das stimmte nicht. Ganz im Gegenteil, er war vollkommen leer gewesen, wie ein ausgewrungener Lappen. Wie sollte er es schaffen weiterzumachen? Welchen Weg sollte er einschlagen?

Im Wohnzimmer war der Pfarrer aufgewacht, hatte gestöhnt und sich seitlich vom Sofa heruntergerollt, war auf die Beine gekommen und hatte sich den Schlaf aus den Augen gerieben. Dann hatte er nach der Armlehne gegriffen, sich hochgedrückt und war zu Valdemar in die Küche gewankt. Er hatte nach Valdemars Händen gegriffen und gefragt, wie es ihm gehe. Ohne auf eine Antwort zu warten, war er fortgefahren.

»Ich habe heute Nacht mit dem Krankenhaus gesprochen. Sie sind dankbar.« Er hatte entschieden, sich selbst zu korrigieren: »Sie sind sehr dankbar.«

Valdemar hatte mit einem leeren Nicken geantwortet. So oder so, es spielte sowieso keine Rolle.

»Haben Sie jemanden aus der Familie, der kommen kann? Der Ihnen helfen kann?«, hatte der Priester gefragt. Sollte er vielleicht jemanden informieren? Jemanden, der helfen konnte, auf die eine oder andere Weise?

»Nein«, hatte Valdemar geantwortet, »ich bin der einzige noch Lebende.«

Und dann war die Welt vor ihm verschwunden, nicht plötzlich, sie wurde langsam ausradiert. Mit Wasser zu einem unsichtbaren Aquarell verdünnt.

Er hätte eine großartige Beerdigung arrangieren können. Allein von der Arbeit der Frau wären mindestens hundert Trauergäste gekommen und von der Schule der Kinder ein Vielfaches davon. Die Kirche wäre mit Menschen und Blumen, Lichtern und Kränzen gefüllt worden. Musik wäre aus den Orgelpfeifen geströmt und hätte nicht ein trockenes Auge hinterlassen. Viele hätten gute Worte der Erinnerung gesagt, ohne dass jemand von ihnen die Wirklichkeit verändern oder die Zeit hätte zurückspulen können. Valdemar konnte weder die Aufmerksamkeit noch die Umsicht ertragen und hatte entschieden, das Begräbnis in Stille abzuhalten, nur mit ihm, drei weißen Särgen, einem Pfarrer und einem Organisten. Mit einem großen Sarg und zwei kleineren. Der Pfarrer war der gleiche gewesen, der die Botschaft überbracht hatte, aber Valdemar hatte keine Ahnung, was er sagte. Er brauchte niemanden, der die Trauer in Worte fasste, sie hatte sich so schon heftig genug angefühlt. Nichts, was jemand sagen oder tun könnte, würde die Mädchen zurückbringen. Der Organist hatte die gleiche Kantate dreimal gespielt, einmal für jedes der Mädchen. Johann Sebastian Bach, die gleiche Kantate, die gespielt wurde, als sie geheiratet hatten, in der gleichen Kirche, fünfzehn Jahre zuvor. »Ich stehe mit einem Fuß im Grabe.« Damals war es lustig gewesen, weil lediglich das Brautpaar wusste, wie das Stück hieß, das sie auf ihrem Weg aus der Kirche hinausbegleitete, während es die Gäste schön gefunden und für eine willkommene Abwechslung zu Mendelssohns Hochzeitsmarsch gehalten hatten. Damals war es wahr gewesen. Er hatte mit einem Bein im Grabe gestanden. Valdemar hatte vor den Särgen gekniet, auf jeden von ihnen eine rote Rose gelegt, Abschied genommen und beschlossen, sich zu ertränken.

Und zwar in Arbeit, dem Einzigen, was er noch hatte.

5

Der Kongress war der Beweis für den Erfolg der Firma. Am ersten September jeden Jahres, egal auf welchen Tag das Datum fallen mochte, lud Global Village Kunden, Lieferanten, Konkurrenten und Journalisten zur Präsentation der neuen Softwarefunktionen ein. Der Kongress war Valdemar Vågens einziger Auftritt vor den Medien, und die Spekulationen nahmen immer größere Dimensionen an, je näher das Datum des Kongresses rückte. Die Spekulationen verschafften der Firma eine Medienpräsenz ungeahnten und unbezahlbaren Ausmaßes. Es war ein Geniestreich gewesen, auch die Konkurrenten einzuladen, denn die wurden von der beachtlichen Lobeshymne, die Global Village zuteilwurde, vollkommen außer Gefecht gesetzt. Nach der Show taumelten die Konkurrenten in der Regel zutiefst deprimiert nach draußen und brauchten mehrere Wochen, um sich wieder zu erholen. Sie wussten insofern, was sie tun mussten, da Valdemar Vågen den Kurs für sie abgesteckt hatte. Das Problem bestand darin, dass sie hoffnungslos ins Hintertreffen geraten waren und nur ein Jahr hatten, um den Vorsprung aufzuholen, bevor Vågen erneut auf der Bühne stand.

Das Bühnenbild war in höchstem Maße spartanisch: Valdemar Vågen hatte einen kleinen Tisch mit einem Glas Wasser darauf. Das war alles. Für gewöhnlich trug er einen untadeligen italienischen Seidenanzug, aber an diesem einen Tag trat er mit weißem T-Shirt, Jeans und Turnschuhen auf. Die größte Leinwand der Stadt bildete den Hintergrund, auf dem eine genau einstudierte Präsentation parallel zur Verkündung der Neuigkeiten durch Valdemar Vågen abgespielt wurde, und immer wartete er ganz bis zum Schluss mit dem, das zu hören alle gekommen waren; ein Ass im Ärmel, eine Funktion, an die keiner gedacht oder die keiner für möglich gehalten hatte. Und natürlich die Ankündigung: »Nun, eine Sache noch.«

Der Saal war voll mit IT-Bloggern, die sofort berichteten, und Journalisten, die die Präsentation an eine Flut von Lesern und Zuschauern weitergaben. In vielen Ländern saßen Händler und Verbraucher wie festgenagelt vor den Bildschirmen und folgten jedem einzelnen Wort. Der Kongress war unvergleichlich und die größte virale Begebenheit der Branche. So gesehen war es verdammt unerfreulich, dass Valdemar Vågen exakt an diesem Tag angefahren wurde und nicht an einem der anderen dreihundertvierundsechzig Tage des Jahres, die der Fahrer des weißen Elektroautos hätte wählen können.

6

Das neue Jobangebot hätte Valdemar Vågen nicht besser passen können. Er hatte beschlossen, sich in Arbeit zu ertränken, und nach einer besseren Gelegenheit hätte er lange suchen müssen. Die Stelle war eine Herausforderung: Vier Informatiker hatten eine Idee für ein geniales Produkt, aber sie hatten keine Ahnung, wie sie diese umsetzen sollten. Valdemar Vågen wurde der fünfte Gründer und bekam die Verantwortung für alles, ausgenommen der Entwicklung der Software. Die Achtzig-Zwanzig-Regel galt vom ersten Tag an, er bekam zwanzig Prozent der Aktien und machte achtzig Prozent der Arbeit. Mit Freude vergrub er sich in die Arbeit, tiefer und tiefer. Dort unten war er auf eine merkwürdige Weise glücklich, dort konnte er die Schmerzen vergessen, und niemand sollte ihn wieder nach oben ans Licht zerren. Er würde sein eigenes Loch graben, bis zum Boden. Egal, wie tief es auch werden musste. Er zeigte außergewöhnliches Interesse und Eifer. Das Loch, in dem er saß, wurde umso schmaler, je tiefer er kam, aber je tiefer und dunkler das Loch wurde, desto interessanter wurde es für ihn. Manchmal, wenn er nachts arbeitete, geschah es, dass er nach oben zu den Sternen schaute, die sich langsam um die Erdachse bewegten. Es passierte, dass er eine Sternschnuppe sah, wenn die Magie des Universums ihm für einen flüchtigen Augenblick die Hand entgegenstreckte. Valdemar Vågen gefiel der Gedanke, Sternschnuppen seien Himmelsschiffe auf ewiger Segeltour. Segelten seine Mädchen mit einem von ihnen? Schauten sie vorbei, um zu sehen, ob es ihm gut ging? In den ersten Jahren hatte er den Himmelsschiffen gewunken, in der Hoffnung, gesehen zu werden, aber nach und nach hatte er auch damit aufgehört, ebenso wie er damit aufgehört hatte, zu den Gräbern zu gehen.

Die Jungs hatten eine gute Idee. Die Idee war bestechend einfach, daher war kein anderer darauf gekommen. Sie war schlichtweg einfach, klar und einleuchtend. Sie entwickelten Software für Menschen, die Computer hassten oder die zumindest große und chronische Aversionen gegen sie hatten. Menschen, die sich weigerten, den Schritt in den kryptischen, binären Alltag zu machen. Kunden, die von etwas anderem lebten, als in einem Büro zu sitzen und mit dünnen blutarmen Fingern auf einer Tastatur herumzudrücken. Kundengruppen, für die das Wort »Papierschieber« ein Schimpfwort war und Bürokraten gleichbedeutend mit Landesverrätern. Kunden mit starken, kräftigen Bärentatzen, die keine Tastatur berühren konnten, ohne mindestens fünf widersprüchliche Befehle auszulösen. Vereine, die nie mehr mit Feinmotorik zu tun hatten, als eine Flasche Bier mit dem Daumen zu öffnen. Kunden, denen es schwerfiel, sich sowohl schriftlich als auch mündlich auszudrücken. Kunden, die davon lebten, etwas Physisches zu erschaffen: Handwerker. Diese waren nahezu ein Gegenpol zu den multitaskenden, digitalen Einwohnern. Das waren die pragmatischen Menschen, jene, die schwarzen Kaffee aus mitgebrachten Thermoskannen tranken und ihre Pausenbrote selbst schmierten. Tischler, Zimmermänner, Maurer, Elektriker, Holzfäller, Rohrleger, Maschinisten, Fliesenleger, Baggerfahrer. Sie waren zwar flink mit den Händen, setzten sie sich aber an eine Tastatur, verschwand die Sensitivität, und die kräftigen, muskulösen Finger verwandelten sich in große, hilflose und überreife Bananenstauden. Und keine der Tasten, die sie drückten, war die richtige. Geballte Fäuste geräucherter Fleischwürste versuchten vergeblich, detaillierte Übungen auszuführen. Shift, die Befehlstaste und das E mit der einen Hand gleichzeitig gedrückt zu halten, während die andere die Rückschritttaste betätigen sollte, ging selten gut. Strg, Alt, Entf waren für sie böhmische Dörfer. Diese Menschen waren genuin analoge Geschöpfe mit großen Anpassungsproblemen an die digitale Welt. Die Firma entwickelte icon- und touchscreen-basierte Software, sodass die Kunden ihre Gliedmaßen niemals auf eine Tastatur setzen mussten. Sodass auch sie ein Teil der digitalen Gesellschaft werden konnten.

Die Konkurrenten hatten geglaubt, es handele sich um Icons und Steuerung per Maus, aber das tat es natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Es handelte von etwas viel Grundlegenderem: vom Informationsfluss ausgehend von den Bedürfnissen und Alltagsthemen der jeweiligen Handwerkergruppe. Es ging um chaos-basierte Datenarchitektur. Wie denkt jemand, der nicht so denkt, wie es gedacht ist zu denken? Sie hatten gelernt, wie der Hase lief. Die Software jedes einzelnen Nutzers besaß die Fähigkeit zu lernen, wie genau dieser Nutzer die Software verwendete. Das Produkt wurde schlauer und schlauer, je mehr es genutzt wurde.

Daher war es nicht verwunderlich, dass ihr Preis stieg und sie schnell Kaufinteressenten fanden, auch von der anderen Seite des Atlantiks. Ja, sogar aus dem Osten. Sie lehnten konsequent ab, denn ein Earn-out-Vertrag bedeutete nur, dass sie die Kaufsumme selbst verdienen mussten und zudem die Firma verloren. Da konnten sie auch die Kaufsumme verdienen und die Firma behalten. Das war ein einfaches Rechenstück. Nach und nach wurden sie größer und hätten leicht die Konkurrenten aufkaufen können, aber das ließen sie bleiben. Sieben von zehn Fusionen endeten im Fiasko, und Valdemar Vågen war fest entschlossen, bei seinen Leisten zu bleiben. Das hatte sich über viele Jahre hinweg als lohnenswert erwiesen. Nicht zuletzt, als sie durch organisches Wachstum über die Landesgrenzen hinweg expandierten und sich in ganz Nordeuropa etablierten. Von einer Bande Nerds mit Räumlichkeiten in einem alten, umgebauten Stall hatten sie sich zu einem stromlinienförmigen internationalen Softwarehaus mit Hauptsitz direkt am Meer entwickelt. Und all das hatten sie nur einem einzigen Menschen zu verdanken: Valdemar Vågen.

7

Als er aufwachte, blendete ein großes weißes Licht seine Augen. »Ist es so?«, dachte Valdemar. Dann hatten jene recht, die von ihren Nahtod-Erlebnissen berichtet hatten, dass sie von einem weißen Licht empfangen wurden. Sollten wir uns doch wiedertreffen, fragte er sich. Wollen sie wissen, wer ich jetzt bin, es ist ja zwölfeinhalb Jahre her? Was sollte er sagen? Hallo? Lange nicht gesehen? Wie groß ihr geworden seid? Zu dumm, zu eindeutig. Er versuchte zu fokussieren, um zu sehen, ob er sich selbst von oben betrachten konnte, aber das konnte er nicht. Egal wie heftig er starrte, er konnte nur eine Zimmerdecke mit einem großen runden Lampenschirm erkennen, der ein weißes Licht zu ihm schickte. Von der Lampe aus verlief eine Art glänzende Metallstange, die in der Unterkante seines Blickfeldes verschwand. Er war nicht tot, fühlte sich aber auch nicht besonders lebendig.

Valdemar versuchte, den Kopf zu heben, und stöhnte schwach. Nicht laut, es war vielmehr ein Seufzen, aber ausreichend, um irgendwo im Raum eine Reaktion auszulösen. Eine Gestalt rückte langsam in das Blickfeld seines rechten Auges, und er bekam eine Krankenschwester von unten zu sehen. Das heißt, nicht ganz von unten. Nicht so weit unten, wie er es sich während der Abiturzeit erträumt hatte. Sie stand über ihm und hielt eine Pinzette in der einen Hand und eine kleine Metallbox in der anderen. Sie lächelte und hieß ihn in der Notaufnahme willkommen.

»Lebe ich?«, fragte er, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sich die Antwort von selbst ergab.

Die Krankenschwester lächelte. »Ja, Sie leben.« Valdemar versuchte, ihre Lachgrübchen zu zählen, und meinte, auf zwei zu kommen.

Dann drehte sich die Krankenschwester langsam nach links und erklärte, der Patient sei wach. Dieser kleine Satz sorgte für Leben und Bewegung ein Stück außerhalb von Valdemars Blickwinkel, und bald bekam die Krankenschwester Gesellschaft von einem Mann in weißem Kittel. Er stellte zuerst die Krankenschwester als Irlinn und anschließend sich selbst als »Gurgle« vor. Entweder redete er undeutlich, oder Valdemar hörte schlecht, denn Gurgle schien ihm ein komischer Name zu sein. Andererseits konnten die Leute doch heißen, wie sie wollten. Ihm kam in den Sinn, dass der Arzt auch auf etwas für ihn Unbekanntes anspielen könnte, dennoch blieb es bei dem Namen »Doktor Gurgle« für die kurze Zeit, die er in der Notaufnahme lag. Nach allem, was Valdemar wusste, konnte es sein, dass der Arzt eigentlich Gundersen hieß. Doktor Gurgle erklärte, Schwester Irlinn würde zuerst einige Glassplitter aus seinem Körper entfernen, dann würde man Valdemar zum Röntgen bringen und anschließend zurück zur Kontrolle. Für gewöhnlich fiel es Valdemar nicht schwer, sich in Dinge einzuarbeiten, aber all das hier war neu für ihn. Außerdem war er gerade von etwas aufgewacht, das einem Traum ähneln konnte, einem Traum, in dem er eines frühen Morgens mit dem Rad den Radweg entlanggefahren war. Er konnte sich auch noch schwach daran erinnern, dass er auf einen Kongress wollte, an mehr aber nicht. Der Traum wirkte fern und schwach, solche Träume hatten eine Tendenz, nach einer Weile wiederzukehren.

»Das ist viel Neues auf einmal«, sagte Valdemar, aber Doktor Gurgle kümmerte sich offensichtlich nicht darum, was Valdemar meinte. Der Arzt versprach, dass sie ihm ein paar schmerzstillende Medikamente spendieren würden, jetzt wo er wach und sie sich sicher waren, dass er keine Gehirnerschütterung hatte. Er war unsicher, was der Arzt meinte. Wie sollte er eine Gehirnerschütterung bekommen haben? Warum ließ der Arzt eine solch halb ausgesprochene Weisheit im Raum stehen? Dann verschwand der Arzt am Horizont hin zu neuen Aufgaben. Vielleicht war das Tagwerk vollbracht, oder es war Kaffeepause, woher sollte Valdemar das wissen. Das Ergebnis war so oder so das gleiche: Doktor Gurgle war weg.

»Ich habe geträumt, dass ich Rad gefahren bin«, erzählte Valdemar Schwester Irlinn. Sie hatte blaue Augen, rote, gekräuselte Haare, die in alle Richtungen standen und sicher mit einer Reihe von Vorschriften brachen. Er wagte nicht, sie zu lange anzuschauen, aus Furcht, sie würde es missverstehen, aber infolge der flüchtigen Blicke, die er ihr zuwarf, erschien sie als eine würdige Repräsentantin des weiblichen Geschlechts. Es gab mehrere anatomische Details, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen, trotzdem war es die Stupsnase, die das Rennen machte. Von dort aus war der Weg zu den Augen kurz, und wenn es tatsächlich so war, dass die Augen der Spiegel der Seele waren, dann hatte Irlinn eine schöne Seele, schlussfolgerte Valdemar.

»Das war kein Traum. Sie waren mit dem Rad unterwegs«, antwortete sie.

Ihm fiel nichts Schlaues ein, was er erwidern konnte.

»Haben Sie große Schmerzen?«, fragte sie, aber so weit hatte er nicht gedacht. Sie nickte in Richtung Valdemars linker Schulter, und er verstand, dass sie fragte, ob selbige wehtat. Er griff mit der rechten Hand nach der Schulter, und im gleichen Augenblick jagte ein Schmerz durch seinen Körper. Er hatte keine derartigen Schmerzen mehr verspürt, seit seine ansonsten so rücksichtsvolle Zahnärztin Kristin versucht hatte, eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung vorzunehmen. Valdemar bemühte sich, eine Art Grimasse zu schneiden, aber es ähnelte wohl mehr einem Lächeln, da Irlinn zurücklächelte. Es konnte den Anschein haben, dass seine Erfahrungen mit Frauen mit Schmerz verbunden sein sollten.

»Ja«, antwortete er, »das tut ziemlich weh in der Schulter.«

Irlinn erhob sich und verschwand, schaffte aber noch zu erwähnen, dass sie die angekündigten schmerzstillenden Medikamente holen würde. Es war Valdemar noch nie zuvor aufgefallen, aber Krankenschwestern hatten keine Nachnamen. Sie hatten lediglich Vornamen. Vielleicht hatten einige Bürokraten Angst, männliche Patienten könnten sich heimlich an die Krankenschwestern heranpirschen? Mit den Ärzten war es umgekehrt. Die Ärzte hatten nur Nachnamen. Wahrscheinlich wusste niemand, wie Doktor Gurgle mit Vornamen hieß. Gunnar Gurgle? George Gurgle? Oder war das ein Ausdruck für die Hierarchie im Gesundheitswesen? Zuerst hatte man nur einen Vornamen, dann bekam man vielleicht Vor- und Nachnamen, danach Titel und Nachnamen und ganz zum Schluss nur den Titel? Lassen Sie uns hören, was der Oberarzt dazu zu sagen hat. Klar, wenn man Oberarzt ist, braucht man keinen Namen. Alle wissen, dass man der Oberarzt ist.

Bevor sich Valdemar noch weiter in seine Überlegungen vertiefen konnte, kehrte Irlinn mit einem Glas Wasser und vier weißen Tabletten zurück. Sie waren länglich mit abgerundeten Ecken. Er schluckte sie, ohne nach den Inhaltsstoffen zu fragen, denn er sah keinen Grund, an Irlinn zu zweifeln. Er vertraute ihr zu hundert Prozent. Sie war schließlich ausgebildete Krankenschwester, während er nur ein elendiger, mehr oder weniger autodidaktischer Geschäftsführer eines etwas größeren Unternehmens war. Irlinn hatte ganz sicher sowohl Diplom als auch Zeugnisse, während Valdemar nicht ein einziges Papier vorweisen konnte, ausgenommen seiner Visitenkarten. Die waren teuer genug gewesen, so war es nicht. Er hatte die Rechnung des Designbüros selbst gegengezeichnet und hätte ebenso gut Hundert-Kronen-Scheine als Visitenkarte verteilen können. Prägung, Spezialfarben und Glanzüberzug gab es nicht gerade gratis. Die Hunderter wären möglicherweise populärer gewesen, auch wenn die Gefahr bestanden hätte, dass einzelne Pedanten es als Bestechungsversuch gewertet hätten.

»Die Tabletten beginnen in einer Viertelstunde zu wirken«, erklärte sie. Und fuhr fort: »In der Zwischenzeit werde ich die Glasscherben entfernen, die sich festgesetzt haben.« Valdemar hatte Glasscherben in einer Schulter, im Oberarm sowie in der Wange.

»Das ist merkwürdig«, sagte er, »ich kann mich an kein Glas erinnern.«

»Die Frontscheibe des Autos ging bei dem Aufprall zu Bruch«, antwortete Irlinn. »Sie hatten Glück. Das heißt, es war klug von Ihnen, einen Helm zu tragen, ansonsten wäre es kaum so gut ausgegangen. Sie hätten Gemüse sein können.« Valdemar bildete sich ein, dass das eine Untertreibung war, fragte aber trotzdem.

»Welche Art von Gemüse meinen Sie?«

»Sie hätten einen Schädelbruch erleiden können, und dann hätten Sie nicht hier bei mir gelegen. Dann wären Sie schon lange in der neurochirurgischen Abteilung, und da wäre es nicht so sicher, dass Sie in der Lage wären, mit einer von uns Schwestern zu sprechen.«

»Schädelbruch? Meinen Sie so, wie wenn ich das Ei aufschneide und das Weiße und das Gelbe herauslaufen? Würde mein Gehirn in der gleichen Weise herauslaufen?«

Valdemar schauderte es vor der eigenen Beschreibung.

»Na, na, nun werden Sie nicht vollkommen paranoid. Sie trugen einen Helm und Ihrem Kopf geht es gut. Sie sind ebenso normal oder bekloppt, wie Sie es immer waren«, sagte sie und lächelte. Er bemerkte an der Kette um ihren Hals einen Ring. Warum das? Wartete sie auf jemanden? Oder war es eine Erinnerung an jemanden? Das war selbstverständlich nicht seine Angelegenheit, aber dennoch wunderte er sich. Es war zwölfeinhalb Jahre her, dass er einer Frau so nah gewesen war, dass er ihre Wärme spüren konnte, ihren Atem; zwölfeinhalb Jahre lang hatte er immer einen ganzen Schreibtisch aus kaltem Ebenholz zwischen sich und den Frauen gehabt. Personalgespräche luden zu nichts anderem ein. Oft saßen die Frauen mit überkreuzten Armen da, bewusst oder unbewusst, um den professionellen Abstand zu schaffen. Wäre er jünger gewesen, hätte er sich vielleicht etwas einbilden können. Entspann dich, sagte er zu sich selbst, du bist zweiundfünfzigeinhalb Jahre alt. Außerdem hatte er seit Langem vergessen, wie er eine Frau als Frau behandeln sollte, und glaubte, es würde ihm nie wieder gelingen.

Die Glasstückchen, die Irlinn herauszog, waren von der Größe russischer Erbsen, und es hatte nicht den Anschein, als würde sie bald fertig sein.

»War es eine große Frontscheibe?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, antwortete Valdemar. »Ich habe nicht gesehen, was mich traf, aber es fühlt sich an, als wäre es mindestens ein Bus gewesen.«

Irlinn lächelte. Die blauen Augen über der Stupsnase konzentrierten sich indessen auf die Glassplitter, die in seiner Schulter steckten. Sie zog sie schweigend heraus. Jedes Mal wenn sie einen davon in die Metallbox fallen ließ, klang es nach kühlem Metall. Die Glasstückchen rollten ein bisschen herum, bevor sie sich zur Ruhe begaben. Sie funkelten, als wären sie frisch geschliffene Diamanten. Wären es Diamanten, hätte Valdemar einen Ring anfertigen lassen und ihr geben können. Aber er dachte, ein Ring könne missverstanden werden. Wie konnte er ihr ein Symbol für Potenz und Männlichkeit schenken, wenn er es war, der von ihr abhängig war? Valdemar, der zwölfeinhalb Jahre lang von niemandem abhängig gewesen war. Er wünschte sich, die Glassplitter wären Perlen, damit sie stattdessen eine Perlenkette bekommen könnte. Ein Symbol der Fruchtbarkeit, Weiblichkeit und Vollkommenheit. Von ihm für Irlinn. Eine Perlenkette konnte nicht missverstanden werden, oder doch?

»Wissen Sie, was aus dem Fahrrad geworden ist?«, fragte er. Für Valdemar war Irlinn in diesem Moment die Frau in seinem Leben. Mit keiner anderen konnte er in seinem neuen Zustand als Verkehrsgeschädigter reden. Er fühlte eine unendliche Dankbarkeit, dass sie so nett war und die Glassplitter herauszog, auch wenn sie sicher anderes und Wichtigeres zu tun hatte.

»Ein Wrack«, antwortete sie mit der größten Selbstverständlichkeit.

»Ein Wrack?«, fragte er. Wie konnte das sein? Das Fahrrad sollte doch einen Carbon-Rahmen haben. Das Beste, was es für Geld zu kaufen gab.

»Ein Wrack«, wiederholte sie. Dann führte sie näher aus: »Das Vorderrad ist an vier Stellen gebrochen, der Rahmen ist quer durchgebrochen, die Lampe ist kaputt, die Gabel schief. So etwas nenne ich Wrack. Es liegt draußen am Empfang. Die Polizei kümmert sich darum und fährt es dorthin, wo Sie es hinhaben möchten.«

»Kann die es nicht direkt zum Recycling fahren?«, schlug Valdemar vor. Was sollte er mit einem schrottreifen Fahrrad? Irlinn meinte, das sei nicht so einfach.

»Zum einen ist das Fahrrad ein Beweisstück. Zum anderen will die Versicherungsgesellschaft ein Wörtchen mitreden, bevor irgendetwas zum Recycling geschafft wird.«

»Sie kennen sich aus, ich verstehe«, konstatierte er.

Irlinn lächelte.

»Wir bekommen hier in der Notaufnahme so einiges zu sehen.«

»Passieren oft so ernste Unfälle wie meiner?«, fragte Valdemar. Er zweifelte daran, dass so etwas oft geschah, wollte aber fragen, größtenteils, um sicherzugehen.

»Nein, meistens geht es viel schlimmer aus. Tatsächlich ist es ziemlich selten, dass es so gut ausgeht wie bei Ihnen. Sie hatten wirklich Glück.«

War das möglich?

»Meinen Sie, es wird nicht einmal eine Meldung in der Zeitung geben?«

Irlinn lachte, ein helles, warmes Lachen.

»Nicht einmal eine kleine Notiz. Sie dürfen sich nichts einbilden.«

Valdemar war sicher, dass Irlinn mit ihm scherzte. Sie war ein richtiger Spaßvogel. Selbstverständlich war das der ernsthafteste Unfall von allen. Wie sollte es Menschen gehen, die noch schlimmer verletzt waren als er? Sie würden es nie im Leben schaffen zu überleben. Irlinn lag falsch, aber das sagte er ihr nicht. Er sah keinen Grund dafür, dass sie wegen einer Bagatelle zu Feinden werden sollten, jetzt, wo sie dabei waren, einander so nah zu kommen.

»So«, sagte sie. »Das war endlich der letzte Glassplitter. Dann wollen wir uns mal auf den Weg zum Röntgen machen. Warten Sie hier, dann schaffe ich die Scherben weg und hole einen Rollstuhl.« Valdemar protestierte, er konnte gut selbst laufen und brauchte keinen Rollstuhl.

»Ich brauche keinen Rollstuhl«, sagte er.

»Doch. Solange ich die Verantwortung für Sie habe«, bestimmte sie. Ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus und belegte, dass er nichts dagegen hatte, in jemandes Verantwortung zu liegen. Ein Gefühl, das er lange nicht verspürt hatte. Zwölfeinhalb Jahre lang hatte er nicht das Gefühl gehabt, dass sich jemand Gedanken darüber machte, wie es ihm ging, und das nahm er persönlich, auch wenn er wusste, dass er das nicht tun sollte. Irlinn war professionell. Sie wurde dafür bezahlt, umsichtig zu sein, das wusste er, aber sie bekam kein Geld dafür, nett zu ihm zu sein.

Irlinn kam mit einem Rollstuhl zurück, in den sie ihn hineinbeorderte. Anschließend machten sie sich auf den Weg zum Röntgen. Valdemar wünschte, die Fahrt würde länger dauern, sie würde die Erlaubnis bekommen, ihn bis in den Sonnenuntergang hineinzuschieben.

»Können wir vielleicht auf dem Rückweg eine Pause machen und Mittag essen?«, schlug er vor.

»Haben Sie Hunger?«, fragte Irlinn.

Er hatte es als Scherz gemeint. Es war ein schlechter Versuch, lustig zu erscheinen, um ihr etwas von ihrer Freundlichkeit zurückzugeben. Es grenzte schon an einen Flirtversuch, aber Irlinns unendliche Fürsorge wollte nur sein Bestes. Würde er hungrig sein, würde er natürlich etwas zu essen bekommen. Das fehlte noch.

»Was möchten Sie haben? Ich glaube, wir haben Brötchen am Empfang. Mit Schnittkäse? Braunem Ziegenkäse? Schinken? Oder sind Sie Vegetarier? Ich persönlich halte mich von rotem Fleisch fern.«

Er erklärte, dass er lediglich versucht hatte, lustig zu sein, sie hatten sich doch irgendwie zusammen auf einer Autofahrt befunden, nicht wahr? Und sie fuhr? Man müsste doch jede Stunde eine Pause machen, oder?

»Ach so«, antwortete sie, »wir bekommen hier nicht so viele Patienten mit Sinn für Humor rein. Die meisten haben vor allem Mitleid mit sich selbst, oft mit gutem Grund. Entschuldigen Sie, dass ich das nicht erkannt habe.«

»Kein Problem. Für gewöhnlich lacht auch niemand über meine Witze. Niemand außer den Lieferanten.« Auch das war eine Art Witz, aber sie überhörte ihn in der gleichen Weise. Er bemerkte, dass er sich plötzlich anhörte, als hätte er Selbstmitleid, aber das war nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Die Tabletten fingen an zu wirken, und er hatte das Gefühl, dass es ihm nie besser gegangen war. Er wurde gleichgültig. Er war schlichtweg dabei, auf alles zu pfeifen. Und warum sollte er das nicht können? Er war doch geschäftsführender Direktor. Er war es, der die Entscheidungen traf, und jetzt entschied er, dass es die neue Wirklichkeit war, die galt. Es ging um ihn und Irlinn, um niemand anderen, so lange oder kurz es dauern mochte.

In der Röntgenabteilung wurde er von einer Fotografin in Empfang genommen. Oder wie nannte man die, die die Röntgenbilder machten? Sie stand wohl relativ weit oben auf der Rangleiter, denn sie stellte sich nur mit einem Titel vor, der sich nicht in Valdemars Fremdwörterbuch fand. Auch wenn sie namenlos war, war sie ebenso umsichtig und rücksichtsvoll wie Irlinn. Sie wollte, dass er in einer leicht verkrüppelten Haltung dasaß, um ein gutes Bild machen zu können, und fragte, ob es ihm wehtat, so zu sitzen. Das tat es, aber das sagte er nicht. So nett wie Irlinn und die neue Dame waren, konnte er zumindest so tun, als würde es nicht wehtun. Zum Glück bat sie ihn nicht, in die Kamera zu lächeln. Außerdem war die Sitzung beinahe vorbei, bevor sie begonnen hatte, und Irlinn konnte ihn in dem gleichen beherrschten Tempo zurückrollen.

»Wir müssen dieses Mittagessen auf ein anderes Mal verschieben«, scherzte sie, und Valdemar konnte nichts anderes tun als ihr zuzustimmen. Er schlug ein nettes Café mit Meerblick vor, nicht weit entfernt vom Rathaus, und sie versprach, daran zu denken.



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