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Hauptkommissar Tabor Süden fährt in sein Heimatdorf, um das Grab seiner Mutter zu besuchen. Die Reise in die Vergangenheit nimmt eine unerwartete Wendung, als ihn der Hauptschullehrer des Ortes um Hilfe bittet, dessen Tochter seit einem Jahr vermisst wird. Obwohl Süden für den Fall nicht zuständig ist, kann er sich der Herausforderung nicht entziehen.
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2025
Friedrich Ani
Der Mann im langen schwarzen Mantel
Ein Fall für Tabor Süden
Suhrkamp
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Der hier vorliegende Text erschien zunächst 2005 unter dem Titel Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel bei Droemer Knaur, München.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5470.
Neuausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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Umschlagfoto: Depositphotos
eISBN 978-3-518-78068-8
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Der Mann im langen schwarzen Mantel
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Informationen zum Buch
Der Mann im langen schwarzen Mantel
Ich arbeite auf der Vermisstenstelle der Kripo und kann meinen eigenen Vater nicht finden.
Tabor Süden
»Für wie lang?«, fragte die junge Frau an der Rezeption.
Ich sagte: »Eine Nacht.«
»Erwarten Sie noch jemanden?«
»Nein.«
Ihre geschwungene Brille mit der roten Fassung erinnerte mich an die einer Kollegin, die etwa im gleichen Alter wie die Hotelangestellte gewesen sein dürfte.
»Das kostet aber fünfundneunzig Euro«, sagte sie.
»Soll ich im Voraus bezahlen?«
»Nur hier ausfüllen, bitte.«
Im Zimmer, das im ersten Stock lag, öffnete ich ein Fenster und blickte auf eine ungemähte Wiese mit Löwenzahn, Gänseblümchen und Glockenblumen, leuchtende Farben in der Mittagssonne. Und immer wieder, für Sekunden, vollkommene Stille. Vielleicht dirigierte der Wind die Geräusche und die Stimmen, den Singsang der Vögel, wobei er jede Pause in seiner kosmischen Partitur genau einhielt und sein Orchester ihm bedingungslos folgte.
Bis zum Friedhof brauchte ich zehn Minuten. Seit mehr als zwei Jahren war ich nicht mehr dort gewesen, eine der örtlichen Gärtnereien kümmerte sich in meinem Auftrag um das Grab. Es sah so gepflegt aus wie die übrigen Gräber. Der graue, unauffällige Stein und die Umrandung wirkten sauber, als wäre beides kürzlich abgeschrubbt worden, aus der offensichtlich frisch gegossenen Erde wuchsen gelbe und violette Stiefmütterchen, in einer Plastikvase standen sieben rote Rosen und in der niedrigen, schmiedeeisernen Laterne mit dem aufklappbaren Deckel zuckte ein rotes Licht.
Unwillkürlich wandte ich mich um. Beim Anblick der frischen Rosen und der kaum heruntergebrannten Kerze hatte ich mir plötzlich vorgestellt, jemand anderes habe soeben an meiner Stelle gestanden. Und ich bildete mir ein, einen süßlichen Geruch wahrzunehmen, und erwartete Schritte auf dem Kies.
Aber da war niemand. Ich drehte den Kopf. Soweit ich erkennen konnte, befand sich außer mir niemand in der Nähe. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
Siebzig Jahre wäre meine Mutter heute geworden. Sie starb, als ich dreizehn war, drei Jahre später verschwand mein Vater und tauchte nie wieder auf. Den Rest meiner Jugendzeit verbrachte ich bei der Schwester meiner Mutter und deren Mann, Lisbeth und Willibald, der mir verbot, ihn Onkel zu nennen, während Lisbeth sich in meiner Gegenwart immer selbst als Tante bezeichnete. Bis zum Tag meines Umzugs ins sechzig Kilometer entfernte München, genau einen Monat nach dem Abitur, umsorgte sie mich wie ein Kind, das seine Lebenstüchtigkeit in der gefährlichen Welt der Erwachsenen noch lange nicht bewiesen hatte. Manchmal ärgerte mich ihre Mamahaftigkeit, manchmal nervte sie mich, manchmal versöhnte sie mich mit der Abwesenheit meiner Mutter, manchmal wäre ich am liebsten weggelaufen.
Die Kirchenglocken begannen laut zu läuten, und ich öffnete die Augen. Das Sonnenlicht blendete mich, und ich senkte den Kopf. In diesem Moment hörte ich hinter meinem Rücken ein metallisches Quietschen, es klang im Gleichklang der Glocken wie eine beleidigende Disharmonie.
Mit beiden Händen stemmte ein Mann die Klappe des Abfallcontainers hoch, den Kopf tief in der Öffnung. Auf die Entfernung konnte ich nichts weiter als einen dunklen Mantel, der mir zu warm, für das Wetter völlig ungeeignet vorkam, und die breite Statur des Mannes erkennen. Vielleicht hatte er aus Versehen etwas weggeworfen, das er dringend wiederfinden musste, denn er rührte sich nicht von der Stelle. Solange ich hinsah, hielt er den Kopf gesenkt, die Arme schräg gegen den Deckel gestemmt, ohne jede Regung.
Nach einigen Minuten, in denen ich nichts tat, als den Namen meiner Mutter Alma Süden auf dem Grabstein zu lesen, bückte ich mich und besprengte mit dem kleinen Latschenzweig aus der Messingschale, die sich in ähnlicher Form auf allen Gräbern befand, die Blumen mit geweihtem Wasser, eine willkürliche Geste. Erst hinterher fiel mir ein, dass ich vielleicht in der Luft ein Kreuz hätte formen sollen.
Als ich den Friedhof verließ, hatten die Glocken aufgehört zu läuten, und der Mann am Container war verschwunden. Nahe der Kirchenmauer bemerkte ich eine mit Brettern bedeckte Grube und einen Erdhaufen daneben.
Ich ging denselben Weg zurück, den ich gekommen war, ohne jemanden zu beachten oder einen Blick auf die unvermeidlich vertrauten Bauernhäuser und Läden zu werfen. Abends, so hatte ich mir vorgenommen, wollte ich noch einmal das Grab besuchen. Anschließend würde ich im Restaurant meines Hotels trinken, bis ich einen mir angemessenen Zustand der Bebiertheit erreicht hätte, der mich hernach am offenen Fenster im ersten Stock vor jeglicher Bewunderung der Landschaft bewahren würde.
Auf der Hotelterrasse direkt unter meinem Fenster setzte ich mich an einen Tisch an der Hauswand, beschattet vom Astwerk einer Kastanie, schläfrig, seltsam missgelaunt, unhungrig und nicht einmal durstig. Als ich den Kopf hob, weil ich ein leises Geräusch gehört hatte, stand ein Mann vor mir, der genauso angezogen war wie ich, mit einem weißen Hemd und einer schwarzen Hose. Statt einer schwarzen Lederjacke wie ich trug er eine schwarze Weste. Sein Gesicht sah gerötet und aufgedunsen aus, und er schaute auf mich herunter. Er schaute. Ich schaute zurück. Eine Weile schauten wir uns an.
Und dann stellte er mir die möglicherweise gemeinste Frage der Welt: »Kennst mich noch?«
Und ich sagte ungeniert munter: »Nein.«
»Ich bin der Johann«, sagte er. »Servus, Süden.«
»Servus.«
»Johann Gross«, sagte er.
»Ja.«
»Was machst du bei uns? Bist du wegen der Beerdigung vom Pfarrer hier? Hast du den noch gekannt?«
»Wen?«, sagte ich. Dann zog ich die Lederjacke aus und hängte sie über die Lehne des Stuhls neben mir.
»Den Pfarrer Wild«, sagte er. »Dass ich dich hier treff! So was! Magst was trinken, Süden? Oder ist dir lieber, wenn ich Tabor sag? Wir haben alle immer Süden zu dir gesagt. Aber jetzt bist du ja ein bekannter Kommissar, hab schon von dir in der Zeitung gelesen.«
»Ich bin nicht bekannt.«
»Wer in der Zeitung steht, ist bekannt.«
»Wie geht’s dir, Johann?«, sagte ich.
Er stockte einen Moment. »So warst immer«, sagte er. »Du hast schon früher immer Johann zu mir gesagt und nicht Hansi, wie die andern. Das hab ich dir immer hoch angerechnet, weißt du das?«
»Nein.«
»Einige haben dich Südi genannt, das hast du gehasst.«
Ich sagte: »Ich habe einen Kollegen, der nennt mich immer noch so.«
»Ein blöder Hund«, sagte Johann. Aber es klang nicht komisch. Er grinste oder lächelte auch nicht. Auf seinem plumpen Gesicht spielte keine Musik, es war verstummt, es funktionierte nur noch nach den ledernen Gesetzen der Muskeln und den zornigen des Blutes. Ich erkannte ihn wieder, den Sohn des Architekten, den behüteten Jungen, der immer in frisch gewaschenen Hemden und Hosen auf den Spielplatz kam, immer fesch und adrett, immer zum Vorzeigen geeignet, immer ein anderer als der, der er wirklich sein wollte.
»Gut geht’s«, sagte er. »Ich bin hier angestellt.«
Johann Gross war also Kellner geworden. Aber ich wusste, dass er sich als Kind nichts sehnlicher gewünscht hatte als eine Gitarre und Mitglied einer Band zu werden, vielleicht in der, in der auch ich zeitweise auf den Bongos spielte. Nichts machte ihm mehr Freude, als Platten von Rockbands zu hören und auf einem Stück Holz die Riffs nachzuahmen und mitzusingen, alles heimlich natürlich, denn seine Eltern verboten ihm sein Vergnügen. Und er fügte sich. Und ich habe nie verstanden, wieso.
»Habt ihr eine Suppe?«, sagte ich.
»Erbsensuppe mit Würstel«, sagte er. »Ist dir nicht zu heiß dafür?«
»Nein.«
»Schön, dich wiederzusehen«, sagte er, und ich bildete mir ein, sein Mund wehrte sich gegen die Ausdruckslosigkeit in seinem Gesicht.
»Welcher Pfarrer ist gestorben?«, sagte ich.
»Unsrer«, sagte Johann. »Der Pfarrer Wild. Er hat sich doch aufgehängt, hast du das nicht gewusst?«
»Woher denn?«
»Aus der Zeitung.«
»Ich wusste es nicht«, sagte ich. »Warum hat er sich aufgehängt?«
»Alkohol«, sagte Johann und starrte mich an wie vorhin, als er auf die Terrasse gekommen war. »Er hat Depressionen gehabt.« Mit einer fahrigen Bewegung kratzte er sich am Ohr. »Außerdem hat er eine Freundin gehabt, angeblich die Feiningerin, es gibt Leut, die behaupten, er hat sich wegen ihr aufgehängt. Weil sie ihn verlassen wollt, was weiß ich. Ich weiß nicht, ob das stimmt mit der Feiningerin. Der Pfarrer Wild war fast siebzig. Morgen ist die Beerdigung. Ich hab gedacht, du bist deswegen da. Hast du ihn gekannt, Süden?«
»Nein«, sagte ich.
»Ich bloß flüchtig. Ich geh nie in die Kirche«, sagte Johann. »Ich glaub an nix, nur ans Sterben. Willst was trinken?«
»Ein Bier«, sagte ich. »Trinkst du eins mit?«
»Wie lang bist noch da?«
»Bis morgen.«
»Wollen wir heut Abend was trinken?«
»Ja«, sagte ich.
Er nickte und ging. Einmal, daran erinnerte ich mich plötzlich, hatte ich Johann ein Alibi gegeben, weil er unbedingt beim Auftritt einer Band im Bräukeller dabei sein wollte. Gegenüber seiner Mutter hatte er behauptet, er würde mit mir Tipp-Kick spielen. Kurz nach zehn Uhr abends rief sie bei uns an, und ich sagte, Johann sei gerade auf der Toilette. Seine Eltern spionierten ihm ständig hinterher, obwohl er schon fünfzehn war. Ich radelte zum Bräukeller, um ihn zu holen. Doch er konnte nicht mehr aufrecht stehen, er hatte Bier und Schnaps getrunken und zu viele Zigaretten geraucht und hing über der Kloschüssel und würgte. Uns, den hilflosen Freunden, blieb nichts, als seinen Vater anzurufen, der ihn dann mit dem Auto abholte. Auf die nächsten Feste durfte er nicht gehen, und wieder tat er, was seine Eltern von ihm verlangten. Martin, mein bester Freund, und wir alle hielten Johann für feige und schwach, wir redeten auf ihn ein, sich zu wehren und einfach abzuhauen, wenn seine Eltern sich weiter stur stellten. Aber er entschied sich dagegen. Und er fing an, Stücke zu schreiben, Rocksongs, Balladen, heimlich natürlich, und die spielten die örtlichen Bands, auch die, in der ich trommelte, und es waren mit Abstand die stärksten Heuler, die wir im Repertoire hatten. Natürlich erzählten wir allen, die Kompositionen seien von uns, was die Mädchen praktisch wehrlos machte.
»Ist ja eigentlich verboten«, sagte er und zündete sich eine filterlose Zigarette an, die er zuvor minutenlang akribisch gedreht hatte. Im Gegensatz zu mir trank er keinen Alkohol, sondern Orangensaftschorle. Dafür rauchte er ununterbrochen.
»Auf jeden Fall ungewöhnlich für einen Pfarrer«, sagte ich.
In der holzgetäfelten Gaststube saßen außer Johann Gross und mir ein Ehepaar mit zwei Kindern im Vorschulalter, Touristen aus Thüringen, wie Johann mir erklärt hatte, und zwei Männer in karierten Hemden, die fast wortlos Karten spielten, wie gelangweilt, wie gezwungen. Die Karten flogen hin und her, und wenn einer gewonnen hatte, sagte der andere: »Rache!« Von Johann wusste ich, dass ihre Väter, beides Landwirte in Taging, sie enterbt hatten, weil der eine, anstatt den Hof zu übernehmen, in der Kreisstadt eine Lehre als Raumausstatter gemacht hatte und seither dort arbeitete und der andere ebenfalls in der Kreisstadt als Elektriker in einer großen Autowerkstatt untergekommen war. Allerdings wohnten sie immer noch zu Hause, auf Wunsch der Mütter, wie sie Johann erzählt hatten, damit die Väter eventuell doch noch ein Einsehen hätten und wieder mit ihren Söhnen redeten, was die alten Männer bislang strikt verweigerten. Nach Johanns Meinung warfen die Bauernhöfe kaum noch Gewinn ab.
Unter einem dunklen Gemälde saß ein weiterer Mann und las in einem Buch. Er trug ein dunkles Jackett und machte einen konzentrierten, beinah verkniffenen Eindruck. An seinem Bierglas nippte er nur.
»Die Leut sagen, die Feiningerin ist schuld.« Johann kratzte sich am Ohr und sah ausdruckslos an mir vorbei zur Tür. »Die hat den Pfarrer Wild so weit gebracht. Ich glaub gar nix.«
»Hat er keinen Abschiedsbrief hinterlassen?«, sagte ich.
Mein Glas war leer, aber Irmi, die Bedienung, las am Tisch vor dem Tresen Zeitung, und ich wollte sie nicht stören.
»Nein«, sagte Johann. »Keine Ahnung. Die Sache mit der Feiningerin ist ja bloß ein Gerücht, so was brauchen die Leut, damit s’ was haben, an dem sie sich aufgeilen können. Vergiss die Leut.« Er trank, wischte sich über den Mund, zog ein Blättchen aus der schmalen Packung und verteilte Tabakkrümel darauf.
Ich sagte: »Leben deine Eltern noch?«
Er leckte über das Papier und klebte die mickrige Fluppe zu. »Meine Mutter ist weggezogen, vor zehn Jahren schon, mein Vater hat wieder geheiratet, wir sehen uns selten. Ich arbeit jeden Tag, das ganze Jahr. Im Dezember haben wir drei Wochen zu, lohnt sich nicht. Lohnt sich noch weniger als sonst im Jahr.« Wieder hatte ich den Eindruck, er bemühe sich um ein Grinsen, doch es gelang ihm nicht, vielleicht hatte er es verlernt, oder sein Mund hatte vergessen, wie es ging.
»Wieso hast du deine Ausbildung als Krankenpfleger nicht beendet?«, sagte ich.
»Hab ich dir doch erklärt, ich war selber krank.« Er sog den Rauch tief ein, und ich musste an Martin denken, der seine Salemohne genauso gierig inhalierte.
»Aber danach«, sagte ich. »Als du deine Krisen hinter dir hattest.«
»Kein Geld.« Er rauchte, nahm mein Glas und hielt es hoch. Offenbar hatte Irmi, die hinter meinem Rücken saß, ihre Lektüre unterbrochen.
Wir schwiegen.
Am Fenster rief einer der beiden Spieler »Rache!« und knallte seine Restkarten auf den Tisch.
»Zum Wohl, Herr Süden.« Irmi stellte das Bier hin und strich Johann über die Schulter. »Der Hansi hat mir heut Nachmittag erzählt, Sie kennen sich aus der Schule. Ich kenn Sie auch noch als Bub. Ich arbeit ja schon fast dreißig Jahre hier. An meinem Fünfundsechzigsten hör ich auf nächstes Jahr, das hab ich mir geschworen.«
»Du hörst bestimmt nicht auf«, sagte Johann. »Das hast du schon vor deinem Sechzigsten gesagt.«
»Aber jetzt langt’s.« Dann beugte sie sich zu uns herunter, wobei sie das kleine silberne Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trug, an ihre Brust drückte. »Der Herr da hinten, Herr Süden, das ist der Herr Jagoda, der Lehrer, Sie haben bestimmt von der schrecklichen Sache gehört, Sie sind ja bei der Polizei. Er kommt immer mittwochs und freitags, allein, ohne seine Frau. Hast du das schon erzählt, Hansi?«
»Nein«, sagte Johann, kratzte sich hastig am Ohr und sah wieder zur Tür, als erwarte er jemanden. Der Gast, von dem Irmi redete, schien ihn nicht zu interessieren.
»Armer Mann«, sagte Irmi und sprach noch leiser. »Seine Frau sieht man gar nicht mehr. So was erträgt kein Mensch. Wissen Sie was Neues? Gibts eine neue Spur?«
Jeder im Dezernat 11 hatte vom Fall Anna Jagoda gehört.
»So was wünsch ich meinem ärgsten Feind nicht!« Erschrocken über ihre laute Stimme, fuhr Irmi sich über den Mund. »Einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt«, flüsterte sie. »Schon ein Jahr her, wir sind überschwemmt worden von Reportern, in allen Zeitungen stand was über uns. Manche haben geschrieben, wir würden was verheimlichen, haben Sie das gelesen, Herr Süden? Das ist doch unerhört. Und Ihre Kollegen haben nichts dagegen unternommen.«
Natürlich hatten auch wir in München über unser Computersystem INPOL die Daten der Kollegen mit Fällen aus unserem Zuständigkeitsbereich abgeglichen.
»Die zehnjährige Anna«, sagte ich. »Das Dezernat, in dem ich arbeite, ist für diesen Fall nicht zuständig, wir kümmern uns nur um Vermissungen aus München und der nächsten Umgebung.«
»Schade«, sagte Irmi. Einer der Kartenspieler winkte ihr. »Man hofft ja immer, dass das Kind wiederkommt. Und niemand hat was gesehen, wie so oft. Und das in unserem Dorf!« Sie legte die Hand auf das Kreuz an ihrer Brust und ging zum Fenstertisch.
»Was ist deine Vermutung?«, sagte ich.
Johann drückte die Kippe mit dem Daumen im Aschenbecher aus. »Ich kenn die Familie fast nicht, keine Ahnung. Sie haben den Krapp verdächtigt. Die Zeitungen und die Leut. Den musst du kennen, der ist so alt wie wir.«
»Der Sohn vom Friseur«, sagte ich.
»Sein Vater hat den Laden an ihn übergeben, Niko hat keine Wahl gehabt. Geschieht ihm recht, dem Angeber. Er hat seinen Laden zumachen müssen, die Leut ächten den. Obwohl die Polizei gesagt hat, er ist unschuldig. Ich bin nie zu dem gegangen, ich schneid mir meine Haare selber.«
»Ehrlich?«, sagte ich.
»Ist ein Witz. Willst du noch ein Bier?«
»Ja«, sagte ich. Weshalb er nur Saft trank, wusste ich nicht, und ich wollte ihn nicht ausfragen. »Und einen Schnaps.«
»Nimm den Obstler«, sagte er, stand auf und nahm mein Glas, das ich ziemlich schnell geleert hatte.
Als er zum Tresen ging, blickte ich hinüber zu dem lesenden Mann unter dem Gemälde. Er sah mich an, offenbar schon eine Weile. Er nickte mir zu, und ich tat dasselbe. Dann stand ich auf und ging zu ihm.
»Herr Süden«, sagte er. »Ich bin Severin Jagoda.«
Ich gab ihm die Hand. Er schob das Buch beiseite, eine Bibel.
»Was Ihnen zugestoßen ist, tut mir sehr leid«, sagte ich.
»Sind Sie jetzt für meine Tochter zuständig?«, sagte er.
»Nein«, sagte ich. »Ich bin hier, weil meine Mutter heute siebzig geworden wäre.«
»Ich hab Sie auf dem Friedhof gesehen«, sagte er. »Ich war heut Abend am Grab meiner Schwiegermutter und bin grad weggefahren, als sie kamen. Ich hab Sie sofort erkannt, Ihr Bild war ein paar Mal in der Zeitung.«
»Haben Sie neue Informationen?«, sagte ich.
Das Bild, unter dem er saß, zeigte ein dunkles Pferd auf einer dunklen Weide vor einem dunklen Wald unter dunklem Himmel. Es war ein schauerlich gemaltes Gemälde, und vielleicht schämten sich die Farben so für das Motiv, dass sie unaufhörlich nachdunkelten.
»Die Sonderkommission existiert noch«, sagte Jagoda. »Pro forma. Anna ist tot, daran gibt es keinen Zweifel. Oder würden Sie als Profi das bezweifeln?«
Ich bezweifelte es nicht und sagte: »Die Kollegen suchen weiter, auch im Ausland, auch übers Internet, die Sonderkommission existiert nicht nur auf dem Papier.«
»Selbstverständlich«, sagte er. Sein Gesicht war bleich, seine Stimme klang müde. Das Sakko war ihm zu weit, die Schultern standen unförmig ab, ein Knopf hing an einem Faden lose herunter. Er hob den Kopf, zögerte und räusperte sich. »Ich möcht Ihnen gern eine Frage stellen. Weil wir uns so zufällig begegnen, und weil …« Es schien, als denke er darüber nach, einen Schluck zu trinken, er legte die Hand ans halb volle Bierglas und nahm sie wieder weg. »Würde es Ihnen was ausmachen, sich kurz zu mir zu setzen? Nur eine Minute.«
Ich drehte mich um. Johann stellte gerade meine Getränke auf den Tisch. »Ich komme gleich!«
»Kein Problem«, sagte Johann, setzte sich und begann, eine Zigarette zu drehen.
»Darf ich Ihnen was zu trinken bestellen?«, sagte Jagoda, nachdem ich ihm gegenüber Platz genommen hatte.
»Nein.«
Er klappte die Bibel zu und ließ seine Hand darauf liegen. »Sie sind nicht zuständig, das versteh ich.« Er sprach mit gedämpfter, unsicherer Stimme, die ich, obwohl ich nah vor ihm saß, teilweise schwer verstand. »Ich will Ihnen trotzdem etwas darlegen, ich hab darüber auch mit Ihren Kollegen diskutiert, und sie haben mir zugehört. Aber meine Überzeugung haben sie nicht geteilt, bis heute nicht.« Nach einer kurzen Pause redete er beinah murmelnd weiter. »Der Mörder lebt hier im Dorf. Jemand aus unserem Dorf hat unsere Anna entführt und wahrscheinlich ermordet, ich weiß das, und es gibt nur einen Menschen, der das beweisen könnte.«
»Nein«, sagte ich.
»Ich weiß, Sie dürfen nicht, das würde Ihre Kompetenzen überschreiten. Aber worum ich Sie bitten möcht, betrifft Ihre Kompetenzen nicht. Ich möcht Sie bitten, einmal, nur einmal, die Akten durchzusehen, die meine Frau und ich gesammelt haben, Zeitungsausschnitte, Dinge, die wir uns aufgeschrieben haben, wenn die Kommissare bei uns waren. Nur ein Ordner, recht dick, ja, es sind auch Fotos dabei, Skizzen, Zeittabellen. Jemand aus Taging hat Anna umgebracht, und Sie können es herausfinden.«
Er griff nach seinem Bierglas, sah mich aus schmalen Augen an und trank einen langen Schluck.
»Haben Sie einen Beweis?«, sagte ich. »Ein stichhaltiges Indiz.«
»Nein«, sagte Jagoda. »Ich weiß es einfach. Da ist kein Fremder mitten am Nachmittag am Seeufer entlanggefahren und hat Anna gesehen, und sie ist dann bei dem ins Auto gestiegen. Das ist absurd. So was macht die Anna nicht. Niemand hat einen Fremden gesehen. Es war drei Uhr am Nachmittag, Herr Süden, die Sonne schien, Leute waren unterwegs, Leute, die Anna gesehen haben, die sie beschreiben konnten. Und dann, von einer Sekunde zur andern, war sie weg. Da war jemand aus dem Dorf, den sie kannte, zu dem sie Vertrauen hatte, zu dem ist sie ins Auto gestiegen, und der hat sie entführt und ermordet. Eine andere Erklärung gibt es nicht.«
»Kein Zeuge hat sie in ein Auto steigen sehen«, sagte ich.
»Kein einziger.«
»Ertrunken ist sie nicht.«
»Es waren Taucher tief unten im Taginger See. Und wenn sie ins Wasser gegangen wär, aus welchen Gründen auch immer, hätt jemand sie bestimmt bemerkt. Auf dem See waren Ruderboote, Tretboote, am Ufer saßen Spaziergänger, niemand badet an dieser Stelle, das ist verboten dort.«
»Anna ist kein vertrauensseliges Mädchen«, sagte ich.
»Sie weiß genau, mit wem sie sprechen darf und mit wem nicht, das haben wir ihr früh beigebracht.« Er trank, verzog das Gesicht und stellte das Glas hin. »Abgestanden! Würden Sie das für mich und meine Frau tun? Einmal die Akte lesen? Vielleicht fällt Ihnen was auf, eine Winzigkeit. Ich hab von Ihren Erfolgen in der Zeitung gelesen. Ich bitt Sie, ich geb Ihnen die Akte mit und hol sie bei Gelegenheit bei Ihnen in München wieder ab.«
Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Das wäre nicht nötig, ich könnte sie hier lesen, ich muss nicht ins Büro.«
»Sie haben Urlaub?«
»Zwangsurlaub.«
»Um Gottes willen!«, sagte Jagoda. »Sie sind doch nicht suspendiert worden?«
»Nein«, sagte ich. »Ich muss Überstunden abbauen. Ich habe drei Wochen frei.«
»Wie schön.«
Ich sagte: »Sie sind Lehrer von Beruf?«