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Nun gibt es eine exklusive Sonderausgabe – Gaslicht – Neue Edition In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! »Komm zu mir, meine Liebste«, flüsterte Frederic. »Ich habe dir so viel zu sagen. Es muß schön sein, gemeinsam zu sterben. Aber ich werde nicht zulassen, daß du lange leiden mußt.« Angela hörte seine schleichenden Schritte. Wie ein dunkler Schatten glitt er auf sie zu. Panische Angst schoß in ihr hoch. Was hat er vor? dachte sie zitternd. Sie spürte, daß er zu allem fähig war. Und plötzlich wurde ihr mit schrecklicher Deutlichkeit klar, daß er ihren Tod gewollt hatte, von Anfang an. »Ich weiß es selber nicht, warum man gleich von Liebe spricht«, sang Angela laut zur Begleitmusik der rauschenden Dusche. »Wenn man in meiner Nähe ist, in meine Augen schaut und meine Hände küßt«, trällerte sie. Angela fand, daß ihre Stimme im Badezimmer besonders gut klang. Herrlich war es, so unter der rauschenden Dusche zu stehen und aus vollem Herzen singen zu können. Tillys keckes Stupsnäschen drängte sich durch den Türspalt. »Gela, ein Einschreiben fur dich…«
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Seitenzahl: 152
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»Komm zu mir, meine Liebste«, flüsterte Frederic. »Ich habe dir so viel zu sagen. Es muß schön sein, gemeinsam zu sterben. Aber ich werde nicht zulassen, daß du lange leiden mußt.« Angela hörte seine schleichenden Schritte. Wie ein dunkler Schatten glitt er auf sie zu. Panische Angst schoß in ihr hoch. Was hat er vor? dachte sie zitternd. Sie spürte, daß er zu allem fähig war. Und plötzlich wurde ihr mit schrecklicher Deutlichkeit klar, daß er ihren Tod gewollt hatte, von Anfang an.
»Ich weiß es selber nicht, warum man gleich von Liebe spricht«, sang Angela laut zur Begleitmusik der rauschenden Dusche. »Wenn man in meiner Nähe ist, in meine Augen schaut und meine Hände küßt«, trällerte sie.
Angela fand, daß ihre Stimme im Badezimmer besonders gut klang. Herrlich war es, so unter der rauschenden Dusche zu stehen und aus vollem Herzen singen zu können.
Tillys keckes Stupsnäschen drängte sich durch den Türspalt. »Gela, ein Einschreiben fur dich…«
»Unterschreib du, du siehst doch, ich dusche«, rief Angela ausgelassen. »Mein Lippen, die küssen so heiß!« sang sie weiter.
»Das wird den Postboten wenig interessieren«, schrie Tilly gegen die gesangsgeschulte Stimme an. »Er braucht deine Unterschrift, nicht meine.«
»Meine Glieder sind schmiegsam und weich!« sang Angela, unterbrach sich dann und warf einen vorwufsvollen Blick auf die Freundin. »Soll ich vielleicht in diesem Aufzug vor die Augen eines männlichen Wesens treten?« fragte sie.
»Gönn dem armen Menschen doch auch ein Vergnügen«, kicherte Tilly. »Ich kann ihn ja hier hereinschicken. Vor lauter Dampf sieht man sowieso kaum was.«
»Untersteh dich!« Angela schleuderte einen nassen Waschlappen in Richtung von Tillys vorwitziger Nase. Doch Tilly hatte schon ihren Kopf zurückgezogen, und der Waschlappen klatschte gegen die Tür.
Angela stellte den Hahn ab und wickelte sich seufzend in das Badetuch, das eine aufregende lila Farbe hatte. Sie hatte es in einem schwachen Moment gekauft, weil die Farbe genau zu ihren Augen paßte, was absolut
albern und überflüssig war, denn
wer sah sie schon so in dieser Umhüllung?
Der Postbote stand im Wohnzimmer, hatte ein Glas von ihrem Besucherkognak an den Lippen und schien vollkommen von der abenteuerlichen Einrichtung des Zimmers gefesselt zu sein.
Die Möbel, die allesamt vom Sperrmüll stammten, waren durch Tillys Künstlerhände in grelle Farben getaucht worden. So kletterte ein feuerrotes Regal die Wände hoch, insgeheim nannte Angela es die Feuerleiter, ein giftgrüner Tisch stand auf einem sonnengelben Teppich, Sonderangebot beim Schlußverkauf, und die Sessel waren mit grellbuntem Stoff überzogen, der überdies schauderhaft kratzte, wenn man damit in Berührung kam.
Doch der Clou des Raumes waren natürlich Tillys Kunstwerke. Beim Betrachten der knallig bunten Bilder kam einem unwillkürlich der Verdacht, sie wären verkehrt herum aufgehängt worden, und die Skulpturen aus Ton, die überall herumstanden, sahen aus wie traurige Kasperlefiguren.
Nach diesem überwältigenden Augenschmaus wunderte sich der Postbote nicht weiter über das junge Mädchen, das aus Haaren und Gliedern triefend, in ein lila Badetuch gewickelt, vor ihm aufkreuzte.
»Sie sind Angela Austin«, fragte er und senkte seinen Blick taktvoll.
Angela setzte ihre Unterschrift auf einen roten Zettel und bekam dafür einen dicken Brief, der schon von außen sehr wichtig aussah.
»Von wem ist er? Nun öffne doch schon?« Tilly tanzte in ungeduldiger Spannung um sie herum.
»Das möchte ich auch wissen.« Angela starrte auf den Umschlag, er war blau, und sie fühlte sich an ihre Schulzeit erinnert, wo es eine Katastrophe war, wenn man blaue Briefe bekam. Ein blauer Brief, das hatte noch nie etwas Gutes bedeutet.
»Wenn du den Brief nicht öffnest, wirst du es nie erfahren«, schrie Tilly, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das kurze karottenrote Haar, daß es hochstand wie eine Bürste und ihr das Aussehen eines wildgewordenen Kobolds gab.
Angela setzte sich auf den Drehstuhl vor dem weißen Klavier, das sich unter all diesen schreiend bunten Möbeln so seltsam ausnahm, wie eine weiße Taube unter lauter bunten Papageien.
Angela ritzte das Kuvert mit dem Fingernagel auf, holte eine ganze Reihe Briefbogen heraus, dann ein Schreiben mit kurzem amtlichem Inhalt.
»Sehr geehrte Frau Austin«, las sie laut, woraufhin Tilly albern zu kichern begann. »Frau? Jungfrau würde besser passen, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
Angela warf ihr einen strafenden Blick zu. »Frau ist deutsche Amtssprache und absolut korrekt, das solltest du wissen.«
»In Ordnung! Nun lies schon weiter! Von wem ist eigentlich der Brief?«
»Rechtsanwalt und Notar Dr. Gritfinger und Co.«, sagte Angela. »Möchte ich Sie bitten, betreffs Ihrer Erbschaft mein Büro aufzusuchen«, las sie weiter. »Ich habe geerbt. Juchhu! Im nächsten Monat könnten wir uns einen Fernseher kaufen.«
»Glaubst du, das lohnt sich bei dem Programm?« warf Tilly nüchtern ein. »Viel dringender brauchten wir eine Waschmaschine. Immer läßt du deine Wäsche im Spülstein liegen, so daß ich mir nicht mal die Zähne putzen kann. Der Toaster ist auch kaputt, jedenfalls bringt er nur verbranntes Zeug zuwege, und in der Küche tropft der Wasserhahn. Gela, glaubst du, das Geld wird auch noch für einen Klempner reichen?«
Angela, die indessen weitergelesen hatte, hob das Gesicht, das plötzlich blaß geworden war.
»Ein Schloß…« flüsterte sie.
»Ein Schloß?« echote Tilly. »Klar, ein Vorhängeschloß brauchen wir auch. Wo es doch heutzutage so viele Einbrecher und andere Verbrecher gibt.«
»Ich habe ein Schloß geerbt«, sagte Angela mit tonloser Stimme.
»Was für ein Schloß? Ein Fahrradschloß? Für ein dämliches Schloß schicken sie extra ein Einschreiben? Da kostet ja das Porto schon mehr als…« Sie brach ab, als sie sah, wie Angela den Kopf neigte und in Tränen ausbrach.
»Du weinst?« rief sie bestürzt.
»Ich muß doch weinen«, schluchzte Angela. »Meine Großmutter ist gestorben.«
»Du hast eine Großmutter?« rief Tilly überrascht.
»Jeder Mensch hat eine Großmutter«, wies Angela sie zurecht und wischte sich die Augen.
»Aber du hast nie von ihr gesprochen!«
»Kunststück, ich kenne sie ja überhaupt nicht.«
»Ha?« Tillys Stupsnasengesicht war ein einziges Fragezeichen. »Du weinst wegen jemand, den du nicht mal kennst?«
»Da hast du auch wieder recht.«
»Wieso kennst du deine eigene Großmutter nicht?«
»Schicksal«, seufzte Angela. »Sie hat meine Mutter verstoßen, weil Mutter sich einen Mann ausgesucht hat, der Großmutter nicht paßte.«
»Aber dein Vater war doch so ein stattlicher Mann«, wandte Tilly ein.
»Aber er war weder adelig noch reich.
Außerdem war er Ausländer. Er war Geiger in einer Musikkapelle, die auf Mamas erstem Ball spielte. Sie hat sich Hals über Kopf in ihn verliebt und ist mit ihm auf und davon. Diese Schande hat Großmama ihr natürlich nie verziehen.«
»Das ist ja eine richtige romantische Geschichte«, seufzte Tilly. Dann fiel ihr etwas anderes ein. »Deine Groß-mutter war also eine Adelige?« forschte sie gespannt.
»Sie war die Gräfin von Soldenhoff«, antwortete Angela nicht ohne Stolz.
»Meine Güte«, Tilly starrte sie an. »Du – du – du nimmst mich bloß auf den Arm«, stotterte sie.
»Lies selber, ungläubiger Thomas!«
Mit wachsendem Staunen überflog Tilly das Schriftstück. »Als einzige Blutsverwandte der Gräfin Regine von Soldenhoff«, las sie halblaut, »sind Sie Erbin ihres gesamten Besitzes, der sich auf Schloß Soldenhoff, sowie einiges Privatverrnögen bezieht. Zur Klärung der geschäftlichen Angelegenheiten möchte ich Sie bitten, so bald wie möglich Rücksprache mit mir zu halten.«
Fassungslos ließ Tilly das Briefblatt sinken. »Eine Erbin von Schloß und Privatvermögen«, rief sie staunend. »Und so was schläft Wand an Wand mit mir.«
»Nicht mehr lange«, sagte Gela. Sie trat ans Klavier und spielte einige Takte.
»Was bist du nur für ein Glückspilz!«
»Beschrei es nicht!« Angela blickte sich fast erschrocken zu ihr um. »Nicht immer bringt Erben auch Glück! Hast du nicht auch neulich von dem
Stadtstreicher gelesen, der von einem Gönner einen ganzen Weinkeller geerbt hat? Er hat sich zu Tode getrunken.«
»Du hast recht! Wir müssen auf dein Erbe anstoßen!« Tilly raste in die Küche, kam mit zwei Wassergläsern und einer Flasche Mineralwasser zurück. »Eigentlich müßte es ja jetzt Champagner sein«, entschuldigte sie sich, »aber sprudeln tut das Zeug genauso.«
Dann stießen sie feierlich mit ihren Gläsern an.
*
In den nächsten Tagen kam Angela kaum zur Besinnung. So viel gab es zu tun! Sie mußte zum Rechtsanwaltsbüro und eine Menge Dokumente unterschreiben, bis alles seine Richtigkeit hatte, dann mußte sie sich ummelden, die Zeitung abbestellen und sich von Klavier- und Gesangslehrerin verabschieden.
»Werden Sie jetzt der Bühne für ewig abschwören?« fragte die Gesangslehrerin, Frau Anita Kübow, die früher ein gefeierter Opernstar gewesen war.
»Bestimmt nicht«, beteuerte Angela. »Sobald ich alles geregelt habe, werde ich mein Studium wiederaufnehmen.«
»Du hast eine hübsche Stimme, Angela«, sagte die ehemalige Diva. »Ja, für den Hausgebrauch ist sie sehr
hübsch. Aber für die Opernbühne ist sie nicht groß genug. Ich bin darin ganz offen, damit du dir keine falschen Hoffnungen machst.«
»Und warum erzählen Sie mir das jetzt erst, Frau Kübow?« fragte Angela, sie war wie vor den Kopf geschlagen.
»Besser jetzt als zu spät«, lächelte Frau Kübow. »Außerdem ist es mein Job, Gesangstunden zu geben. Wenn ich jeden unbegabten Schüler wegschicken würde, müßte ich glatt verhungern.«
Angela war tief getroffen.
Sie war so überzeugt von ihrem Talent gewesen, daß sie die Worte der ehemaligen Diva wie eine eiskalte Dusche empfand.
Ich soll unbegabt sein? dachte sie aufgebracht, während sie die Wohnung ihrer Gesangslehrerin verließ. Dabei war mein Vater zuletzt Kapellmeister an der Stockholmer Oper.
Angi, hatte ihr Vater sie genannt. Er war ein sehr liebevoller, zärtlicher Vater gewesen, wenn er Zeit für sie hatte. »Unsere Angi wird mal eine große Sängerin«, hatte er zu Mama gesagt, und Mama hatte auf ihre nette, liebe Art gelächelt.
Dann waren sie in ein Flugzeug gestiegen, um zu einem Gastspiel nach Berlin zu fliegen. Gleich nach dem Start war das Flugzeug explodiert. Damals war Angela achtzehn Jahre alt gewesen, und war mit einem Schlag völlig auf sich gestellt.
Die bescheidenen Ersparnisse ihres Vaters hatten ihr ermöglicht, ein Studium in Deutschland aufzunehmen. Sie war nach Berlin gekommen, hatte zuerst in einem möblierten Zimmer gewohnt und dann in einem Studentencafe Tilly kennengelernt.
Die Mädchen hatten sogleich Gefallen aneinander gefunden, und als Tilly ihr angeboten hatte, mit in ihre Wohnung zu ziehen, hatte sie es gern getan.
Jetzt war Tilly ihre beste, einzigste und liebste Freundin, und sie würde ihr niemals vergessen, daß sie sie damals aus ihrem gräßlichen möblierten Zimmer herausgeholt hatte und ihr so was wie ein Heim gegeben hatte.
All das ging Angela durch den Kopf, während sie mit dem Bus durch die Straßen Berlins fuhr, dann noch in die Untergrundbahn umstieg und endlich am Ziel war. Der Gedanke, daß sie auch ein Taxi hätte nehmen können, war ihr nicht gekommen. Sie konnte sich an den Gedanken noch nicht gewöhnen, jetzt nicht mehr mit jedem Pfennig rechnen zu müssen.
Schließlich war sie vor dem häßlichen grauen Haus angelangt mit den vielen Treppen, denn ihre Wohnung lag im Dachgeschoß. Es gab dort einen großen Raum mit bodenlangen Fenstern, in dem Tilly arbeitete, denn sie brauchte viel Tageslicht bei ihrer Arbeit.
Auch jetzt war sie hier. Ihr kleines süßes Gesicht sah verheult aus, und die karottenroten Haare standen ihr wieder mal zu Berge.
Tilly arbeitete an einer mittelgroßen Leinwand; sie zeichnete, diesmal nicht abstrakt, sondern konkret, und zwar mit Kohlestift.
Tilly hatte bestimmt gehört, daß Angela hereingekommen war, aber sie ließ sich nicht stören. Ganz konzentriert malte sie weiter, deutete mit zarten Strichen ein Mädchengesicht an, mit großen, ein wenig verträumten Augen und glattem hellem Haar, das im Nacken aufgesteckt war, so wie es Angela manchmal trug.
»Das bin ja ich«, verwunderte sich Angela. »Du müßtest immer so malen, Tilly! Es ist einfach phantastisch. Du mußt es mir unbedingt verkaufen.«
»Ich schenke es dir«, erwiderte Tilly und schluckte dabei. »Es ist eigentlich mein Abschiedsgeschenk für dich. Am liebsten würde ich es ja selbst behalten, dann hätte ich wenigstens eine Erinnerung.«
»Was redest du da?« unterbrach Angela sie. »Man braucht sich doch nicht an einen Menschen zu erinnern, den man tagtäglich sieht.«
»Aber du gehst doch fort«, schluchzte Tilly. Ihre Nase war schon ganz rot und ihre grünen Augen, die sonst so unternehmungslustig blitzen konnten, sahen trübe aus.
»Natürlich gehe ich fort«, stimmte Angela ihr zu. »Aber du kommst mit. Hast du denn im Ernst geglaubt, ich würde dich zurücklassen?«
»Ich soll mitkommen?« Ein so ungläubiges freudiges Erstaunen war plötzlich in ihrem Gesicht, daß Angela ganz gerührt war.
»Natürlich kommst du mit«, sagte sie in bestimmtem Ton. »Malen kannst du doch überall, auch auf Schloß Soldenhoff. Und so ganz allein würde ich mich bestimmt schrecklich vor all dem Unbekannten fürchten. Tilly, ich bitte dich sehr herzlich, komm mit! Ich weiß, wie sehr du an Berlin hängst. Aber denke doch daran, wie dringend ich dich brauche.«
»Nun, wenn du unbedingt willst«, nuschelte Tilly, die Augen voller Tränen aber trotzdem strahlend. »Ich laß doch meine beste Freundin nicht im Stich, auch fände ich es ganz schön, nach all dem Großstadtmief mal frische Landluft zu schnuppern.«
»Malen kannst du ja überall«, lächelte Angela. »Stell dir nur vor, welch wundervolle neue Motive auf dich einstürmen werden. Wir werden einen schönen großen Raum für dich aussuchen, wo dich niemand bei der Arbeit stört.«
»Aber deine Verwandten, was werden die sagen, wenn du eine Freundin anschleppst?«
»Sie haben mir gar nichts zu sagen«, entgegnete Angela, doch ihr Gesicht hatte sich leicht überschattet. »Es sind nicht meine Verwandten, sondern die meiner Großmutter, praktisch die Familie von Großmutters Neffen, die auf Schloß Soldenhoff Dauerwohnrecht genießen. Ich hoffe, es werden angenehme Menschen sein.«
»Wenn sie dir nicht passen, kannst du sie dann auch nicht rausschmeißen?« fragte Tilly.
Angela schüttelte den Kopf. »Das möchte ich auch gar nicht. Meine Großmutter hat ihnen auf Schloß Soldenhoff eine Heimat gegeben, nachdem sie nach dem Krieg ihre Güter verloren haben. Es war ihr Wunsch, daß ihr Neffe, Baron Sandor von Laskowski, dort ein neues Heim findet.«
»Sind auch Kinder da?«
»Zwei Söhne, soviel ich weiß.«
Angela ging in die Küche und holte Milch aus dem Kühlschrank. Tilly war ihr gefolgt, sah zu, wie sie ein Glas Milch in einem Zug austrank und bemerkte auf ihre trockene Art:
»Milch ist immer gut gegen Vergiftungserscheinungen.«
Angela blinzelte sie verwirrt an. »Ich verstehe nicht…«
»Irgendwas scheint dir wie Gift am Herzen zu nagen«, frotzelte Tilly. »Ich kenne dich, Gela. Warum siehst du nicht wie eine glückliche Erbin aus?«
Angela setzte sich auf den Küchentisch und schaute sich um, als sähe sie alles zum erstenmal.
»Eigentlich war ich ganz glücklich hier«, flüsterte sie. Ihr Blick wanderte zu Tilly, und ihre schönen blauen Augen hatten plötzlich einen feuchten Schimmer. »Wir konnten zwar nicht wie die Fürsten leben, aber was machte das schon, wir waren zufrieden. Wir waren frei!«
Sie glitt vom Tisch herunter und meinte bekümmert: »Ich kann mir nicht helfen, Tilly, aber irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache.« Sie nahm Tilly bei den Schultern und schaute sie ein wenig hilflos an. »Glaubst du an Vorahnungen?«
»Vorahnungen?« Tilly zwinkerte verwirrt. »So was kenne ich nicht.« Sie grinste und fuhr dann auf ihre burschikose Art fort: »Ich habe so das Gefühl, daß ich nie eins von meinen abstrakten Bildern verkaufen werde. Nennst du das eine Vorahnung?«
»Nein«, antwortete Angela und lächelte. »Ich meine, wenn man spürt, daß einem etwas Schlimmes bevorsteht, das ist eine Vorahnung.«
Tilly blickte besorgt zu ihr auf. »Und so eine Vorahnung hast du jetzt?«
Angela trat ans Küchenfenster. Die Aussicht war eigentlich gar keine Aussicht. Man blickte direkt auf eine Häusermauer, und wollte man ein Stückchen Himmel sehen, mußte man sich weit aus dem Fenster lehnen.
»Es ist nur so ein unbestimmtes Empfinden«, murmelte sie. »Wahrscheinlich nur Einbildung!« Sie öffnete das Fenster und atmete tief ein, und sie versuchte, mit aller Gewalt den Gedanken zu verdrängen, daß sie dieses Gefühl nahenden Unheils schon einmal verspürt hatte – damals, als ihre Eltern verunglückt waren.
»Ist ja logisch daß du dir Gedanken machst«, beruhigte sie Tilly. »Man sagt ja, viel Geld haben, macht Kopfweh! Dazu kommst du noch in ein völlig fremdes Milieu, zu Leuten, die du überhaupt nicht kennst und die wahrscheinlich von dir verwandtschaftliches Entgegenkommen erwarten.«
»Wenn sie so sind wie meine Großmutter«, seufzte Angela.
»Wirst du wohl nichts zu lachen haben«, setzte Tilly ihre Rede fort. »Ich begreife nicht, wie jemand so grausam sein kann, seine einzige Tochter zu verstoßen, nur weil sie sich in einen armen Musiker verliebt hat.«
»Nun, ich glaube, meine Mutter hat damals richtig gehandelt«, sagte Angela, und ein weiches Lächeln legte sich um ihre Lippen. »Die beiden waren so glücklich zusammen. Bestimmt hat sie es nie bereut, Papas wegen Geld und Gut aufgegeben zu haben.«
»Mehr als sattessen kann man sich ja doch nicht«, stimmte Tilly ihr zu, »und selbst das nicht einmal, man muß ja auf seine Linie achten.«
Das brachte dieses Persönchen, das knapp hundert Pfund wog, mit so drolligem Ernst heraus, daß Angela laut auflachen mußte.
»Glaubst du, es gibt Gespenster auf Schloß Soldenhoff?« fragte Tilly sensationslüstern. »Irgend so eine Ahnfrau, die um Schlag Mitternacht herum-spukt?«
»Vielleicht gibt es sogar Knochenmenschen, die mit ihren Köpfen Kegel spielen.«
Tilly schüttelte sich. »Ganz schön schauerlich«, wispere sie. »Was für ein Jammer, daß ich gerade um Mitternacht immer so einen festen Schlaf habe. Du mußt mir versprechen, mich zu wecken, wenn es mal spannend wird.«
»Mach ich«, versprach Angela heiter. »Aber jetzt haben wir genug dummes Zeug geredet. Ich schlage vor, wir entrümpeln die Wohnung und packen dann unsere Siebensachen zusammen.«
Tilly ging ins Wohnzimmer und deutete auf das weiße Klavier: »Soll das auch auf den Sperrmüll?«
»Untersteh dich! Ich werde es mit einer Spedition aufs Schloß schicken lassen.«
»Aber möglichst vor unserer Ankunft, dann bekommen die Schloßbewohner gleich den richtigen Respekt.«
»Weißt du, was wir machen, wenn alles fertig ist?«
»Abendessen«, sagte Tilly. »Ich bin jetzt schon hungrig.«
»Nichts da! Wir werden in die Stadt fahren und uns ganz tolle Klamotten kaufen. Du, das wird herrlich sein, einmal einkaufen zu können, ohne heimlich auf die Preisschilder schielen zu müssen.«
*
»Dieser verflixte Nebel«, schimpfte Tilly. Sie hatte Angela hinter dem Steuer des neuen tiefblauen Kabrioletts abgelöst und hatte die Nase fast an der Windschutzscheibe. »Man kann kaum die Hand vor Augen sehen«, beklagte sie sich, »geschweige denn einen Weg.«
»Du braucht ja nur den Bäumen auszuweichen«, scherzte Angela.
»Bäume?« lachte Tilly gemartert. »Ich seh nicht mal Bäume, nur Schatten.«