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Sylvester von Erfft führt mit seiner Frau Agathe eine harmonische Ehe. Man schwelgt nicht in Reichtum, ist aber gut abgesichert, unternimmt Reisen, genießt das Leben. Doch eines Tages, scheinbar aus dem Nichts heraus, wandelt sich seine Gemütslage drastisch, sein sonst so lebensbejahender Aktionismus schlägt um in eine schwere Lethargie, so hat es den Anschein. Agathe entschließt, für eine Weile zu ihrer Schwester zu fahren, um Abstand zu gewinnen – als sie zurückkehrt, ist ihr Mann verschwunden. Kurze Zeit später erreicht sie ein Brief, in dem er ihr unumwunden von seinen jüngsten Erlebnissen berichtet, auch von einer jungen Frau, zu der er sich hingezogen fühlt, ist die Rede. Reine Provokation? Ist er krank? Verrückt? Oder stecken die beiden in einer Krise, die sich schon lange zuvor angekündigt hat? Agathe macht sich auf den Weg, um Sylvester zu finden...-
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Seitenzahl: 215
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Ein kleiner Roman
Saga
Man weiß von Sternen, die ohne ergründbare Ursache ihr Licht verlieren, um entweder für kurze Frist oder für immer in die Finsternis des unendlichen Raums zu entschwinden; so gibt es auch Menschen, deren Schicksal von einem gewissen Zeitpunkt ab in Dämmerung und Dunkelheit gleitet.
Ein solcher Mann war der Herr von Erfft und Dudsloch, der gegen das Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zwischen Würzburg und Kitzingen im unterfränkischen Kreis lebte. Seine Wirtschaft und seine häuslichen Angelegenheiten befanden sich in gutem Stand; obwohl es ihm versagt war, einen Luxus zu entfalten, nach dem er sich bisweilen in müßigen Stunden sehnen mochte, erlaubten ihm seine Vermögensverhältnisse doch, alle Wünsche zu befriedigen, die durch phantasievolle Neigung oder eingefleischte Gewohnheit in ihm lebendig erhalten wurden. Die beiden Güter warfen ein ansehnliches Erträgnis ab, die hypothekarische Belastung einzelner Grundstücke und Neubauten wurde mit jeder Ernte geringer, und ein Kapital, das aus der Mitgift der Frau und den allmählich angewachsenen Ersparnissen bestand, war in einem Würzburger Bankhaus niedergelegt. Sylvester von Erfft konnte mehrere Reitpferde und einen Kutschierwagen halten, konnte ein ziemlich ausgedehntes Waldland pachten, um sich dem Vergnügen der Jagd hinzugeben, konnte mit Agathe, seiner Lebensgefährtin, kleine Reisen nach einer nördlich oder südlich gelegenen Residenz unternehmen, weil hier ein Konzert, ein Theater, dort ein geselliger Zirkel lockte, und war vor allem nicht daran gehindert, seine Bibliothek zu bereichern, denn er war ein Mann von Kenntnissen und lebhaften Interessen.
Doch an alledem fand sein heftiger Tätigkeitstrieb kein Genügen. In seiner Jugend hatte er mehrere Jahre in England verbracht, und nachdem er geheiratet hatte und landsässig geworden war, beschäftigten ihn lange Zeit hindurch allerlei Reformpläne; er wollte das Pachtwesen und die Ökonomieverwaltung nach englischem Muster einrichten; er regte Versammlungen der Bauern an, in denen er vorschlug, daß sie sich gegen den drohenden Industrialismus und die wirtschaftliche Ausbeutung als starke Gemeinschaft zur Wehr setzen möchten; er ging sogar damit um, die Erbfolge in den deutschen Adelsfamilien nach dem Vorbild der englischen Aristokratie umzugestalten und richtete eine Eingabe an den König, die von weitem Blick und Sachkenntnis zeugte, aber nicht im mindesten beachtet wurde, sondern ihm, als etwas davon verlautete, unter seinen Standesgenossen Feindseligkeiten und Spöttereien zuzog. Sein Schwager, der Major von Eggenberg auf Eggenberg, stellte ihn sogar wegen dieser närrischen Schrift, wie er sich ausdrückte, zur Rede; Sylvester schlug es ab, sich zu rechtfertigen, und lächelte nur, als der Major ihm sagte, wenn er einen so unbändigen Tatendrang verspüre, möge er sich doch wählen lassen und als Abgeordneter nach Frankfurt gehen. Der Herr von Bismarck sei ja im Begriff, Deutschlands leibhaftiges Unglück zu werden, und man brauche Männer im Kampf gegen diesen Drachen.
Von so beschaffener Politik wollte Sylvester nichts wissen. Mehr als eine höfliche Teilnahme konnte er denen nicht widmen, die das Räderwerk der Staatsmaschine in Gang setzten; wer gut regierte, war ihm schätzbar, den schlechten Herrn machten eifrige Diener nicht besser. »Ich liebe meine Heimat«, pflegte er zu sagen, »die Erde, die mich trägt und nährt, aber es ist mir gleichgültig, was diese Erde auf den Landkarten für einen Farbenrand hat, und kein Minister kann von mir verlangen, daß ich ihm meine Steuern mit einem patriotischen Jubelgesang bezahle.« Wie so viele aufgeklärte und überlegene Geister verstand er seine Zeit nicht recht. Es schien ihm eine tote Zeit zu sein; eine leere und nüchterne Zeit, eine Zeit der Spießbürger, der schlechten Musik, der schlechten Bücher, der geschmacklosen Möbel und des unfruchtbaren Geschwätzes. Ihm dünkte, man mache nur deshalb soviel Lärm, weil man die Dinge verwirren und die Ideen verfinstern wollte; er glaubte nicht an eine gedeihliche Zukunft, ohne Hoffnung blickte er auf sein Vaterland und ohne Anteil auf die trügerische Erregung seiner Mitbürger, denn alles, was er selbst zu ihrem Besten hatte vornehmen wollen, war schmählich mißlungen.
Dadurch wurden aber sein Lebensmut und seine Heiterkeit keineswegs getrübt. In den letzten Jahren hatte er eine große Vorliebe für Gartenkünste gefaßt, er hatte eine Orangerie gebaut und einen Gärtner aus Richmond kommen lassen; mit diesem beriet er stundenlang über die Anlage neuer Wege, über Pfropfungen und Verpflanzungen. Agathe unterstützte ihn dabei, soweit sie es vermochte, und zu der Ritterlichkeit, die er gegen sie an den Tag legte, gesellte sich Dankbarkeit. Sie war nur um zwei Jahre jünger als er; dieser Umstand machte sie um so mehr zu seiner Freundin; bei jedem vortretenden Anlaß achtete er sie für gleichberechtigt. Es gab auch Zank, denn er war jähzornig und nicht ohne Launen, und Agathe war nicht die Person, die sich sklavisch unterwarf, aber jedesmal fühlte sie sich entzückt durch sein williges Bemühen, ein Unrecht vergessen zu machen, das er ihr zugefügt. Manchmal konnte er sie mit seinen Neckereien bis zu Tränen bringen; dann nahm er am Abend irgendein Buch mit schönen Gedichten und las ihr vor. Im dritten Jahre ihrer Ehe war ihnen ein Kind geboren worden, ein Mädchen; es hieß Silvia, war jetzt sieben Jahre alt und sehr schön. Am Vater wie an der Mutter hing es mit der überschwenglichen Kraft, die der frühen Jugend eigen ist, und mit seiner geschmeidigen Gestalt und seinem heitern Antlitz wandelte er durch die Träume des Kindes wie ein Gott.
Von irgendeinem Tage ab, niemand konnte genau sagen von welchem, veränderte sich Sylvesters Wesen ganz und gar. Eine unentschiedene, schwankende, zweifelvolle Stimmung war ihm anzumerken, eine Unlust, die sich bis zur Verdrossenheit steigerte und die Agathe mehr und mehr Besorgnis einflößte. Bisweilen versuchte sie es, ihn aus sich herauszulocken, aber er antwortete nur mit einem Achselzucken und einem fremden Blick. Er hörte auf, sich mit Silvia zu beschäftigen; was er mit dem Kind redete, klang gezwungen und zerstreut.
Umsonst grübelte Agathe über die Ursache der Verwandlung nach. Umsonst ließ sie Leckerbissen für ihn kochen; umsonst machte sie ihm einen englischen Hühnerhund und ein neues Jagdgewehr zum Geschenk; umsonst waren ihre Anstrengungen, ihn aufzuheitern; er schien wie eingemauert. Eines Tages trat sie in sein Zimmer und beobachtete ihn, wie er, den Rücken gegen sie gekehrt, unbeweglich vor dem Spiegel saß. Sie erschrak über den Ausdruck seines Gesichts, den ihr der Spiegel zeigte. Sie näherte sich ihm; er hörte sie nicht. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt, und sein Blick war verloren auf das Ebenbild gerichtet. Sein Auge war voll Schwärze; um die Brauen hatten sich dunkle Entschlüsse geballt wie Wolken um ein Gebirge; aus den Lippen schien eine quälende Frage unhörbar zu dringen. Agathe schlich davon, und als sie den Flur erreicht hatte, rang sie stumm die Hände.
Ein anderes Mal geschah es, daß sie ihn, es war mitten in der Nacht, in der Bibliothek unermüdlich auf- und abgehen hörte. Sie lag im Bett, aber schlafen konnte sie nicht. Je länger sie dem Geräusch seiner Schritte lauschte, je wacher wurden ihre Sinne. Endlich erhob sie sich, umhüllte die Schultern, verließ das Zimmer und ging nacktfüßig die Treppe hinauf. Leise pochte sie, denn sie wollte ihn nicht überfallen, aber als sie die Klinke herabdrückte, merkte sie, daß die Tür verriegelt war. Im selben Augenblick erlosch der Schein in den Ritzen und Spalten, und drinnen wurde es still. Kein Zweifel, daß er das Klopfen gehört, und daß er wußte, Agathe sei es, die vor der Schwelle stand. So genügt also, dachte Agathe, das Bewußtsein meiner Nähe, um ihn mit Furcht zu erfüllen, mit Furcht und mit solchem Abscheu, daß er die Lampe ausbläst, um mich zu verscheuchen.
Am andern Morgen übergab sie das Kind der Pflege ihrer Wartefrau und fuhr zu ihrer Schwester nach Eggenberg. Ihrem Gatten hinterließ sie ein paar Zeilen, des Inhalts, daß sie Sehnsucht nach der Schwester empfinde und sich für die Reise um so leichter entschlossen habe, als sie annehme, daß er ihrer nicht bedürfe und eine Trennung von acht oder zehn Tagen ihm in seiner gegenwärtigen Verfassung vielleicht willkommen sei. Sie lebte bei Schwester und Schwager wie in einem peinvollen Exil, doch stellte sie sich völlig harmlos, und kein Wunsch, drohende Gefahren zu erörtern, war ihr anzusehen; es widersprach dem Grundgefühl ihrer Natur, eine Sache vor andere Ohren zu bringen, die einer nur mit sich selbst und seinem Partner ausmachen kann. Indessen wartete sie von Tag zu Tag auf Nachricht; eine ihr eigentümliche Halsstarrigkeit hinderte sie daran, die Frist zu brechen, die sie sich selbst gesetzt, und als sie nach Verlauf von eineinhalb Wochen wieder in Erfft eintraf, erfuhr sie, daß Sylvester schon vier Tage vorher abgereist war. Er hatte Adam Hund mitgenommen, seinen Diener aus früheren Jahren, den er nach seiner Verheiratung mit einer Aschaffenburger Bierbrauerstochter als Verwalter in Dudsloch angestellt hatte.
Kein Brief, kein Zeichen meldete ihr, wohin er sich gewandt. Frau Österlein, Silvias Pflegerin, erzählte, er sei in der Nacht zuvor an das Bett des Kindes getreten, habe es aus den Polstern gerissen und an seine Brust gedrückt; Silvia habe jedoch fest geschlafen und von dem Zwischenfall nichts in Erinnerung behalten. Fast gleichzeitig bekam Agathe eine Post des Würzburger Bankhauses, worin ihr ordnungsgemäß mitgeteilt wurde, daß Herr von Erfft die Summe von zweitausend Talern behoben habe.
Agathe begab sich in ihr Zimmer, setzte sich hin und wühlte die Stirn in die Winkel beider Arme wie in ein Versteck. Sie schämte sich vor dem Mittagslicht, und die erste Frage an ihr Inneres war, welchen Makel sie auf sich geladen, welche Sünde sie unwissentlich begangen haben könne. Sie war bereit, jeden Fehler in sich selbst zu suchen und hätte sich eines Verbrechens bezichtigt, wenn sie es nur zu entdecken vermocht und dadurch Klarheit erlangt hätte. Das Herz, das ihr am teuersten war, in geheimnisvoller Weise umschleiert zu wissen, dünkte ihr unerträglich. Desungeachtet bewahrte sie vor den Leuten ihre Haltung, und kein Späherauge war imstande, hinter den wohlwollend ernsten Zügen den nagenden Kummer zu bemerken.
So verging eine Woche. An einem Nachmittag stand Agathe im Hof und sprach mit dem Inspektor, da kam der Bote und reichte ihr einen Brief. Ohne zu sehen, spürte sie, daß der Brief von Sylvester war. Diesmal versagte die Selbstbeherrschung: ihre Hand zitterte, ihr Gesicht erbleichte. Sie eilte ins Haus; im Wohnzimmer mußte sie sich an die zugeworfene Türe lehnen und die erregte Brust erst ausatmen lassen, ehe sie die Briefhülle aufriß. Dann las sie, und ihre angespannte Miene wurde mit jeder Sekunde ruhiger, aber auch verwunderter.
Der sonderbare Mann schrieb ihr, als ob es die natürlichste Sache von der Welt sei, daß er sich fern von Haus und Hof befand und als ahne er nichts von Agathes Herzensunruhe. Er wußte seine Mitteilungen in einen anmutigen Stil zu kleiden; es war seine vorzügliche Gabe von jeher gewesen, aber nie früher und nie mit solchem Recht hatte Agathe dieser Gewandtheit so tiefes Mißtrauen entgegengesetzt; die glatten und schmuckhaften Wendungen erschienen ihr wie Lügen, und sie bedurfte der Mühe großer Selbstüberredung, damit die festgegründete Achtung sich nicht verringerte, die sie gegen Sylvester hegte. Er schrieb ihr von gleichgültigen Bekannten, die er getroffen, von der Familie des Präsidenten, wo er diniert, von der Einladung des Großherzogs, nach Karlsruhe zu kommen, von seiner Reiselust, von einem schlechten Theaterstück das er gesehen; dann fuhr er fort: »Ich bewohne zwei elende Zimmer im Gasthof, hoch oben im dritten Stock, denn wegen der Nürnberger Messe ist alles überfüllt. Doch hat mir dieses Ungemach zu einem kleinen Abenteuer verholfen. In dem Fenster gegenüber ist eines Abends ein junges Mädchen aufgetaucht. Wir haben einander in die Augen gesehen wie zwei Wesen von verschiedenen Sternen. Sie ist mehr als jung, das Blut in ihren Adern singt vor Jugend; dabei ist sie melancholisch wie alle Aufwachenden, mit ihren schwarzen Judenaugen klagt sie mir das Leiden von vielen Geschlechtern, und ihre Gebärden sind unbeholfen wie bei Gefangenen. Wenn ich mit de Vriendts Schach spiele, denke ich an sie, wenn ich durch die öden Säle der Residenz gehe, um meine geliebten Tiepolos anzusehen, begleitet sie mich wie eine flehende Sklavin. Rätst du mir, sie zu verführen, Agathe? Sie zu verführen, nur um sie loszuwerden? Ich weiß, du legst auf eine Treue kein Gewicht, die sich nur um des Scheines willen behauptet. Du hältst ja wenig von den Sinnenfreuden, zu wenig vielleicht, um mich ganz zu verstehen. So weit ich Tier bin, duldest du mich, deine Nachsicht ist zu überirdisch, als daß sie mich nicht demütigen sollte.«
Agathe ließ das Blatt sinken und ihre Augen trübten sich gedankenvoll. Das klang wie Ironie; für Ironie fehlte ihr das Verständnis. Nach einer Weile las sie weiter: »Ich war nie der Ansicht, daß Blutstrieb ein Brandmal der Kreatur sei. Soll ich meinen Gelüsten eine Larve aufstecken, mit der sie heuchlerisch in mein Leben grinsen? Liebe ist etwas sehr Weihevolles, aber auch etwas sehr Irdisches, und wir müssen nicht fürchten, gemein zu werden, wenn wir unschuldig genug sind, unsern Körper zu achten. Ich mache mir nichts aus der schmachtenden Orientalin, ich mache mir aus keiner was, es ist nur Begehrlichkeit, und nur lahme Seelen sind begehrlich. Meine Seele ist lahm, Agathe, sie muß geheilt werden. Ich werde meinen Aufenthalt verändern. Wohin ich gehe, kann ich noch nicht sagen; wann ich zurückkehre, kann ich auch nicht sagen. Hab Geduld und vergiß für einige Zeit deinen Sylvester.«
Es war Agathe zumute, als fließe Quecksilber über ihre Finger. Sie faßte nicht die Worte; aus einem vertrauten Antlitz sprach eine unbekannte Stimme; ein böser Geist täuschte die Gestalt eines Freundes vor. Er ist krank, fuhr es ihr durch den Sinn, und da nun Silvia mit groß fragenden Augen vor sie hintrat, als ahne das Kind den Schmerz und Zwiespalt der Mutter und fordere stumm eine entscheidende Handlung, beschloß sie zu ihm zu gehen. Es war Abend geworden, als sie diesen Vorsatz gefaßt hatte, sie schickte zum Inspektor hinüber und bestellte den Wagen. Am andern Tag, in ziemlich früher Morgenstunde, fuhr sie in die Stadt.
Es war um eine Stunde zu spät.
Agathe stammte aus einer angesehenen Adelsfamilie, die im Nassauischen begütert war. Ihr Vater hatte lange Zeit in Frankreich gelebt, hatte dann in Deutschland tätigen Anteil an der Revolution genommen und war in den Märztagen durch einen unglücklichen Schuß getötet worden. Sie war die jüngste unter sieben Schwestern, die man wegen ihrer Schönheit die Plejaden nannte. Ihren Gatten hatte sie bei einem Hofball in Darmstadt kennen gelernt, Sylvester stand damals im achtundzwanzigsten Lebensjahr. Er hatte nicht die Absicht, zu heiraten. Er hatte ein Vorurteil gegen die Ehe, das ihm berechtigt schien, weil es durch vielfache Erfahrung und mancherlei Einblick in das Eheleben anderer Menschen erzeugt und erhärtet worden war. Er wollte seine Freiheit nicht verlieren; er hatte Angst davor, an ein Haus, an eine Stube, an einen Tisch gefesselt zu werden; er wünschte nicht, seine Selbstbestimmung einzubüßen; er trug kein Verlangen nach Familienfrieden und ungestörter Idylle, er war zu sehr an die Aufregungen des Ungefährs, an die Zufälle und Abenteuerlichkeiten des Umherschweifens gewöhnt. Er hatte viel von der Welt gesehen, aber doch nicht genug, die Lockrufe in ihm waren noch nicht verstummt. Dies alles sagte er Agathe. Er sagte ihr, daß er nicht für sich bürgen könne.
Allein Agathe wußte ihn zu überzeugen, daß eine gemeinschaftliche Existenz mit ihr zu seinem Glück ausschlagen werde, und je länger er sie kannte, je mehr war er geneigt, ihr zu glauben. Er nahm eine Art von Tatkraft in ihr wahr, die er noch an keinem menschlichen Wesen bemerkt hatte. Es war die Tatkraft gewisser Pflanzen, die aus zartesten Anfängen zu einer unwiderstehlichen Gewalt emporwachsen, mit der sie Abgründe überbrücken und Felsen zerreißen. Dieser nicht zu beirrende Wille machte ihn zum Untertan Agathes, ohne daß er es wußte. Er bewunderte sie, ohne es zu wissen. Sie konnte ihn einfach rauben, denn der Widerstand, den er ihrer Liebe entgegensetzte, hatte seine Quelle in einer sonderbaren Furcht vor ihr, Furcht vor ihrer Entschlossenheit, vor ihrem Mut, ihrer naiven Leidenschaft und dem stürmischen Tempo, in dem sich ihr Geist und ihr Herz bewegten, lauter Dinge, denen er sich nicht gewachsen fühlte. Er war nicht stark in Handlungen, nicht einmal in Überlegungen, nur seine Eindrücke waren von großer Tiefe und Unvergeßlichkeit. Sie liebte ihn mit dem ganzen Ungestüm ihrer Natur. Er ließ sich von ihr lieben, und an diesem Punkt begann seine Schuld. Obwohl er ihre Liebe erwiderte, gab er sie nicht freiwillig her, sondern er gewöhnte sich so daran, sein Gefühl erobern zu lassen, daß er völlig passiv wurde und jeden Zoll zu bezahlen versäumte. Sie verlebten glückliche und reine Tage, aber Agathe bemerkte nicht, daß sie ihrem Mann bequem wurde. Sie schien ihm zur Gefährtin auserlesen, ja er sah in ihr das Wunder einer Gefährtin, aber mit der Zeit wurde ihm dies selbstverständlich. Sie ließ ihm nichts zu erraten übrig, sie enthüllte sich in jedem Augenblick, und in jedem Augenblick ohne Rückhalt und ohne Vorbehalt. Wäre sie nicht so reich erschaffen worden, in seiner Nähe hätte sie bald verarmen müssen, denn alles was in ihm schenken und bauen konnte, wurde ihr gegenüber stumm und lustlos. Trotzdem war ihm ihre Gesellschaft unentbehrlich, die Jahre gingen hin, die aufwachsende und zum Menschen werdende Silvia kettete sie noch fester aneinander, bis eines Tages eine Unruhe in Sylvester erwachte, über die er sich lange keine Rechenschaft geben konnte.
An einem Morgen fing es an, als er in ihr Schlafzimmer trat. Agathe saß vor dem Spiegel und frisierte sich. Dieses Schauspiel habe ich schon viele tausendmal gesehen, zuckte es Sylvester durch den Kopf. Agathe begann von Wirtschaftssorgen zu sprechen, und er hörte nicht den Sinn ihrer Worte, sondern nur den Klang ihrer Stimme. Und irgend etwas in dieser Stimme, sei es der bekannte Tonfall, sei es die bekannte Folge der Worte, erbitterte ihn in einer höchst ungerechten und sein eigenes Gefühl beleidigenden Weise. Er wartete, welche Bewegung sie machen würde und riet im stillen, daß sie den Kopf an einer genau von ihm bestimmten Stelle fassen und auf die linke Hand stützen würde. Es geschah so, und seine Erbitterung verwandelte sich in Widerwillen. Er sah ihre auf den Stühlen liegenden Kleider, die Schuhe, Bänder und Wäschestücke, und jeder einzelne dieser Gegenstände vermehrte seinen unheimlichen Haß. Die Decke ihres Bettes war zurückgeschlagen, und der Geruch des Frauenkörpers, der dem Linnen zu entströmen schien, erweckte keine Begierde oder Zärtlichkeit mehr in ihm.
Von jener Stunde an wuchsen Unlust und Unzufriedenheit beständig in seinem Innern. Daß sie darunter litt, blieb ihm nicht verborgen, und er freute sich dessen; ihm war, als müsse er Rache an ihr üben, ihm war, als hätte er durch Agathe seine Jugend verloren, als wäre sie die Diebin seiner Illusionen und seiner Hoffnungen. Die zehn Jahre, die er an ihrer Seite verbracht, erschienen ihm wie ebenso viele Jahre der Verbannung und der Kerkerhaft. Eine schreckliche Angst vor dem Altwerden packte ihn, und der Spiegel wurde ihm zum Zeugen der Zerstörung. Der Anblick der Furchen auf seiner Stirn und der Unebenheiten seiner Wangen verfinsterte seinen Geist, und oft, wenn er über den Vernichter grübelte, der so tückisch unter der Epidermis wühlte, über dies langsame Hinschwinden und Niederbrennen, erfaßte ihn eine quälende, aber in ihrem innersten Kern beglückende Sehnsucht, die er anfangs nicht zu betäuben versuchte.
Eines Nachmittags saß Agathe mit der kleinen Frau des Inspektors zusammen. Sie schwatzten über Frauensachen, Sylvester hatte am Tisch Platz genommen und las in einem Buch; bisweilen blickte er zu den beiden hinüber und da bemerkte er, daß die kleine Inspektorin ebensooft einen raschen, erkundenden Blick auf ihn warf. Er beobachtete sie schärfer, und sie spürte es sofort, denn sie versteckte die Füße unter dem Kleid, und Schultern und Arme zeigten jene koketten halben Bewegungen, die zu gefallen berechnet sind. Es lag darin etwas Belebendes für Sylvester. Die sinnliche Strömung, die zwischen ihm und dem fremden Weib entstanden war, machte ihn feurig und froh. Er erhob sich und ging an den Frauen vorüber, und er tat es nur deshalb, damit er im Vorübergehen mit seinem Ärmel das Gewand der Inspektorin streifen konnte; in der Sekunde, in der es geschah, glaubte er sie zu besitzen; in derselben Sekunde wurde ihm auch bewußt, daß er fort mußte, fort von Agathe und dem Kind, daß er dadurch seinen Untergang vielleicht herbeiführen würde, daß aber sein Bleiben diesen Untergang nicht verhüten könne. Er stellte sich dann hinter Agathes Stuhl, Agathe schaute zu ihm empor, und sie lächelte vergnügt, weil sie ihn lächeln sah. Aber sein Lächeln galt nicht ihr, es galt der andern, die auch zu ihm aufblickte. Und obwohl ihm Agathes Züge vertraut und angenehm vertraut waren, da ihre Art zu sprechen, zu denken, zu lachen, zu weinen ihnen die ihm allein enträtselbaren charakteristischen Formen verliehen hatte, obwohl ihr Antlitz ihm wie ein Gefäß voll zarter und heiliger Erlebnisse war, die sein Dasein verändert und verschönert hatten, hingen seine Gedanken und Empfindungen doch an dem gewöhnlichen und leeren Gesicht der Fremden, die nichts weiter als hübsch war, hübsch, jugendlich und unbekannt.
Er hatte danach die Inspektorin weder gesprochen, noch hatte er das flüchtige Spiel zum zweitenmal anzufangen versucht. Aber er hatte sich selbst begriffen. Er sah ein Gleichnis für seine Not. Jemand will eine Reise antreten; auf dem Weg zum Bahnhof begegnet ihm ein Freund, der ihm die Reise dringend widerrät; die Gesellschaft des Freundes entzückt ihn, sie verbringen Tage, Wochen, Jahre miteinander, endlich aber schlägt dem Zurückgehaltenen das Gewissen; war es gleich kein bestimmter Auftrag, der ihn einst zu der Reise veranlaßt, so war es doch sein innerer Trieb; ihm ist, als sei er sich selber ungehorsam gewesen, als habe er sich selbst betrogen; ihn peinigt der Gedanke an die Schönheit der Landschaften, die er nicht gesehen hat, an die Möglichkeiten und Aussichten, die ihm entgangen sind, und mag sein gegenwärtiges Glück noch so groß sein, das Gefühl des unwiederbringlichen Verlustes wird ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.
Sylvester wollte noch einmal frei sein. Weiß ich denn, an welchem Tag sich die Pforte hinter mir schließen wird? fragte er sich. Weiß ich denn, was mich hinschleudern, kraftlos, wunschlos, müde machen wird? Ihm tauchten Bilder auf von mannigfacher Lockung. Es riefen ihn Stimmen von allen Seiten. Er wollte leben, ohne Ziel und ohne Maß leben. Nicht der Luxus der Städte, nicht Feste und Geselligkeit zogen ihn hin; es kam wie von einem Traum. Ergreifen und ergriffen werden waren Worte, vor denen er wie vor einem Urwald stand. Wenn er an die unendlichen Gestaltungen des Lebens dachte, überlief ihn ein Schauer, den er seit seiner Jugend nicht mehr verspürt hatte. Er taumelte dahin und suchte Platz. Die Vielzahl der Wege berückte seine Augen. Eine wechselvolle Erwartung stürmte wie Brandung in ihm. Es mußten nicht nur lächelnde Gesichter sein, auch Tränen zu sehen war er bereit. Schon ahnte er, wie sein Herz verstrickt wurde; noch ist es nicht zu spät, sagte er sich, noch ist der wunderbare Magnetismus in mir, den ich verloren zu haben gefürchtet. Und darauf eben kam es an. Dies war zu erproben. Seine Seele war erfüllt von einer Schar bunter Genien; wenn er im Walde ging oder einsam lag und vor sich hinsann, gewahrte er Frauen und Mädchen mit schönen Augen und schönen Haaren; sie warteten auf ihn; jede war in einer stillbeschlossenen Bewegung; jede beglückte ihn durch ihre eigentümliche Weise, zu sein. Aber auch die Wirklichkeit hatte einen neuen Zauber für ihn gewonnen: eine, die am Brunnen stand und Wasser schöpfte; eine, die am Fenster ihrer Kammer saß und zum Mond emporschaute; eine, die hinterm Zaun auf ihren Geliebten wartete; eine, die verschleiert in einem Wagen zur Kirche fuhr; eine, die vor seinem Blick errötete und sich dann niederbeugte, um ihr Schuhband zu knüpfen. Jede hatte ihr Geheimnis; die Augen einer jeden Frau waren geheimnisvoll; er liebte ihre Augen bis zum Schmerz; jedes Auge war ihm eine unerforschte Welt; dies war das Göttliche, das Geisterhafte; aber das Sinnliche, das Nahe waren ihre Hände, sanfte, stolze Wesen für sich, sonderbar entkleidet, herrlich gegliedert, unbewußt die gehütetsten Regungen verratend.
Sein Herz verschmachtete nach Zärtlichkeit, denn es war ihm klar geworden, daß er die Leidenschaft nicht kannte. Er hatte geliebt, oft und heftig; er hatte als junger Mann vieles Ungewöhnliche erlebt an Begegnungen, an Hingabe, manche Stunde der Gnade und der Lust, manche Wochen des Rausches, manche Nacht jener halb gern gelittenen Leiden, die traurig und erfahren machen, aber ein Gefühl, das alles bisherige Leben tötet und ein neues dafür schafft, das auflöst und sammelt in einem Atem, von dem jeder zu wissen scheint und zu welchem doch nur Gottes Lieblinge erwählt werden, das kannte er nicht. Er wollte es kennen lernen. Und wenn er heimkehren mußte, ohne es gefunden zu haben, dann wußte er wenigstens, daß es ein solches Gefühl für ihn nicht gab.
Die junge Jüdin erschien immer zu einer bestimmten Stunde des Abends am Fenster. Die Gasse, die Sylvester von ihr trennte, war nicht zwei Armlängen breit. Man mußte nur vermeiden, sich über das Sims zu beugen, dann konnte man von den tief unten gehenden Menschen nicht gesehen werden. Nachbarn waren nicht zu fürchten; auf der einen Seite endeten beide Häuser im Straßeneck, auf der andern erhob sich ein Torturm.
Der von einer Lampe erhellte Raum, in den Sylvester täglich schauen konnte, hatte grüne Tapeten; an der gegenüberliegenden Wand hing das Bildnis eines alten Mannes, der einen goldnen Becher in der Hand trug. Sylvester hörte, wie drüben die Uhr tickte; auf ihrem geschweiften Mahagonigehäuse stand ein alabasterner Adler mit ausgebreiteten Flügeln.
Schon am ersten Abend hatte Sylvester das Mädchen beobachtet. Schweren Herzens war er im dunklen Zimmer herumgegangen, zu vergessen gewillt, daß er ein Haus auf dem Rücken schleppte und daß ein Weib ihm folgte, unfühlbar fesselnd; da sah er wie in einem Panorama durch die beiden geöffneten Fenster beider Häuser die an den Tisch hingelehnte Gestalt; eine Hand, die den Kopf stützte, lag im schwarzen Haar vergraben, das Gesicht hatte einen Ausdruck von träumerischem Enthusiasmus, aber die feuchten Augen besaßen die Glut einer Nonne, die sich mitten im Gebet an eine sündhafte Vision verliert.