Der Marketenderwagen - Klabund - E-Book

Der Marketenderwagen E-Book

Klabund

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Beschreibung

Die Sammlung 'Der Marketenderwagen' bietet eine faszinierende Auslese aus den Werken des berühmten Autors Klabund, bürgerlich Alfred Henschke. Bekannt für seine lyrischen und dramatischen Fertigkeiten, versammelt diese Anthologie eine Bandbreite literarischer Stile, von satirischen Kurzgeschichten bis hin zu tiefgründigen Gedichten, die das Spektrum seines Schaffens darstellen. Diese Werke reflektieren die kulturellen und sozialen Strömungen der Weimarer Republik, indem sie sowohl die Zerrissenheit als auch die dynamische Innovation dieser Epoche erfassen. Die Vielfalt der Themen und Stilmittel macht diese Sammlung zu einem Spiegel der literarischen Evolution in einer umwälzenden Zeit der deutschen Geschichte. Alfred Henschke, unter dem Pseudonym Klabund bekannt, war eine Schlüsselfigur der literarischen Szene in den frühen bis mittleren Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Sein Beitrag zur deutschen Literatur ist eminent, insbesondere durch seine Fähigkeit, traditionelle Formen mit modernen Inhalten zu amalgamieren. In dieser Anthologie wird deutlich, wie Klabund's Werke sich als Vermittler zwischen den Zeiten verstehen, indem sie persönliche Empfindungen mit gesellschaftlichen Problematiken verweben und so dem Leser einen authentischen Einblick in die psychosoziale Landschaft seiner Ära bieten. Der Marketenderwagen' ist eine unverzichtbare Lektüre für jeden Liebhaber deutscher Literatur und Geschichte. Die Sammlung lädt dazu ein, sich auf eine literarische Reise zu begeben, die durch ihre Vielfältigkeit an Stilen und Themen nicht nur bildet, sondern auch tiefgründige Einblicke in die menschliche Natur und gesellschaftliche Veränderungen der Zwanzigerjahre bietet. Diese Anthologie fördert den Dialog zwischen den Werken Klabunds und dem modernen Leser, indem sie eine Brücke schlägt zwischen damaliger Zeit und heutiger Auffassung von Literatur und Gesellschaft.

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Klabund / Alfred Henschke

Der Marketenderwagen

Die Revolutionärin + Im Russenlager + Abschied + Der Bär + Der wohlhabende junge Mann + Revolution in Montevideo + Der sterbende Soldat + Der Flieger und mehr

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0816-6

Inhaltsverzeichnis

Revolution in Montevideo
Il Santo Bubi
Der goldne Tod
Abschied
Der Bär
Der wohlhabende junge Mann
Mein Bruder erzählte
Der Korporal
Im Russenlager
Blumentag in Nordfrankreich
Die schwarze Fahne
Die Briefmarke auf der Feldpostkarte
Der polnische Jungschütze
Die Revolutionärin
Die Witwe Pulko
Bett Nr. 13
Stammtisch
Bartholomäus und der junge Mann
Leuchtet Ihre Uhr des Nachts?
Kleine Wanderung
Mittenwald
Herbst
Allerseelen
Nachts
Der sterbende Soldat
Der Flieger
Hölderlin
Die Schlachtreihe
Der Feldherr
Der Kriegsberichterstatter

Revolution in Montevideo

Inhaltsverzeichnis

Als ich vorhin in einer Redaktion war, fielen mir unverhofft ein paar Mark in die Hand. Ich kaufte mir davon einen Reisekoffer, denn ich will nächsten Mittwoch nach Berlin fahren. Danach ging ich ins Café Fahrig zum Nachmittagskonzert.

Gerade setze ich mich nieder, als eine rauschende, enervierende, tropische Musik über mich hereinbricht. Und Echo klingt von selber in mir auf. Ich balle die Faust und lasse sie wie Paukenschlag auf die Marmorplatte klirren. Was für eine Musik! Bin ich nicht einmal unter ihren Fahnen marschiert? Im Rhythmus einer irren Besessenheit? O, nicht von einer Frau besessen: süßer, verlockender, verlockter!

Ich sehe im Programm nach: ... Volkshymnen ... 878 ... Uruguay ...

Libertad! Libertad orientales!

*

Als ich mit 17 Jahren das Abiturium bestanden hatte, lud mich mein Vetter, der Schiffsarzt, ein, ihn auf einem Postdampfer nach Südamerika zu begleiten.

Von Hamburg bis nach Madeira lag ich bespien und verdreckt in der Kajüte und flehte den grinsenden Steward an, mich mit seinem Tranchiermesser zu durchbohren.

Auch Madeira ist mir nur mehr in Erinnerung als ein Berg, der wie eine Zuckertüte aus den Wellen sah.

Dann legte sich der Sturm, meine Übelkeiten schwanden langsam, und ich durfte besonnt und beglückt meine Augen dem Ozean entgegenbreiten.

Ich war drei Tage glücklich.

Am vierten schon begannen mich Himmel, Meer und Sonne (und die überreichliche Schiffskost) zu langweilen. Frauen führten wir nicht an Bord.

Ich war froh, als Montevideo, die Hauptstadt Uruguays, uns hügelig entgegenschwamm: ein klein wenig der Anblick von Zürich, wenn man von Chur her am Züricher See entlang streicht.

*

Ich ging mit meinem Vetter an Land. Der Zufall wollte, daß wir uns verloren. Ich war darüber nicht betrübt. Im Gegenteil: frei war ich, ganz von mir selbst aus wollte ich Montevideo »entdecken«; den Weg nach dem Schiff würde ich schon zurückfinden.

Ich fühlte nach meinem Geldbeutel, nach meinem Revolver und ließ mich durch die glitzernden Straßen treiben, die, zum Teil nur chaussiert, regenbogenfarbenen Staub aufwirbelten.

In irgendeiner Bank ließ ich wechseln. Daß ich nur ein Dutzend Brocken Spanisch sprach, bekümmerte mich nicht weiter. Bei einem Café im Angesicht der großen Kathedrale hielt ich zuerst an und schlürfte ein sorbetähnliches erfrischendes Eisgetränk.

Verliebt wie ich war, erwachte mir der Abend wie eine junge Frau, die ihre dunklen weichen Arme um mich warf; die mich (das Bild wurde ich nicht los) mit ihren Armen wie mit Schiffstauen an sich kettete.

Nunmehr von der A.E.G., Berlin, finanzierte Straßenbahnen flogen wie Libellen durch das Gestrüpp der Stadt.

Ich bestieg eine und war wie in einem Aeroplan.

Plötzlich fiel ich wieder auf die Erde hinab und klatschte geradeswegs in eine Singspielhalle.

Ein blondes, grünbehängtes, amerikanisches Girl tanzte mit einem wolligen Nigger etwas Ähnliches, wie das, was man heute Tango nennt. Kreolen, dicht geballt, belachten und beschrien die wirksame Rassenmischung. Dann trat eine Art Ureinwohner auf, ein verkommener Winnetou, ein Stück bemalter Kot, mit Schild und vergiftetem Speer bewaffnet, und plärrte Kriegslieder.

Er hatte gerade geendet, als rasendes Geheul und Geräusch wie von fernen Schüssen uns auf die Straße warf.

Alles lief durcheinander, lachend, weinend, brüllend, pfeifend. Niemand schien recht zu wissen wohin und wie und warum.

Ist das ein Volksfest? Oder irgendeine Vorstadthochzeit? Polterabend oder so was? dachte ich.

Vor unserem Tingeltangel standen schon zehn Straßenbahnen, denen der Weg versperrt war, mißmutig wie blau angestrichene Elefanten zu einer Herde getrieben.

Gerade wollte ich einen der sinnlosen Schreier und Läufer nach Ziel und Ursache dieser Volksbewegung fragen, da quoll Musik aus dem Trichter der langen Straße herauf. Wie Ameisen, auf die der Ameisenlöwe lauert, fielen wir alle in diesen Trichter. Musik verschlang uns löwenhaft. Auf einmal marschierte ich in Kolonne, in Schritt und Rhythmus der Musik, den Revolver gezogen. Im Rhythmus einer irren Besessenheit. O, nicht von einer Frau besessen: süßer, verlockender, verlockter! Meine Hände zitterten wie die Pranken eines jungen Leoparden, der zum erstenmal auf Raub schleicht. Englischer Gesang umdonnerte mich, und ich sang, entflammt, entkettet, jene Worte, die, trotz mangelhafter spanischer Kenntnisse, auch ich verstand:

Libertad! Libertad orientales!

Freiheit! Freiheit den östlichen Leuten!

Freiheit des Ostens! Freiheit von Osten!

*

Meine Beteiligung an der Revolution in Montevideo ist mir gut bekommen; ich befand mich zufällig bei der Partei, die siegte. Es ging noch glimpflich ab: am anderen Morgen lagen auf dem Platz vor der Kathedrale einige zwanzig Leichen wie Pfeffer und Salz versprenkelt.

Die Kinder gingen zur Schule und stießen mit den Beinen nach den Leichen.

Für heute hatten die Roten (oder die Weißen? – in Uruguay benennen sich die politischen Parteien wie in England nach Farben –) gesiegt.

Fiebernd vor Erregung, Anstrengung und Schlaflosigkeit taumelte ich auf das Schiff zurück.

Mein Vetter fieberte ebenfalls: vor Angst, ich wäre zertreten oder zerschossen worden.

In Wiedersehensfreude schmiß er eine Flasche billigen Bowlensekt. Wir hoben unsere Gläser und stießen klingend an.

»Worauf trinken wir?« sagte mein Vetter, »auf deine Gesundheit! Prost!«

»Waschlappen,« sagte ich und meine Blicke brannten, »Gesundheit! Trinken wir auf die Freiheit! Die Freiheit des Ostens! Libertad! Libertad orientales!«

*

Und wenn wieder einmal Musik ertönt ... Volkshymnen ... 878 ... Libertad! Libertad orientales! Freiheit! Geist des Morgenrotes! ... dann will ich wieder in Reihe und Rhythmus der Kämpfer schreiten, entflammt und entkettet, ein Krieger des Geistes – und gebe Gott, daß ich wiederum bei der Partei fechte, der der Sieg von den Fahnen weht ...

Libertad!

Il Santo Bubi

Inhaltsverzeichnis

Er saß ganz oben an der Tafel, neben dem Sekretär der Kurverwaltung. Sein rundes, rosiges, glattes Gesicht, große blaue Kinderaugen, ein kahl geschorener, blonder Schädel und die kurzen, schwarzweißkarrierten englischen Pumphosen ließen ihn beim ersten Anblick als einen Gymnasiasten von höchstens 18 Jahren erscheinen. Als ich die Unvorsichtigkeit beging, ihn an der Tafel zu fragen, wann er sich dem Abiturium zu unterziehen gedenke, begegneten seine Blicke den meinen mit einem liebenswürdig überlegenen Spott, und er stellte sich als Referendar Dr. jur. S. vor, nicht ohne seine Titel als Lächerlichkeiten mokant zu betonen. Er war sehr schwer krank, obgleich er niemals hustete und ein blühendes Aussehen zur Schau tragen mußte. Er saß an der Tafel zwischen fünf jungen Damen und wurde von ihnen zärtlich verwöhnt und (vielleicht) geliebt. Da er Süßspeise sehr gern aß, stellten ihm die Damen reihum ihren Anteil daran zur Verfügung, und er quittierte über ihre Freundlichkeit mit einem stets neuen und stets anmutigen Scherzwort, nahm sie aber im übrigen als selbstverständlich und berechtigt entgegen.

Er spielte schlecht Klavier (und wußte es). Dennoch mußte er sich jeden Abend nach dem Souper ans Klavier setzen und »In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht« spielen – eine Melodie, die er selbst als niederträchtig blödsinnig empfand, mußte spielen, nur damit die jungen Mädchen seine schlanken, schönen, spielerischen Hände in der Bewegung beobachten und verehren und in Gedanken streicheln durften. Dies aber wurde mir bald klar: wie er Klavier spielte, spielte er sich selbst: als eine Operettenmelodie. Aber er spielte sie schlecht. Man hörte deutlich Schmerz und Seele hinter den Mißtönen klingen, merkte die Absicht und wurde nicht verstimmt. Im Gegenteil: man fühlte sich in Moll berührt, angeklungen, beinahe gemartert von dem Schauspiel des kranken Menschen, der man selbst war. Der Referendar machte schon fünf Jahre hintereinander Kur, in allen berühmten Höhenorten für Lungenkranke. Tag für Tag acht Stunden liegen, bei gutem Wetter auf der Veranda, bei schlechtem im Zimmer. Spazierengehen war ihm täglich eine halbe Stunde erlaubt. Wenn er die halbe Stunde überschritt, bekam er Atemnot, Temperaturen und kroch auf eine Woche ins Bett.

Ich fragte ihn einmal, ob ich ihm Bücher borgen solle? Er schüttelte dankend den Kopf. Sie langweilten ihn. Er lese nicht einmal mehr die Zeitung. Er sehe den Himmel, er sehe die Wolken, die Berge, die Sterne, und zuweilen ins eigene Herz. Mehr brauche, wolle – und könne er nicht mehr »tun«. Wie er das aussprach, setzte er es ironisch in Anführungszeichen.

Drei Damen waren seine besonderen Trabanten: eine junge Schweizer Lehrerin aus Zürich, eine kleine Bajuvarin aus Kempten im Allgäu, und eine Italienerin. Die Italienerin (»Die Königin der Berge« nannte sie einst Herr K., Xylograph aus Braunschweig), galt als seine Geliebte, denn sie benutzte seinen Privatbalkon mit. Die drei spielten abends mit ihm Bridge (wobei er merkwürdigerweise immer gewann, obgleich doch die Parteien wechselten), kochten ihm auf einem Spirituskocher – was doch eigentlich in der Pension verboten war – seine Milch, (er trank Kindermilch), nähten ihm Knöpfe an, wuschen ihm die Kissen vom Liegestuhl mit Salmiak. Als ihn neulich ein kleines Geschwür am Hinterkopf plagte, mußte er sich in die sachverständige Behandlung der kleinen Schweizer Lehrerin begeben, die einen Samariterkursus durchgemacht hatte.

Manchmal saßen sie zu dreien an seinem Bett, und er erzählte ihnen merkwürdige Geschichten, die er selbst erlebt haben wollte, sehr lustige Geschichten in einem traurigen Tonfall, worüber sie sehr lachten. Il Santo Bubi nannten die drei ihn unter sich. Bubi hatte ihn das bayerische Mädel getauft. Il Santo, der Heilige, setzte die Italienerin dazu, denn, sagte sie: er ist gewiß ein Heiliger. Er tut, denkt, spricht nie etwas Schlechtes. Und hat es nie getan. Nur ist er krank. Aber alle Heiligen sind krank.

Kürzlich, bei der Untersuchung, verkündete ihm der Arzt, er könne vorläufig nicht mehr hier oben bleiben. Er müsse ins Tiefland hinab. Möglichst bald. Nach Heidelberg in die Klinik. Zu einer kleinen, ganz unbedeutenden, ganz ungefährlichen Operation. – Wir wissen alle hier, was es heißt, wenn einer der Unsern (wir sind ein Volk, wir Kranken) mit dieser Beschwichtigung in die Ebene zurückgesandt wird. Die Operation ist das letzte Mittel. Und hilft in einem von hundert Fällen. Manchmal schickt man die Leute auch nur hinunter, damit sie hier oben nicht sterben. Wegen der Statistik ...

Der Referendar weiß das alles. Während seine drei Trabanten weinen, lächelt er. Er hat eine Extrapost bestellt, die drei werden ihn begleiten.

Ich sprach mit ihm über sein Schicksal, ruhig, sachlich, wie man über Geschäfte spricht. Die Krankheit ist schließlich ein Geschäft.

»Ich werde nicht sterben,« seufzte er, und sein junges Gesicht verwandelte sich in das eines Greises, »ich kann nicht sterben, glauben Sie mir ...«

*

Am nächsten Tage fand ich zwei Gedichte von seiner Hand auf meinem Platz am Frühstückstisch liegen. Mit einem kurzen Abschiedsgruß. Er war früh um sechs mit der Italienerin davongefahren.

Das erste Gedicht, bissig, von verzweifelter, verzweifelnder Komik, lautet:

Sie müssen ruhn und ruhn und wieder ruhn.

Teils auf den patentierten Liegestühlen

Sieht man in Wolle sie und Wut sich wühlen,

Teils haben sie im Bette Kur zu tun.

Nur mittags hocken krötig sie bei Tisch

Und schlingen Speisen, fett und süß und zahlreich.

Auf einmal klingt ein Frauenlachen, qualreich,

Wie eine Aeolsharfe zauberlich.

Vielleicht, daß einer dann zum Gehn sich wendet

– Er ist am nächsten Tage nicht mehr da–

Und seine Stumpfheit mit dem Browning endet.

Ein andrer macht sich dick und rund und rot.

Die Ärzte wiehern stolz: Halleluja!

Er ward gesund! ( ...und ward ein Halbidiot.)

Über dem zweiten Gedicht steht die Überschrift:

Ahasver.

Ewig bist du Meer und rinnst ins Meer,

Quelle, Wolke, Regen – Ahasver.

Tor, wer um enteilte Stunden träumt,

Weise, wer die Jahre weit versäumt.

Trage so die ewige Last der Erde

Und den Dornenkranz mit Frohgebärde.

Schlägst du deine Welt und dich zusammen,

Aus den Trümmern brechen neue Flammen.

Tod ist nur ein Wort, damit man sich vergißt ...

Weh, Sterblicher, daß du unsterblich bist!

*

Il Santo Bubi ist bei der Operation gestorben. Oder ist er nicht gestorben, der kranke Ahasver, der ahasverische Kranke? Lebt er noch? In Heidelberg? Oder sonst wo? Bin ich es vielleicht? Liegt er immer noch acht Stunden am Tag, und geht eine halbe Stunde spazieren, gestützt von seinen Trabanten, daß er beim Glatteis mit seinen schwachen Beinknochen nicht fällt?

Was bedeutet das: tot sein? Il Santo Bubi war gewiß kein richtiger Dichter. Aber wie schön ist jene Zeile »Tod ist nur ein Wort, damit man sich vergißt« ... Damit man sich vergißt ...