Der Metropolist - Seth Fried - E-Book

Der Metropolist E-Book

Seth Fried

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Beschreibung

Metropolis ist die strahlende Stadt der Zukunft, der wahr gewordene amerikanische Traum – und Henry Thompson, pflichtbewusster Beamter der Verkehrsbehörde, ist bereit alles zu tun, damit das auch so bleibt. Als seine Behörde ins Kreuzfeuer eines mächtigen Feindes gerät, beginnt Henry zu ermitteln. Korrekt und regelkonform möchte er rasch Ergebnisse präsentieren. Zu dumm nur, dass man ihm als Partner in diesem Fall ausgerechnet die Künstliche Intelligenz OWEN zur Seite stellt: Die KI säuft, raucht und scheint von Vorschriften noch nie etwas gehört zu haben. Doch um Metropolis zu retten, müssen sich Henry und OWEN wohl oder übel zusammenraufen ...

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SETH FRIED

DER

METROPOLIST

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Astrid Finke

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Henry Thompson ist ein Pedant. Seit zehn Jahren ist er bei der Verkehrsbehörde der amerikanischen Vorzeigestadt Metropolis angestellt. Henrys Eltern starben bei einem schrecklichen Verkehrsunfall, als er noch ein Kind war, weshalb er Unfälle dieser Art unbedingt verhindern will. Unermüdlich erfüllt er in der Verkehrsüberwachung seine Aufgaben. Er hat noch keinen einzigen Tag gefehlt, war niemals krank und hat noch nie Urlaub genommen – kurz, Henry ist ein Beamter, wie er im Buche steht. Und leider auch genauso beliebt. Als die Stadtverwaltungen in Metropolis und anderen amerikanischen Städten Anschlagsdrohungen erhalten und dann auch noch die achtzehnjährige Tochter des Bürgermeisters von Metropolis spurlos verschwindet, ebenso wie Mr. Kirklin, der Leiter der Behörde, erhält Henry den Auftrag, herauszufinden, was es mit Kirklins Verschwinden und den Anschlagsdrohungen auf sich hat. Ihm zur Seite gestellt wird OWEN, die Künstliche Intelligenz der Behörde. Davon ist Henry überhaupt nicht begeistert, denn OWEN raucht, säuft und frönt auch sonst jedem Laster, das man sich vorstellen kann. Doch wenn sie ihren Fall lösen wollen, muss sich das ungleiche Duo wohl oder übel zusammenraufen. Ihre Ermittlungen führen Henry und OWEN quer durch ein von Terroranschlägen erschüttertes Amerika, immer auf der Suche nach einer Antwort auf die wichtigste Frage der Zukunft: Sind KIs eine Hilfe für die Menschheit – oder ihre größte Bedrohung?

Der Autor

Seth Fried ist Autor und Humorist. Er schreibt für The New Yorker »Shouts and Murmurs« und für NPR »Selected Shorts«. Seine Geschichten wurden in verschiedenen Magazinen und einer Story-Sammlung veröffentlicht. Er ist Gewinner des Pushcart Preises und des William Peden Preises.

Erfahren Sie mehr über Seth Fried und sein Werk auf

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Titel der Originalausgabe:

THE MUNICIPALISTS

Redaktion: Werner Bauer

Copyright © 2019 by Seth Fried

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagillustration: Matthew Taylor

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-24175-9V001

www.diezukunft.de

Dieses Buch ist Julia Mehoke gewidmet

und der Stadt, die uns zusammengeführt hat.

Am 7. August 1904 wurde der Schnellzug Nummer 11 der Missouri Pacific Railroad von einer Sturzflut erfasst, als er gerade auf seinem Weg nach Pueblo, Colorado, eine Bockbrücke überquerte. Eine Wasserwand schwemmte vier der sechs Waggons fort, und die sterblichen Überreste vornehm gekleideter Männer und Frauen wurden schlammverkrustet in bis zu fünfunddreißig Kilometern Entfernung gefunden. Der Vorsteher des Speisewagens befand sich gerade im vorderen Schlafwagen, als er die anderen Waggons abstürzen sah, und berichtete der Colorado Springs Gazette später Folgendes: »Noch nie habe ich so etwas erlebt wie das schreckliche Gefühl, das mich überkam, als ich die Waggons, voll besetzt mit Menschen, in dieser Flut abtreiben sah. Das Wasser strömte so schnell in die Abteile, dass es keinen Laut von den Passagieren gab. Ich hörte keine Hilferufe.« Siebenundneunzig Menschen kamen in jener Nacht ums Leben, was den Vorfall zur schlimmsten Entgleisung eines Fernverkehrszugs in der US-amerikanischen Geschichte macht.

Die Ehre des zweiten Rangs fällt an den Schnellzug Nummer 48 der Lake Shore Limited, der am 12. August 1998 im westlichen New York aus den Schienen sprang. Der Zug fuhr mit Höchstgeschwindigkeit über einen beschädigten Gleisabschnitt, woraufhin die ersten sechs Waggons eine sechs Meter hohe Böschung hinunter in eine Wiese rasten. Die restlichen krachten gegeneinander und verteilten sich entlang der Strecke.

Dazu fallen mir immer die Worte des Speisewagenvorstehers aus dem Schnellzug Nummer 11 ein, und ich stelle mir die Szenerie genauso unheimlich lautlos vor, sobald die Trümmer zu liegen gekommen waren. Verbeulter Stahl. Aufsteigende Staubwolken. Vielleicht kreiselte am Rande der Wiese über den Pappeln ein von der Katastrophe aufgeschreckter Vogelschwarm bereits langsam wieder abwärts. Achtzig Passagiere starben an jenem Tag, was dem Lake Shore Limited seinen zweiten Platz sichert. Hätten meine Eltern nicht in dem Zug gesessen, würde er nur den dritten belegen.

Das erwähne ich deshalb, weil ein zehnjähriger Junge, wenn er seine Eltern verliert, eine andere Sicht auf die Dinge bekommt. So viel von seiner Welt verschwindet so unvermittelt, dass er möglicherweise überrascht ist, hinterher festzustellen, dass es immer noch Telefonmasten und Ampeln gibt. Die Straßen platzen nicht vor Entsetzen auf, die vertrauten Gebäude stehen noch. Becker’s Lebensmittelladen zum Beispiel, durch den er einst mit seiner Mutter lief. In seiner Erinnerung hört er das Pferdebremsen-Summen der Neonlampen und das Quietschen seiner Turnschuhe auf dem abgetretenen butterfarbenen Linoleumboden. Die Luft ist stickig vom satten, erdigen Geruch frischen Brots und Gemüses. Der Junge erinnert sich gut, als er aber eines grauen Tages auf dem Rücksitz des eingedellten Minivans seiner Pflegeeltern bei Becker’s vorbeifährt, scheint der Laden ihn vergessen zu haben. Das große Schaufenster blickt starr geradeaus, ohne einen Hauch von Wiedererkennen. Begegnungen dieser Art empfindet der Junge anfangs wie eine Vertiefung des Verlusts, als leugnete die Welt Stück für Stück, dass das Leben, das ihm genommen wurde, jemals real war. Mit etwas Glück wird er, wenn der Schmerz zu stark wird, diese kindische Wahrnehmung als solche durchschauen und bis zur Wahrheit vordringen. Dann wird er wissen, was ich weiß: Die sture und unpersönliche Robustheit der menschengemachten Welt ist in Wirklichkeit eine positive Kraft.

Als der Lake Shore Limited entgleiste, raste er gerade durch die idyllische Landschaft des Staates New York. Jeder meiner Kollegen wird Ihnen sagen, dass Unfallopfer in ländlichen Gebieten weit häufiger vor der Ankunft im Krankenhaus sterben als in Städten. Um das nachzuvollziehen, braucht man nicht die Zeitschrift für Demografie und Gesundheitswesen abonniert zu haben – obwohl ich sie beziehe und bestätigen kann, dass es sich um eine hervorragende Publikation handelt. Ländliche Verwaltungsangestellte haben es mit geringen Notrufzahlen in ausgedehnten Gebieten zu tun und sind daher gezwungen, die Qualität der Rettungsdienstleistungen zu reduzieren, um die Kosten pro Einsatz akzeptabel zu gestalten. Wenn man das bedenkt, wird klar, dass Straßen und Gebäude hier nicht die Bösen sind. Je näher sich ein Unfallopfer an Bevölkerungszentren und dichter Infrastruktur befindet, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sein Leben gerettet wird.

Es ist verständlich, dass manche Menschen dennoch aufs Land ziehen, den Frustrationen entfliehen, die aus zu großer Nähe zu anderen entstehen können. Die Entscheidung kann sogar naheliegend erscheinen. Asphalt und unflätige Fremde werden eingetauscht gegen Bäume, Seeblick, Wiesen. Aber Tatsache ist: Je weiter man sich von den ärgerlichen Massen entfernt, die den eigenen Sinn für Einsamkeit stören mögen, desto stärker steigt das Risiko. Darüber können Sie gern spotten, bis der Tag, von dem ich hoffe, dass er nie kommt, schließlich doch kommt, ein abgetrennter Finger in Ihrer wunderschönen Küche, ein betrunkener Fahrer, der auf dunkler Landstraße auf die Gegenfahrbahn schlingert.

Und glauben Sie mir, Unfallverletzungen sind noch das geringste Problem. Das Risiko, an Herzleiden, Krebs, Schlaganfall, Drogenüberdosis oder Selbstmord zu sterben, ist bei Stadtbewohnern geringer. Sie genießen bessere berufliche Möglichkeiten, Transportoptionen und kulturelle Angebote. Im Gegensatz zur landläufigen Wahrnehmung sind urbane Gebiete auch umweltfreundlicher als die weniger dichte Zersiedelung, und das Schulwesen dort bringt im Allgemeinen bessere Ergebnisse hervor. Das ist die Macht der Städte. Die Ökonomie der Ballungsräume.

Im Rahmen meines Berufs – der wichtigen Arbeit, die ich leiste – reise ich in Kommunen im gesamten Land, in der Hoffnung, dass sie von meiner Sachkenntnis profitieren können. An einem klaren Tag kann ich aus dem Flugzeugfenster sowohl die Städte als auch die Provinz betrachten. Urbane Landschaften, kilometerweit von einem breiten Flickenteppich aus freien Feldern umgeben. Nirgendwo sonst ist es einfacher, diese beiden Lebensweisen als miteinander konkurrierende physische Realitäten zu erkennen. Der Wunsch, zusammenzukommen, und der, einander zu entfliehen. Dichte und Distanz. Es ist ein Krieg, den wir jeden Tag mit unserem eigenen Leben führen. Und solange ich mich erinnern kann, war es für mich nie eine Frage, auf welcher Seite ich stehe.

1

In Suitland, Maryland, gleich neben D.C., steht ein großer grauer Bau, in dem das Bundesamt für kommunale Infrastruktur, BKI, untergebracht ist. Das Hauptgebäude verfügt über stolze 185 000 Quadratmeter nutzbare Fläche. Darin befinden sich Forschungslabors und Datenzentren, in denen unsere Mitarbeiter mittels ganzer Drohnengeschwader die meisten amerikanischen Städte in Echtzeit überwachen. In unserem Verkehrsreferat untersuchen ernsthafte Männer und Frauen mittels Virtual-Reality-Ausrüstung verstopfte Fahrwege, während ein paar Türen weiter die Kollegen vom Wetter Windböen in Hurrikan-Stärke über Gullydeckel blasen, um festzustellen, an welchem Punkt diese angesaugt und dadurch lebensgefährlich werden, gusseiserne Frisbees, die pfeifend in das Drahtglas krachen. Nicht weit davon entfernt liegt auch die Anlage mit unserem Supercomputer OWEN, der Daten von über zweihundert Satelliten verarbeitet. Unsere Zentrale ist alles in allem eine beeindruckende Einrichtung, wenn auch mein kleines Büro im fünften Stock etwas bescheidener ausgelegt ist.

Darin ist gerade genug Platz für einen Schreibtisch, zwei Stühle und ein schmales Regal mit Ordnern. Ich finde es gemütlich, aber die Enge kann gelegentlich eine unbehagliche Situation noch verschlimmern. Zum Beispiel, als an jenem Morgen der Kollege Marcuzzi hereinstürmte und sich wortlos mir gegenüber hinsetzte.

Ich hatte ihn auf eine freundschaftliche Besprechung zu mir gebeten, aber er wirkte sofort derart feindselig, dass ich um sieben Uhr morgens bereits nicht umhinkonnte, mich zu fragen, was für ein Tag es wohl würde. Marcuzzi beugte sich auf seinem Stuhl vor, wodurch sich die Schulterpartie seines Sakkos bauschte. Die Hände hielt er auf dem Schoß verschränkt, und die Daumen klopfte er aneinander, als wartete er auf einen Bus, in den er nicht einsteigen wollte.

Als er einen kurzen Blick auf die Modelllokomotive auf meinem Schreibtisch warf, hoffte ich einen Moment lang, er werde vielleicht lächeln. Neben mein Namensschild hatte ich die Nachbildung einer achtachsigen C8 Manley & Wrexler im Maßstab 1:64 gestellt. In unserer Behörde eilte mir der Ruf einer gewissen Freudlosigkeit voraus, deshalb hatte ich das Modell von zu Hause mitgebracht, um meinen Arbeitsplatz etwas lockerer zu gestalten. Es entstammte einer Serie von Sammlerstücken namens »Lokomotiven von gestern«, die klassische Zugmaschinen bis ins kleinste Detail nachbildete. Eigentlich richtete sich die Reihe an ein älteres Publikum, aber ich war zweiunddreißig und besaß mehr als zwei Dutzend von diesen Modellen. Mir gefiel die schmucke kleine Lok auf meinem Schreibtisch, und die C8 hatte, solange sie im Einsatz war, nie einen Unfall gehabt. Es war also auch ein Element von Inspiration enthalten. Dennoch verzog Marcuzzi das Gesicht, als er sie bemerkte.

»Sie wissen sicher, warum ich Sie hergebeten habe.«

»Nein«, sagte Marcuzzi. »Keine Ahnung.«

Das überraschte mich.

»Fort Collins«, fuhr ich fort. »In Ihrem Bericht steht, dass die Effizienz um 4,73 Prozent erhöht wurde.«

Er nickte.

»Die Zielsetzung der Gruppe«, sagte ich, »lag bei fünf Prozent pro Kommune.«

»Ich weiß, was das Ziel war.«

»Dann wissen Sie auch, dass 4,73 Prozent inakzeptabel sind.«

Marcuzzi starrte mich mit offenem Mund an, als könnte er nicht fassen, was er gerade gehört hatte.

»Machen Sie Witze, Thompson?«

»In dieser Sache? Selbstverständlich nicht.«

»Das ist doch Irrsinn. Das – das liegt absolut im Rahmen. Die Zahlen sollen doch nur eine ungefähre Vorstellung von – verdammt noch mal, ich habe mein Ziel erreicht.«

»Peter«, sagte ich. »Bei den Projekten, die ich leite, sind Zahlen eben Zahlen. Ich habe Sie zu mir gebeten, damit wir das durchsprechen und Ihre Effizienz steigern können.«

»Ein Drittel Prozentpunkt? Was soll ich machen? In die Windparks fahren und pusten?«

»Dann stimmen Sie also zu, dass es nicht so schwer wäre, die Differenz wettzumachen?«

Das war ein Versuch, etwas Humor ins Gespräch einzubringen, aber Marcuzzi musste mein Grinsen falsch gedeutet haben.

»Ehrlich, Henry. Sie können mich mal.«

Er warf fast den Stuhl um, als er den Raum verließ.

Wäre ich weniger an solcherlei Reibung mit meinen Kollegen gewöhnt, wäre ein solcher Auftritt ein kleiner Skandal gewesen. So aber nahm ich mir lediglich vor, bei der ersten Gelegenheit selbst nach Fort Collins zu fahren. Außerdem atmete ich tief durch und drehte die C8 auf meinem Schreibtisch zu mir herum. Im Führerstand hielt ein einsamer Ingenieur den Blick nüchtern geradeaus gerichtet, seine kleinen Augen ruhten auf den schier endlosen zu durchquerenden Weiten. Ich lächelte den Mann an. Ja, das Leben war nicht leicht, aber zum Glück gab es immer viel zu tun.

Da ich für Marcuzzi eine Stunde reserviert hatte, blieb mir nun Zeit, an der Sitzung des Hafenaufsichtskomitees teilzunehmen, die unten im dritten Stock stattfand. Es war schwer, nicht sein Selbstvertrauen zurückzugewinnen, wenn man zielstrebig durch die Flure des Hauptgebäudes lief. Der weiß gefleckte Granitfußboden war immer poliert und spiegelglatt, während die dunkle Holzverkleidung an den Wänden ein warmes, kollegiales Ambiente erzeugte. Obwohl es noch früh am Morgen war, hallte in den breiten Korridoren bereits das Klackern der gepflegten Absätze so vieler Angestellter, alle schick in unseren einheitlichen, von der Behörde ausgegebenen Anzügen, dunkelblaue einreihige Sakkos mit schmalem Revers, wobei weibliche Mitarbeiter optional einen Bleistiftrock tragen durften, falls sie das vorzogen. Ich kam an Männern und Frauen vorbei, die in den offenen Arbeitsbereichen Infrastrukturprobleme diskutierten. Sie sortierten 3D-Projektionen von U-Bahn-Tunneln um und machten sich Notizen, während Modelldämme unter der Wucht simulierter Erdbeben einstürzten. Mehrere jüngere Mitarbeiter steckten die Köpfe zusammen, warfen sich gegenseitig faustgroße Datensätze auf die Bildschirme ihrer Diensttelefone und stritten sich über den CO2-Ausstoß im Rust Belt und die Rechtmäßigkeit staatlicher Intervention.

Die Behörde war vor siebzig Jahren als forscher Ableger des Verkehrsministeriums entstanden, geschaffen von ein paar Dutzend Politikstrebern, die stolz darauf waren, sich mit höheren Ebenen anzulegen. Aber angesichts des Urbanisierungstempos auf der Welt waren Städte zum neuen Wettlauf ins All geworden. Unser Budget war explodiert, und mittlerweile koordinierten wir mit staatlichen und kommunalen Verwaltungsorganen die Finanzierung und Beratung Tausender bedeutender urbaner Verbesserungsprojekte jedes Jahr. Wir befanden uns mitten im Goldenen Zeitalter amerikanischer Stadtplanung, und bei mir erzeugte die Atmosphäre eines kollektiven Optimismus unweigerlich ein angenehmes Zugehörigkeitsgefühl.

Jetzt fiel mir ein, dass für mich bald ein Außentermin in Wisconsin anstand, deshalb nahm ich mein Diensttelefon aus der Tasche und bat um die Fünf-Tages-Vorhersage für Madison. Die Animation eines gut aussehenden jungen Mannes mit verblüffend blauen Augen erschien auf dem Display.

»Laut GPS«, sagte OWEN, »befinden Sie sich in der BKI-Zentrale in Suitland, Maryland.«

Unser IT-Chef, Dr. Gustav Klaus, hatte viel Zeit und Energie in OWENs KI-Interface gesteckt, aber je menschenähnlicher es wurde, desto schwerer fiel es mir, mit ihm zu kommunizieren.

»Ich fliege gegen Ende der Woche, nur …« Ich hielt mir das Telefon dichter an den Mund und blaffte fast in den Hörer: »Wetterbedingungen. Madison, Wisconsin.«

Meine Stimme klang lauter als erwartet, und eine Kollegin runzelte im Vorbeigehen die Stirn.

»Sie klingen gestresst«, sagte OWEN.

Die Augenbrauen der Animation wölbten sich leicht nach oben, um Besorgnis zum Ausdruck zu bringen. »Während Ihres Aufenthalts in Madison sollten Sie sich etwas Zeit für sich nehmen und den Monona-See besuchen. Der soll schön sein.«

»Das Wetter, OWEN, ich brauche nur das Wetter.«

»Ach, es ist Mitte Juni. Ist bestimmt traumhaft gerade.«

Genervt schloss ich die Anwendung. Erst Marcuzzi, jetzt mein Telefon, der Morgen fing nicht sonderlich gut an. Als ich zu der Sitzung stieß, versuchte ich, mich auf mein lebhaftes Interesse am Bericht des Kollegen Steinbelt über Norfolk und die empfohlenen Vorschriften zu konzentrieren, an die jede neue Finanzierung durch unsere Behörde geknüpft sein sollte. Steinbelt hatte vor, mit einer virtuellen Tour durch Lambert’s Point zu beginnen, deshalb nutzten wir den fensterlosen zentralen Sitzungsraum mit einem der besseren 3D-Projektoren. Ich setzte mich an den langen Konferenztisch und redete mir ein, dass dieser Tag sich immer noch zu einem guten entwickeln konnte. Einem produktiven.

Doch sobald Steinbelt die Simulation aufrief, geriet der Projektor ins Stottern, und das Wasser, das gerade schon virtuell unsere Füße umspült hatte, verschwand. Der Feueralarm schrillte genau ein Mal und verstummte dann im selben Moment, in dem unsere Diensttelefone einen hohen Ton von sich zu geben begannen. Die Geräte erhellten den dunklen Raum, als Komiteemitglieder sie aus ihren Jackentaschen und Aktenmappen holten. Auf allen Displays erschien eine dichte Zeichenfolge:

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Verwirrt starrte ich die Nachricht an, während die anderen Anwesenden ihre Telefone wie Taschenlampen in die Luft hielten und einander Fragen zuriefen.

Ich entschuldigte mich und hastete aus dem Zimmer, um das Problem einem Techniker zu melden. Im Flur betonte das durch die Fenster strömende Sonnenlicht noch, dass es im gesamten Gebäude dunkel geworden war. Einige Gesichter in der Nähe wurden von den Displays erhellt, auf die ihre Besitzer fragend starrten. An anderen Stellen knipsten Mitarbeiter reaktionslose Lichtschalter an und aus und tippten auf taube Liftruftasten. Manche beugten sich aus ihren Bürotüren, als warteten sie darauf, dass jemand mit einer Erklärung vorbeispazierte. Unterdessen hörte man erste Rufe aus den Sicherheitsräumen, deren durch Codes geschützte Türen ohne Strom nicht zu öffnen waren.

Das Geräusch aus meinem Telefon wurde immer durchdringender und hörte dann abrupt auf. Ich hielt es hoch, um auf das Display zu sehen, und es explodierte. Eine helle blaue Flamme blitzte auf, und etwas traf mich im Gesicht wie ein Faustschlag. Auf einmal blutete meine Handfläche, in der Wange spürte ich einen stechenden Schmerz. Der Flur war erfüllt vom Geruch von verschmortem Plastik, und mir wurde schwindelig. Überall um mich herum taumelten verschwommene Gestalten, die sich den Mund zuhielten oder sich mit den Händen an die Brust fassten. Die Schreie aus den verschlossenen Räumen wurden panischer, es wurde schon an die Türen gehämmert.

Mein Atem ging unregelmäßig, als ich mir die Krawatte auszog und um die Hand wickelte. An der Stelle, an der sie verletzt war, spürte ich meinen Puls, und als mir auffiel, wie schnell er ging, wurde er noch schneller. Eine alte Panik stieg in mir auf, ein kindliches Gefühl von Hilflosigkeit angesichts einer Welt, die jederzeit ohne Vorwarnung aus den Fugen geraten konnte.

Ich wurde angerempelt und sah einige Kollegen an mir vorbeirennen. Einer bemerkte mich und brüllte mir zu: »Komm mit!« Der Nachdruck in seiner Stimme riss mich aus meinem Angstzustand, und ich half ihnen, einen Schreibtisch aus dem Sekretariatsbereich zu schleifen. Damit brachen wir die schwere Flügeltür zu einem Konferenzsaal auf, in dem wir Menschen um Hilfe rufen hörten.

Der Rest dieses Tages war ein Durcheinander aus dunklen Fluren, in Gruppen liefen wir durch die Zentrale, brachen Türen auf und versorgten Verletzte, so gut wir konnten. Irgendwann traf ich Theodore Garrett, den Leiter der Behörde, vor seinem eigenen Büro an, wo er einer jungen Frau aus einem der Hemden, die er zum Wechseln in seinem Schreibtisch aufbewahrte, einen Verband bastelte. Ich versuchte, ihn aus dem Gebäude zu bringen, aber er sah mich nur ernst an und forderte mich auf, mich nützlich zu machen.

Selbst dann noch, als über den Rasen an der Nordseite das Blaulicht der eingetroffenen Kranken- und Feuerwehrwagen zuckte, weigerte Garrett sich, zu gehen. Gegen zwei Uhr nachts brachte ich ihm eine Tasse Instantkaffee. Er stand unter einer Arbeitslampe im Haupteingang zum zweiten Untergeschoss und erläuterte einem Trupp Feuerwehrleute einen Lageplan der Zugangstunnel. Die Ärmel hatte er sich bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, und seine Miene drückte eine Entschlossenheit aus, dank der sogar seine zerzausten weißen Haare Zuversicht verströmten. Meine linke Gesichtshälfte war inzwischen wegen der in der Haut steckenden Telefonsplitter angeschwollen, und als ich mit dem Kaffeebecher auf ihn zukam, schien er einen Moment zu brauchen, um mich zu erkennen.

Dann allerdings schickte er die Feuerwehrleute weg, nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und kippte ihn leicht nach hinten, um besser sehen zu können. Er pfiff, wie er es immer tat, wenn ich ihm beunruhigende Daten einer Stadt zeigte, in der die Beschäftigungsquote stagnierte oder die Schulprüfungsergebnisse weiterhin absackten. Es war ein eigenartig tröstliches Geräusch, es vermittelte, dass die Lage tatsächlich schlimm war, aber nichts, was er nicht schon erlebt hatte.

»Können Sie aus dem noch was sehen?« Er winkte mit einer Hand vor dem fast zugeschwollenen Auge.

Ich bejahte, und er trat zurück.

»Das wird wieder«, sagte er wie ein Vater, der ein aufgeschürftes Knie herunterspielte.

Seltsamerweise fühlte ich mich dadurch wirklich besser.

Dankend nahm er den Kaffee entgegen. In dem dunklen Flur lagen umgefallene Stühle und verbeulte Mülleimer. Von oben konnte man immer noch Geschrei hören und das rhythmische Hämmern beim Einschlagen von Türen.

Garrett seufzte und senkte den Blick. Sein Fuß stand auf einem Ausdruck der kryptischen Botschaft, die auch auf meinem Telefon erschienen war. Bevor der Strom ausfiel, war dieser Text auf sämtlichen Computermonitoren in der Zentrale aufgetaucht, immer wieder war er von Kopierern und Druckern ausgespuckt worden. Mit der Schuhspitze hob Garrett jetzt das Blatt hoch und inspizierte es.

»La urboj estas frostigitaj.« Langsam las er den Satz vor und nippte an seinem Kaffee.

»Was heißt das?«

Er ignorierte die Frage. »Das ist Esperanto.«

»Können Sie Esperanto?«

»Nein«, sagte er. »Aber ich kenne jemanden, der es kann.«

Innerhalb von wenigen Stunden trudelten die Nachrichten aus Metropolis ein. Während der Angriff auf die Zentrale in Suitland noch lief, war die Dienststelle unserer Behörde in Metropolis abgebrannt und ihr unterirdisches Rechenzentrum eingestürzt, sodass nun ein riesiges Loch in der 11th Avenue klaffte. Beide Vorfälle ereigneten sich während der üblichen Betriebszeiten, dennoch gab es laut Ersthelfern weder da noch dort Verletzte oder Tote. Dann waren da natürlich noch die Drohnen.

Unsere Techniker brauchten nicht lange, um festzustellen, dass die Verwüstungen in der Zentrale das Ergebnis eines Virus waren, das auf den Supercomputer der Behörde hochgeladen worden war. OWEN steuerte den Großteil unserer alltäglichen Vorgänge in Suitland, von der Beleuchtung über die Sicherheitspasswörter bis hin zu den Espressoautomaten in den Kaffeeküchen. Der Rest unseres Überwachungsgeschwaders blieb davon unberührt, aber unsere Drohnen über Metropolis hatte das Virus mitten im Flug deaktiviert, woraufhin mehr als siebzig dieser Titankugeln, jede ungefähr von der Größe eines Basketballs und mit Kohlefaser-Strakes versehen, über der bevölkerungsreichsten Stadt der westlichen Hemisphäre vom Himmel fielen, in Gebäude krachten und über ein Dutzend Menschen verwundeten.

In den folgenden Tagen wurde einige Entrüstung gegenüber der Behörde laut. Garrett übernahm die volle Verantwortung und leierte die Begleichung von Krankenhausrechnungen und Sachschäden an. Obwohl er der Leiter einer der mächtigsten Behörden des Landes war, betrachtete Garrett es als seine oberste Aufgabe, der Öffentlichkeit zu dienen. Er machte immer deutlich, dass die treibende Leidenschaft seines Lebens war, Pendelzeiten zu verkürzen, mit Planungsgremien um mehr Grünflächen zu feilschen oder staatliche Schlupflöcher zu finden, um Gelder in die Kassen von Gemeindezentren und Stadtbüchereien zu lenken. Über jede Stadt im Land sprach er mit einer Zuneigung und Vertrautheit, als hätte er Verwandtschaft dort. Er konnte einem sagen, ob das Museum etwas taugte und welche Viertel man nach Einbruch der Dunkelheit besser mied, wo man die Pancakes und wo das Pulled Pork probieren sollte, wie der letzte Winter dort gewesen war und ob die Sonderabgabe für Schulen durchginge. Garrett war Ende sechzig, sprang aber normalerweise wie ein viel jüngerer Mann durchs Gebäude und beschämte seine Mitarbeiter durch seinen schieren Überschwang. Jetzt allerdings saß er mit hängenden Schultern in seinem Büro und erledigte ein Telefonat nach dem anderen, das Gesicht zu einer Miene von fassungsloser, unaussprechlicher Traurigkeit erstarrt.

Ich hatte damals als Bauingenieur ohne die geringste Ahnung von Politik in der Behörde angefangen, und Garrett hatte mich unter seine Fittiche genommen. Selbstverständlich gab ich mein Bestes, um mich durch meine Hingabe an unsere Arbeit für diese Großzügigkeit erkenntlich zu zeigen, und fand als Folge davon öfter handgezeichnete Karikaturen in unseren Kaffeeküchen, auf denen ich zaghaft an einem Glas mit der Aufschrift »Garretts Fürze« schnüffelte oder auf seinem Schoß saß, als wäre er ein Kaufhausweihnachtsmann, und ihm mitteilte, dass ich mir zu Weihnachten eine Persönlichkeit wünschte. Doch die Kollegen konnten denken, was sie wollten, ich bewunderte den Mann aufrichtig, und er war der Einzige in der Behörde, zu dem ich eine annähernd freundschaftliche Beziehung aufgebaut hatte. Es schmerzte mich, nicht zu wissen, wie ich ihn in den schwierigen Zeiten, die uns jetzt bevorstanden, unterstützen konnte. Allein die Vorstellung, dass er überhaupt Trost brauchte, war verstörend.

Zu allem Übel war auch noch unser Dienststellenleiter in Metropolis, Terrence Kirklin, unauffindbar und wurde mittlerweile im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Sarah Laury gesucht, der achtzehnjährigen Tochter des Bürgermeisters der Stadt. Obwohl es kürzlich diese staatlichen Drohnen geregnet hatte, wurden sämtliche Nachrichten von der Sorge um Sarah beherrscht. Sie war Everybody’s Darlingund seit ihren Säuglingstagen der Liebling der Presse. Dass eine der mächtigsten Familien von Metropolis über das städtische Pflegesystem ein Kind adoptiert hatte, besaß in der allgemeinen Vorstellungswelt den Zauber eines Märchens. Als Sarah acht Jahre alt war, wurde das Kultfoto, auf dem sie in einer Suppenküche hilft (lächelnd, das Haar in blonden Löckchen, Kelle voller Suppe, der Obdachlose auf dem Bild ebenfalls lächelnd) bereits als Postkarte in den Souvenirläden am Archer Square verkauft. Mit sechzehn zierte sie das Cover der Sports Illustrated mit dem gleichermaßen Kultstatus besitzenden Foto, auf dem sie eine olympische Goldmedaille im Einzel-Springreiten erhält (Haare geglättet, Pony, die Bronzemedaillengewinnerin fast ehrfürchtig zu ihr aufblickend). Mit siebzehn hatte sie sich sowohl aus dem Sport als auch einer kurzen Modelkarriere zurückgezogen, um sich auf ihr Studium und ihre philanthropische Arbeit zu konzentrieren.

Mir war ihre Geschichte aus persönlichen Gründen schon immer wichtig gewesen. Da ich selbst Waise war, machte es mir Mut, eine von uns so erfolgreich zu sehen. Wobei sie in unserer Behörde in letzter Zeit zu einer etwas kontroversen Figur geworden war, nachdem sie in der Öffentlichkeit eine Flut von Kritik an der Amtsführung ihres Vaters geübt und an einigen kleineren Demonstrationen im ganzen Stadtgebiet teilgenommen hatte. Das war bedauerlich, denn Bürgermeister Laury war dafür bekannt, »proinfrastrukturell« eingestellt zu sein. Und jetzt, als wäre die öffentliche Ablehnung ihres Vaters nicht schon problematisch genug, hatte sie sich ganz offenbar mit einem Bürokraten eingelassen, der mehr als doppelt so alt wie sie war.

Kurz nach Laurys Verschwinden aus dem Wohnheim des Newton College stellte die prominente junge Frau ein Video ins Internet, in dem sie ihre Liebe zu einem Staatsdiener namens Terrence Kirklin verkündete. Im Anschluss forderte sie, nicht nach ihr zu suchen. Laury machte nicht den Eindruck, als würde sie unter Zwang handeln, und sie wirkte recht aufrichtig in ihren Empfindungen.

Trotzdem dauerte es nicht lange, bis die Medien mutmaßten, dass sie einer Art Gehirnwäsche unterzogen worden war. Diese Überzeugung wurde höchstwahrscheinlich dadurch beeinflusst, dass Laury eine blonde, grünäugige Schönheit war, wohingegen Kirklin der Öffentlichkeit nur im Zusammenhang mit der Behörde bekannt war, die versehentlich einen Teil der 11th Avenue eingerissen und einen Drohnenregen über der Stadt ausgelöst hatte. Kirklin war außerdem eins dreiundneunzig und trug, neben einem Kinnbart, eine Augenklappe wegen einer Verletzung, die er sich bei der Küstenwache zugezogen hatte. Ganze Fernsehbeiträge befassten sich damit, dass er an Haarausfall litt und unter Umständen leicht übergewichtig war. Im echten Leben war Kirklin, wenn auch nicht im engeren Sinne gut aussehend, ein durchaus attraktiver Mann mittleren Alters. Er besaß eine eindringliche, ruhige Ausstrahlung. Auf dem Bild aber, das die Presse verwendete, glänzte Kirklins Halbglatze eigenartig. Die dunklen Haare um seine Ohren herum, normalerweise sehr gepflegt, waren strähnig und ungekämmt, das gesunde Auge blutunterlaufen und seine Lippen etwas geöffnet, wodurch er leicht beschränkt wirkte.

Für die Behörde stellte Kirklins unvermittelte Abwesenheit ein eigenes Problem dar. Sicher, alle hatten ihn immer als launischen und sturen Dienststellenleiter erlebt. Seine jährlichen Treffen mit Garrett waren in Suitland ihres meist stürmischen Verlaufs wegen gefürchtet: Einmal brüllten sich die beiden zum Thema optimale Bürgersteigbreite so heftig an, dass Kirklin am Ende ein kleines Bücherregal durch die Fensterscheibe von Garretts Büro warf. Dennoch war er zweifelsohne der beste Dienststellenleiter, den es in der Behörde je gegeben hatte.

Seit zwanzig Jahren verwaltete er die Infrastruktur einer Stadt von ungefähr der Größe Rhode Islands, und das in einer Phase schnellen und anhaltenden Wachstums, in der die Bevölkerung auf 35 Millionen angestiegen war. An einem einzigen Tag flossen mehr Strom, Wasser und Frachtgut durch die Stadt als im gesamten Staat South Dakota in einem halben Jahr. Kirklins Kombisystem von Abbiegebeschränkungen, Einbahnstraßen, Zebrastreifenverteilung, variablen Durchfahrtsstraßen, Umleitungen, Straßenreinigungszeiten, Bus- und Fahrradspuren war eine wahnwitzige Symphonie, durch die mehr Menschen sich gleichzeitig auf den Straßen bewegen konnten, als je für möglich gehalten worden war. Kirklin arbeitete mit jedem Amt, jedem Versorgungsunternehmen und jedem gemeinnützigen Verband im Großraum Metropolis zusammen. Mit dem Ergebnis, dass das Ministerium für Gesundheit und Soziales berichtete, die Lebenserwartung in der Stadt habe sich in den letzten zehn Jahren um 2,7 Jahre erhöht. Laut der Umweltschutzbehörde und dem Amt für Wirtschaftsanalyse hatte sich die Verschmutzung verringert und der Handel ein Wachstum zu verzeichnen. Selbst unter idealen Umständen wäre der Verlust eines solchen Mitarbeiters ein Albtraum für unsere Behörde gewesen, ganz zu schweigen von der Krise, in der wir uns momentan befanden.

Der Aufruhr in Metropolis und Suitland veranlasste unseren Verwaltungsrat, eine Aufsichtskommission einzusetzen, die den Großteil unserer Projekte auf Eis legte, während sie eine Revision von Garretts Geschäftsleitung durchführte. Jetzt schon wurde versucht, jegliche Ermittlungen hinsichtlich der Cyberattacke unter Verschluss zu halten, trotz Garretts Bitten, sich an das FBI zu wenden. Nach dem PR-Desaster der abstürzenden Drohnen sollte unbedingt verhindert werden, dass irgendwelche Einzelheiten des Angriffs von der Presse als potenzielle Datenpanne aufgegriffen wurden. Wenn die streng wirkenden Männer und Frauen dieser Kommission nicht gerade Garrett befragten, sah man sie durch die Zentrale laufen und sämtliche Auswirkungen des Vorfalls mit angewiderter Missbilligung betrachten.

Als Garrett mich später in der Woche in sein Büro bat, rechnete ich mit einer Art Kriegsrat, einer verzweifelten Debatte, wie die Behörde gegen den destruktiven Einfluss der Aufsichtskommission zu verteidigen war. Während ich mich auf meinen üblichen Platz setzte, bemerkte ich auf seinem Schreibtisch einen der Ausdrucke mit dem von dem Virus erzeugten Text. Den Satz, der laut Garrett Esperanto war, hatte ich in eine Übersetzungsmaschine eingetippt und als Ergebnis erhalten: »Die Städte sind eingefroren.« Eine vage Drohung oder Warnung, die ich nicht verstand. Ehe ich Garrett darauf ansprechen konnte, teilte er mir mit, die Kommission habe ihn angewiesen, am Ende des Monats vom Amt des Behördenleiters zurückzutreten.

Einen Moment lang versuchte der Fußboden, mit der Decke den Platz zu tauschen, aber ich überraschte mich selbst damit, aufzustehen und mit Bestimmtheit zu sagen: »Nein.«

Fragend sah Garrett zu mir auf.

»Ich kann über den Dissenskanal Protest einlegen«, sagte ich. »Ich brauche nur ein bisschen Zeit, um das Memo zu verfassen.«

»Setzen Sie sich.«

»Ich weiß, dass die Kollegen mich nicht mögen, aber wenn es für Sie ist, werden alle unterschreiben.«

Er winkte ab. »Henry, beim kleinsten Hauch von Widerstand nehmen die den Laden hier auseinander. Verstehen Sie?«

»Aber ohne Sie ist die Behörde …«

»Schluss jetzt«, sagte Garrett. »Wir reden über einen irreparablen Verlust von institutionellem Gedächtnis. Nicht nur diejenigen, die dieses Memo unterschreiben, fliegen raus, sondern jeder, der auch nur mal mit Ihnen in einer Konferenz saß. Die Behörde, wie Sie sie kennen, ist dann erledigt.«

Ich stand vor seinem Schreibtisch, wollte sofort dieses Memo schreiben, wollte aber nicht ohne seine Erlaubnis den Raum verlassen.

»Was soll ich denn tun?«

Er sah mich an, bis ich mich wieder setzte. »Das wollen Sie jetzt nicht hören«, sagte er, »aber die Entscheidung der Kommission ist durchaus sinnvoll. Sie, Henry, kennen nicht alle Fakten.«

Ich fragte ihn, was die Fakten waren, und er meinte, eins nach dem anderen. Dann holte er zu meiner Verblüffung ein Päckchen Zigaretten aus seinem Schreibtisch und bot mir eine an.

»Das ist ein öffentliches Gebäude«, wandte ich ein.

Garrett lachte, wedelte mit einem Finger, als hätte er sich gedacht, dass ich das sagen würde, und zündete sich seine Zigarette mit einem Streichholzheftchen aus seiner Sakkotasche an. Ich hatte ihn noch nie rauchen sehen, der Tabak roch muffig.

»Erinnern Sie sich an einen Mitarbeiter namens Stuart Biggs?«, fragte er.

Ja, ich erinnerte mich. Ein unscheinbarer Kollege aus dem Kanalisationsreferat mit einem sogar für unsere Behörde extrem streberhaften Auftreten. Mit anderen Worten, er hatte genauso wenige Freunde gehabt wie ich. Als ich einmal allein mit ihm im Aufzug stand, erzählte er mir ohne jeden Anlass, dass es ein lang gehegter Traum von ihm sei, Abwassersysteme mithilfe elektrischer Turbinen zu revolutionieren, die er Abfallmühlen nannte.

»Bisschen komischer Vogel«, sagte ich.

Garrett nickte.

»Deshalb ist wohl auch niemandem aufgefallen, dass er vor acht Monaten nach Metropolis versetzt wurde.«

Garrett zog erneut an seiner Zigarette und ließ dieses Detail auf mich wirken. Kirklin akzeptierte nie Versetzungen aus Suitland, weil er davon ausging, dass der fragliche Angestellte von Garrett geschickt wurde, um ein Auge auf ihn zu haben. Er warb seine Mitarbeiter lieber in Metropolis an, besonders aus Programmen für schwer erziehbare Jugendliche, ein ausgeprägter Kontrast zu den gediegenen Männern und Frauen, die den Kern von Garretts Personal in Suitland ausmachten. In meinen ersten zwei Jahren bei der Behörde hatte ich alle paar Wochen Bewerbungen für diverse in Metropolis durchgeführte Projekte eingereicht. Nach meiner zwanzigsten Ablehnung erhielt ich eine kurze Nachricht auf Kirklins Briefkopf mit der Bitte, Garrett schön zu grüßen.

»Das kommt mir komisch vor, in Anbetracht von Kirklins Paranoia.«

»Der war nicht paranoid«, sagte Garrett. »Ich hab ihn wirklich bespitzelt.«

Er klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und zog einen Ordner, so dick wie früher ein Telefonbuch, aus einem Regal hinter sich. Garrett schien sein Gewicht zu bewundern, bevor er ihn auf den Schreibtisch warf.

»Immer, wenn ich Kandidaten direkt durch Kirklins Anwerbungsverfahren eingeschleust habe, hat er sie letzten Endes seine Praktikanten beschatten lassen. Deshalb habe ich im vergangenen Jahr Biggs in das Dienststellen-Auftragsregister eingetragen, mit einem internen Vermerk, dass ich ihn bezüglich politischer Aufgaben nicht für geeignet halte. Eine Woche später hat Kirklin ihn eingestellt. Seitdem lasse ich Kirklin von Biggs überwachen und mir alles berichten, was ihm seltsam vorkommt.«

Er deutete auf den Ordner. »Das ist Januar und Februar dieses Jahres.«

»Und Biggs hat das nichts ausgemacht?«

»Er hat sich gefreut, in Metropolis arbeiten zu dürfen. Außerdem habe ich ihm irgend so ein Abwasserprojekt in Tucson genehmigt. Ich dachte, er schlägt mir auf dem Weg aus dem Büro Purzelbäume. Aber jetzt schweigt er, wie der Rest von Kirklins Leuten. Wir brauchen jemanden, der Kontakt zu ihm aufnimmt. Die Angriffe auf Metropolis und die Zentrale hängen zusammen, und ich glaube, dass Biggs vielleicht genug weiß, um den Verwaltungsrat davon zu überzeugen, die Strafverfolgungsorgane in unsere Ermittlungen einzubeziehen.«

Garrett aschte in einen Kaffeebecher mit dem Logo unserer Behörde. Mir gefiel das nicht, aber ich sagte mir, dass die Zeiten schwierig waren. Er war nicht er selbst.

»Das heißt, ich brauche jemanden in Metropolis«, fuhr er fort. »Es muss jemand sein, dem ich vertraue, weil der Verwaltungsrat nicht erfahren darf, dass ich das hinter seinem Rücken mache. Und diese Biggs-Sache muss schnell bearbeitet werden. Denn was auch immer das ist«, er hielt den Ausdruck mit dem Esperanto-Satz in die Luft, »es ist noch nicht vorbei.«

Langsam begriff ich, warum ich dort saß. Trotz meiner Unbeliebtheit kannte ich das Personal in der Zentrale bis in die Poststelle hinunter. Hin und wieder ließ Garrett sich von mir helfen, einen Namen für einen Auftrag auszuwählen. Um Biggs zu finden, bräuchte er einen Mitarbeiter, der erfahren im Außendienst und diskret war, damit der Verwaltungsrat nichts mitbekam, gleichzeitig aber jung genug, um ungerührt von Pontius zu Pilatus zu laufen. Es wäre stressig, meine Empfehlungen so kurzfristig zusammenzustellen. Und da der Verwaltungsrat gerade alle möglichen Projekte infrage stellte, wollte sicherlich niemand seinen Schreibtisch verlassen, bis er sicher war, dass seine geplanten Maßnahmen nicht gefährdet waren. Die Einzelheiten brauchte Garrett nicht zu wissen, also versicherte ich ihm nur, mich darum kümmern zu wollen.

Er bedankte sich mit einem Krächzen in der Stimme, das ich der Zigarette zuschrieb. Als ich mich entschuldigte und erhob, fing er an, durch Biggs’ Ordner zu blättern.

»Und keine Sorge«, sagte er, einen Moment bevor mir klar wurde, dass ich ihn missverstanden hatte. »Ich schicke Sie nicht allein los.«

2

Die Behörde unterhielt einen kleinen Flugplatz direkt am Beltway in der Nähe von Marlow Heights. Von Garrett hatte ich schriftlich die Anweisung erhalten, ihn um 9:30 Uhr dort zu treffen, damit er mich über Biggs informieren und mir den Kollegen vorstellen konnte, der mich begleiten sollte. Um Viertel vor neun saß ich bereits auf einer der roten Plastikbänke in dem kleinen Wartesaal neben dem Tower.

Ich hielt das Gesicht dem Fenster zur Startbahn zugewandt, die unter dem bedeckten Himmel geisterhaft weiß schimmerte. Die Luft in dem Wartesaal war abgestanden und vermischte sich mit dem Geruch von verbranntem Kaffee aus der uralten Maschine in der Ecke. In meinem Bauch kribbelte es unbehaglich, und im trüben Spiegelbild der Scheibe sah ich nach meiner schlaflosen Nacht ziemlich mitgenommen aus.

Nicht nur hatte Garretts Verhalten bei unserem Gespräch mich beunruhigt, sondern mir war auch noch nie in meiner gesamten Zeit in der Behörde eine Aufgabe so absolut jenseits meiner Kompetenz zugewiesen worden. Der Großteil meiner Tätigkeit fiel in den Bereich Maßnahmenumsetzung und Projektmanagement. Meine bisher investigativste Arbeit hatte darin bestanden, bei der Evaluierung einer Trinkwasseraufbereitungsanlage in Duluth zu helfen und letzten Endes zu beweisen, dass vorschriftswidrige Entsorgungsverfahren schuld an dem mysteriösen Anstieg von Bibertodesfällen in der umliegenden Gegend gewesen waren. Aber das Zahnfleisch eines Biberkadavers auf seinen Giftstoffgehalt zu untersuchen bereitete mich meiner Einschätzung nach nicht auf Nachforschungen zu einem offensichtlichen Terrorakt vor.

Ich versuchte, meinen Optimismus zu schüren, indem ich mich daran erinnerte, dass ich endlich in offizieller Mission in die ohne Frage großartigste Stadt Amerikas fuhr. Ich war nicht der Typ, der auf Dienstreisen Zeit für Privates abzweigte, aber ich hatte mich nicht beherrschen können, meine alte Nikon einzupacken. In den letzten Wochen hatte die Fangemeinde im Forum von »Lokomotiven von gestern« von einer Modelleisenbahn-Sonderschau im Transportmuseum von Metropolis geschwärmt. Wenn ich in der Stadt war, versäumte ich nie, dieses Museum zu besuchen, mit seiner in einem wunderschön restaurierten Eisenwerk präsentierten Sammlung von ausgemusterten Schienenfahrzeugen. Ich liebte es, zwischen den Waggons herumzuspazieren, jahrzehntelange geniale Ingenieurskunst zu betrachten, die sich mit der Zwangsläufigkeit einer Gutenachtgeschichte vor meinen Augen entfaltete. Wegen der Dringlichkeit von Garretts Auftrag wäre dies vielleicht mein erster Aufenthalt in Metropolis ohne einen Besuch im Transportmuseum gewesen, hätte diese Sonderschau nicht eine der seltensten Modellloks überhaupt gezeigt. Es handelte sich um eine DR-88 oder auch »Dampfkäfer«, wie der echte Zug wegen seiner flachen, runden Anmutung genannt worden war. Hergestellt von den Gebrüdern O’Neil 1898 in begrenzter Stückzahl, waren nur noch wenige Dutzend Exemplare im Umlauf, und ein neuwertiges wurde nicht unter 250 000 Dollar gehandelt.

Zu Lebzeiten hatte mein Vater einen Dampfkäfer auf dem Schreibtisch seines kleinen Büros zu Hause stehen gehabt. Das Modell war ein Geschenk seines Vaters gewesen. Er ahnte nicht, dass es mehr wert war als unser gesamtes Haus oder das nicht schlecht laufende Geschäft meiner Eltern, Thompson Family Frozen Yogurt, das sie in unserer Heimatstadt Steubenville, Ohio, betrieben. Als Junge hatte ich diese Lok geliebt. Zum Teil, weil sie sehr schön war, aber hauptsächlich, weil sie meinem Vater gehörte. Ich kannte genau ihr Gewicht in meinen Händen, das muntere Rattern der Kuppelstangen, wenn man sie anschob, den schwachen Duft nach Öl, das jemand vor langer Zeit sorgsam auf ihre Achsen geträufelt hatte.

Als meine Eltern im Sommer 1998 zur Nationalen Gastronomiekonferenz in Rochester aufbrachen, lieh mein Vater mir die Lokomotive, um mich darüber hinwegzutrösten, bei unserer einzigen lebenden Verwandten, Großtante Juniper, bleiben zu müssen. Er ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit mir zu sein, reichte mir das Modell und erklärte mir, dass er und meine Mutter jetzt mit genau so einem Zug führen. Damals heiterte mich das etwas auf, obwohl es rückblickend die erschreckende Unkenntnis meines Vaters von Eisenbahnen verrät, da der Dampfkäfer ungefähr so viel mit einem modernen Passagierzug gemein hatte wie ein Mensch mit einem Lungenfisch. Dennoch erinnere ich mich, das Modell unter den Arm geklemmt und das Hosenbein meines Vaters umarmt zu haben, nachdem er aufgestanden war. Spüre noch den leichten Druck seiner Handfläche auf meinem Kopf. Meine Eltern sollten eigentlich sechs Tage später zurückkommen, wurden aber stattdessen eine Stunde hinter Buffalo in jenem verunglückten Passagierzug zerquetscht.

Zwei Monate später starb Großtante Juniper nach einem vermutlich durch ein Aneurysma ausgelösten Sturz die Eingangstreppe ihres alten Bungalows hinunter auf dem Weg zum Briefkasten. Angeblich war ich derjenige, der sie fand und den Krankenwagen rief, wenn auch bis heute das Einzige, an das ich mich aus meiner Zeit mit ihr erinnere, ein Stückchen abgetretener orangefarbener Teppich, ein sonnenheller Flur und eine unfreundliche gefleckte Katze mit einem trüben Auge sind. Es gelang mir, die Lokomotive noch die nächsten ein oder zwei Jahre im staatlichen Betreuungssystem zu behalten, bis ich den dummen Fehler beging, sie eines Tages mit in die Schule zu nehmen, um sie der Klasse zu zeigen. Weil er lustig fand, dass ich sie in der Hand hielt, nahm ein älterer Junge sie mir auf der Busfahrt weg und warf sie aus dem Fenster. Ich hörte sie weit entfernt klirrend auf der Straße zwischen den Maisfeldern auftreffen, und der Junge lachte, als hätte er gerade das Natürlichste auf der Welt getan. An der nächsten Haltestelle stieg ich aus und rannte zurück an die Stelle, von der ich glaubte, dass sie dort gelandet sein müsste, fand sie aber nicht.

Ich wusste, dass Garretts Auftrag meine volle Aufmerksamkeit verdiente, aber die noch verbliebenen Dampfkäfer befanden sich überwiegend in Privatbesitz, und die Gelegenheit, eine zu sehen, war selten. Ich hatte vor, im Transportmuseum jemanden zu bitten, ein Foto von mir mit dem Zug zu knipsen, eine für mich wirklich aufregende Vorstellung, so als würde ich mir etwas Verlorenes zurückholen.

Das Knallen einer Autotür riss mich in den Wartesaal des Flugplatzes zurück. Ich ging hinaus und sah Garrett und einen Mitarbeiter, den ich nicht erkannte, bereits auf dem Rollfeld stehen. Es wehte ein kräftiger Wind, und ich musste den Hut festhalten, den wir laut Garretts Richtlinien möglichst zu tragen hatten, wenn wir außer Haus tätig waren.

In einem Trenchcoat stand Garrett da und sah in die Wolken, während der Kollege, den er mitgebracht hatte, mich musterte. Er wirkte wenig beeindruckt und senkte bald den Blick, um seine eigene Krawatte zu begutachten.

Ich stellte meine Tasche ab und wünschte beiden einen guten Morgen. Garrett drehte sich zu mir um, nickte und gab mir dann einen Umschlag.

»Ein paar Infos zu Biggs. Finden Sie ihn, er soll Ihnen erzählen, was er kann.«

Er trat zur Seite und deutete auf den anderen Mitarbeiter.

Der Wind frischte auf, und Garrett musste schreien, um sich verständlich zu machen.

»Das ist sozusagen Ihr Partner. Er wird Ihnen im Flugzeug alles erklären.«

Ich begrüßte den Mann, aber er beobachtete mich weiter kommentarlos. Garrett nahm mir den Umschlag aus der Hand und stopfte ihn mir in die Innentasche des Sakkos.

»Gehen Sie so unauffällig wie möglich vor, Henry. Der Verwaltungsrat darf nicht erfahren, was wir vorhaben.«

Dann zog er seltsamerweise seine Krawattenklammer ab und steckte sie mir an.

»Danke«, sagte er. »Die Behörde dankt Ihnen.«

Nachdem er mir noch auf die Schulter geklopft hatte, ging er ohne einen Blick zurück, den Oberkörper gegen den Wind vorgebeugt, zu seinem braunen Crown Victoria auf dem Parkplatz. Er gab dem Tower ein Zeichen, woraufhin man das Aufheulen von Motoren hörte. Mein neuer Partner stand mit den Händen in den Taschen da, während das Flugzeug heranrollte. Er war attraktiv und hatte eine gesunde Bräune, der Typ Mensch, den man in der Zentrale nicht so oft traf. Die vollen blonden Haare trug er etwas länger, als ich es bei Kollegen gern sah, aber immerhin waren sie ordentlich gescheitelt, wodurch sein Aussehen etwas leicht Klassisches bekam. Vermutlich hatte das Garretts Sinn für Nostalgie ausreichend angesprochen, weshalb ihn nicht störte, dass der Mann ohne Hut herumlief. Alle hassten diese Fedoras, mit Ausnahme von Kirklins Leuten, die sie nie trugen, aber genau, weil wir anderen sie so hassten, wurde es als schlechter Stil angesehen, sich davor zu drücken.