Der Milchhof – Das Leuchten des Meeres - Regine Kölpin - E-Book
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Regine Kölpin

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Beschreibung

"Unsere Milch ist weißes Gold – machen wir das Beste daraus!" Die Macht der Träume und der Wunsch nach Liebe: Der dritte Band der neuen gefühlvollen Nordsee-Familiensaga der SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin. Friesische Wehde 1945: Nach dem Krieg übernimmt Alea die Leitung der Molkerei, die erneut vor dem Ruin steht, während Lina sich von den schrecklichen Ereignissen der letzten Jahre erholen muss. Obwohl Alea von Derk unterstützt wird, fällt es ihr schwer, den Betrieb wieder aufzubauen. Hinzu kommt das schlechte Verhältnis zu ihrer Tochter Enna, das sie lähmt. Doch dann greift Lina ihrer Tochter mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung unter die Arme, und Enna macht einen ersten Schritt auf ihre Mutter zu. Alea schöpft neue Hoffnung. Können die Frauen des Milchhofs mit vereinten Kräften die Molkerei retten und in die Zukunft führen? Oder ist es dafür bereits zu spät? Vor der atmosphärischen Kulisse einer privaten Molkerei an der Nordseeküste entfalten sich in der »Milchhof«-Saga die Schicksale von drei starken Frauen aus drei Generationen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

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Das Projekt wurde gefördert mit dem Stipendium Neustart Kultur.

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Lesen & Hören, Anna Mechler.

Lektorat: Christine Neumann

Covergestaltung: t. mutzenbach design, München

Covermotiv: Arcangel/Laura Ranftler und Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Verzeichnis der wichtigsten Personen

Familie Bleeker

Mitarbeiter und andere

Teil 1

1945–1948

Kapitel 1

Mai 1945

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Juni 1945

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

August 1945

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Oktober 1945

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Juni 1946

Kapitel 16

Juli 1946

Kapitel 17

August 1946

Kapitel 18

Januar 1948

Kapitel 19

Teil 2

1948–1952

Kapitel 20

August 1948

Kapitel 21

Juli 1949

Kapitel 22

Kapitel 23

März 1950

Kapitel 24

April 1950

Kapitel 25

Oktober 1950

Kapitel 26

November 1950

Epilog

Mai 1964

Danksagung

Literaturnachweise

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der wichtigsten Personen

Familie Bleeker

Lina Voigt, geb. Harms – Leiterin der Molkerei Bleeker

Derk Voigt – Obermeier auf dem Milchhof und Linas dritter Ehemann

Wilko Bleeker – erstgeborener Sohn von Lina und Thees

Mary Bleeker – Wilkos zweite Frau

Ludger Bleeker † – zweiter Sohn von Lina und Thees

Alea Bleeker – Tochter von Lina und Thees

Tammo Neunaber – Aleas Ehemann

Enna Mintken, geb. Neunaber – Aleas und Tammos Tochter

Edzard Mintken – Ennas Ehemann

Hanno Mintken – Ennas und Edzards Sohn

Mitarbeiter und andere

Talke Voigt – Ehefrau von Karl Doden

Karl Doden – Talkes Ehemann

Antke Cornelius, geb. Voigt, gesch. Bleeker – Talkes und Derks Tochter

Otto von Webersbach – Derks Sohn mit Hilda von Webersbach

Adelheid Blankenburg – junge Frau aus dem Ruhrgebiet, die Lina aufgenommen hat

Sarah Goldenstein – Jüdin, der Lina bei der Emigration geholfen hat

David Goldenstein – Sarahs Mann

Amelie Goldenstein (genannt Emily) – Tochter von David und Sarah

Aaron Goldenstein – Sohn von Sarah und David Goldenstein

Doris – Große Magd

Hertha – Kleine Magd

Ulla – Hausmädchen

Hilda von Webersbach – leibliche Mutter von Otto von Webersbach

Teil 1

1945–1948

Kapitel 1

Mai 1945

»Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus!«

Lina Voigt saß in ihrem kleinen Zimmer, das sich neben dem Haupthaus auf dem Milchhof befand. Sie hielt das Stickzeug in der Hand und konzentrierte sich auf die Rose, die sie heute noch fertig bekommen wollte.

»Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus!«, ertönte es erneut.

Langsam ließ Lina die Handarbeit sinken. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht, und nicht der Wunsch nach Frieden war Vater des Gedankens. Ihre Arbeiter riefen tatsächlich, dass das Martyrium endlich vorbei war. Nachdem sich Hitler am 30. April umgebracht hatte, war das zwar zu erwarten gewesen, aber kaum jemand hatte diese Hoffnung laut geäußert.

Der Krieg, dieses Monster mit den scharfen Zähnen und furchtbaren Krallen, das nichts als Tod und Verwüstung, Leid und Elend hinterließ, aber niemals Sieger, war offenbar gebändigt und schließlich zu Fall gebracht worden.

Es war dennoch kein Triumph, denn zurück blieben Versehrte, Krüppel, Waisen, Witwen und traumatisierte Menschen, die ihren Platz in der Welt gar nicht oder nur schwer finden würden. Lina hatte all das bereits mit ihren Söhnen am eigenen Leib erlebt, und sie wusste, dass die Welt trotz dieser erleichternden Nachricht eine andere bleiben würde.

Sie war schon nach dem Ersten Weltkrieg zu einer verlassenen Mutter geworden, denn Wilko konnte und wollte nicht mehr in Deutschland leben, weil er das Land nicht mehr ertrug.

Und Ludger, ihr stiller Ludger, der doch einst als Bankmitarbeiter eine große Karriere angestrebt hatte, war mit seinem Dasein überhaupt nicht mehr zurechtgekommen und hatte sich in die Arme der ewigen Ruhe begeben. Manchmal beneidete Lina ihn. Er musste keinen Schmerz mehr ertragen.

Erneut schallten die Rufe zu Lina und rissen sie aus ihren trüben Gedanken. »Kapitulation! Bedingungslose Kapitulation!«

»Es ist vorbei! Es ist wahrhaftig vorbei!«

Noch immer konnte Lina es nicht glauben. Deshalb blieb sie zunächst auf ihrem Stuhl sitzen und schaute nachdenklich aus dem Fenster des oberen Stockwerks über die Wehde. Das Stickzeug lag still auf ihrem Schoß, doch Lina umklammerte es, als brauchte sie diesen Halt, wenn sich womöglich alles als falsche Information herausstellte und der Wahnsinn weiterging.

Aber das Geschrei ebbte nicht ab, sondern blieb laut, fast hysterisch, und es erschütterte die Friesische Wehde auf eine unnachahmliche Weise.

Ihre Wehde. Hier hatte sie das Gefühl von Freiheit, weil ihr die Weite der Landschaft die nötige Ruhe vermittelte und sie den Anblick liebte, wenn der Himmel am Horizont die Erde küsste. Selbst in den letzten schlimmen Jahren hatte ihr diese Kontinuität die nötige Sicherheit gegeben und sie daran glauben lassen, dass nicht alle Grundfeste erschüttert werden konnten. Es gab immer etwas, was blieb.

Es existierten eben Dinge, die konnten Menschen nicht verändern, und dazu gehörte die unabänderliche Tatsache, dass es diesen Horizont gab, hinter dem Abend für Abend die Sonne verschwand, um am nächsten Morgen wieder aufzugehen und das nötige Licht und die Wärme zu spenden. Die Tatsache, dass das Meer kam und ging und kein Krieg dieser Welt je etwas daran ändern konnte.

Lina atmete tief durch, doch das fiel ihr in der letzten Zeit sehr schwer. Zu sehr drückten die Sorgen, zu schwer war die Last auf ihren Schultern geworden. Eine Last, die sie in die Ablenkung dieser blöden Stickarbeit getrieben und ihr den geraden Gang geraubt und das freudige Blitzen in den Augen genommen hatte. Und die Hoffnung.

Gab es die jetzt? War der Frieden tatsächlich greifbar und keine Seifenblase, die kurz bunt schillerte und dann schlagartig zerplatzte?

Wie oft hatte sie sich diese Situation in den letzten Jahren gewünscht und wie oft war ihre Zuversicht zerschlagen worden. Jetzt würde das Kriegsende für sie kaum eine Verbesserung bringen, denn es war zu spät.

Derk war verschollen, vermutlich tot, und daran würde auch ein Friedensschluss zwischen den Nationen nichts mehr ändern. Warum also sollte sie sich freuen, wenn ihr doch das Liebste genommen worden war? So viel hatten sie und Derk gemeinsam durchgestanden, und nun stand sie am Ende des langen Weges dennoch vor dem Nichts. Selbst der Milchhof konnte Lina keinen Trost mehr schenken, obwohl er zeitlebens ihr Kraftelixier gewesen war.

Lina hatte Derks Lächeln noch vor Augen, als er sich gleich Anfang Februar schweren Herzens auf den Weg nach Dresden gemacht hatte.

Wie lange hatten sie darüber diskutiert, ob seine Reise wirklich notwendig war, denn Lina hatte ihn nicht gehen lassen wollen. Nicht in diese Stadt, wo sicher Hilda nur darauf lauerte, ihn abzustrafen, weil ihr gemeinsamer Sohn Otto so lange bei ihnen auf dem Milchhof gelebt und seinem Vater eine Zeit lang sogar nahegestanden hatte, während sie allein in Dresden zurückgeblieben war. Otto und Derk waren Vater und Sohn geworden – trotz Ottos zweifelhafter Gesinnung, die weder Derk noch Lina guthießen.

Ottos einflussreiche Position bei den Nationalsozialisten war auch für ihre Beziehung schwierig und ein ständiger Konfliktstoff gewesen, sodass Lina erleichtert reagierte, als Otto mit seiner um ein paar Jahre älteren Frau Adelheid, die Lina als Ziehkind aus dem Ruhrgebiet bei sich aufgenommen und großgezogen hatte, nach Dresden zurückkehren wollte. Dort waren sie weit weg und konnten auf dem Milchhof keinen Schaden mehr anrichten. Ihr Umzug hatte einiges erleichtert.

Linas Furcht, wenn sie ihren Mann nach Dresden fahren ließ, bestand auch darin, ob Hilda nicht doch wieder versuchen würde, Derk an sich zu binden, allein um Lina eins auszuwischen.

Denn deren Gemahl lebte nicht mehr – und was gab es Schlimmeres für eine Ehefrau als liebeshungrige Witwen, die eine Chance suchten, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Und dann mit einem so wunderbaren Mann wie Derk, der auch im Alter nichts von seiner Attraktivität eingebüßt hatte.

Aber Lina hatte am Ende einsehen müssen, dass ihr keine andere Wahl blieb, als ihren Mann ziehen zu lassen. Otto ging es seit dem Januar gesundheitlich sehr schlecht, und er war Derks einziger Sohn.

Er war von einem heftigen Lungenleiden heimgesucht worden, die Lage schien ernst. Wie sollte Lina Derk da diese Reise verwehren, wenn er doch Gefahr lief, sich sonst nicht von seinem Sohn verabschieden zu können?

Ihr Mann hatte lange mit sich gerungen, ob er wirklich fahren sollte, nach dem, was Otto Lina während ihrer Haft angetan hatte. Warum Otto sie am Ende aus dem Gestapokeller hatte gehen lassen, wusste Lina nicht, ahnte aber, dass Derk seine Finger im Spiel gehabt hatte. Ihr Mann schwieg allerdings wie ein Grab, und dafür würde er seine Gründe haben.

Dass jedoch kurz darauf Adelheid Ottos Frau geworden war, obwohl sie ihn zuvor nie beachtet und Lina schon in Erwägung gezogen hatte, sie könnte Frauen lieben, fand sie befremdlich. Dass Adelheid eine der Verursacherin für ihre Verhaftung gewesen war und sie bestimmt denunziert hatte, stand für Lina außer Zweifel.

Aber das war aus und vorbei.

Lina hatte überlebt, das allein zählte, sonst nichts. Sie wollte weder hassen noch anklagen, verurteilen, noch sich über diese Dinge aufregen.

Jedenfalls waren Adelheids spärliche Telegramme immer flehentlicher geworden, sodass Lina ihren Mann am Ende doch ermutigte, zu Otto zu reisen.

»Es ist besser, man söhnt sich mit allen Menschen und dem Leben aus, sonst wirst du diese Bürde ewig tragen! Er hat mich am Ende gehen lassen, und ich lebe noch.«

Lina wischte sich jetzt mit dem Unterarm eine Träne von der Wange, damit sie ihre Stickerei nicht aus der Hand legen musste. Auf unerklärliche Weise fand sie einen Ankerplatz an diesem Stück Stoff mit Nadel.

Kurzerhand nahm Lina die Handarbeit wieder auf und stach heftig in die Rosenblüte. Sie und ihre verdammte Großherzigkeit! Ohne die würde Derk jetzt, in diesem wichtigen historischen Augenblick, an ihrer Seite sein, Lina in den Arm nehmen und ihr das Gefühl geben, alles würde gut.

Dieses Mal fiel es ihr schwer, den Kloß im Hals hinunterzuschlucken. Lamentieren half leider nichts, Derk würde deshalb nicht wiederkommen. Vermutlich hatte er schon beim ersten Bombenangriff im Februar, aber ganz sicher bei den nachfolgenden, mit vielen anderen sein Grab in Dresden gefunden. Sie hoffte, dass er nicht lange hatte leiden müssen und nicht langsam jämmerlich verbrannt oder an den Rauchschwaden erstickt war.

Das Rufen auf dem Hof wurde lauter und lauter, schwoll zu einem regelrechten Kanon an, und schließlich klang es wie ein tosender Orkan.

Das konnte Lina nicht länger ignorieren. Sie legte die Stickarbeit nun doch beiseite und stand auf. Der Blick über das Gehöft hatte ihr früher den nötigen Frieden geschenkt. Jetzt aber erfüllte es sie mit Schrecken, ganz allein vor der großen Verantwortung für den Betrieb und die Mitarbeiter zu stehen.

Denn nicht nur Derk war ihr in den Kriegswirren verloren gegangen, auch der Milchhof hatte gelitten. Und wer konnte schon sagen, ob sich dessen tiefe Wunden je wieder schlossen. Es war, als hätte man ihrem Unternehmen nach und nach jegliche Gliedmaßen abgehackt. Erst ganz langsam, Finger für Finger, Zeh für Zeh. Dann die Hände und Füße, Arme und Beine, und am Ende stand da ein Torso, der zwar eben noch funktionierte, dem aber die Beweglichkeit, das wahre Leben und die Kreativität abhandengekommen waren.

Das Gesetz des Reichsnährstandes reglementierte sie bis heute. Sie war dazu verpflichtet worden, Kasein für industrielle Zwecke herzustellen, und dafür waren sie von anderen Molkereien mit dem notwendigen Rohstoff beliefert worden. Im letzten Jahr hatten sie das glücklicherweise wieder einstellen dürfen. Also produzierten sie als sogenannter Werksbetrieb nun Butter und Käse. Letzteres fiel nicht unter den Reichsnährstand.

Aber dann hatten die Braunen etwas getan, wofür Lina die Nationalsozialisten auf ewig verurteilen würde.

Ihr guter Rindenkäse – ein nicht verkehrsfähiger, aber durchaus schmackhafter und vor allem genießbarer Käse – musste vom Käsemeister vernichtet werden. Er hatte ihn regelmäßig verbrannt, und das, wo doch die Menschen so dringend auf Lebensmittel angewiesen waren. Lina hasste eine solche Verschwendung.

Sie schaute weiter aus dem Fenster und schluckte, als sie die fröhlichen Mitarbeiter dort sah. Ihnen stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Wie gern würde sie das jetzt auch fühlen. Mut und Zuversicht. Optimismus und Fröhlichkeit.

Wäre Derk an Linas Seite, könnten sie zusammen auf den Frieden, auf das Ende der Barbarei anstoßen.

Sie hatten geglaubt, Derk wäre nach ein bis zwei Wochen zurück. Wer hätte denn ahnen können …

»Alle großen Städte wurden bombardiert, Lina Voigt. Ihr hättet es vorhersehen können«, schalt sie sich, da ihr oft diese Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Kurz nachdem Derk in Dresden angekommen war, gab es den Nachtangriff am 13. Februar. Ein Großteil der Dresdener Altstadt war zerstört worden. Dabei starben so viele Menschen, wohl auch Derks Sohn Otto. Und vermutlich auch ihr Mann, denn danach hatte Lina nie mehr etwas von ihm gehört und nichts über ihn in Erfahrung bringen können.

Während sie, Lina, mit gebrochenem Herzen und gebrochener Seele, die nach ihrer Inhaftierung einfach nicht heilen wollten, auf dem Milchhof in Ellenserdammersiel saß und auf eine Besserung des Lebens und auf Derk wartete.

Nach dem schweren letzten Luftangriff im April mit Teppichen von Spreng- und Brandbomben hatte Lina alle Hoffnung verloren, Derk je lebendig wiederzusehen. Ihnen war einfach keine gemeinsame Zeit vergönnt. Lina hatte von den vielen Toten gehört. Etliche waren an den Brandgasen erstickt.

Nicht weiter darüber nachdenken, dachte Lina. Nicht nachdenken …

Doch sie wurde die schweren Gedanken nicht los, die sie umhüllten wie ein dunkles Tuch. Der Schmerz, Derk ausgerechnet in Dresden verloren zu haben, saß zu tief. Dort hatte sie einerseits die schönste und erste Nacht mit ihm verbracht, aber da lebte auch Hilda: die Frau, der er seine Gunst erwiesen und die ihm Otto geboren hatte.

Die Große Magd Doris platzte herein, ohne zu klopfen. Sie hatte schon bei Kriegsausbruch Marlene ersetzt, die nach der Verlobung von Adelheid und Otto plötzlich unauffindbar gewesen war.

»Moin, Frau Voigt«, sagte sie atemlos. »Es gibt großartige Neuigkeiten, da wollte ich Sie nicht im Ungewissen lassen, weil ich nicht wusste, ob Sie Radio hören.«

»Der Krieg ist aus«, erwiderte Lina. »Das Rufen war unüberhörbar.«

Doris strich sich hektisch über die weiße Spitzenschürze und knickste. »Bedingungslose Kapitulation. Ich wollte es auch nur gesagt haben …«

»Ist gut, danke. Nun weiß ich es ja«, herrschte Lina das Mädchen an, und hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen, weil sie ungerecht war. Was konnte die arme Deern dafür, dass sie um Derk trauerte, obwohl sie nicht einmal wusste, ob sie das wirklich schon tun musste. Es gab doch die winzige Glut der Hoffnung darauf, alles könnte noch gut werden.

Das Mädchen zog sich knicksend zurück.

Lina schob die Gardine nun ganz beiseite, damit sie das gesamte Betriebsgelände des Milchhofes im Auge hatte. Die Sonne schien zwar vom klarblauen Himmel, doch es war ein so kühler Maitag, dass sie sogar im Haus ein Schultertuch umgelegt hatte.

Plötzlich glaubte Lina, keine Luft mehr zu bekommen, und riss das Fenster weit auf.

Von ferne röhrten Motoren, und es schepperten Panzerketten; die Befreier waren also tatsächlich da und würden bestimmt auch dem Milchhof einen Besuch abstatten. Vermutlich kontrollieren, ob sie Nazis waren. Lina befürchtete, dass sie die Häuser nach Bildern, Abzeichen und Waffen oder Munition durchsuchen würden.

Sie hatte im Haus nichts zu entfernen – nicht einmal ein Hitlerbild. Und ihre erzwungene Parteimitgliedschaft würde sie dann jetzt endlich beenden. Wahrscheinlich war das nicht einmal notwendig, weil es die NSDAP hoffentlich gar nicht mehr geben würde.

Linas Herz schlug unwillkürlich schneller, als ihr nach und nach die Tragweite der Ereignisse bewusst wurde. Es war vorbei.

Wirklich vorbei.

Die Naziherrschaft war Geschichte.

Niemand würde nun mehr kommen und ihr auf die Finger klopfen, wenn sie den Betrieb nicht so führte, wie es den Braunhemden vorschwebte.

Sie waren wieder unabhängig. Konnten hoffentlich produzieren, was sie wollten. Den Reichsnährstand würden die Besatzer doch sicher nicht aufrechterhalten wollen, das wäre ja lächerlich.

Lina schloss das Fenster wieder.

Man würde sehen, was nun mit dem Milchhof geschah.

Momentan hielt sie es für besser, ihrer Tochter Alea weiterhin freie Hand zu lassen. Sie selbst war doch ohnehin zu alt und seit ihrer Inhaftierung körperlich oft zu schwach, um noch wirklich etwas bewerkstelligen zu können. Und Alea leistete bislang hervorragende Arbeit.

Aber vielleicht gab es eine weitere Chance. Vielleicht würde sich Wilko ja doch aufraffen, noch einmal nach Deutschland zu kommen, um seine alte und einsame Mutter zu besuchen und Alea ein wenig unter die Arme zu greifen. Auch wenn seine Unterstützung nur darin bestand, seine Schwester aufzubauen und ihr Mut zu machen.

Eine solche Hoffnung starb nie.

Lina legte den Kopf in die Hände und weinte. Immerhin hatte sie ihre Tochter noch. Und eben ganz weit weg auf der anderen Seite des Ozeans: Wilko.

*

Wilko hatte seine Zeitung noch gar nicht aufgeschlagen, denn er wollte sie beim Frühstück lesen, und sprang von seinem Stuhl auf, als er die Nachrichten im Radio hörte.

»Das gibt es doch gar nicht«, entfuhr es ihm.

»Was hast du?«, fragte seine Frau Mary, die gerade dabei war, Kaffee zu kochen und das Frühstück mit Rührei und Speck anzurichten. Dazu gab es bei ihnen immer geröstetes Weißbrot, weil Wilko Toast so sehr liebte.

Er umarmte seine Frau, die direkt am Herd stand und die Hände nicht frei hatte.

»Der Krieg ist aus! Jedenfalls in Deutschland. Sie haben bedingungslos kapituliert! Es geschehen noch Wunder auf dieser verrückten Welt.«

»Wow«, entfuhr es seiner Frau, und fast wäre ihr das Ei angebrannt, weil sie zu rühren vergessen hatte. »Dann herrscht auf dem Milchhof endlich wieder etwas Ruhe. Ich fürchte, deiner Family ging es in den letzten Jahren nicht so gut.«

»Das ist wohl untertrieben.« Wilko stellte die Teller auf den Tisch. »Für min Moder befürchte ich das Schlimmste, sollte Derk tatsächlich in Dresden ums Leben gekommen sein. Dann wird sie das Ende des Krieges nicht trösten können. Sie hat zu viel verloren. Erst Ludger, dann mich und jetzt vielleicht noch Derk. Ich weiß nicht, wie gut sie das verkraften kann.«

»Ja, sie hat ein ganz schones Parcel zu tragen. Aber du hast mal erzählt, dass ihr der Milchhof immer wieder viel Kraft gibt.«

»Manchmal wird das aber wohl nicht reichen«, gab Wilko zu bedenken. Er legte Messer und Gabel in rechtem Winkel neben die Teller. Das nahm er stets sehr genau.

Mary gab etwas Schnittlauch in die Pfanne und kratzte die fertige Eierspeise in eine Schüssel, die sie zu Wilko auf den Tisch stellte. Es duftete wunderbar. Der Toast war auch gerade fertig.

»Es sieht lecker aus.« Wilko rieb sich den Bauch. »Nun lass uns erst mal essen, und dann überlegen wir, wie wir reagieren. Melden möchte ich mich bei meiner Mutter auf jeden Fall.«

»Sie wird hoffen, dass du doch noch kommst«, sagte Mary und tat sich vom Rührei auf. »Jetzt, wo es wieder bald möglich sein wird.«

»Ich weiß, aber ich werde das nicht tun. Es geht einfach nicht.«

Mary griff nach einem Toast, schmierte Butter darauf und biss ab. Sie schloss verzückt die Augen. »Es schmeckt himmlisch. Ich liebe unser tägliches Frühstück.«

»Und ich liebe dich«, antwortete Wilko.

Ja, er hatte mit Mary einen Glückstreffer gelandet. Sie war eine zierliche blonde Frau, die aber durchaus zupacken konnte.

Was Wilko an ihr besonders schätzte, war die Ruhe, die Mary ausstrahlte. Sie hatte sich in all den Jahren ihres Zusammenseins noch nie lautstark aufgeregt, sondern stets besonnen nach Lösungen für jedes aufkommende Problem gesucht.

Geht nicht, gibt’s nicht, war ihre Devise, und so war es ihnen gelungen, ihre Destillerie zu einem florierenden Unternehmen zu machen.

Mary zeigte mit ihren unkonventionellen Ideen oft Mut und Weitsicht, und so hatten sie es schnell zu etwas gebracht. Manchmal war Wilko mit seiner friesischen, stoischen Gelassenheit etwas von Marys Esprit überfordert, aber sie besaß einfach die Gabe, ihn mitzureißen und zu überzeugen.

Wilko aß langsam und bedächtig, denn es wäre zu schade, sich die Delikatesse zu schnell einzuverleiben. Essen war für ihn ein kostbares Gut, das es zu genießen galt.

Sie sprachen dabei meist nicht viel, damit sie sich die Laune nicht mit schlechten Nachrichten verdarben.

Als sie aufgegessen hatten, legte Mary das Besteck beiseite und tupfte sich mit der weißen Stoffserviette den Mund ab.

»Nun werden wir wohl auch bald die Goldensteins verlieren«, sagte sie.

»Wenn sie sich nicht dazu entschließen, Emily hierherzuholen, ja«, bestätigte Wilko. »Dann werden sie nach Deutschland gehen und dort mit ihr leben.«

Und Aaron mitnehmen, fügte er bedauernd in Gedanken hinzu, denn das schmerzte ihn besonders, weil er den Jungen beinahe wie seinen Enkel sah.

Wilko nahm einen Schluck Kaffee, den er im Nachgang immer besonders genoss. Mary mahlte die Bohnen dafür in einer kleinen Handmühle und goss das Pulver dann mit einem Filter auf.

»Ich für meinen Teil hoffe, sie holen Emily her und bleiben nicht drüben«, begann Mary wieder. »Ich würde nicht nur sweet Aaron vermissen, sondern auch Sarah und David. Sie sind mir an die Herz gewachsen.«

Wilko liebte Marys entzückenden amerikanischen Akzent, den sie wohl nie ganz ablegen würde.

»Ich auch. Aber wir sollten die beiden allein entscheiden lassen. Es sei denn, sie fragen nach unserer Meinung«, gab sich Wilko diplomatisch.

Die Sache mit Emily war auch nach all den Jahren noch immer ein heikles Thema. Offiziell war sie Wilkos Tochter, obwohl sie das Kind der jüdischen Freunde Sarah und David Goldenstein war.

Mit Wilkos Hilfe hatten die beiden vor den Nazis fliehen können, mussten aber ihre Tochter Amelie, die fortan Emily hieß, zurücklassen. Sie war von Lina aufgezogen worden. Inzwischen hatten sie ihren kleinen Sohn Aaron bekommen, aber die Trauer um ihre Tochter ließ die beiden nicht los. Sie würden Himmel und Erde in Bewegung setzen, ihr Kind so schnell es geht zu sich zu holen. Nur musste man sehr umsichtig sein, denn auch wenn die Nazis ihnen jetzt nichts mehr anhaben konnten: Emily wusste weder, dass sie Amelie hieß, noch dass Wilko und Mary mitnichten ihre Eltern waren. Die Goldensteins waren ihr vollkommen fremd.

»Vorerst wird keiner reisen können.« Mary schenkte Wilko Kaffee nach. »Noch ist Krieg mit Japan, ich würde momentan kein Schiff besteigen wollen.«

»Ja, trotz der veränderten Situation wird sich wohl noch einiges hinziehen«, sagte Wilko. Das kam ihm ganz gelegen, denn so war es ihm möglich, noch eine Weile über alles nachzudenken.

»Vielleicht kommt dein Sohn Behrend uns ja mal besuchen«, sagte Mary hoffnungsvoll, denn sie wusste, wie sehr Wilko seinen Sohn vermisste, und dass er oft mit sich haderte, ob er damals die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er seine Frau Antke und Behrend allein nach Europa hatte zurückgehen lassen.

»Ich weiß nicht. Leider ist der Kontakt abgebrochen, nachdem Antke wieder geheiratet hat, und ich will meinen Jungen nicht verwirren. Wahrscheinlich liebt er seinen neuen Vater, und mich wird er wohl verurteilen.«

»Sei nicht so streng mit dich!«, tadelte Mary ihn wieder in ihrem Deutsch.

Sie nahm auch noch etwas Kaffee. Jetzt war die Kanne leer.

»Wir werden hoffentlich einen Weg finden, Darling.« Wilko lächelte seiner Frau zu.

»Aber sicher werden wir das. Es gibt keine Sackways. Am Ende bleiben immer Schleichwege und wenn sie nicht da sind, dann müssen wir sie einschlagen.«

So war sie, seine Mary. Und dafür liebte Wilko sie. Ja, es war richtig gewesen, damals nicht zurück nach Deutschland gegangen zu sein. Wahrscheinlich würde er gar nicht mehr leben. Was, wenn sie selbst ihn, den Einbeinigen, noch für den Volkssturm eingezogen hätten?

Die Nazis hatten ja sogar vor Kindern und alten Männern nicht zurückgeschreckt.

Deutschland war und blieb für Wilko ein Graus.

Kapitel 2

Alea konnte es nicht fassen und schaute aus dem Fenster des Kontors über den Hof. Der vermaledeite Krieg, der nur Tod und Verderben gebracht hatte, war vorbei! Ach, was hoffte sie inständig, dass auch ihr Mann Tammo endlich nach Hause kommen würde. Zuletzt hatte sie vor zwei Monaten von ihm gehört, da war er in Rumänien gewesen. Die Feldpost war schon immer spärlich eingetroffen, aber jetzt schien sie ganz versiegt. Alea hoffte, dass es wirklich nur daran lag und Tammo lebte. Sein Tod durfte einfach nicht der Grund dafür sein, dass sie keine Nachricht bekommen hatte.

Jeden Tag dieser Moment der Angst, wenn der Postbote auf den Hof kam und seinen Packen Briefe aus der Tasche zog.

Und dann die grenzenlose Erleichterung, wenn keine Post vom Militär dabei war und sie erneut hoffen und bangen konnte.

Nun wuchs diese Hoffnung wie ein Brot, dessen Hefegärung in vollem Gang war. Bisher war noch kein Todesbescheid eingegangen, und die Kampfhandlungen wurden mit sofortiger Wirkung nicht nur für eine Weile eingestellt, sondern ganz beendet.

Alea atmete tief durch.

Bestimmt würden sie den Betrieb wieder so leiten können, wie es für den Milchhof gut und richtig war, und konnten sich den scharfen Kontrollen entziehen.

Alea sah es als Zeichen des Himmels, dass genau jetzt die Sonne hinter einer dicken Wolke hervorkam und den Milchhof in ihr helles Licht tauchte, ja, geradezu umarmte.

Endlich würden sie und ihre Mitarbeiter nicht mehr mit ständigen Todesnachrichten konfrontiert werden, und hoffentlich kämen viele Männer aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurück. Sie würden dafür sorgen, dass sich das Land von der Knechtschaft erholte, vorsichtig zu blühen begann und vielleicht auch eines Tages wieder Normalität herrschte.

Ob es auch bald wieder möglich war, frei heraus seine Meinung zu sagen? Ohne dass man Gefahr lief, denunziert und gemeldet zu werden?

Alea entdeckte die elfjährige Emily, die kichernd mit zwei anderen Mädchen der Melkerinnen über den Hof tobte und zwischenzeitlich die diskutierenden Arbeiterinnen beobachtete.

Alea wusste nicht, ob die Deern das Ausmaß des Kriegsendes begriff, aber sie schien die Situation auf jeden Fall sehr spannend zu finden.

Sie bemerkte auch ihre Tochter Enna, die inzwischen zweiundzwanzig Jahre zählte und zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen war. Sie wirkte dennoch wie ein Backfisch, denn ihre Art mutete nach wie vor kindisch und unreif an.

Auch jetzt machte sie den Eindruck eines trotzigen Kindes und schaute griesgrämig, ja, regelrecht enttäuscht, drein. Nach dem Freitod Hitlers lief sie herum wie ein trauriges Gespenst. Sie war dadurch in den Grundfesten erschüttert, weil ihr Idol sich einfach das Leben genommen und die Nation im Stich gelassen hatte.

Für Enna war die bedingungslose Kapitulation höchstwahrscheinlich eine herbe Niederlage, und all ihre Vorstellungen, Hoffnungen und Träume stürzten in diesem Moment ein wie ein Kartenhaus, in das eine Windböe gefegt war.

Hinfort waren alle Ideale, alle Glaubenssätze, die in sie hineingedrückt worden waren, als hätte man ein Pferd gebrannt und die Prägung verewigt. Sie würde bleiben – ein Leben lang.

Enna war als Nazi-Mädchen glücklich gewesen, hatte sich beim BDM und bei Talke und Karl Doden, die sie entsprechend indoktriniert hatten, verstanden gefühlt. Egal, was Alea auch immer angestellt hatte, weil sie es nicht guthieß, wie stark Enna sich dieser Ideologie verschrieben hatte: Es war an ihrer Tochter abgeprallt, sodass sie sich immer stärker voneinander entfernt hatten.

Oft erschien es Alea, als würden sie an verschiedenen Flussufern entlangwandern und sich nur ab und zu Dinge zurufen, damit sie sich nicht vollends aus den Augen verloren. Wie sehr wünschte sie sich, Enna mal in den Arm nehmen zu können, ein freundliches Gespräch mit ihr zu führen und eine normale Beziehung mit ihr zu haben. Das schien allerdings völlig unmöglich.

»Es ist meine Schuld«, schalt sich Alea. »Ich habe ihr zu diesen verqueren Ideen und zu Karl und Talke einfach keine Alternative bieten können.«

Sie seufzte. Was litt sie doch unter dieser schrecklichen Beziehung zu ihrer Tochter, die sich durch nichts wieder geradebiegen ließ. Was auch immer sie bislang versucht hatte: Sie war gescheitert.

Doch sie sorgte sich auch um Emily, der angenommenen Enkelin von Lina und Derk. Denn sie war ebenfalls ein Opfer der nationalsozialistischen Gesinnung geworden. Aber sie war noch jung und würde sicher schnell in die andere Richtung zu lenken sein, wenn der schlechte Einfluss aufhörte. Da gab es zumindest Hoffnung.

Alea schluckte.

Doch Emily wusste nichts von ihren wahren Eltern. Denn die Deern glaubte, dass Aleas Bruder Wilko ihr Vater war, nur erinnerte sie sich nicht an ihn – aber eben auch nicht an diejenigen, die sie wirklich zur Welt gebracht hatten.

Es war ausgeschlossen gewesen, dem Mädchen zu sagen, dass sie ein jüdisches Kind ist. Es hätte ihr Leben gefährdet. Was für ein furchtbarer Zustand in einer furchtbaren Zeit. Ob es jetzt wirklich besser wurde, würde sich zeigen.

Die Tür vom Kontor schepperte gerade mit heftigem Schwung auf, und Enna stürzte hinein. Das Haar wie immer ordentlich zu einem Kranz geflochten, die weiße Schürze fleckenfrei und akkurat gestärkt und die Haltung eine Spur zu gerade. Jetzt reckte sie auch noch das Kinn, was ihrer Haltung eine gewisse Empörung verlieh.

»Hast du das gehört, Mutter?«, brachte sie mit überschlagender Stimme hervor. »Die Briten und Kanadier sind mit dicken Panzern da, und sie haben Deutschland regelrecht überwältigt. Uns blieb keine Wahl, als zu kapitulieren! Es ist ein Graus für das deutsche Vaterland!«

Wie immer bediente sie sich der nationalsozialistischen Propagandasprache. Und so fuhr sie auch fort. »Man hört das Rasseln der Panzerketten bis hierher! Sie werden auch zum Milchhof kommen, hat Ulla gesagt. Diese Besatzer von unserem Land!«

Alea unterdrückte den Impuls, ihrer Tochter das Wort zu verbieten, sie zu mäßigen, damit sie begriff, wie verdreht ihre Ansichten waren. Sie schwieg in der Hoffnung, Ennas Redefluss auf diese Weise versiegen zu lassen. Je mehr sie sie zu reglementieren versuchte, desto trotziger reagierte ihre Tochter stets. Es war, als staple jedes Wort dagegen einen weiteren Stein auf die ohnehin schon unüberwindbare Mauer zwischen ihnen.

Trotz allem war Enna ihr Kind, und sie würde niemals aufgeben, um ihre Zuneigung zu kämpfen. Um ihr Seelenheil, um ihre Rückkehr zu Werten, die zu ihrer Familie passten. Niemals würde sie Enna einfach so ziehen lassen. Das war sie ihr als Mutter schließlich schuldig. Es musste doch einen Weg geben, der sie wieder zueinander führte – und einander auch lieben ließ.

»Setz dich doch erst mal!«

Alea wies einladend auf den Stuhl ihr gegenüber, aber Enna schüttelte den Kopf und begann mit ausgreifenden Schritten im Büro auf und ab zu laufen.

Das wirkte, trotz der einfachen Kleidung, die aus Rock, Bluse und Schürze bestand, grazil und sogar ein wenig elegant.

Ihre Tochter war zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen und ähnelte den alten Fotos nach ihrer Großmutter in jungen Jahren. Dieselbe feine Nase und der schön geschwungene Mund, der schlanke Hals und weiblich geformte Körper. Nur fehlte ihr der strahlende und warme Blick, der Lina zu eigen gewesen war. Das war sogar auf den wenigen Fotografien aus der Zeit erkennbar.

Doch jetzt, wo sich Enna derart ereiferte, spiegelte sich in deren blauen Augen unglaubliche Tragik, und Alea konnte sogar nachvollziehen, wenn auch nicht gutheißen, warum. Ihrer Tochter war die Kindheit vom Krieg genommen worden, ihr Geist schon früh von dem braunen Gedankengut vergiftet. Wann hatte Enna je unbeschwert sein dürfen?

Immer war etwas gewesen, was ihr kindliches Gemüt tief erschütterte und sie zu der Frau machen musste. die sie heute war. Verbittert, gedemütigt über die Niederlage und richtungslos, weil jetzt alles wie von einem Sturm hinweggefegt worden war.

Erst die langsame Vergiftung der Freiheit, dann der politische Druck und die Angst, die sich wie faulige Jauche um den Milchhof gelegt hatte und drohte, alles darunter ersticken zu lassen, versiegelt mit der Verhaftung von Ennas Großmutter. Jetzt der Umstand, dass Derk nicht aus Dresden zurückgekommen war – und es wohl auch nie mehr tun würde.

Zwar waren die Kriegsschäden in der Friesischen Wehde kaum spürbar, weil sie nicht bombardiert worden waren. Auch Ellenserdammersiel war unbeschadet davongekommen. Dennoch hatte Enna alle Ängste mitbekommen, als die Fliegerstaffeln Kurs auf Wilhelmshaven genommen hatten, und allen die Panik ins Gesicht geschrieben stand, auch ihr kleines Dörfchen könnte doch Opfer eines Angriffs werden. Weil sich eine der tödlichen Frachten zu früh löste oder einer der Piloten es richtig fand, das Dorf samt dem alten Hafen zu bombardieren.

Das ging weder spurlos an den jungen noch den alten Seelen vorbei. So etwas prägte, so etwas schlug Wunden. Und nun drohte eine weitere Altlast. Wie sollte die neue Generation mit all den Verbrechen und Lügen zurechtkommen, die im Namen des deutschen Volkes verübt worden waren? Das hatte schon nach dem Ersten Weltkrieg zu großen Schwierigkeiten geführt.

Man würde sehen, welche Zukunft nun unaufhaltsam auf sie zurollte. Ein Problem galt es jedoch jetzt schnellstens zu beseitigen.

»Mutter muss nun dringend mit Emily reden. Das wird ein Schock für die Deern«, überlegte Alea laut.

»Was hast du gesagt?« Enna war abrupt stehen geblieben und baute sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihrer Mutter auf. Noch immer wirkte Enna ziemlich empört.

Alea versuchte sie mit ihrem Blick einzufangen und auf diese Weise zu zähmen, aber es gelang ihr nicht, denn Enna wich ihr aus.

»Nichts Wichtiges, min Söten.«

»Sprich es aus!«

»Ach, weißt du«, wand sich Alea. »Ich habe nur eben darüber nachgedacht, dass ihr zwei, also Emily und du, nun nicht mehr zum BDM müsst.«

»Leider konnten wir ja länger nicht mehr hin«, wandte Enna ein. »Weil der Krieg alle so beschäftigt hat, sind unsere Zusammenkünfte viel zu oft ausgefallen. Aber wir haben wenigstens für unsere deutschen Kämpfer Socken gestrickt, die ihnen die Füße gewärmt haben.«

Draußen begannen die Arbeiterinnen und die paar Männer, die der Krieg nicht aufs Schlachtfeld gesogen hatte, zu tanzen und zu singen. Eigentlich hätte Alea einschreiten, sie reglementieren und zurück an den Arbeitsplatz treiben müssen, aber sie wollte den Leuten die Freude nicht nehmen. Es gab seit Jahren wieder ein Grund zu tanzen, weil das Schlachten und Morden endlich aufhörte.

Das Erwachen aus der Euphorie käme früh genug. Deutschland war am Boden, und es würde dauern, ehe es wieder aufstehen würde – wenn es überhaupt geschah.

Der Gesang wurde lauter, und Alea erkannte das alte preußische Lied: Freut euch des Lebens. Wer auch immer es ausgegraben hatte. Sie war verwundert, wie textsicher ihre Mitarbeiter waren, wobei die Stimmen der Frauen erheblich lauter erklangen als die der paar Männer.

 

Freut euch des LebensWeil noch das Lämpchen glüht.Pflücket die Rose,Eh sie verblüht.

 

Wenn scheu die Schöpfung sich verhülltUnd laut der Donner ob uns brüllt –Dann lacht am Abend nach dem SturmDie Sonne, ach, so schön.

 

Wer Neid und Missgunst sorgsam fliehtUnd Genügsamkeit im Gärtchen ziehtDem schießt sie schnell zum Bäumchen auf,Das goldne Früchte trägt.

 

Wer Redlichkeit und Treue liebtUnd gern dem ärmern Bruder gibt,Bei dem baut sich ZufriedenheitSo gern ihr Hüttchen auf.

 

Und wenn der Pfad sich furchtbar engtUnd Missgeschick uns plagt und drängt,So reicht die Freundschaft schwesterlichDem Redlichen die Hand.

 

Sie trocknet ihm die Tränen ab,Und streut ihm Blumen in das Grab,Sie wandelt Nacht und DämmerungUnd Dämmerung in Licht.

 

Sie ist des Lebens schönstes Band,Gibt Brüdern traulich Hand um Hand.So wallt man froh, so wallt man leichtIns bess’re Vaterland.

 

Alea seufzte. Ein besseres Vaterland, ach, wie schön wäre das. Doch Hoffnungen wurden getrogen, und Wünsche fanden nur in Träumen Erfüllung.

»Sie kommen!« Emily stürmte mit hochroten Wangen ins Kontor und hüpfte aufgeregt auf der Stelle.

»Wer kommt?«, herrschte Enna sie an. Sie hatte ihre Haltung noch nicht verändert und war nach wie vor in Abwehrstellung.

»Na, die Panzer natürlich! Ulla sagt, sie gucken, ob wir Nazis sind, und jetzt müssen wir weiße Laken raushängen, damit sie den Milchhof nicht zerschießen. Jeder, der das nicht will, muss sterben!«

Alea blies die Luft hörbar aus.

Sie wusste nicht, ob das der Wahrheit entsprach, aber es war sicher gut, es ernst zu nehmen.

Deshalb galt es, keine Zeit zu verlieren, denn das Rattern und Rasseln wurde immer lauter – und bedrohlicher. Was war, wenn Emily recht hatte und ihr Betrieb gleich zu einem Trümmerfeld wurde, wenn sie nicht richtig reagierten?

»Denn man tau!«, rief sie. »Holt aus den Kommoden, was ihr finden könnt!«

Die beiden rannten los.

Alea schloss kurz die Augen. Hoffentlich ging das gut!

*

Lina hörte das Rasseln der Panzerketten, aber auch die polternden Schritte, die aufs Haupthaus zustürmten und den Bediensteten dabei etwas zuriefen. Es klang fast panisch.

Auf dem Hof herrschte aufgeregtes Treiben und Stimmengewirr. Jetzt tanzte und sang niemand mehr, dafür stand in allen Gesichtern große Besorgnis geschrieben.

Sie öffnete die Tür ihres Zimmers und ging die Treppen hinunter. Ihre Hüfte schmerzte, sodass sie sich am Treppengeländer festhalten musste, damit sie die Stufen unbeschadet nehmen konnte.

Alea und Emily kamen mit weißen Laken aus dem Hauptgebäude gestürmt.

»Das muss in alle Fenster!«, rief das Hausmädchen Ulla, die im Gebäude geblieben war und gerade ein Laken im oberen Stockwerk am Fenster befestigte.

Flink entrissen die Große Magd Doris und die Kleine Magd Hertha den beiden die weißen Laken und stürzten zu den Fertigungsräumen. In kürzester Zeit hingen auch dort die weißen Tücher.

»Oma braucht auch welche!«, rief Enna.

Sie trat auf ihre Großmutter zu, die das Treiben vom Eingang her betrachtete und sich Schritt für Schritt auf den Hof zubewegte.

»Bitte, Oma! Du darfst keine Zeit verlieren, sonst erschießen sie dich.«

Lina reckte das Kinn, und sie wunderte sich selbst über ihre feste Stimme.

»Ich war und bin keine Nationalsozialistin. In meinem Haus findet sich kein Hakenkreuz und kein Bild dieses oberlippenbärtigen Widerlings, dessen Mannen mich töten wollten. Warum also sollte ausgerechnet ich die Befreier von diesem Terror fürchten? Außerdem wird es doch wohl genügen, wenn wir diese paar Laken haben, wir müssen ganz sicher nicht den gesamten Milchhof einhüllen.«

Enna schluckte, und in ihrem Blick zeigte sich Panik. Aus ihrem zuvor gut frisierten Kranz hatten sich tatsächlich ein paar Löckchen gelöst. Ihre nachfolgenden Worte machten deutlich, wie ängstlich sie war.

»Großmutter, du verkennst den Ernst der Lage. Diese fremden Soldaten wissen das alles nicht und könnten glauben, du möchtest dich nicht ergeben. Dann machen sie kurzen Prozess, du wirst sehen! Die sind bestimmt schlimmer, als unsere Regierung es je hätte ahnen können«, fügte sie trotzig hinzu.

Bevor Lina etwas darauf erwidern konnte, kam Hertha um die Ecke gehetzt.

»Die Laken hängen jetzt überall«, sagte sie keuchend. Flehend schaute auch sie zu Lina. »Nur bei Ihnen nicht, gnädige Frau. Bitte, dürfen wir das übernehmen?«

Kaum hatte sie das ausgesprochen, ratterte der erste Panzer auf den Hof zu, und Lina nickte unmerklich. »Meinetwegen. Aber bitte nur eins. Du kannst es ins Schlafzimmerfenster hängen.«

Als der Panzer das Hoftor passierte, sprangen alle Männer und Frauen zur Seite. Lina schaute dem mächtigen Gefährt abwartend entgegen. Sie wusste selbst nicht, ob sie sich fürchtete. Also blieb sie einfach so stehen und legte ihr Schicksal in die Hand dieser Männer, deren Sprache sie vermutlich nicht oder nur schwer verstehen würde, denn so überragend waren ihre Englischkenntnisse nicht.

Weil Wilko in den Vereinigten Staaten von Amerika lebte und eine amerikanische Frau an seiner Seite hatte, war es Lina ein besonderes Anliegen gewesen, die Sprache zumindest ansatzweise zu erlernen. Schließlich konnte es sein, dass Wilko doch eines Tages mit Mary nach Ellenserdammersiel kam, und dann wollte sie vorbereitet sein.

Zudem hatte sie versucht, auch Emily die Grundzüge der fremden Sprache beizubringen. Schließlich lebten ihre Eltern, die sie nicht mehr kannte, dort, und es war gut, wenn auch sie Englisch konnte, denn wer wusste schon, ob das Schicksal sie nicht doch noch nach Amerika spülen würde.

Der Panzer hielt unvermindert auf Lina zu und blieb etwa einen Meter vor ihr abrupt stehen.

Die Klappe öffnete sich, und heraus schaute ein dunkelhäutiges Gesicht mit einem breiten Grinsen und blitzweißen Zähnen. Er nahm den Stahlhelm ab, und es zeigten sich kleine schwarze Locken.

»Hello, we are Canadians.«

Die Arbeiterinnen wichen noch stärker zurück. Einige flüchteten in die Fertigungen, aber schauten verängstigt aus den Fenstern. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Schwarzen sahen. Einer der Molkereigehilfinnen entwich sogar ein entsetzter Schrei.

Linas Herz schlug zwar auch bis zum Hals, aber sie war die Molkereileiterin, sie musste mit gutem Beispiel vorangehen und durfte keine Unsicherheit zeigen, gleichgültig, wie viel Furcht sie hatte. Außerdem erschien es ihr nicht so, als käme der Mann, um sie alle zu erschießen. Im Gegenteil: Er wirkte äußerst freundlich.

Deshalb versuchte sie, ihm ebenfalls wohlwollend entgegenzutreten, um erst einmal zu erfahren, was von ihr und ihren Mitarbeitern erwartet wurde. Sie legte sich zuvor ihre Worte zurecht und antwortete dann in gebrochenem Englisch mit stark friesischem Akzent. Wahrscheinlich klang es ausgesprochen seltsam, aber sie hoffte, dass der Soldat sie trotzdem verstand.

»Hello, I am Lina Voigt, the owner of this factory.«

»Nazi?«, fragte der Soldat und sprang hinunter.

Lina musste wieder einen Moment lang überlegen, aber dann bekam sie die Antwort doch hin.

»No Nazi. I was followed from the bastards and I spend some time in the prison«, radebrechte sie. Lina hoffte erneut, dass sie sich richtig ausgedrückt hatte und es nicht völlig falsch war.

Doch der Soldat schien sie verstanden zu haben.

Er lächelte sie mit dem breitesten Lächeln an, das Lina je gesehen hatte. Der Blick war tatsächlich warm und zugeneigt, sodass sie jegliche Scheu verlor.

Er nickte und tippte sich mit der Handaußenkante an die Stirn.

Anschließend steckte er den Kopf zurück in die Luke und sagte etwas zu seinem Begleiter. Kurz darauf kletterte auch der hinaus. Der zweite Soldat war das Gegenteil von seinem Kollegen. Groß und blond, seine Wangen und Unterarme, die sich unter den aufgekrempelten Hemdsärmeln zeigten, zierten zahlreiche Sommersprossen. In der einen Hand hielt er ein paar rechteckige flache Päckchen und in der anderen etwas winzig Glänzendes.

Er überreichte Lina seine Präsente. »Chewing gum and chocolate«, erklärte er. »For you and your people. Your are free now. Forever.«

Er salutierte, winkte seinem Kameraden, der ebenfalls die Hand zum Abschied hob. Beide tauchten wieder in das olivfarbige Ungetüm ab. »Bye!«

Sie wendeten schwungvoll und rasselten den Weg in Richtung Dorf.

»Die Straße können wir neu machen, der Belag ist kaputt«, sagte Hinni Martens, der im Augenblick als Obermeier tätig war.

»Wenn das der Preis dafür ist, dass wir nun endlich wieder normal arbeiten dürfen, zahle ich ihn gern«, gab Lina ein wenig spöttisch zurück. »Sie waren freundlicher, als ich dachte. Und sie haben allen Unkenrufen zum Trotz auch niemanden erschossen.«

Erst jetzt bemerkte sie, wie heftig ihre Knie zitterten. »Moi, dat Sie diese neumodische Spraak beherrschen«, sagte Hinni. »Ik heb keen Wort verstanden.« Er ruckelte sich die Mütze zurecht. »So, nun wullt wi wat don! An die Arbeit! De neue Tied beginnt!« Er ruderte mit den Armen und scheuchte alle zurück an ihre Arbeitsplätze.