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Wenn es einem Polarhund gelingt, bei Vollmond auf dem Tonstrahl seines Heulens in den Himmel zu fliegen und ein Stück vom Mond abzubeißen, sind ihm fortan magische Fähigkeiten geschenkt. Der junge Rüde Monder hat es geschafft und ist damit einer der wenigen, der alle Tiere verstehen und ihre Gestalt annehmen kann. Voller Neugier und Lebenslust macht er sich auf, die Welt zu erkunden. Soll er bei den Robben bleiben und Fische jagen? Sich den Raben, den uralten Erschaffern der Welt, unterordnen? Mit den Mücken über die sommerliche Tundra schwärmen? In keiner Tiergestalt wird er wirklich glücklich, bis er den Menschen begegnet und ihrer Welt voller Gefahren und Verlockungen.
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Seitenzahl: 167
Wenn es einem Polarhund gelingt, bei Vollmond in den Himmel zu fliegen und ein Stück vom Mond abzubeißen, sind ihm fortan magische Fähigkeiten geschenkt. Der junge Rüde Monder hat es geschafft und ist damit einer der wenigen, der alle Tiere verstehen und ihre Gestalt annehmen kann. Doch dann begegnet er den Menschen und ihrer Welt voller Gefahren.
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Juri Rytchëu (1930–2008) wuchs als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im Nordosten Sibiriens auf und war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zum Zeugen einer bedrohten Kultur.
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Antje Leetz (*1947) war Lektorin für neue russische Literatur im Verlag Volk und Welt Berlin und Redakteurin in einem Verlag in Moskau. Sie als Herausgeberin, Übersetzerin und als Autorin von Radiofeatures zum Thema Russland tätig.
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Juri Rytchëu
Der Mondhund
Erzählung
Aus dem Russischen von Antje Leetz
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente
Aus dem russischen Manuskript »Lunny Pjos« übersetzt.
Originaltitel: Lunny Pjos
© by Juri Rytchëu 2003
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Gary Vestal/Getty Images
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30450-5
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
DER MONDHUND
1 – In alle Himmelsrichtungen breitete sich die unendliche …
2 – »Ich glaube, diesen Tyrkylyn, diesen Eierträger, habe ich …
3 – Zwei Tage schon rannte Monder in Gestalt eines …
Mehr über dieses Buch
Über Juri Rytchëu
Juri Rytchëu: Der stille Genozid
Eveline Passet: Juri Rytchëu – Literatur aus dem hohen Norden
Leonhard Kossuth: Wo der Globus zur Realität wird
Über Antje Leetz
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In alle Himmelsrichtungen breitete sich die unendliche, schneebedeckte Tundra aus, nur am Meer stieß sie gegen gewaltige, hoch aufragende Eisbrocken und brach jäh ab.
Über diesem weiten Land leuchtete der weiße Mond und hüllte alles in gleichmäßiges Licht.
Stille herrschte zwischen Himmel und Schneewelt, über der Tundra und dem zu Eis erstarrten Meer. Es schien, als ob ringsum alles tot sei, bar jeglichen Lebens. Von dieser eisigen Erde, dem gefrorenen Meer, und sogar von der Stille ging klirrende Kälte aus. Mit eisigen Frostnadeln angefüllt war die unbewegliche Luft.
Nichts Lebendiges gab es in dieser Welt. So schien es.
Aber da raschelte etwas unter einer Schneehaube, die über dem Küsteneis hing. Zuerst tauchten lang gezogene Schatten auf. Sie krochen aus dem kaum sichtbaren Eingang einer Felsenhöhle, die von einem Eisblock verdeckt war.
Als Erster kam Vierauge aus der Höhle, ein alter Rüde mit dichtem, gefleckten Fell. Auf der Stirn über den scharfen blauen Augen waren zwei weiße Flecken, die den Schnitt der Augen haargenau wiederholten.
Hinter ihm krochen die übrigen Hunde heraus. Sie bildeten einen Kreis um den Leithund. Die älteren Hunde standen in seiner Nähe, die kleinsten Welpen ganz außen.
Alle starrten Vierauge gespannt an. Der heilige Augenblick rückte näher. Ohne Vierauge durfte niemand die Stille der winterlichen Tundranacht brechen. Sogar die kleinen Welpen, die aussahen wie Fellbällchen, waren ganz still und ließen den Leithund nicht aus den Augen.
Langsam hob Vierauge seine spitze Schnauze und richtete sie auf den Vollmond.
Zuerst wärmte er gleichsam seine Stimme auf, er probierte sie aus, indem er mit den tiefsten Noten begann, die sich über die Schneefläche ausbreiteten. Die Töne lösten sich aus dem weit aufgerissenen Maul, glitten über die Schneewehen, fielen hinunter auf die steil in die Höhe ragenden, zerbrochenen Eisschollen, flogen wieder empor und verstummten in der Ferne. Sie verloren sich in der am Horizont immer dichter werdenden Dunkelheit.
Vierauges Heulen wurde lauter und gewann an Fülle und Festigkeit, es verhallte nicht mehr, sondern kehrte in das aufgerissene Maul zurück, flog mit doppelter, dreifacher Kraft wieder hinaus und verwandelte sich in einen Tonstrahl.
Da fiel ein Hund nach dem anderen in das Gebell des Leithundes ein. Zuerst kam das tiefe, heisere, lang gezogene Heulen der alten Rüden und Hündinnen, dann das starke, kräftige der reifen Hunde.
Nach ihnen stießen die jungen Hunde und Hündinnen helle Töne aus ihren Rachen, und ganz am Schluss verstärkte das abgehackte Gekläff der Welpen den immer dichter werdenden Tonstrahl, der auf den am Himmel leuchtenden Mond gerichtet war.
Die aufgerissenen Schnauzen zeigten nach oben, die Augen der Hunde hingen an der hellen kalten Scheibe, von der sich die große Kälte der Ewigkeit auf die Erde ergoss.
Die gesamte weite Tundra, von den Ausläufern der Gebirgsketten bis zur Meeresküste, war angefüllt mit der kosmischen Musik des Hundegeheuls.
Es war, als heulten mit dem Rudel vom Eismeer auch andere Hunde, entfernte und nahe, die der kalten Länder und die des heißen Südens, wo das Meer niemals gefriert und Schnee nur auf den Gipfeln der höchsten Berge liegt.
Das Hundegeheul wurde mal leiser und verstummte fast, mal gewann es wieder an Kraft und Intensität, fiel auf die still gewordene Erde nieder, beherrschte alles ringsum und ließ keinen Platz für einen anderen Laut.
Möglicherweise war das für die anderen Wesen dieser Erde einfach nur ein Geheul, aber für die, die das Heilige Mondlied sangen, hatte es einen tieferen Sinn.
Ihr, die ihr auf vier Beinen geht,
Die ihr euch in Eis- und Steinhöhlen verbergt,
Hört unsere Stimme!
Ein junger Rüde, gerade dem Welpenalter entwachsen, heulte zusammen mit allen anderen, seine Schnauze auf den Mond gerichtet. Das eigene Geheul, verstärkt durch das der anderen Hunde, erhob ihn von der Erde, und dem Rüden schien, als schwebe er über dem verschneiten Land und nähere sich immer mehr dem kalten Himmelslicht.
Etwas unterschied ihn von den anderen Hunden. Vielleicht das besondere Leuchten seiner Augen, der Glanz seines dunklen Fells, der ungewöhnliche Klang seiner Stimme und, was das Wichtigste war, der feste Wille, bis an den Rand des einzigen Nachtlichts am Himmel zu fliegen und hineinzubeißen.
Aber das gelang nur beim allerstärksten Ton, wenn die Welle des Geheuls das gesamte Rudel erfasste. Der junge Rüde spannte all seine Kräfte an. Er stieß einen Ton von solcher Gewalt aus sich heraus, dass er ihn selbst nicht mehr hören konnte und seine Kraft nur daran maß, wie schnell er sich dem hellen Mondkreis näherte. Er verspürte immer stärker den unbezwingbaren Wunsch, mit den Zähnen den glänzenden Rand zu fassen. Und schließlich gelang es. Seltsam, der Mond schmeckte fade und kühl wie Schnee, der in der Frühlingssonne schmilzt. Als der junge Rüde das Mondstück hinunterschluckte, merkte er, wie eine Wandlung in ihm vorging, als ob ein anderes Wesen in seine Haut kröche.
Alten Überlieferungen zufolge werden Mondbeißer zu Auserwählten, sie erlangen ungewöhnliche Fähigkeiten, die einfache Hunde nicht besitzen: Sie können alle Tiere verstehen, angefangen von den winzigen Mücken bis zu den Meeresriesen – den Walen. Von einem Augenblick zum andern verwandeln sie sich in ein anderes Tier.
Das Geheul wurde schwächer. An der östlichen Himmelshälfte trat ein roter Streifen hervor, und je heller er wurde, desto schwächer und leiser wurde das Hundegeheul.
In der Polarnacht siegt die Morgendämmerung nur für einen kurzen Augenblick über die schwarzblaue Dunkelheit. Dann zeichnet sich der Horizont in den scharfzackigen Umrissen ferner Gebirgsrücken ab, nur die bis zum Rand mit Eiseskälte gefüllten Täler liegen in einem undurchdringlichen Dunkel und sehen aus wie nicht verheilende, tiefe Schrammen auf der mit festem Schnee bedeckten Erdoberfläche.
Plötzlich verstummte das Geheul, wie abgehackt mit einem scharfen Beil. Der letzte Ton löste sich vom Rudel, fiel auf das Meereseis und verhallte in der Ferne, wo in den Eisspalten das schwere Wasser des Ozeans schwappte.
Der neuverwandelte Mondhund blickte zum Himmelslicht hoch. Die leuchtende Scheibe war nicht mehr so makellos rund. An der Seite war eine kleine Scharte zu sehen. Ob das die Spur seiner Zähne war?
Langsam krochen die Hunde in die Felsenhöhle zurück. Hinter dem Rudel hertrottend, hörte der junge Rüde die anderen rufen: Mondhund, Monder … Das war jetzt sein neuer Spitzname.
Monder lief hinter zwei jungen Hündinnen her, die einen scharfen, anziehenden, aufreizenden Geruch ausströmten. Er spürte, wie sich sein heißes Stöckchen spannte, das zwischen den Beinen versteckt war, die Spitze schaute sogar ein bisschen aus dem Fellsäckchen heraus, ohne die schneidende Kälte zu empfinden. Er wusste, was das war: Die Natur rief ihn zur Vereinigung mit dem anderen Geschlecht. Durch diese Vereinigung entstand eine neue Generation von Polarhunden.
Verlangen trübte Monders Bewusstsein, aber was die Natur ihm an Kraft gegeben hatte, lag nun in der angespannten, Saft verspritzenden rosigen Spitze, und Monder war schon drauf und dran, mit den Vorderläufen auf die lockende Kruppe der Hündin zu steigen. Ein ausgewachsener Rüde aber stieß ihn grob beiseite und besprang das Weibchen geschickt, wobei er sie fast in den Schnee warf. Einige fieberhafte Bewegungen, und der Rüde kroch langsam wieder von der Hündin herunter, war aber so fest mit ihr verbunden, dass er nicht loskam.
Als Monder das zum ersten Mal gesehen hatte – da war er noch ein Welpe gewesen –, war er heftig erschrocken, aber jetzt wusste er, dass diese Verbindung nur eine gewisse Zeit dauerte und die Hunde sich dann voneinander lösten, befriedigt und zufrieden mit dem Akt.
Die jungen Hunde krochen als Letzte in die Höhle und bildeten einen Kreis um Vierauge. Sie wollten, wie schon so oft, seine Belehrungen hören.
Die Hunde kannten ihre Geschichte bereits in groben Zügen. Sie bestand, wie alle Legenden, aus zwei Teilen. Der erste Teil verlor sich im Nebel der Vergangenheit, in der Dämmerung angebissener und aufgefressener Monde. Diese Geschichte besagte, dass die Hunde anfangs in enger Verwandtschaft zu den Wölfen standen, starken, räuberischen Tieren, die, ungeachtet der offensichtlichen Ähnlichkeit mit Hunden und sogar ungeachtet ähnlicher Gewohnheiten, jeder Berührung mit den Hunden auswichen und sich von ihnen distanzierten und überheblich auf sie herabschauten, so als schämten sie sich der Verwandtschaft.
Sie hielten die Hunde für Verräter, da sie ein Leben in Freiheit gegen Sklaverei bei den Zweibeinern – Menschen nannten die sich – getauscht hatten.
An diese für das Hundegeschlecht so schmachvolle Periode erinnerte Vierauge, als er das Rudel um sich versammelte.
Das zweibeinige Wesen, der Mensch, hatte als ersten Vierbeiner den Hund gezähmt. Und die ersten zahmen Hunde freuten sich anfangs sogar darüber und hielten sich fast für Menschen. Sie schauten von oben auf die anderen Tiere herab, hielten sie für niedere Wesen, stellten sich sogar höher als den Eisbären und den Riesen der Meerestiefen, den Wal, höher als das gehörnte Rentier und den Widder, und die Wölfe verachteten sie sowieso. In ihrem Hochmut knurrten die gezähmten Hunde nicht selten sogar ihren Herren an.
Der zweibeinige, aufrecht gehende Mensch war ein recht seltsames Tier. Wäre alles nach dem Großen Plan gegangen, hätte es ihn eigentlich überhaupt nicht geben dürfen. Seiner Haut fehlte jegliches Fell, und die Fettschicht war so dünn, dass er keine Kälte vertrug. Um die innere Wärme zu bewahren brauchte er Felle, die er den anderen Tieren wegnahm, indem er ihnen das Leben raubte. Die Kleidung des Menschen bestand aus mehreren Schichten. Besondere Aufmerksamkeit verlangten die Extremitäten – die Arme und Beine. Im Sommer wurden über die Füße Schuhe gezogen, die aus der Haut von Robben und Seehunden genäht waren, im Winter aber aus dem wärmeren Rentierfell. Dazu noch in zwei Schichten – die Innenseite des Fells kam auf die Haut und die andere Seite, die mit den Haaren, nach außen. Aber das reichte immer noch nicht. Der Mensch baute sich eine Wohnung, trug Feuer hinein, und dann war es dort zuweilen so heiß, dass er sich nackt auszog und dabei seine nur spärlich mit Haaren bedeckten Geschlechtsteile entblößte.
Dass der Mensch die Kunst des Feuermachens beherrschte, erhob ihn zum höchsten Wesen.
Die Hunde aber dienten ihm als Mittel zur schnellen Fortbewegung auf der Erdoberfläche, da die menschliche Geschwindigkeit nicht groß war und ein langer Fußmarsch ihn bis zur Erschöpfung entkräftete. Die Hunde waren so etwas wie eine zusätzliche Körperkraft für ihn. Der Mensch konnte sich nicht über Wasser halten und ertrank schnell, konnte sich nicht in die Lüfte erheben und über der Erde schweben. Seine Kinder waren bei der Geburt so schwach und hilflos, dass die Hunde fast zwölf Monde anbeißen mussten, ehe ein Neugeborenes zu gehen anfing, während ein Rentierkalb schon einige Augenblicke nach dem Verlassen des Mutterschoßes auf allen vier Beinen stand, ganz zu schweigen von den Hunden selbst.
Mit einem Wort, trotz des Hochmuts und der hohen Meinung, die der Mensch von sich hatte, war der Zweibeiner in Wirklichkeit mit seinem Körper wenig an das Leben angepasst.
Was man ihm allerdings nicht absprechen konnte, war Verstand. Die Menschen waren erfinderisch, wenn es darum ging, sich das Leben zu erleichtern. Obwohl solch einfache Dinge wie der Kontakt zwischen zwei Stämmen bei ihnen oft in gegenseitiges Unverständnis ausartete. Diese Zweibeiner, die sich für die klügsten und höchsten Wesen hielten, konnten gar nicht alle miteinander sprechen!
Und außerdem konnten sie sich nicht in andere Wesen verwandeln. Sie waren dazu verdammt, immer und ewig in ein und derselben Haut zu leben, und ihr Aussehen veränderte sich nur mit dem Alter.
Das wusste Monder bereits alles, und dieses Wissen erzeugte eine brennende Neugier in ihm. Die Lust, die Welt zu erkennen, lockte ihn aus den steinernen Wänden der Höhle. Er wollte nicht nur einen Blick hinter die Linie werfen, wo Himmel und Erde sich berührten, wo Mond und Sonne verschwanden, wo die Morgenröte geboren wurde und der Tag starb. Manchmal kroch der junge Hund heimlich zum Ausgang und schaute nach draußen. Er meinte, etwas Ungewöhnliches zu erblicken, etwas, das er noch nicht kannte. Einerseits bedrückte ihn die Mächtigkeit und Unendlichkeit der Welt, andererseits rief sie ihn, lockte ihn mit ihren Geheimnissen und versprach wundervolle Entdeckungen.
Die Hunde lagen in der Höhle verschlungen zu einem Knäuel, so war es wärmer. Monder fühlte wieder von zwei Seiten den scharfen sinnlichen Geruch der Begierde, der von zwei jungen Hündinnen ausging, die unter sich konkurrierten und seine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten. Eine begann ihn zu lecken, berührte zärtlich mit ihrer heißen rauen Zunge seine Schnauze, die flaumigen, weichen Ohren, den warmen Bauch, ging immer tiefer, bis zu der Stelle zwischen den Beinen, wo in dem Fellsäckchen der Stolz des Rüden verborgen war. Ein heißes Atmen genügte, eine zärtliche Berührung, und das rosige Stäbchen füllte sich mit heißem Blut, wurde steif und zeigte sein rotes Köpfchen.
Aber Monder beherrschte sich: Er wusste, wenn er Vater werden würde, müsste er für immer im Rudel bleiben, sich um den Nachwuchs kümmern, Nahrung suchen, die Kinder vor Überfällen der Feinde beschützen – vor dem Wolf, dem Vielfraß, dem Fuchs und Polarfuchs und dem Braunbär. Sogar vor dem Raben, der neugeborene Welpen mit dem Schnabel tothacken konnte. Er ahnte, dass der Augenblick des Genusses schnell von Gleichgültigkeit abgelöst wird, dass die Flamme der Leidenschaft verlöscht und nur einen Aschehaufen von Erinnerungen zurücklässt.
Die Welt war voller Gefahren, doch um so stärker war die Lust auf Erkenntnis.
Vierauge rief Monder und leckte ihm die Schnauze. Er liebte seinen jüngsten Sohn und empfand eine besondere Hundezärtlichkeit für ihn.
»Warum wendest du dich von den Hündinnen ab?«
»Ich möchte keine Hündin heiraten.«
Vor Verwunderung gähnte Vierauge mit weit aufgerissenem Maul und zeigte dabei seine zwar noch kräftigen, doch schon ziemlich abgewetzten gelben Eckzähne.
»Aber die Natur hat es so eingerichtet, dass jede Art sich fortsetzt durch Wesen, die ihr gleich sind«, bemerkte Vierauge. »Du bist keine Robbe, kein Seehund, kein Vogel, kein Eisbär, kein Walross … Oder willst du überhaupt nicht heiraten?«
»Irgendwann heirate ich mal«, entgegnete Monder. »Aber keine Hündin.«
»Warum gefallen dir unsere jungen Hündinnen nicht? Schau mal, sie lassen kein Auge von dir, schmiegen sich an dich und hüllen dich in den Geruch der Begierde. Ach, wenn ich jünger wäre … Hast du dir das gut überlegt?«
»Morgen, wenn der Tag graut«, entgegnete Monder, »verlasse ich euch.«
»Ein einsamer Hund riskiert, gleich am Anfang seines Weges ums Leben zu kommen«, warnte Vierauge.
»Ich werde die Gabe der Verwandlung nutzen«, antwortete Monder selbstbewusst.
»Vergiss aber nicht, dass du von Natur aus ein Hund bist. Und gib nie der Verführung nach, dich in einen Menschen zu verwandeln. Das wäre dein Untergang. Von dort gibt es keine Rückkehr.«
»Ich werde mich immer an meine gute Herkunft erinnern«, antwortete Monder stolz.
Die Nachricht, dass Monder das Rudel verließe, breitete sich in Windeseile unter den Hunden aus. Am meisten trauerten die jungen Hündinnen, die verliebt waren in diesen schönen, prächtigen Rüden, der voller Manneskraft war. Viele verurteilten ihn in Gedanken, andere aber bedauerten, dass sie selbst nicht die Entschlusskraft besaßen, ihr Leben so entschieden zu verändern.