Wenn die Wale fortziehen - Juri Rytchëu - E-Book

Wenn die Wale fortziehen E-Book

Juri Rytchëu

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Beschreibung

Nau ist die Urmutter des Menschengeschlechts. Aus Liebe zu ihr wird Rëu, der Wal, zum Menschen und zeugt mit ihr Waljunge und Menschenkinder. Rëu stirbt, wie alle folgenden Generationen. Nur Nau überlebt sie, gibt das Wissen von der Abstammung des Menschen und von der Verehrung der Wale weiter. Doch die Achtung vor ihr und vor den Meeresriesen schwindet. Niemand nimmt mehr diese steinalte Frau ernst. Eines Tages brechen die Männer zum Walfang auf. Die Wale ziehen davon, Menschen voller Eroberungs- und Machtgelüste stehen vor einem leeren Meer, das einst von Lebewesen brodelte. Diese poetische Schöpfungslegende der Tschuktschen von der ursprünglichen Gemeinschaft von Mensch und Wal, von der Einheit von Mensch und Natur, ist zugleich eine Vorahnung der Fragen und Probleme unserer Zeit.

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Seitenzahl: 209

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Über dieses Buch

Nau ist die Urmutter des Menschengeschlechts. Aus Liebe zu ihr wird Rëu, der Wal, zum Menschen und zeugt mit ihr Waljunge und Menschenkinder. Diese poetische Schöpfungslegende der Tschuktschen von der ursprünglichen Gemeinschaft von Mensch und Wal, von der Einheit von Mensch und Natur, ist zugleich eine Vorahnung unserer Zeit.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Juri Rytchëu (1930–2008) wuchs als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im Nordosten Sibiriens auf und war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zum Zeugen einer bedrohten Kultur.

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Eveline Passet (*1958) übersetzt aus dem Französischen und dem Russischen (u. a. Constant, Musset, Pennac, Rosanow und Kuprin) und schreibt Rundfunkfeatures.

Zur Webseite von Eveline Passet.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Juri Rytchëu

Wenn die Wale fortziehen

Erzählung

Aus dem Russischen von Eveline Passet

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1975 unter dem Titel Kogda kity uchodjat.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1984 im Verlag Simon und Magiera KG, München.

Die Übersetzung erfolgte nach der Ausgabe von Kogda kity uchodjat, in: Juri Rytchëu, Sovremennye legendy, izd. Sovetskij pisatel, 1980.

Originaltitel: Kogda kity uchodjat (1975)

© Juri Rytchëu 1977

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30461-1

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 26.06.2024, 02:00h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

WENN DIE WALE FORTZIEHEN

Erstes KapitelI – Nau suchte mit den Augen diesen überraschenden Glanz …II – Wenn die Sonne über der Lagune aufgegangen war …III – Rëu jagte auf brüchigem Festeis, zerlegte Seehunde und …Zweites KapitelI – Enu saß am Feuer und hörte Nau aufmerksam …II – Die Jäger fuhren weit hinaus aufs MeerIII – Als Ajnau ein Stück blauen Eises in den …IV – Auf dem von den kräftigen Frühlingssonnenstrahlen zerfressenen …V – Enus Enkel Giwu, ein zarter und nachdenklicher Jüngling …VI – Nachdem die Walrosse auf ihrem Lagerplatz erlegt worden …Drittes KapitelI – Giwu war schon sehr alt. Enkel wuchsen heran …II – Ja, das war ein wirklicher Mensch, den man …III – Die Menschen bemerkten, wie sehr die alte Nau …IV – Zum Frühjahr hin wurde es ganz erbärmlich auf …Worterklärungen

Mehr über dieses Buch

Über Juri Rytchëu

Juri Rytchëu: Der stille Genozid

Eveline Passet: Juri Rytchëu – Literatur aus dem hohen Norden

Leonhard Kossuth: Wo der Globus zur Realität wird

Über Eveline Passet

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Erstes Kapitel

I

Nau suchte mit den Augen diesen überraschenden Glanz, der sich zum Ufer hin immer deutlicher abhob – die Fontäne schoß hoch auf, und das Sonnenlicht ließ in ihr einen vielfarbigen Regenbogen funkeln.

Nau lief über das kühle feuchte Gras. Das Geröll auf dem Ufer kitzelte ihre Füße, und das leise Lachen des Mädchens mischte sich mit dem Klang der glattpolierten Kieselsteine, die die Brandung hin und her rollte.

Nau fühlte sich eins mit dem kräftigen Wind, dem grünen Gras und dem feuchten Kiesel, mit den hohen Wolken und dem endlosen blauen Himmel.

Und als zwischen ihren Beinen die aufgescheuchten Vögel davonliefen, die Hörnchen und die sommers leicht graufarbenen Hermeline, rief Nau ihnen zu, freudig und laut, und die Tiere verstanden sie. Sie schauten dem hoch gewachsenen Mädchen nach, mit seinem wehenden, flügelgleichen schwarzen Haar.

Nie betrachtete sie sich mit fremdem Blick. Sie dachte nicht darüber nach, wodurch sie sich von den Bewohnern der Erdlöcher unterschied, von den in den Felsen Nistenden und den im Grase Kriechenden. Selbst die düsteren schwarzen Steine waren für Nau lebend und nah.

Und allem, was sie sah – dem Lebenden, welches Stimme kannte und Schrei, dem Stummen, doch sich Bewegenden, und dem in der ewigen Ruhe Verweilenden –, trat sie gleichermaßen ruhig und still entgegen.

Und dies war so bis zu der Zeit, da sie noch nicht die Fontäne des sich nähernden Wales bemerkt hatte, die hoch emporschoss und hörbar war in Ufernähe, da sie noch nicht den langen, kräftigen, leuchtenden Körper des Meeresriesen gesehen hatte – den Körper Rëus.

Der Wal schwamm auf das Ufer zu, und der Kiesel knirschte unter seinem Gewicht. Die Welle, die er aufsteigen ließ, rollte heran, ließ vor Kälte Naus bloße Füße brennen.

In den ersten Tagen wurde das Mädchen von etwas zurückgehalten, und es hütete sich, in die Nähe des Wales zu kommen. Etwas Starkes und Mächtiges hielt sie zurück an der Brandungslinie, an der Grenze, wo die kleinste Berührung durch die Welle ausgetrocknete Muscheln zu Staub zerfallen lässt, wo die im Meerwasser von Salz durchtränkten Rindenstücke liegen und manchmal auch ganze Baumstämme.

Nau schaute von Weitem auf den Wal, auf den riesigen schwarzen Körper, in dem sich die Sonnenstrahlen tief spiegelten, und es schien ihr, als leuchtete der Wal aus seinem Innern mit einem ihm eigenen Licht.

Mit lautem Gurgeln flossen das Wasser und mit diesem kleinste rote Muscheltiere und Quallen in seinen Rachen, und über Rëus Kopf, im Wasserstaub, bildete sich ein sonniger Regenbogen.

Dieser lockte das Mädchen, rief es, zwang es, das unausgesprochene Verbot zu überschreiten, die unsichtbare Schwelle, welche die Kette aus bunten, von den Wellen ans Ufer getragenen Steinen kennzeichnete. Es wollte sich dem Regenbogen nähern, damit wenigstens ein einziger Tropfen, in dem eine kleine Sonne funkelte, auf sie falle.

Eines Tages ging Nau so nahe an den Wal heran, dass sich die Fontäne über sie, von Kopf bis Fuß, ergoss. Dies geschah unerwartet, doch alles war so, wie sie es geahnt hatte – die Tropfen waren warm, glänzend, und Nau fühlte, wie Sonnenstrahlen sie einhüllten, wie durch ihren ganzen Körper sich ein neues, nie gekanntes Gefühl weicher Zärtlichkeit ergoss, und eine Art Beklemmung in der Brust. Ihr schneller gehender Atem brach ab, es schwindelte ihr, so als habe sie lange von einer Anhöhe auf die über das Wasser laufenden Schatten der Wolken geschaut.

Und der Wal ließ sie in warmen Wasserstrahlen baden, die von Sonnenlicht durchtränkt waren, streichelte sie mit weichen, zärtlichen Klapsen seiner Fontäne und deren leisem Gemurmel.

Nau spürte, wie ihr kleines Herz wuchs in ihrer Brust und diese ausfüllte, sodass regelmäßiges Atmen schwer wurde. Ihr Blut erwärmte sich, denn es nahm die Wärme der Walfontäne in sich auf. In ihrer Verwirrung stand sie reglos, nicht wissend, was zu tun sei. Aber früher hatte sie doch nie überlegt, was zu tun sei. Wie der Wind, die Wellen, die Wolken, das sprießende Gras und die sich in ihm versteckenden Blumen, wie die Hörnchen und die fliegenden Vögel, wie die im Meer schwimmenden Tiere und Fische … Sie war ein Teil dieser gewaltigen Welt gewesen, die lebend war und tot, die leuchtete und in Finsternis versank, die in den Schlaf gewiegt wurde von der Stille des hohen Himmels und der Decke aus weichen Wolken, die reißend wurde, wenn ein unerwartet hereinbrechender Wirbelsturm die Wellen in Bewegung setzte und sie über das Ufer sich ergießen ließ in dem Versuch, die Gräser zu erreichen, in denen Nau ihre kalten Füße schützend verbarg.

Jetzt aber überflutete sie etwas anderes. Es war, als sei sie eben erst erwacht und der Moment des Erwachens dauere fort, als sehe sie den Himmel wie neu, das blaue Meer, die Hügel mit ihren grünen Grashängen, und als höre sie zum ersten Mal das Pfeifen der Ziesel, den Gesang der Vogelberge an den Felsen, das Murmeln des Baches … Als hätte sie plötzlich entdeckt, dass der Geschmack des Meerwassers sich von dem des Baches unterscheidet und dass die Morgenkälte in dem Maße weicht, wie die Sonne sich über dem Meer erhebt.

Wenn Nau nun durch die Tundra lief, wobei sie sich geschmeidig von den federnden Bülten abstieß, hielt sie plötzlich ein in ihrem Lauf und beugte sich über ein winziges blaues Blumenfleckchen, das einem aus dem Zenit gefallenen Himmelssplitter glich. Die tiefblaue Blattknospe wiegte sich auf dem zarten grünen Stängelchen, und Nau hörte einen durchdringenden, sich in der Ferne verlierenden Klang.

Die Welt der Töne und der Bilder klärte sich auf, und Nau wusste nun, woher das Dröhnen der sich gegen die Felsen brechenden Wellen kam, das Rauschen des mit unsichtbarer Riesenhand über das Tundragras streichenden Windes, das Plätschern der seichten Wellen in der Lagune, das Murmeln des Wassers im steinige Abhänge hinunterfließenden Bach.

Verschieden begannen die Vögel und Tiere zu sprechen.

Der schwarze Rabe krächzte mit schwarzen Lauten, und diese Laute waren dunkel und kalt wie der Schatten an jenem Ufer, welches kein Sonnenstrahl je erreichte und wo ewiger, vom Alter dunkel und porös gewordener Schnee lag.

Die Polarfüchse mit ihrem zotteligen Sommerfell kläfften, als spuckten sie die kleinen Kerne der Moltebeeren, die sich in ihrem Rachen festgesetzt hatten, wieder aus, spitz und durchdringend pfiffen die Ziesel, als riefen sie Nau bei ihrem Namen, riefen sie herbei, damit sie in die schwarzen Eingangslöcher der unter dem Schutz des Steines ausgehobenen Baue schaue.

Es tönten die Meeresvögel, die an den Uferfelsen nisteten, und von Zeit zu Zeit, wenn sie, durch einen Vielfraß in Schrecken versetzt, alle zugleich aufflogen, ertrank jeder andere Laut in ihrem Lärmen, und die Welt wurde trostlos-einförmig, grau und reizlos.

Nau entdeckte, dass Töne angenehm sein können für das Ohr oder aber derart, dass man fortlaufen und sich weit entfernt verstecken möchte. Dem Vogelgesang über einem morgendlichen Bache konnte sie endlos lauschen. Er hatte irgendetwas gemein mit dem Regenbogen über der Fontäne des Wales, und das Vogelgezwitscher weckte in ihrer Seele eine lichte Erwartung des bevorstehenden Wunders.

Von Tag zu Tag wurde die Tundra leuchtender und farbenreicher. Naus Füße wurden vom Saft der Beeren geschwärzt. Die alte Tundrawölfin leckte sie und schaute Nau mit hingegebenem und schwermütigem Blick in die Augen. Sie witterte den nahenden Winter und auch ihren eigenen Tod, denn sie war bereits zu nichts mehr nutze: Das beschwerliche Leben und das Alter hatten ihre Zähne stumpf gemacht …

Wie immer weckten an diesem Morgen die Sonnenstrahlen Nau.

Noch glänzten sie so hell wie zuvor, doch schon war in ihnen nicht mehr die einstige, alles durchdringende Wärme. Wie sie Naus geschlossene Lider berührten, war eine Warnung zu spüren, ein Widerhall der sich nähernden Unwetter.

Nau erwachte gänzlich und stillte ihren Hunger mit einer Hand voll Moltebeeren.

Ihr feines Gehör vernahm das gewöhnliche Rauschen der Brandung, den Vogelgesang über dem Bach und das Rascheln des Grases.

Nau erhob sich und begab sich zum Meer.

Der Tau war ungewöhnlich kalt. Um sich zu wärmen und letzte Spuren des Schlafes abzuschütteln, rannte sie. Die Ziesel pfiffen ihr nach, und die erschrockenen Rebhühner flogen unter ihren Füßen auf, doch Nau hielt nicht ein, ein ängstlich-freudiges Vorgefühl bewegte sie. Normalerweise sammelte sie, um ihr kärgliches Frühstücksmahl zu bereichern, an der letzten Reihe der vom Meer angespülten Steine Ranken von Algen. Aber heute verlangsamte sie nicht einmal ihren Schritt.

Schon drang durch das Meeresgetöse das vertraute Pfeifen der sich zum Himmel erhebenden Walfontäne an ihr Ohr.

Der Glanz des Meeres blendete sie, und Nau konnte das Ufer nicht deutlich erkennen.

Plötzlich erblickte sie etwas Außergewöhnliches … Im ersten Augenblick dachte sie, es könnte eine Vision der vom Wasser geblendeten Augen sein.

Die Fontäne, in der sich der Sonnenschein brach, gab es zwar, und auch den Wal, der bis an das Ufer gekommen war. Doch je genauer sie den Meeresriesen zu betrachten suchte, um so durchsichtiger wurde er, als löse er sich auf in eine Wolke aus feinsten Wassertröpfchen …

Nau blinzelte einige Male, um den Wal deutlich sehen zu können.

Aber er war verschwunden.

Wie auch die Fontäne mit ihrem sonnigen Regenbogen nicht mehr war.

Statt all dessen sah sie an der mit Schaum eingefassten Brandung einen Menschen.

Er stand dort und blickte sie mit schwarzen Augen an, die waren wie die eines Seehundes. Nau warf einen flinken Blick auf das Meer. Dort war alles leer. Nichts wies darauf hin, dass der Wal, der eben noch am Ufer weilte, fortgeschwommen wäre. An der Brandungslinie saßen die Strandläufer und zuckten mit ihren spitzen Köpfchen. Schwärme von Zugvögeln kreisten tief über der Wasseroberfläche.

Nau spürte, wie kalt es war ringsum. Der eisige Kiesel ließ ihre Füße brennen, kalt war die Luft, und selbst die Sonnenstrahlen wärmten nicht mehr. Der Mensch ging einen Schritt auf sie zu, und für einen Augenblick schien es ihr, als blitze hinter seinem Rücken ein Regenbogen auf. Sein Gesicht veränderte sich plötzlich: Die Augen wurden schmaler, die Lippen öffneten sich leicht, und sein ganzes Antlitz strahlte eine ungewöhnliche Wärme aus, eine zärtliche, selbst über einen Abstand hin deutlich spürbare, eine lockende. Und diese Wärme, die von ihm ausging, umhüllte Nau wie eine weiche Wolke.

Auch Nau trat ihm einen Schritt entgegen, denn sie fühlte plötzlich den Wunsch, sich gegen die Brust des Unbekannten zu pressen, sich in ihm vor der Kälte zu verbergen.

Der Mann nahm Nau bei der Hand.

Er ging leicht, überschritt kleine Pfützen, übersprang Flüsse, sein Gang war wie der Flug eines Vogels. Nau folgte dem Unbekannten, scheinbar getragen von ihrem flügelhaften wehenden schwarzen Haar.

Die Morgenkälte war verflogen, heiß wurde es gar, und die Füße brannten, als liefe Nau nicht durch kaltes Gras, sondern über die von der Sommersonne glühenden sandigen Ufer der Tundraflüsse.

Der Glanz der Sonne jagte ihnen nach über die spiegelglatte Wasseroberfläche der Lagune, über die strömenden Wasser der Flüsschen und Bäche, über die zahlreichen Pfützen und kleinen Seen.

Was war das nur?

Eine nie gekannte, ungeheure, nur mit der Sonne vergleichbare Freude. Eine Leichtigkeit und die ängstlich-süße Erwartung, eine warme Beklemmung in der Brust, welche hervorgerufen worden war von dem Gedanken, dass er an ihrer Seite war – jener, in welchem alles zusammenfloß, was in diesem Sommer sich ereignet hatte: der riesige Wal und die überraschende Wärme und die unerwartete Entdeckung, dass sie sich durch irgendetwas unterschied von den Vögeln und Tieren, von den Gräsern und Wellen, vom Himmel und der Erde …

Was nur war es?

Sie stiegen die Hügel der Tundra hinan, die bedeckt waren mit zartem, gerade erst ein wenig gelb gewordenem Gras. Unter dem Gras wuchs das trockene leuchtendblaue Rentiermoos – die Flechte, deren dicke Polster die anderen Gewächse vor der tödlichen Einwirkung des ewigen Frostes schützen.

Von der Höhe der Hügel aus öffnete sich der Blick auf das schon ferne Meer mit seiner kaum hörbaren, gedämpft rauschenden Brandung.

Der Mann blieb stehen, ohne Naus Hand freizugeben.

Er wandte sein Antlitz dem Meer zu, und beide, das Mädchen und er, schauten auf die blaue Weite.

Hinter der weißen Einfassung der Brandung tummelten sich die Wale. Die Gruppe näherte sich dem Ufer, schmückte die Wellen mit regenbogenfarbenen Fontänen und verscheuchte dabei einen Schwarm Strandläufer.

Sein Gesicht leuchtete wieder mit jenem Ausdruck, von welchem Wärme ausging, und in seinen großen schwarzen Seehundaugen entzündete sich ein warmes gelbes Feuer.

Der Mann ergriff nun auch ihre andere Hand und zog Nau kaum merklich an sich. Die Wärme schien brennend, unerträglich, doch lockend. Es schwindelte ihr leicht, und Nau erinnerte sich daran, wie sie auf die hohen Uferfelsen gestiegen war und von dort lange auf das Meer hinabgeschaut hatte, auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche, auf die einander folgenden Wellen … Damals schwindelte ihr genauso, und die steile Tiefe zog sie an, löste in ihren Beinen ein wonniges Zittern aus …

Aber dies ist etwas ganz anderes, es erinnert nur entfernt an den Ruf des Abgrunds.

Und wieder spürte sie die Wärme, die zärtliche, die weiche, so weich wie die Daunen in den Nestern der Eiderente in den kalten, dem Meer zugewandten, ewig vom Winde umwehten und von Salzwasserspritzern benetzten Felsen …

Sein Gesicht war nah, und es veränderte sich, wie die Tundra und das Meer sich verändern unter einem Wind, der mit seinen Wolken die Sonne bald freigibt, bald verdeckt. Von ihm ging der Geruch von Meerwind und Wasserpflanzen aus.

Ja, sie hatte gerade ihn erwartet, einen, der nah und verständnisvoll, stark und zärtlich zugleich war. Und all ihre Angst am Morgen, ihre Unruhe am Abend, wenn die Sonne am Horizont im Meer versank, und ihr Gefühl der Freude, wenn der Wal sich dem Ufer näherte, waren eine Vorahnung eben gerade dieses Zusammentreffens gewesen, die Erwartung des Glücks.

Rëu ließ sich nieder im Gras und zog Nau zu sich hinab. Es schwindelte ihr, alles schien verdeckt von einem regenbogenfarbenen Dunstschleier, und es war, als sei ihr Körper eingetaucht in die warme Walfontäne, umhüllt und gestreichelt von der Berührung ihrer zärtlichen Wasserstrahlen.

Für Augenblicke kam es ihr vor, als flöge sie über der Erdoberfläche dahin, von hellen weichen Wolken einem leichten Wind hinterhergetragen. Und gleichzeitig mit dieser Empfindung wuchs etwas anderes in ihr: Sie wollte zu einem einzigen zusammenfließen mit diesem Mann, und dieser Wunsch war so stark, dass Nau einen Schmerz verspürte. Zeitweise füllte dieser Schmerz ihr ganzes Inneres, versuchte nach außen zu brechen, aber er fand keinen Weg.

Nau mochte schreien, denn Stöhnen entriss sich ihrem Inneren, doch sie wusste nicht … wusste noch nicht, dass gerade dies das höchste Glück der Frau und die Quelle von Gesang, Zärtlichkeit und neuem Leben ist …

Nau hörte ein Lärmen von Walfontänen, welches die Luft über den Wellen des Meeres zerschnitt … R-r-r-r-ëu! … – schien es ihr.

»Rëu, Rëu, Rëu«, wiederholte sie einige Male und öffnete die Augen.

Rëus Gesicht war ganz nah, und seine großen schwarzen Augen nahmen das Mädchen in sich auf, ließen es in flimmernder heißer Schwärze versinken.

Jetzt fühlte Nau weder Furcht noch Angst. Wieder und wieder kam sie zu der Überzeugung, dass gerade dies ihr gefehlt und sie gerade hierauf gewartet hatte. Sie hatte nur nicht geahnt, dass es im Antlitz eines Mannes zu ihr kommen würde, der aus einem Wal hervorgegangen war.

Und plötzlich durchzuckte etwas wie ein glühender Sonnenstrahl ihren ganzen Körper. Ihr erster Gedanke war: Kann denn ein Schmerz Freude sein? Und da war schon die Antwort: Ja, ein Schmerz kann die höchste Freude sein, die schreien macht und klare heiße Tränen vergießen lässt. Der Strahl ging in ihrem Körper umher, entzündete ihn, entfachte ein unsichtbares Feuer in ihr, und sie wünschte nur eines – dass dies endlos dauern möge, ewig …

Als Nau wieder zu Bewusstsein kam, fürchtete sie im ersten Augenblick, es könnte alles nur Einbildung oder Traum gewesen sein.

Aber Rëu – so nannte sie in Gedanken diesen Mann – saß neben ihr und hielt ihre schwarzen Haare in seinen Händen, ließ die Strähnen aus einer Hand in die andere gleiten. Er lächelte, und sein Gesicht leuchtete mit einem außergewöhnlichen Glanz.

Er betrachtete Nau, näherte sein Gesicht dem ihren und berührte mit seiner Nasenspitze die ihre, und diese Berührung brachte das in den Herzen glimmende Feuer wieder zum Lodern.

»Kann denn ein Schmerz Freude bereiten?«

»Die höchste Freude kommt durch den Schmerz«, antwortete Rëu.

Mit seinen Worten nahm Nau die bekannten Gerüche des Meeres auf – des salzigen Wasserstaubs, der Wasserpflanzen, des feuchten Kiesels und der über das Ufer verstreuten roten Seesterne.

Bevor die Sonne unterging, erhob sich Rëu vom niedergedrückten Gras und schlug die Richtung zum Meer ein.

Nau ging neben ihm.

Je näher das Tosen der Brandung kam, desto angsterfüllter wurde ihre Seele. Zum ersten Mal im Leben näherte sie sich dem Meer ohne Freude.

Da war schon die Brandung und auf ihrer Krümmung eine Schar Strandläufer.

Rëu hielt inne.

Die Sonne sank ins Meer. Über der Linie, welche Himmel und Wasser verband, war noch der obere Rand der Scheibe verblieben, und von ihm ging ein hell klingender lichter Pfad aus und stieß auf das feuchte Ufer aus Kieselsteinen.

Rëu begab sich auf diesen Pfad, tat Schritte im Wasser, und an der Stelle, wo eben noch ein Mensch gestanden hatte, schimmerte für einen Augenblick eine Walfontäne.

Von Sinnen ging Nau ins Wasser, doch etwas Starkes und Mächtiges stieß sie zurück an das Ufer.

Der Wal entfernte sich, immer weiter, und bald erlosch seine Fontäne zusammen mit dem letzten Widerschein der im Meer ertrinkenden Sonne.

II

Wenn die Sonne über der Lagune aufgegangen war und ihren höchsten Punkt erreicht hatte, stieg Nau zum Ufer hinab und blieb dort so lange stehen, bis in der Ferne der Regenbogen sein Spiel begann.

Ihre Freude wuchs in dem Maße, wie sich der Wal dem Ufer näherte und sein erregter Atem lauter wurde.

Nachdem sich Rëu in einen Menschen verwandelt hatte, nahm er Nau bei der Hand und ging mit ihr auf das weiche Tundragras.

Sie sprachen wenig. Viel von dem, was sie einander zu sagen hatten, floß über durch Blicke, Berührungen oder einfach nur durch langes Schweigen.

Es kamen Tage erfüllt von Glück, von unverhofften und unhörbaren Flügen der Seele. Bis Nau eines Tages sah, dass die fernen Berge mit Schnee bedeckt waren.

»Was ist das?«

»Es ist das, was uns in andere Meere vertreibt«, antwortete Rëu.

»Das heißt, du verlässt mich?«

Rëu schwieg.

Mit jedem Tag wurden die Begegnungen kürzer, denn die Sonne verkürzte ihren Weg am Himmelszelt und hatte es eilig, im Wasser unterzugehen. In der Luft tanzten weiße Schneeflocken. Wenn sie auf die Erde fielen, in kleine Pfützen und Lachen, verwandelten sie sich in kaltes Wasser.

Ungemütlich wurde es auf der Erde.

Die in den Süden ziehenden Vögel erfüllten die Tundra mit traurigem Geschrei.

Der tönende Vogellärm über den Bächen verstummte, und das Wasser selbst trübte sich, wurde schwer von den häufigen Regengüssen.

Nau streifte durch die Tundra und grub Mäuselöcher aus, um an die süßen Wurzeln in ihnen zu gelangen. Es gab Tage, da konnte sie sich dem Ufer des Meeres nicht nähern: Gewaltige Wellen schlugen gegen die Felsen, ergossen sich auf das mit Kieseln bedeckte Kap und stürzten sich auf das einsame, auf einer hohen Steinreihe stehende Mädchen.

An solchen Tagen fürchtete Nau, Rëu könnte nicht kommen.

Doch er kam.

Allerdings tauchten in seinen Zärtlichkeiten Angst und Ungeduld auf.

»Warum bleibst du nicht bis zum Morgen bei mir?«

»Wenn ich nicht mit dem letzten Strahl der Sonne zurückkehre, dann bleibe ich für immer auf der Erde«, antwortete Rëu.

»Willst du das nicht?«

»Ich weiß nicht«, war darauf Rëus Antwort.

Noch vor kurzem, im Frühjahr, als er, jung und voller Spannung, sich im weichen Meerwasser tummelte, konnte er mit Überzeugung sagen, dass er niemals und um nichts in der Welt dieses Element der Freiheit eintauschen würde gegen das harte Festland. Aber jetzt … Er hatte auch nicht gewusst, dass es in der Welt eine Macht gab, die einen Wal zum Menschen werden lässt und ihn zurückhält am Ufer, ihn zwingt, die große Gefahr, für immer als Mensch auf der Erde zu bleiben, zu vergessen.