Die Reise der Anna Odinzowa - Juri Rytchëu - E-Book

Die Reise der Anna Odinzowa E-Book

Juri Rytchëu

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Beschreibung

Am Morgen des 21. Februars 1947 geht Anna Odinzowa, Ethnografin aus Leningrad, im kleinen Hafen von Uëlen an Land. Sie ist am Ziel ihrer Träume: Seit Jahren hat sie die tschuktschische Sprache und Kultur studiert. Jetzt will sie aus nächster Nähe das unerforschte Leben der Nomaden in der Tundra kennenlernen. Tiefer als alle Ethnografen zuvor will sie sich mit dem Volk verbinden, das ihr Forschungsgegenstand ist. Sie heiratet Tanat, den Sohn des letzten Schamanen, und zieht zu seiner Sippe in die Tundra. Als die Katastrophe über das Lager hereinzubrechen droht, geschieht das Unerhörte: Der alte Rinto weiht die fremde Frau mit den stahlblauen Augen ein in die bedrohten Künste und Geheimnisse der Schamanen.

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Über dieses Buch

Eine junge Ethnografin aus Leningrad macht sich 1947 auf, um das Leben der Tschuktschen aus nächster Nähe kennenzulernen. Sie heiratet den Sohn des letzten Schamanen. Als die Katastrophe über das Lager hereinzubrechen droht, geschieht das Unerhörte: Der alte Rinto weiht die fremde Frau ein in die bedrohten Künste und Geheimnisse.

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Juri Rytchëu (1930–2008) wuchs als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im Nordosten Sibiriens auf und war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zum Zeugen einer bedrohten Kultur.

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Charlotte Kossuth (1925–2014) war Russisch-Lektorin in Halle/Saale und fast dreißig Jahre lang Verlagslektorin für russische und sowjetische Literatur in Berlin.

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Leonhard Kossuth (*1923) lehrte am Literaturinstitut in Leipzig und war dreißig Jahre lang Cheflektor für Sowjetliteratur in Berlin. Zudem ist er als Herausgeber, Übersetzer, Literaturkritiker und Publizist tätig.

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Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Juri Rytchëu

Die Reise der Anna Odinzowa

Roman

Aus dem Russischen von Charlotte und Leonhard Kossuth

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Aus dem russischen Manuskript Anna Odincova übersetzt.

Originaltitel: Anna Odincova

© by Juri Rytchëu 1998

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30452-9

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 26.06.2024, 02:42h

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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

DIE REISE DER ANNA ODINZOWA

1 – Am 21. Juni 1947 hatte das winterliche Küsteneis …2 – Anna steckte den Kopf aus dem Polog …3 – Rinto schritt der Karawane voraus. Die Pfeife im …4 – Es schien, als würde die Jaranga beim nächsten …5 – In der Jaranga gab es Bücher. Eine prächtige …6 – Als es auf den Frühling zuging und sonnige …7 – Nach dem Fest der Schlachtung Junger Rentiere …8 – Durch Anadyr stob der Schnee. Aber selbst bei …9 – Immer häufiger überflog ein Flugzeug das Lager …10 – Zwei Wochen dauerte es, bis Anna Odinzowa ihre …11 – Beim Aussteigen aus dem Flugzeug stolperte Atata über …12 – »Solange der Himmel noch dunkel ist, musst du …13 – Der Flieger Tymnet stand abseits und beobachtete spöttisch …14 – Atatas Bein verheilte nicht ordentlich. Er hinkte beim …15 – Im tiefen Winter, wenn der Schneesturm nachließ …EpilogWorterklärungenPersonen der Zeitgeschichte

Anmerkungen

Mehr über dieses Buch

Über Juri Rytchëu

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Eveline Passet: Juri Rytchëu – Literatur aus dem hohen Norden

Leonhard Kossuth: Wo der Globus zur Realität wird

Über Charlotte Kossuth

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1

Am 21. Juni 1947 hatte das winterliche Küsteneis die steinige Landzunge von Uëlen noch fest im Griff. Doch es war von unzähligen Tauwasserpfützen übersprenkelt, deren Trichter hier und da bis zum Meerwasser hinunterreichten. Sogar erfahrene Jäger wagten ohne Schneetreter nicht, ihren Fuß darauf zu setzen.

Freigebig, ohne jemals unterzugehen, beschien die Sonne die über die Landzunge verstreuten Jarangas, die wenigen hölzernen Bauten der meteorologischen Station und den von keinem Lufthauch bewegten Windmotor.

Während Tanat das Ufer entlangschlenderte, blickte er aufmerksam in die Ferne, wo sich hinter dem blauen Streifen offenen Wassers das Nördliche Eismeer erstreckte. Ihn beunruhigte eine unbekannte Zukunft. Der erste Südwind wird das Küsteneis vom Ufer losreißen, wird es in Stücke brechen. Dann wird ein großes Schiff kommen, und auf ihm wird Tanat in den fernen Süden reisen, nach Anadyr, in die Hauptstadt des Tschuktschischen Nationalen Bezirks.

Zusammen mit zwei seiner Freunde – Enmynkau aus Janranai und dem aus Uëlen stammenden Tenmaw – war er von einer Kommission der Kreisverwaltung für Volksbildung auserwählt worden, am Institut für Lehrerbildung zu studieren. »Ihr habt die historische Mission, Kern der neuen, sowjetisch-tschuktschischen Intelligenz zu werden«, hatte Lew Wassiljewitsch Belikow, ihr Schuldirektor, seinen Zöglingen mit auf den Weg gegeben.

Tanat war in der Tundra geboren und aufgewachsen, hatte die ersten vier Jahre eine Nomadenschule besucht. Belikow, sein Lehrer, hatte die Begabung des Jungen erkannt und dessen Vater Rinto, den Besitzer einer Herde, überredet, den Sohn nach Uëlen ins Internat gehen zu lassen. Dort hatte Tanat zusätzlich zu seinem tschuktschischen Namen einen russischen erhalten: Roman.

Drei Jahre hatte Tanat in dem langen flachen Gebäude verbracht, das quer zur steinigen Landzunge stand.

Jeden Sommer, Ende Mai, wenn Vogelschwärme zu Tausenden den Himmel bevölkerten, fuhr der Junge zu den Eltern in die Tundra und blieb dort bis in den Herbst, bis zum Beginn des neuen Schuljahrs. Diese beiden Zeitpunkte fielen mit traditionellen Feiertagen zusammen – dem Fest des Ersten Kalbs und der Herbstschlachtung Junger Rentiere.

Im Nebel der Zukunft zeichnete sich vage ein anderes Leben ab, das er nur aus Büchern und einigen wenigen Stummfilmen kannte.

Das Land der Tangitan, der Europäer, lockte mit seiner rätselhaften, Schwindel erregenden Ferne. Die Gedanken schweiften nicht nur nach Anadyr, sondern flogen weiter, über grüne Felder und dichte Wälder, in große Städte mit vielstöckigen, felsengleichen Hochhäusern, vielfenstrigen Palästen, in denen vor der Revolution die Zaren, Aristokraten und ihre Leute gewohnt hatten. Und noch etwas bewegte Tanats junges Herz – dass, wie die Bolschewiki lehrten, all dies jetzt genauso wie Enmynkau und Tenmaw auch ihm gehörte, dem Sohn eines Rentierzüchters aus der Tundra.

Den blau schimmernden Rand des Küsteneisgürtels vor Augen, stellte sich Tanat vor, wie am Horizont ein großes, eisernes Schiff mit rauchendem Schornstein auftauchen würde.

Doch stattdessen erschien dort, wo sich Wasser und Himmel berührten, inmitten der Eisfelder kaum wahrnehmbar, ein weißer Schoner. Tanat erkannte ihn sofort. Immer kam als erste die »Wega« nach Uëlen, um entlang der Küste die von der Prowidenija-Bucht bis zum Kap Ryrkaipi aufgestellten Navigationszeichen zu überprüfen.

Während Tanat die sich ausbreitenden Tauwasserpfützen, die von den Sonnenstrahlen abgeleckten Eisblöcke und Schollen umging, setzte das Schiff einen einzigen Passagier auf dem Eis ab und nahm erneut Kurs aufs offene Meer.

Auf dem Eis standen ein recht ramponierter Sperrholzkoffer und eine Segeltuchtasche. Der Ankömmling war sonderbar gekleidet – trug Wattehosen, eine Steppjacke, hohe Gummischuhe und eine spaßige gestrickte Ohrenklappenmütze. Auf den ersten Blick aber war zu erkennen, dass es ein Mädchen war – mit sonnengebräuntem Gesicht und einem Ausdruck, der sofort fesselte, und das lag an ihren Augen: Sie waren von einem Blau, wie man es nur bei rassigen Polarhunden findet.

»Guten Tag!«, grüßte Tanat.

Das Mädchen blitzte ihn aus ihren unerträglich blauen Augen an und antwortete lächelnd: »Ii, tyetyk. Bist du ein Luorawetlan?«

Tanat war überrascht, dass sie ihn in seiner Muttersprache ansprach. »Und du, bist du eine Russin?«

»Ii – ja.«

»Woher kennst du unsere Sprache?«

»Die habe ich an der Leningrader Universität erlernt, außerdem bei euren Landsleuten, die am Institut der Nordvölker studieren.« Das Mädchen sagte, sie heiße Anna Odinzowa und nach Uëlen sei sie mit einem Forschungsauftrag des Ethnografischen Instituts der Akademie der Wissenschaft gekommen, wo sie sich auf die Verteidigung ihrer Dissertation vorbereite. Sie wolle die alten Bräuche der Rentierzüchter studieren, ihre Sprache und die Folklore.

Dieser erste Uëlener Einwohner, den Anna Odinzowa auf dem Küsteneisgürtel getroffen hatte, gefiel ihr sofort. Auf sonderbare Weise vereinte der Bursche in sich jungenhaften Übermut, Männlichkeit und verborgene Zartheit. Freude stieg in ihr auf, sie war nicht nur am Ziel ihrer Forschungsarbeit angelangt, sondern hatte gleich zu Beginn einen so sympathischen Burschen getroffen. Das war ein gutes Vorzeichen!

»Gibt es in Uëlen ein Hotel?«

»Ein Hotel nicht«, entgegnete Tanat, »aber im Internat ist ein Zimmer frei. Wir müssen nur unseren Direktor, Lew Wassiljewitsch, um Erlaubnis bitten.«

Koffer und Tasche erwiesen sich als ungewöhnlich schwer. Tanat trug sie bis zur Schule. Ehe das Mädchen dort eintrat, nahm sie die lustige gestrickte Ohrenklappenmütze ab, und golden fielen ihr dichte, glänzende schöne Haare auf die Schultern. »Welynkykun – danke.«

Tanats Internatsnachbar Enmynkau beobachtete verwundert, wie Tanat der Unbekannten half, ihre Sachen hereinzutragen. »Wer ist sie?«, fragte er in einem geeigneten Augenblick.

»Eine Wissenschaftlerin aus Leningrad.«

»Ziemlich jung«, meinte Enmynkau skeptisch.

Tanat fühlte, wie ein noch nie erfahrenes Gefühl sein Herz erfüllte, ihm fast den Atem nahm.

Langsam schlenderte er allein am Meer entlang, um seiner Erregung Herr zu werden. Ein solches Mädchen war ihm noch nie begegnet. Ihm war, als entstammte sie seinen Träumen, unklaren Vorahnungen. Ihr Bild begleitete ihn, verströmte Wärme, geheimnisvolles Licht. Auch in Uëlen lebten Tangitan-Mädchen, aber die waren ganz anders! Zudem kam sie aus jenem märchenhaften Leningrad, der Stadt der Zarenpaläste, der funkelnden Springbrunnen, wo die Revolution stattgefunden hatte. Welch weiten Weg hatte sie zurückgelegt, um nach Uëlen zu gelangen! Wozu sollte es gut sein, Tschuktschisch zu lernen, alte Bräuche zu erforschen, die von den Bolschewiki als Relikte der Vergangenheit bezeichnet wurden, als Hindernis für die Entwicklung des Neuen? Die Tschuktschen und ihre nächsten Nachbarn, die Eskimos, die Korjaken und Lamuten, waren doch keine alten Griechen und Römer, keine Ägypter, die bedeutende Zivilisationen geschaffen hatten. Weder hatten sie große, befestigte Städte gebaut noch Pyramiden errichtet oder Reiche erobert. Sogar von ihren in der offenen Tundra beigesetzten Toten war nach einigen Jahren außer einer Hand voll weißer Knochen nichts mehr zu finden. Wen konnte schon das von einer Ölfunzel kaum erleuchtete Leben in einer Jaranga interessieren, die Bauweise eines Polarschlittens und das Zuggeschirr für die Rentiere? Oder die Methode, ein erlegtes Walross auszuweiden? Oder Rintos Lieder? Sie rühren zwar an die Herzen von Tanat und seinen Landsleuten, doch welchen Widerhall können sie bei einem Menschen finden, der unter völlig anderen Umständen aufgewachsen ist und eine andere Sprache spricht? Jene fernen, warmen Länder, wie Tanat sie sich auf Grund von Büchern, Bildern und einigen Filmen vorstellte, unterschieden sich so sehr von der öden Tundra und der eisbedeckten Küste!

Wie schön klang doch ihr Name – Anna! Als enthielte er eine zarte, geheimnisvolle Verlockung. Und ihr Familienname erinnerte an einen Roman Turgenjews.

Beim Abendbrot, im Beisein des Schuldirektors, berichtete Anna Odinzowa von ihren Plänen. Tanat saß ihr gegenüber, und jeder Blick, jedes Lächeln, jedes Wort drang tief in sein Herz.

Lew Wassiljewitsch Belikow wiegte den Kopf und wiederholte einige Male, sie würde es schwer haben, sehr schwer.

Als Anna Odinzowa am nächsten Morgen mit gelösten goldenen Haaren, ohne die drollige gestrickte Ohrenklappenmütze den Waschraum betrat, konnte Tanat nur mühsam den Blick von ihrem gebräunten Gesicht wenden, aus dem die blauen Augen so blitzten, dass man meinen konnte, sie spiegelten den klaren sommerlichen Polarhimmel, an dem die Sonne nie unterging. Noch stärker verwirrt als bei der ersten Begegnung, hatte der Junge ein Gefühl, als stocke ihm der Atem. Eine Hündin, dachte er, eine rassige Hündin – für den Tschuktschen ist dies ein Kosewort wie für den Russen »Schwälbchen«, »Täubchen« oder »Zicklein«…

»Könntest du mich nicht durch Uëlen begleiten?«

»Ich bin in Uëlen aber nicht richtig zu Hause«, wehrte Tanat schwach ab.

»Ich weiß«, sagte Anna lächelnd, »du bist ein nomadisierender Tschuktsche, ein Tschautschu.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, und jede Berührung der Begleiterin entfachte in Tanat neues Feuer.

Nach längerem Schweigen sagte Tanat verlegen: »Ich weiß gar nicht, was ich erzählen soll.«

»Nun, zum Beispiel: warum diese Jaranga sich so sehr von den Übrigen unterscheidet.«

Sie gehörte Tukkai, dem Vorsitzenden des Tschuktschischen Kreis-Exekutivkomitees. Tukkai, der die fortschrittlichen Ideen begeistert begrüßt hatte, arbeitete schon einige Jahre daran, seine alte Behausung den neuen Vorstellungen von einem zivilisierten Leben anzunähern. Vor allem hatte er ihr eine rechteckige Form gegeben. In die Wand hatte er ein kleines Fenster eingefügt, durch das Dach einen Rauchabzug hindurchgeführt und die Walrosshaut mittels eines eisernen Fassbodens gegen Funkenflug gesichert. Im Inneren hatte er den Fell-Polog durch Holzwände ersetzt und dort ein eisernes Bettgestell mit federndem Gitterrost aufgestellt. Tukkai war der Erste in Uëlen, der seine Lebensweise geändert hatte: Statt auf die Jagd zu gehen, widmete er sich der Leitungsarbeit, gab Hinweise, wie man auf neue Art leben müsse, hielt auf Versammlungen Reden, und das Walrossfleisch würzte er mit Senf, den er sich aus Leningrad mitgebracht hatte. Wodka und Sprit trank er in solcher Menge, dass er einmal barfuß nach Hause torkelte: betrunken war er am Meeresstrand eingeschlafen, und die Hunde hatten ihm nicht nur seine Stiefel aus weichem Leder, sondern auch seine Fellstrümpfe von den Füßen gefressen.

Doch Tanat sagte nur, dies sei das Haus von Tukkai. Dessen Bruder Wykwow habe in Leningrad am Institut der Nordvölker studiert und Gerüchten zufolge sei er in den ersten Jahren des Krieges umgekommen.

»Ich habe Wykwow noch vor dem Krieg kennen gelernt. Er hat mir Tschuktschisch beigebracht. Leider ist er wirklich fast zu Beginn des Krieges gefallen, ich besitze einige Briefe von ihm«, sagte das Mädchen und fragte: »Meinst du nicht, dass Tukkai seine Jaranga verunstaltet hat?«

Darüber hatte Tanat niemals nachgedacht. Wie konnte man auch eine Jaranga verunstalten – ein so unförmiges Bauwerk ohne jegliche äußere Schönheit? Zumal eine Jaranga der Küsten-Tschuktschen, gedeckt mit kohlschwarz gedunkelten Walrossfellen? Ihm schien eher, Tukkai habe ihr mit seinen Verbesserungen ein zeitgemäßeres Aussehen verliehen. Natürlich war das noch kein richtiges Tangitan-Haus mit großen Fenstern und einem gemauerten Ofen, aber auch keine Jaranga mehr.

Roman-Tanat führte das Mädchen auf das Steilufer oberhalb von Uëlen, wo der Leuchtturm mit dem Scheinwerfertürmchen auf dem Dach stand. Von hier aus überblickte man die ganze Siedlung.

»Die Einwohner von Uëlen sind gewissermaßen zweigeteilt: Die am Kap wohnen, heißen Enmyralyt, die weiter weg auf der Landzunge – Tapkaralyt. Enmyn heißt tschuktschisch ›Fels‹, Tapkan – ›steinerne Landzunge‹.«

Das Mädchen machte sich viele Notizen in einem dicken Heft. »All das ist sehr interessant«, wiederholte sie einige Male sachlich.

Tanat bemühte sich nach Kräften. »Siehst du dort auf der Seeseite der Landzunge den großen schwarzen Stein, der dem Rücken eines Wals ähnelt? Das ist der Heilige Stein. Die Alten erzählen, der sei mit unvorstellbarem Getöse vom Himmel gefallen und habe sich ins steinige Ufer gebohrt. Der Aufprall sei so stark gewesen, dass alle Jarangas zusammengestürzt und einige sogar verbrannt sind, weil der Aufprall die Feuerstellen auseinander gerissen hat.«

»Und jetzt ist das eine Opferstätte?«

Tanat zögerte. Der Heilige Stein befand sich neben dem Internat, wo sich vor dem Krieg die Kreis-Verwaltungen befanden – später wurden sie in die Lawrentija-Bucht verlegt. Deshalb konnten sakrale Handlungen, sollte es sie wirklich geben, nur in aller Heimlichkeit stattfinden.

»Hier veranstaltet man Tanz- und Gesangsfeste«, antwortete er ausweichend.

Sie stiegen zum Stein hinunter, Anna betrachtete ihn aufmerksam und sagte: »Vermutlich ist das ein eiserner Meteorit. Schau doch.« Sie legte ihr Taschenmesser auf eine steile Seitenkante des Steins, und es blieb dort wie angeklebt liegen.

Tanat kannte diese Eigenschaft des Steins, hatte aber nicht gedacht, dass dies etwas mit seiner himmlischen Herkunft zu tun haben könne.

Erst gegen Morgen in sein Zimmer im verwaisten Internat zurückgekehrt, konnte Tanat lange nicht einschlafen. Kaum schloss er die Augen, tauchte vor ihm Annas Gesicht auf, leuchteten ihm ihre ungewöhnlichen Augen entgegen. Unerwartete Gefühle bedrängten ihn. Zwar hatte er sich schon gelegentlich verliebt, aber das war anders gewesen, hatte seinen Lehrerinnen, jungen Mitarbeiterinnen der polar-meteorologischen Station gegolten. Zudem war ihm bewusst, dass in der Tundra Katja Tonto auf ihn wartete, die Tochter des Besitzers einer benachbarten Herde, der in der Umgebung der großen Koljutschinskaja-Bucht nomadisierte. Sie war zwei Jahre nach Tanat geboren und nach altem Brauch schon damals zu seiner künftigen Ehefrau erklärt worden. Drei Winter hatten sie gemeinsam in der Nomadenschule bei Lew Wassiljewitsch Belikow gelernt. Zuletzt hatte Tanat sie vorigen Sommer gesehen. Das Mädchen war groß und hübsch geworden, benahm sich wie eine richtige erwachsene Hausfrau. Für einige Tage war sie in Rintos Nomadenlager zu Gast gewesen, hatte im Polog neben ihrem künftigen Mann geschlafen. Doch Tanat hatte seine Wünsche bezähmt – er war sich bewusst, dass die Zeit für ihre Vereinigung noch nicht gekommen war.

Die Mitternachtssonne näherte sich schon dem Gipfelpunkt, ihre Strahlen ergossen sich durch die nicht verhängten Fenster ins Zimmer. Vor kurzem hatte Tanat bei solcher Beleuchtung noch ruhig schlafen können, jetzt aber störte ihn das grelle Licht. Er nahm die Decke vom Nachbarbett und verhängte das Fenster zur Hälfte.

Die kurze Erinnerung an Katja wich erneut dem Bild der Anna Odinzowa. Interessant wäre es, sie in der Dunkelheit eines Pologs zu sehen. Wahrscheinlich würden ihre Augen leuchten wie durch die durchlöcherte Überdachung der Jaranga die Sterne.

24. Juni 1947, Uëlen

Mit welchem Vergnügen schreibe ich diese Ortsbezeichnung – Uëlen! Endlich bin ich meinem Ziel nahe. So wird sich vermutlich Margaret Mead gefreut haben, als sie ungefähr in meinem Alter das ferne Ost-Samoa erreicht, die Küste der Insel Ta’u betreten hatte.

Doch jäh ist etwas Unerwartetes in mein Leben eingebrochen. Dieser Junge, der erste Uëlener, der mich auf dem Küsteneis begrüßte, geht mir nicht aus dem Sinn, weckt meine Gefühle… Es könnte geschehen… Es aufzuschreiben, wage ich nicht… Aber genug davon!

Uëlen ist eine recht große Siedlung, hat etwa dreihundert Einwohner. Die meisten wohnen in altertümlichen Jarangas. Richtige Häuser gibt es nur wenige. Das größte beherbergt die Schule, zu nennen wäre auch das Internat, bestehend aus drei an Jarangas erinnernden runden Häuschen. Die meteorologische Station befindet sich etwas abseits, am Rande steht dort ein Windmotor.

Ich bin sehr aufgeregt, mir fällt es schwer zu schreiben. Nein, die wissenschaftliche Leistung von Margaret Mead will ich nicht wiederholen. Ich will sie übertreffen, will mich selbst in das Volk einleben, das ich studiere – ihr ist das nicht gelungen. Ich will weiter gehen als sie, werde das Leben eines Urvolkes von innen her erforschen und beschreiben, nicht von außen. In diesen Tagen und Stunden beginnt der schwierigste Teil… Also, vorwärts, Anna Nikolajewna Odinzowa!«

Als Tanat den Waschraum betrat, putzte Anna die Zähne.

»Schön, dass du kommst. Gieß mir Wasser hierher.«

Während Tanat dem Mädchen half, bemerkte er: »In der Tundra kann man sich nirgends waschen.«

»Ich werde so leben wie die geborenen Rentierzüchter«, antwortete Anna.

»Das wird dir schwer fallen.«

Anna Odinzowa blickte ihn an. »Ist es dir schwer gefallen?«

Er lächelte. »Ich war es doch so gewohnt. Bin in der Tundra geboren und aufgewachsen. Schwer ist es mir gefallen, mich an das hiesige Leben zu gewöhnen. An eine richtige Schulbank habe ich mich erst in der fünften Klasse gesetzt. Vorher habe ich mich zum Schreiben wie ein Seehund auf der Erde ausgestreckt.«

»Du bist ein Mensch wie ich«, sagte sie. »Also kann ich auch so leben wie du.«

»Ich würde gern hören, was du sagen wirst, wenn du erst in eine Tundra-Jaranga gerätst – beim Licht einer Ölfunzel oder eines offenen Feuers. Nicht einmal Petroleumlampen gibt es dort.«

»Wenn ich mir etwas vorgenommen habe, schaffe ich das auch«, verkündete sie mit unerwarteter Festigkeit.

Von diesem Tag an blieben die beiden unzertrennlich. Er zeigte ihr die schönsten Gegenden von Uëlen. Am Meer entlang wanderten sie bis zum fernen Pilgin, einer Wasserrinne, die die Lagune mit dem offenen Meer verband. Sie besuchten den alten Friedhof, wo – von Steinen eingefasst – die weißen Knochen der Beigesetzten zu sehen waren. Daneben lagen Speere mit Speerspitzen, Harpunen, steinerne Leuchten, Scherben von Porzellangeschirr, beinerne Knöpfe und Schnallen, verrostete Gewehre und sogar eine halbvermoderte Ziehharmonika mit zerfallenem Balg. In einigem Abstand erhoben sich zwei Hügel aus Felsbrocken, da waren zwei Tangitan beerdigt – nach russischen Brauch in Holzkästen. Unter den Steinen ragten zerbrochene, graue Bretter hervor, daneben lagen Pfosten mit fünfzackigen Sternen, die aus dem Blech von Konservendosen ausgeschnitten waren.

Während Anna eilige Skizzen entwarf, ging Tanat etwas zur Seite. Die Fragen über die Beisetzungsbräuche, die unnatürliche Neugier, die sonderbare Erregung des Mädchens berührten Tanat unangenehm, seine Stimmung verfinsterte sich.

Abends, schon an der Tür zu ihrem Zimmer, erkundigte sich Anna zärtlich: »Warum bist du so trübsinnig geworden?«

»Auf einem Friedhof pflegt man nicht lustig zu sein.«

»Für mich war das aber sehr interessant, für die Wissenschaft ist es wichtig.« Anna zog den leicht widerstrebenden Tanat ins Zimmer.

Im Winter wohnte hier die Mathematiklehrerin Jekaterina Iwanowna Pokrowskaja. Wenn am Wochenende gutes Wetter war, kam aus der benachbarten Eskimo-Siedlung der verliebte Direktor Nikolai Nikolajewitsch Maximow auf Skiern hierher – über den gefährlichen Deshnjow-Pass und durch ein ödes Tal, durch das ständig eisiger Wind fegte. Das Knarren des Bettes mit dem Federeinsatz, das unterdrückte Stöhnen, die leidenschaftlichen Seufzer waren sogar im Korridor zu hören, und die Internatskinder lauschten den ungewohnten Lauten einer Tangitan-Liebe. Nach Ende des Schuljahrs siedelte Jekaterina Iwanowna nach Naukan über, und das Zimmer blieb frei, sofern es nicht gelegentlich Dienstreisenden aus dem Kreiszentrum als Unterkunft diente.

Fast den ganzen Raum nahm das breite Bett ein, über das eine gewöhnliche graue Internatsdecke gebreitet war. Es gab keinen Stuhl, keinen Schemel, als Sitz bot sich nur das Bett an.

Sie saßen nebeneinander, unter ihrem Gewicht bog sich die federnde Matratze durch, und unwillkürlich schmiegten sie sich aneinander. Tanats Herz schlug so stark, dass er fürchtete, Anna könnte es hören. Ihm schwindelte geradezu.

Sie sprachen nicht, blickten einander nur unverwandt an.

Anna drängte sich mit ihrem Gesicht an Tanat und küsste ihn. Er kam gar nicht dazu, zurückzuprallen. So also schmeckte der süße Tangitan-Kuss? Als würde man in eine riesige warme Woge von Zärtlichkeit sinken. Tanat erschlaffte wie ein unvorsichtig mit einer Harpune durchstoßener Pychpych – ein Ballon aus unzerteilt abgezogener Seehundshaut.

Was dann geschah, hinterließ überraschend süße und überwältigende Schwermut.

Schnell zog sich Tanat wieder an, stürzte aus dem Zimmer und lief zum Meer hinunter, zum kühlen Atem des noch verbliebenen Küsteneises. Sein Gesicht war tränenüberströmt, und seinen Körper schüttelte hin und wieder unerwartetes Schluchzen.

Er ging das Ufer bis zur Wasserrinne entlang, die die Lagune mit dem Ozean verband, und kehrte erst dann um.

Doch am nächsten Abend kam er wieder, und dieses Mal blieb er bis zum Morgen bei Anna. Während die Verliebten von ihren leidenschaftlichen Zärtlichkeiten ausruhten, sprachen sie leise miteinander, erzählten sich von ihrem Leben. Ziemlich knapp berichtete Anna vom Tod ihrer Angehörigen während der Blockade. Sie selbst hatte damals im Universitäts-Internat gewohnt, hatte neben ihrem Studium im Spital auf der Fünften Linie der Wassiljewski-Insel gearbeitet. Von Tanat wollte sie hören, wie er seine Kindheit verbracht, welche Bräuche und Feste er kennen gelernt hatte, sie interessierte sich für die kleinsten Details des Alltags in einer Nomaden-Jaranga.

Tanat bemühte sich, ihr die Reise in die Tundra auszureden. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie du in einer Jaranga leben kannst.«

»Stell es dir doch vor! Wie wär’s, wenn wir zusammen fahren?«

»Ich will doch weiterstudieren«, wandte Tanat spöttisch ein. »Am Anadyrer Institut für Lehrerbildung. Wir werden dort schon erwartet.«

»Was brauchst du dieses Lehrerbildungsinstitut! Überleg selbst: Du, ein ungebundener Mensch der Tundra, ein freier Mann, wirst später kleinen Rotzbengeln die Nase wischen!«

»Ich werde doch Lehrer!«, erklärte Tanat empört. »Kann sogar sein, dass ich nach dem Abschluss nach Leningrad fahre, an die Universität. Unser Direktor Belikow sagt, dort habe man eine Nordfakultät eröffnet.«

»Und zurück in die Tundra möchtest du nicht mehr? Nicht einmal mit mir?«

»Mit dir? Wie denn das?«

»Heirate mich doch!« Anna blickte ihn mit leuchtenden Augen an, ihr gerötetes Gesicht schien noch dunkler geworden zu sein. Sie war wohl selbst überrascht, dass ihr diese Worte über die Lippen gekommen waren.

Sofort durchzuckte ihn die Frage: Und was wird mit Katja, die ihm von Kind auf als Frau versprochen war? Doch dieser Gedanke versank sofort in einer Woge von Zärtlichkeit.

»Das kommt so plötzlich«, murmelte Tanat. »Das kann doch gar nicht sein!«

»O doch, wie du siehst.«

»Mir erscheint alles wie ein Traum.«

Anna küsste ihn erneut. Dieses Mal war es ein langer Kuss.

»Nun, bist du jetzt aufgewacht?«, fragte sie mit fröhlichem Übermut in der Stimme.

»Trotzdem… Ich muss mich mit dem Schuldirektor Belikow beraten«, murmelte Tanat verwirrt.

Anna lachte so sehr, dass Tränen aus ihren hellen Augen perlten. Sie rollte sich zusammen, streckte sich wieder und konnte gar nicht aufhören. »Du bist achtzehn Jahre! Kannst für dich selbst einstehen, selbst entscheiden«, sagte das Mädchen, wieder ernst geworden. Dann verstummte sie und fragte unsicher: »Vielleicht willst du aber nicht? Liebst eine andere?«

»So wie dich – niemanden!«, sagte Tanat entschieden. »Du gefällst mir sehr. Ich weiß nur nicht, wie ich es sagen soll…«

»Sag es, keine Angst… Zwischen uns muss alles klar sein.«

Stockend, aufgeregt, erzählte Tanat von Katja. Anna hörte aufmerksam zu und fragte dann: »Warst du mit ihr zusammen, so wie mit mir?«

»Nein, dazu ist es noch nicht gekommen.«

»Du hast mit ihr nicht geschlafen?«

»Geschlafen schon, aber ohne sie zu berühren.«

»Ist das verboten?«

»Verboten nicht, aber es ist nicht Brauch.«

Fast hätte Anna gesagt, in der wissenschaftlichen Literatur, konkret in Margaret Meads Buch, würde genau das Gegenteil behauptet, aber sie beherrschte sich. »Na schön. Aber könntest du darauf verzichten, ans Anadyrer Institut für Lehrerbildung zu fahren?«

»Ja!«, erwiderte Tanat.

Die Nachricht, Roman Tanat wolle Anna Odinzowa heiraten, versetzte ganz Uëlen in Aufregung – von der Polarstation bis zum kleinen Lehrerkollektiv der Schule. Allerdings nahmen es die Alteingesessenen viel gleichmütiger hin als die zugezogenen Russen. Viele Hiesige erklärten sogar mit Stolz, ihr Landsmann habe sich ein bildhübsches Mädchen geangelt, warum sollten nur die Tangitan die schönsten Uëlener Mädchen heiraten? Lange diskutierte mit ihnen der Schuldirektor Belikow. Er flehte das Mädchen an, dem viel versprechenden jungen Burschen nicht die Zukunft zu verderben. Er bat sie, wenigstens zu warten, bis der Vater aus der Tundra käme.

»Wir werden selbst so schnell wie möglich dorthin aufbrechen«, erklärte Anna Odinzowa.

»Sie haben keine Ahnung, was das Leben in der Tundra bedeutet. Mir können Sie glauben, ich bin fünf Jahre lang mit den Rentierzüchtern umhergezogen«, sagte Belikow.

»Sie haben es also gekonnt, warum zweifeln Sie dann, dass ich so leben könnte?«, spottete Anna.

»Weil Sie eine Frau sind.«

»Soviel ich weiß, leben in der Tundra nicht nur Männer.«

»Aber die Tschautschu-Frauen, die Nomadenfrauen, sind von Geburt an daran gewöhnt.«

»Wenn sie es fertig gebracht haben, wird es mir auch gelingen«, erklärte Anna Odinzowa entschieden. »Und ich werde dort ja nicht allein sein, sondern mit dem Mann an meiner Seite.« Zärtlich blickte sie ihren schweigenden jungen Ehemann an.

Anna blieb hartnäckig, wies alle Zweifel von sich und sogar die Vorwürfe, sie habe einen naiven, unerfahrenen Jungen eingewickelt. Dieses schamlose Gerede, das von den Frauen zugezogener Russen verbreitet wurde, verletzte und kränkte Tanat, und auch er wollte jetzt schnellstens Uëlen verlassen.

Das väterliche Lager befand sich an der Wasserscheide zwischen der Koljutschinskaja-Bucht und den Kurupkiner Höhen. Tanats Verwandter Wamtsche rüstete sein Fellboot aus, belud es mit einem Hundegespann und fuhr mit den Jungverheirateten durch die Lagune zu den grünen Bergen.

Schon von weitem sahen sie die weißen, Pilzen ähnelnden Dächer der auf dem hohen, trockenen Flussufer stehenden Jarangas. Als Anna merkte, wie aufgeregt ihr junger Ehemann war, nahm sie seine Hand und sagte leise: »Halt dich tapfer, Tanat!«

2

Anna steckte den Kopf aus dem Polog, legte ihr Heft auf den zum Kopfbalken herangezogenen Polarschlitten und schrieb.

3. Juli 1947, Rintos Lager

Eigentlich war alles gar nicht so schrecklich, wie ich gedacht hatte. Mir scheint sogar, der Weg durch die Tundra war schwieriger als die ersten Minuten, in denen ich Romans Eltern und Verwandten begegnete… Hier ruft ihn übrigens niemand mit diesem russischen Namen, den ihm ein Schullehrer gegeben hat, auch ich muss ihn einfach Tanat nennen.

Losgefahren waren wir mit Wamtsches Fellboot, auf das wir unser einfaches Gepäck und die Hunde samt dem Schlitten geladen hatten. Wir fuhren durch die ziemlich große Lagune ans südliche Ufer. Am meisten beeindruckte mich an der hiesigen Landschaft die atemberaubende Weite, es ist, als flöge man hoch über all diesen bläulichen Landzungen dahin, über dem weiten Wasser, den grünen Hügeln, den zahlreichen kleinen Seen und glitzernden Bächen. Man freut sich an der Reinheit der Farben und überhaupt der ganzen Umgebung, ob Land oder Luft. Irgendwo habe ich mal gelesen, die arktische Atmosphäre enthalte zu wenig Sauerstoff, doch davon habe ich nichts bemerkt. Im Gegenteil, verglichen mit den vielfältigen Gerüchen auf dem Festland, ist die Sterilität der Luft hier geradezu spürbar. Doch wie die Tundra selbst riecht! Ein kaum wahrnehmbarer Duft geht von den Blumen und Gräsern aus. Das ist natürlich nicht der betäubende Geruch eines blühenden Gartens, aber man hat das Empfinden, als schnuppere man an einem alten, längst leeren Parfümfläschchen.

Unser Hundegespannführer Wamtsche ist mit Tanat verwandt. Den Grad der Verwandtschaft habe ich noch nicht herausgefunden, aber offenbar ist die Familie weit verzweigt. Tanat hat erzählt, sie hätten Verwandte nicht nur in der benachbarten Eskimo-Siedlung Naukan, sondern auch auf der Insel Großer Diomid und in Alaska. Dass sie Rentierzüchter sind, ist für Eskimos eher die Ausnahme, andererseits versichert Tanat, die gesamte Verwandtschaft väterlicherseits seien eingeborene Tschautschu. Wamtsche ist ein geborener Meeresjäger, etwa vierzig Jahre alt, spottlustig und voller Humor wie übrigens die meisten Tschuktschen.

An einem grasbewachsenen grünen Ufer ließen wir das Boot zurück, luden unsere Siebensachen auf den Schlitten, und zu meiner Verwunderung liefen die Hunde ziemlich schnell los. Die metallbeschlagenen Kufen glitten gut über die feuchte Tundra. Das Nomadenlager sahen wir schon von weitem – zwei weiße Jarangas am steilen Ufer eines kleinen Flusses.

Ach, wie aufgeregt war ich vor der ersten Begegnung mit Tanats Eltern! So war es mir nicht mal vor den Examen ergangen. Tanats Vater Rinto ist zwischen vierzig und fünfzig. Vielleicht auch älter, aber die Tschuktschen in der Tundra zählen die Jahre nicht so genau, und Geburtsurkunden haben sie schon gar nicht. Daher kann man das Alter nur nach dem Aussehen oder nach dem Alter der Kinder schätzen. Tanat hat einen älteren Bruder, Roltyt, der mit Tutyne verheiratet ist. Sie haben Kinder, also sind Rinto und Welwune schon Großeltern. Sohn, Schwiegertochter und Enkel leben in einer eigenen Jaranga. Aber zurück zu Rinto. Für einen Tschuktschen ist er ziemlich groß, seine Gesichtszüge wirken wie geglättet und gemildert mongolid. Dem anthropologischen Typ nach ähneln die Tschuktschen eher der pazifischen Rasse, den Malaysiern, Philippinern. Ich werde mich mit einem Sprachvergleich befassen müssen, wenn ich besser Tschuktschisch gelernt habe. Vermutlich kommen ihre Vorfahren aus dem fernen Süden, aber keineswegs aus China oder der Mongolei. Rinto redet bedächtig, er hat ständig ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Welwune war offensichtlich früher einmal hübsch. Aber ihr Gesicht ist von Tätowierungen gezeichnet – jeweils drei Linien auf jeder Wange und drei Linien am Kinn. Sie ist auch freundlich, verbirgt aber nicht ihre Besorgnis.

Das Schwierigste war, ihnen zu erklären, dass Tanat und ich Mann und Frau sind. Ich war auf alles gefasst und bereit, alle möglichen Angriffe und Vorwürfe abzuwehren. Innerlich hatte ich mich den ganzen Weg über auf diese Schlacht vorbereitet. Doch zu meiner größten Verwunderung äußerten weder Tanats Eltern noch seine Geschwister oder sonst ein Bewohner des Nomadenlagers irgendwelche Gefühle anlässlich der ungewöhnlichen Heirat ihres Stammesverwandten. Am Abend sagte Rinto, ich solle mich nicht zu meinem Mann in einen Polog legen, ehe nicht das unumgängliche Ritual vollzogen sei. Neben der Jaranga schlachteten sie ein Rentier und beschmierten Tanats und mein Gesicht reichlich mit frischem Blut. Es durfte bis zum nächsten Morgen nicht abgewaschen werden. Das war alles. Sie gratulierten nicht mal! Mich tröstet der Gedanke, dass dies nicht einfach Gleichgültigkeit ist, sondern eher die Bereitschaft, beliebige Prüfungen hinzunehmen. Die Menschen der arktischen Tundra ertragen Schicksalsschläge mit stoischer Ruhe und suchen im Rahmen der akzeptierten Umstände einen Ausweg oder eine Möglichkeit, sich der ohne eigene Schuld veränderten Situation anzupassen. Ich denke, die echten Schwierigkeiten liegen noch vor mir.

Nun zu Tanat und mir: Wir sind nicht nur physisch ein Paar. Ich hege für ihn die wärmsten Gefühle, auch wenn ich von Anfang an den Plan hatte, einen tschuktschischen jungen Mann zu heiraten und gemeinsam mit ihm tief in die Tundra-Gemeinschaft einzudringen. Vielleicht kann man es noch nicht wahre Liebe nennen, aber über einen Mangel an Zärtlichkeit seinerseits kann ich mich nicht beklagen. Doch Margaret Meads grundlegende These über die Freiheit der sexuellen Sitten unter den primitiven Völkern trifft wohl nicht zu. Am Kompliziertesten wird es natürlich für mich sein, Kenntnisse über das Intimleben der Tschuktschen zu gewinnen. Was ihre sexuellen Gewohnheiten anbelangt, fällt es mir schwer, darüber nach meinem Mann zu urteilen. So jung und unerfahren er ist, müsste er nach Margaret Meads Theorie doch etwas mehr wissen, müsste seit der Pubertät schon sexuelle Erfahrungen gemacht haben. Diese Jahre fielen allerdings in seine Internatszeit. Auf meine Versuche, das Gespräch konkret auf sexuelle Gewohnheiten und sexuelle Erfahrung zu bringen, errötet mein junger Ehemann wie eine unschuldige Jungfrau und verstummt. Er beantwortet weder direkte noch indirekte Fragen, windet sich und sagt, all das sei ihm peinlich. Aber den jungen Samoanern war es doch nicht peinlich! Vielleicht irrt Margaret Mead? Ich habe versucht, in ihren Tagebüchern und ihrem Buch auch nur eine Andeutung darauf zu finden, dass die jungen Eingeborenen wirklich vor ihren Augen kopuliert haben. Aber alle ihre Behauptungen basieren auf mündlichen Berichten von Samoanern, jugendlichen wie auch erwachsenen. Dabei sind diese Berichte sehr bildhaft und erfindungsreich. Was ich über die physischen Beziehungen zu meinem jungen Ehemann nicht sagen kann.

Natürlich hatte ich von meinem Mann keine besonderen Raffinessen bei der Liebe erwartet. Er ist ja sehr jung und unerfahren. Ich vermutete nur, dass auf diesem Gebiet die gesamte Menschheit gleichermaßen vorgeht. Besonders gefällt ihm der »Tangitan-Kuss«, wie er es nennt.

Zurück zur Jaranga. Natürlich hatte ich eine Vorstellung vom Bau der Nomadenwohnstatt eines tschuktschischen Rentierzüchters. Aber es ist doch etwas ganz anderes, eine Tundra-Jaranga mit eigenen Augen zu sehen und in sie einzutreten. Äußerlich ist die Jaranga eines Rentierzüchters ein unregelmäßiger Kegel – errichtet aus Holzstangen, die sie offenbar fern von hier am Meeresufer als Treibholz finden oder von dorther holen, wo Bäume wachsen. Solche Orte gibt es sogar in der arktischen Tundra, in den vor kalten Winden geschützten Tälern der großen wasserreichen Flüsse. Die Stangen vereinen sich oben zur Spitze des Kegels und bilden nach unten zu gleichsam ein weit auseinander gespreiztes Bündel. Den ganzen Bau, den Bogoras-Tan in seinen Arbeiten Zelt nennt, bedeckt der »Retem« – eine Überdachung aus zusammengenähten Rentierfellen mit kurz geschorenem Haar. Das verleiht der Jaranga ihre weiße Farbe. In diesem Zelt wird durch einen aufgehängten »Fell-Polog« ein Schlafraum abgeteilt, den eine Tranlampe erleuchtet und erwärmt – ein flaches Lämpchen aus besonders weichem, so genanntem Seifenstein. Der Fell-Polog befindet sich weit hinten, an der Rückwand der Jaranga, so entsteht davor ein ziemlich großer Raum – der »Tschottagin«. Tschotschot heißt auf Tschuktschisch Kissen, Kopfende. Diesen Zweck erfüllt hier ein langer, vom steten Gebrauch geradezu polierter Balken. »Tschottagin« heißt wörtlich übersetzt »Raum bis zum Kopfende«. Manchmal ist der Tschottagin ziemlich groß, wie in der Jaranga meines Schwiegervaters, damit man einen zusätzlichen, wenn auch sehr kleinen »Polog« abteilen kann. In diesem Polog liege ich nun beim Schreiben, hinausgestreckt in den Tschottagin und das Heft auf einem Brett des Reiseschlittens. Das Licht, das durch eine Öffnung in der Kegelspitze der Jaranga fällt, reicht völlig aus – hier haben wir gerade die weißen Nächte, die wirklich hell genug sind, dass man schreiben und sogar lesen kann.

Die freien »Taschen« an den Seiten des Pologs dienen als Abstellkammern. Im Tschottagin unserer Jaranga stehen etliche kleine Holzfässer, die offensichtlich nicht von hier stammen, und an horizontalen Stangen hängen »Tschaat« genannte Fangseile, Ledersäcke, Stücke von Dörrfleisch.

An den Geruch im Innern der Jaranga muss man sich gewöhnen, oder man darf nicht darauf achten. Ich weiß nicht, ob mir das gelingen wird, aber anfangs befremdete dieser Duft, er schien mir geradezu unerträglich. Die Hauptsache aber ist – alles erwies sich als einfacher, als leichter. Was das Essen anbelangt, so bin ich seit der Hungerzeit während der Leningrader Blockade über jede Nahrung froh. Man bewirtete mich mit Tundra-Delikatessen – gekochtem frischem Fleisch, einer sämigen, ziemlich scharfen Suppe, zum Nachtisch mit Rentier-Läufen, die man zuerst abknabbern und dann zerhacken musste, um das im Mund schmelzende rosa Knochenmark herausholen. Zum Abschluss tranken wir starken Tee mit Zucker. Jeder legte ein Stück Zucker hinter die Wange und nahm nach etlichen Tassen den Rest wieder heraus. Mein Stück hatte sich gleich nach dem ersten Schluck aufgelöst!

Rinto und seine Frau fanden in dieser Nacht lange keinen Schlaf. Zuerst rauchte der Hausherr der Jaranga lange, während er – in den Tschottagin hinausgestreckt – beobachtete, wie seine neue Schwiegertochter mit einem scharf gespitzten Bleistift etwas in ein dickes Heft schrieb. Was mochte sie da eintragen? Wo nimmt man so viel Worte her, um eine ganze Seite zu füllen?

Die Handlungsweise des Sohnes hatte die Eltern erschüttert. Weder Rinto noch Welwune konnten sich beruhigen, obwohl sie es äußerlich nicht zeigten. Zunächst hatten sie nur erstaunte Blicke gewechselt. Das Einzige, was Rinto dann milder stimmte, war, dass Anna sich bemühte, nicht zu zeigen, wie unwohl und ungemütlich sie sich in der Jaranga fühlte, und dass sie versuchte, nach Möglichkeit tschuktschisch zu sprechen. Sie schrieb zweifellos russisch. Der Unterricht in tschuktschischer Schrift wurde ja gerade erst eingeführt. Der Wanderlehrer Belikow hatte ein Buch herumgezeigt, das im fernen Leningrad entstanden war und in dem auf weißem Papier tschuktschische Worte gedruckt, auch Jarangas, Rentiere, Walrosse und Ringelrobben abgebildet waren – einige Gesichter darin erinnerten sogar an Bekannte. Die Ereignisse, die im ersten tschuktschischen Lehrbuch beschrieben waren, verblüfften, weil sie so alltäglich und sinnlos wirkten. Das primitivste, von Mund zu Mund weitergegebene Zaubermärchen gab mehr Anlass zum Nachdenken als diese gedruckten Sätze.

»Du schläfst nicht?«, fragte Rinto, als er sich in den Polog zurückzog wie ein Einsiedlerkrebs in sein Gehäuse.

»Ich kann nicht einschlafen«, seufzte Welwune. »Ich begreife nicht, warum Tanat das getan hat.«

»Ich denke, das war nicht Tanat, sondern sie.«

»Warum?« Welwune stöhnte fast.

»Mit der Zeit werden wir es sicherlich erfahren. Gewöhnlich heiraten Tangitan-Männer unsere Frauen für die Zeit, da sie in unserem Land arbeiten. Dann fahren sie weg, verschwinden in der Ferne und lassen Kinder und einsame, sich sehnende Frauen zurück. Dass aber einer von uns, ein Luorawetlan, eine Tangitan-Frau hätte…«

»In der Tundra hat es so etwas noch nicht gegeben«, bemerkte Welwune.

»Auch an der Küste habe ich von so einem Fall noch nie gehört. Vielleicht ist das im neuen Leben Brauch?«

»Alle behaupten, ein neues Leben sei im Tschuktschenland eingekehrt«, seufzte Welwune. »Ob die Tangitan jetzt unsere jungen Männer nur mit ihren bolschewistischen Frauen verheiraten werden?«

Ebenso misstrauisch wie neugierig hatte Rinto jeweils zugehört, wenn über die Macht der Armen, die Gleichberechtigung von verschiedenen Völkern, Männern und Frauen gesprochen wurde, doch er war nach Möglichkeit bemüht, sich von all dem fern zu halten, und wenn die Rede von Kolchosen war, mischte er sich in die Unterhaltungen nicht ein.

Seit dem Beginn des großen Krieges aber waren kaum noch Agitatoren für den Kolchos gekommen, nur einmal erschien Tukkai persönlich und bat, für den Fonds »Kampf gegen die Faschisten« dreißig Rentiere zu schlachten. Das Fleisch erreichte natürlich nie die ferne Front. Auf dem langen Weg hätte es verderben können. Also aß es die Kreisobrigkeit, und einige Stücke gelangten auch ins Internat. Doch nach dem Sieg über die Faschisten, die, wie sich herausstellte, ebensolche Tangitan waren wie die Russen, aber Feinde der Bolschewiki, lebten die Gespräche über den Kolchos wieder auf, und Rinto spürte Gefahr. Es kam vor, dass Herdenbesitzern ihre Rentiere weggenommen und als Leiter des jeweiligen Nomandenlagers Besitzlose eingesetzt wurden. Einige Herdenbesitzer wurden in finstere Häuser gesperrt, manche schieden freiwillig aus dem Leben, wer konnte, tarnte sich, wurde zum Schein ein gewöhnliches Kolchosmitglied, aber die Leute wussten schon, wem die Rentiere wirklich gehörten. Etliche wichen, um allen Gefahren zu entgehen, auf karge, bergige, für die Tangitan unzugängliche Weiden aus. Doch auch dort war es unruhig. Um den Tschauner Meerbusen hatte man Lager für Verbrecher gebaut, die im Erzbergbau eingesetzt wurden. Manche Häftlinge flohen aus dem Lager, metzelten die Bewohner von Nomadenlagern nieder und trieben die Rentiere weg, aber früher oder später fielen sie doch der erbarmungslosen Verfolgungsjagd zum Opfer. Sie wurden aus tief fliegenden Flugzeugen wie Wölfe erschossen, und ihre Leichen blieben in der Tundra als Nahrung für Raubtiere.

Die stille und friedliche Zeit für die Tschautschu auf Tschukotka war zu Ende, das begriff Rinto sehr wohl. Er hatte nur noch nicht entschieden, wie er sich selbst retten, wie er die Rentiere erhalten konnte – die Quelle des Lebens für seine Familie. Und nun war sein Sohn zur alten Arbeit der Vorfahren zurückgekehrt. Aber er hatte eine Tangitan-Frau mitgebracht! Da steckte doch was dahinter. Noch nie hatte eine verzärtelte Tangitan-Frau, obendrein eine so junge, schöne, des Lesens und Schreibens kundige, aus freiem Willen das Leben in einer Nomaden-Jaranga in der Tundra gewählt! Am besten wäre, die Frau selbst danach zu fragen, sie verstand ja Tschuktschisch. Aber das würde er lieber morgen tun. Mit diesem Vorsatz sank Rinto in einen kurzen Schlaf.

Als Rinto den Kopf in den Tschottagin steckte, traute er seinen Augen nicht: Im frühmorgendlichen Rauch des offenen Feuers, unter den Sonnenstrahlen, die durch die runde Öffnung bei den oben sich kreuzenden Stangen fielen, hockte, in einem alten, abgetragenen Sommer-Kherker mit Innenfell, Anna Odinzowa und legte sorgfältig Zweige von Tundra-Knieholz unter den hängenden rauchgeschwärzten kupfernen Teekessel. Vom ätzenden Rauch musste sie blinzeln, sie hustete und rieb sich mit dem Fellbesatz des herabgelassenen Ärmels die tränenden Augen. Jetzt hätte diese Tangitan genau wie eine Tschautschu-Hausfrau ausgesehen, wären nicht die goldenen Haare gewesen, die im Licht der Flammen und der durch den Rauch dringenden Sonnenstrahlen glänzten.

»Kakomej!«, sagte Rinto leise verwundert und stopfte seine Morgenpfeife.

Von draußen kam Welwune und warf ein Bündel trockenes Holz auf den Boden des Tschottagins. Das Feuer brannte gleich fröhlicher, der Teekessel begann zu summen.

Das morgendliche Ritual des Teetrinkens verlief in gebührendem Schweigen. Nur hin und wieder tauschten sie kurze Bemerkungen über das Wetter, über die Arbeit im Lager aus. Doch die erstaunliche Veränderung der Tangitan-Frau, ihre Verwandlung in eine Tschautschu aus der Tundra, beschäftigte Rinto unausgesprochen, und nun wusste er nicht, wie er das ernsthafte Gespräch eröffnen sollte, das er sich am Vorabend vorgenommen hatte.

Anna begann von selbst zu reden. »Im Polog habe ich wunderbar geschlafen! Und mir gefällt es hier so, als wäre ich hier geboren!«

Rinto vernahm ihre Stimme und dachte: Kann man einer Tangitan-Frau glauben, dass sie aufrichtig ein so fremdes, schwieriges Los gewählt und auf alle gewohnten Bequemlichkeiten verzichtet hat? Plötzlich huschte ihm ein schrecklicher Verdacht durch den Kopf. Er verlor sogar das Interesse am Tee. Er zog das hinter der Wange noch nicht ganz geschmolzene Zuckerstück aus dem Mund, legte es sorgsam auf die umgedrehte Untertasse und ging aus der Jaranga.

Die aufgehende Sonne versprach einen heißen Tag, und die Hirten trieben die Rentiere zum Nordhang des Hügels, von dem sich weiß eine große Zunge Vorjahrsschnee zum Bach hin erstreckte. Manche Tiere hatten sich schon in den Schatten gelegt, nur die herangewachsenen sorglosen Kälber tollten am Rand des Schneefeldes und wirbelten mit ihren Hufen Schneeklumpen auf. Der Wind war zu schwach, die Mücken zu vertreiben, und Rinto, der an sie gewöhnt war, verjagte nur die aufdringlichsten.

Tanat eilte ihm entgegen. Im weiten Ausschnitt seiner Sommer-Kuchljanka war noch der rote Stoffkragen des Internatshemdes zu sehen.

Sie stiegen zum rauschenden Strom des kleinen Flusses hinab, der nie versiegte, weil er von den Schneemassen auf den hohen Hügeln der Wasserscheide der Tschuktschen-Halbinsel gespeist wurde. Sie setzten sich auf warme Mooskissen der Steine, und Rinto fragte: »Kennst du sie gut?«

Was konnte Tanat antworten? In zwei Wochen lernt man einen Menschen schwerlich kennen, zumal eine Tangitan. Daher entgegnete er vorsichtig: »Sie gefällt mir sehr.« Das entsprach etwa dem russischen Wort für »lieben«.

»Wenn sie dir nicht gefiele, hättest du nicht den Kopf verloren«, sagte der Vater hart und spöttisch. »Was hat sie denn vor in der Tundra?«

»Sie möchte hier leben und zugleich unser Leben kennen lernen.«

»Wozu?«

»Wahrscheinlich, um uns gut verstehen zu lernen und dieses Leben gewissermaßen zu ihrem eigenen zu machen«, antwortete Tanat unsicher.

»Eine Tangitan wird nie freiwillig so leben wollen wie wir«, sagte Rinto grob. »Wenn du’s wissen willst, unsere Lebensweise ist für sie die reinste Strafe. Früher hat der Zar seine aufmüpfigen Untertanen hierher geschickt, heute aber bringen die Bolschewiki ihre Feinde hierher, in Lager, die mit Stacheldraht umzäunt sind, und lassen sie von Bewaffneten bewachen. In der Nähe von Tschaun haben sie schon solche Lager eingerichtet, und die verbannten Tangitan krepieren dort bei der schweren Arbeit in den Steinbrüchen, sterben vor Hunger und Kälte.«

»Aber sie hat es mir so gesagt, und ich glaube ihr.«

»Du glaubst es, weil sie dir gefällt, weil sie unseren Frauen nicht gleicht. Dieses Anderssein hat dich verführt, entfacht deine Manneskraft.«

»Das stimmt nicht, Vater«, versuchte Tanat matt zu widersprechen.

»Ich will dir Folgendes sagen«, fuhr Rinto fort. »Sie hat dich nicht von ungefähr verführt. Durch dich will sie in unser Herz und in unseren Verstand eindringen und uns zum Eintritt in den Kolchos bewegen.«

Tanat musste lächeln. Anna billigte keineswegs alles, was ihre Landsleute nach Tschukotka gebracht hatten. Wenn ihr in früheren Zeiten nur in Dunkel und Unwissenheit gelebt hättet, sagte sie, wie hättet ihr es da geschafft, bis zum zwanzigsten Jahrhundert zu überleben? Warum sollen Balalaika und Harmonika besser zu Tschuktschen und Eskimos passen als eure Schellentrommel? Man müsste nur einen Russen in Wattemantel und Filzstiefeln in die winterliche Taiga schicken – keinen Tag würde er überstehen. Ganz zu schweigen davon, dass die Menschheit noch nichts Zuverlässigeres für Fahrten über die Polarweiten erfunden hat als Hundegespanne. Die großen Arktisforscher Nansen, Peary, Amundsen hatten Erfolg, weil sie das Leben und die Erfahrung der Ureinwohner polarer Länder studiert haben. Warum muss man mit einem Mal alles abschaffen, was in Jahrhunderten erprobt wurde? Ist es nicht so, dass sogar die Mitglieder des Uëlener Kolchos »Morgenrot« nach alter Weise jagen? Wobei an der Spitze jeder Brigade wie vor hunderten von Jahren ein »Ytwermetschyn« steht, ein besonders erfahrener Fischer und Steuermann. Nicht mal den Bolschewiki ist eingefallen zu fordern, dass ein Vertreter der ärmsten Werktätigen das Steuer übernimmt, weil nämlich von dem, der das Fellboot oder die Schaluppe lenkt, das Leben aller abhängt. An der Spitze eines Dorfsowjets aber dulden sie den besitzlosen und dummen Ewjak, denn deine Landsleute wissen sehr gut: Auf diesem Posten wird er keinen großen Schaden anrichten…

»Ich glaube an sie«, sagte Tanat langsam. »Wahrscheinlich verbindet uns das, was die Russen Liebe nennen.«

»Ah, das stammt aus Büchern!«, rief Rinto verwundert. »Hast du etwa beschlossen, künftig nur nach Gedrucktem zu leben? Ich zweifle sehr, dass das gut geht.«

»Wenn dieses starke Gefühl entsteht, kann man es nicht überwinden. Deswegen töten die Tangitan manchmal einander oder scheiden freiwillig aus dem Leben. Ich habe viel darüber gelesen.«

»Mir scheint«, bemerkte Rinto vorsichtig, »was in Büchern geschrieben steht, entspricht nicht immer unserem Leben. Ich bin mir sicher, in den Büchern steht nichts darüber, dass du für Katja Tonto bestimmt bist.«

»Das ist stärker als ich«, sagte Tanat leise.

Tief bestürzt kehrte Rinto in die Jaranga zurück.