Die Suche nach der letzten Zahl - Juri Rytchëu - E-Book

Die Suche nach der letzten Zahl E-Book

Juri Rytchëu

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Jahr 1918 landet Roald Amundsen, unterwegs zum Nordpol, vor der tschuktschischen Küste. Im Polarnebel zeichnen sich die Umrisse einer kleinen Siedlung ab. Wer sind die Bewohner, wie werden sie die Expedition empfangen? Der gemeinsame Winter verändert die Forscher ebenso wie die Einheimischen. Kagot, der Schamane, beginnt zu lesen, zu rechnen, die Maschinen zu öffnen; sein unstillbarer Erkenntnisdrang droht ihn aus der Bahn zu werfen. Amundsen findet in Kagot einen Bruder, mit dem er den Forschergeist teilt – aber auch eine tiefe Schuld. Juri Rytchëu kennt nicht nur Amundsens Tagebücher, sondern auch die Überlieferungen seiner Vorfahren über die seltsamen Fremdlinge. Aus einer Episode der Wissenschaftsgeschichte macht er ein fesselndes Epos über die Begegnung von zwei Zivilisationen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 492

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Im Jahr 1918 landet Roald Amundsen, unterwegs zum Nordpol, vor der tschuktschischen Küste. Im Schamanen Kagot findet er einen Bruder, mit dem er den Forschergeist teilt – aber auch eine tiefe Schuld. Aus einer Episode der Wissenschaftsgeschichte macht Juri Rytchëu ein fesselndes Epos über die Begegnung von zwei Zivilisationen.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Juri Rytchëu (1930–2008) wuchs als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im Nordosten Sibiriens auf und war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zum Zeugen einer bedrohten Kultur.

Zur Webseite von Juri Rytchëu.

Charlotte Kossuth (*1925) war Russisch-Lektorin in Halle/Saale und fast dreißig Jahre lang Verlagslektorin für russische und sowjetische Literatur in Berlin.

Zur Webseite von Charlotte Kossuth.

Leonhard Kossuth (*1923) lehrte am Literaturinstitut in Leipzig und war dreißig Jahre lang Cheflektor für Sowjetliteratur in Berlin. Zudem ist er als Herausgeber, Übersetzer, Literaturkritiker und Publizist tätig.

Zur Webseite von Leonhard Kossuth.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Juri Rytchëu

Die Suche nach der letzten Zahl

Roman

Aus dem Russischen von Charlotte und Leonhard Kossuth

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.

Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die russische Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel Magičeskie čisla im Verlag Sovetskij Pisatel, Leningrad.

Für die deutsche Übersetzung hat der Autor den Originaltext durchgesehen.

Die Übersetzung aus dem Russischen wurde gefördert vom Literarischen Colloquium Berlin mit Mitteln der Stiftung Pro Helvetia.

Originaltitel: Magiceskie cisla (1986)

© by Juri Rytchëu 1984

Karte: © Kümmerly & Frey, Bern

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Ölbild von Creswell (Ausschnitt), Das Schiff von Robert McClure im Packeis

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30453-6

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 21.06.2022, 19:49h

Transpect-Version: ()

DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.

Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.

http://www.unionsverlag.com

[email protected]

E-Book Service: [email protected]

Unsere Angebote für Sie

Allzeit-Lese-Garantie

Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.

Bonus-Dokumente

Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.

Regelmässig erneuert, verbessert, aktualisiert

Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.

Wir machen das Beste aus Ihrem Lesegerät

Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:

Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und Mac

Modernste Produktionstechnik kombiniert mit klassischer Sorgfalt

E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.

Wir bitten um Ihre Mithilfe

Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.

Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags

Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

DIE SUCHE NACH DER LETZTEN ZAHL

Vorwort1 – Amundsen stand an Deck und lauschte dem Dröhnen …2 – Wieder zurück in der Jaranga, sagte Amtyn aufgeregt …3 – Hauptgegenstand der Gespräche in der Messe der »Maud« …4 – Hinter Kap Eppyn dehnte sich, von Eis und …5 – Der leichte Schneefall und der schwache Wind erinnerten …6 – Nach der Abfahrt der großen Handelskarawane verließ als …7 – Die Vorbereitungen zur ersten Winterjagd hatten Kagot schon …8 – Kaljana empfing den Jäger, wie es dem Hausherrn …9 – Kagot wurde früh wach, blieb aber noch lange …10 – Am nächsten Tag begaben sich Terechin, Perschin und …11 – Nach dem Aufbruch seiner Genossen wurde Perschin so …12 – Einige Tage beschäftigte Perschin Kagots Bekenntnis. Er ertappte …13 – Perschin und Olonkin halfen Sundbeck, einen Tisch und …14 – Eine Woche darauf begann das neue Jahr, 1920 …15 – Kagot willigte nicht sofort ein, aufs Schiff überzuwechseln …16 – Immer besser begriff Kagot die hohe Wissenschaft …17 – Auf den gefrorenen Erdboden der Jaranga fiel feiner …18 – Kagot musste zum hohen Ufer, wo die Jarangas …19 – Amundsen betrachtete seine Aufzeichnungen vom Vortag: »17. Januar …20 – Heute werde ich Sie unterrichten«, verkündete Sundbeck am …21 – Kagot stieg aufs Eis hinab und ging langsam …22 – Die zur Begrüßung Versammelten rätselten laut, wer das …23 – Zu Kagots Verwunderung hatte Ainana kein bisschen Angst …24 – Sundbeck und Amundsen sagten Kagot mit tiefernster Miene …25 – Kagot erwartete die Gäste in der Messe …26 – Zwei Tage später beschloss Kagot, der Siedlung einen …27 – Während der Frühling nahte und es wärmer wurde …28 – Zur festgesetzten Stunde versammelten sich alle Expeditionsmitglieder an …29 – Der Frühling 1920 am Ufer der Tschaunbucht war …30 – Kommst du für immer an die Küste zurück?« …31 – Als Kagot erwachte, schlug er erschrocken die Augen …32 – Das Eis war so dünn geworden, dass es …EpilogNachweisePersonen- und Worterklärungen

Mehr über dieses Buch

Über Juri Rytchëu

Juri Rytchëu: Der stille Genozid

Eveline Passet: Juri Rytchëu – Literatur aus dem hohen Norden

Leonhard Kossuth: Wo der Globus zur Realität wird

Über Charlotte Kossuth

Über Leonhard Kossuth

Andere Bücher, die Sie interessieren könnten

Bücher von Juri Rytchëu

Zum Thema Russland

Zum Thema Arktis

Zum Thema Ethnologie

Vorwort

In einem malerischen Randbezirk der königlich dänischen Hauptstadt gibt es ein »Haus des Grönländers«. Das ist ein Hotel, aber zugleich ein Wohnheim und eine billige Kantine, wo jeder, der von der eisigen Insel kommt, für lächerliches Entgelt wundervollen Lachs sowie nach Eskimo-Art gekochtes Robbenfleisch erhalten und sich mit Landsleuten treffen kann, die ihr Weg ebenfalls nach Dänemark geführt hat. Bei einem Aufenthalt in Kopenhagen besuchte auch ich dieses gastliche Haus – hier sollte ich einen Vortrag mit Farbdias halten, die ich in der tschuktschischen Siedlung Nowotschaplino aufgenommen hatte.

In einer Vortragspause holten die Hausherren Trommeln hervor, sangen alte arktische Lieder, und schon lebten in meiner Erinnerung die eisigen heimatlichen Küsten wieder auf, meinte ich zu hören, wie der Wind in ufernahen Eisschollen, um vereiste Berggipfel und durch Flusstäler pfiff, wo das Wasser über nie tauenden Grund strömte.

Die Menschen des Nordens zieht es erstaunlich zueinander, und wenn sie sich begegnen, verhalten sie sich wie Verwandte, wie Brüder, die sich lange nicht gesehen haben.

Ich war schon im Begriff zu gehen, als plötzlich eine junge Frau auf mich zukam, deren Gesicht anzusehen war, dass sie aus der Gegend des Polarkreises stammte. Um ihren Hals trug sie an einer dünnen Goldkette einen Talisman – einen aus Walrossbein geschnitzten Frauenkopf.

»Verzeihung«, sagte sie verlegen, »ich wollte Ihnen etwas schenken.« Sie reichte mir einen aus ebensolchem Walrossbein geschnitzten Eskimo-Jagdkajak mit einem darin sitzenden Figürchen. »Zur Erinnerung an meinen Großvater, an die Heimat meiner Vorfahren«, sagte sie und fügte hinzu: »Meine Mutter wurde auf Tschukotka geboren, aber Roald Amundsen hat sie noch als kleines Mädchen nach Norwegen und dann hierher, nach Kopenhagen, in die katholische Mission gebracht …«

»Kagots Tochter!«, fiel mir ein.

»Ja, meine Mutter war Kagots Tochter«, bestätigte die Frau. »Ihr europäischer Name war Mary, in der Heimat aber hieß sie Ainana … Sie ist schon lange tot. Das hier ist unserer Familie als Erinnerung geblieben. Mutter hat gesagt, die kleine Gestalt stelle meinen Großvater dar.«

Ich sah mir das Schnitzwerk genauer an. Das Gesicht des Jägers war sorgfältig ausgearbeitet und erinnerte offenkundig an einen bestimmten Menschen, einen Bewohner der Tschuktschen-Halbinsel.

Seltsam, wie eng sich manchmal die Geschicke von Menschen verflechten, die auf den ersten Blick nichts verbindet und die einander so gar nicht gleichen! Wer konnte ahnen, dass der berühmte Polarforscher, der den Südpol und die Nordwestpassage bewältigt und als Erster den Nordpol überflogen hatte, dass der große Norweger Roald Amundsen und ein tschuktschischer Schamane sich in den eisigen Weiten treffen und ein Stück ihres Lebens teilen würden!

Kagot … Ich habe viel von ihm gehört und meine, dass es an der Zeit ist, von ihm und seiner Begegnung mit Amundsen zu erzählen, von der großen und komplizierten Zeit Anfang unseres Jahrhunderts, als auch schon das Wetterleuchten der Revolution von 1917 heraufzog.

1

Amundsen stand an Deck und lauschte dem Dröhnen der Maschine. Die »Maud« arbeitete sich langsam, gewissermaßen tastend voran, brach mit dem Heck laut prasselnd das junge, von frisch gefallenem Schnee überpuderte Eis.

Zunächst bot die Küste einen öden, ungastlichen Anblick. Die Aussicht auf ein neues Winterlager an solch menschenfernem, unbelebtem Ort hatte etwas Trostloses. Doch drei Hügel, die Amundsen schon durchs Fernrohr betrachtet und beinahe für Steinhaufen gehalten hätte, erwiesen sich als Jarangas, tschuktschische Wohnstätten. Rauchsäulen über den spitzen Dächern zeugten davon, dass sie bewohnt waren.

Aus tief hängenden Wolken fiel schwerer, feuchter Schnee – wie ein Vorhang verdeckte er allmählich das Küstenpanorama. Es gab aber keinen Grund, sich zu beklagen: Für den 24. September 1919 war die Eissituation hier durchaus erträglich. Vielleicht lag das an der starken Ostströmung, die immer wieder große Felder neu gebildeten Eises von der Küste losriss und ins offene Meer hinaustrug.

Es wurde schnell dunkel. Die elektrische Laterne am Mast erfasste nur einen dichten Schleier fliegenden Schnees. Amundsen befahl, die Maschine zu stoppen und den Anker zu werfen. In dieser Finsternis war es sinnlos, mit den Eisschollen zu kämpfen.

Bevor der Leiter der norwegischen Polarexpedition die Kajüte betrat, schüttelte er sorgsam den an seiner Kleidung klebenden feuchten Schnee ab – bemüht, nicht an das bevorstehende Winterlager zu denken. Doch wie sehr er den Gedanken daran verdrängte – einen anderen Ausweg gab es nicht. Der zweite Winter erwartete sie schon an der Küste Russlands, eines Landes voller Rätsel, voller unbegreiflicher Vorgänge, von denen die »Maud« nur lückenhaft Kunde erhielt.

Ein langer Weg lag hinter der Expedition – vom heimatlichen Kristiania, um Skandinavien herum, durch die Meerengen, die die Inseln des Eismeers vom Festland trennten, zu den Küsten von Taimyr, der nördlichsten Halbinsel Asiens. Den ersten Winter hatte die »Maud« unweit des Dorfes Chabarowo verbracht – in der Hoffnung, im nächsten Sommer zur Beringstraße durchzukommen und so eine polare Weltumschiffung zu vollenden, was bisher noch niemandem gelungen war.

Man sollte meinen, es wäre genug Ehre und Ruhm für einen Menschen, dass er die Nordwestpassage und den Südpol bezwungen hatte. Doch der Nordpol … Noch nie war es einem Menschen gelungen, beide Pole des Planeten zu betreten. Vor allem aber lockte der kühne, noch nicht verwirklichte Plan, den ein anderer großer Norweger, Fridtjof Nansen, erarbeitet hatte: sich im Eis nördlich der Beringstraße einfrieren zu lassen und so bis zum Pol zu driften. Eigens dafür war das neue Expeditionsschiff »Maud« gebaut worden, dessen Konstruktion in vielem der berühmten »Fram« glich.

Nachdem Amundsen die letzten Schneereste abgeschüttelt hatte, betrat er die Offiziersmesse, einen nach Schiffsmaßstäben ziemlich großen Raum. Dort war es warm und gemütlich. An der Wand hingen Fotos, die aus der »Fram« übernommen waren. Hier befanden sich auch Geschenke des Königspaars an die Expedition aus dem Jahr 1910, darunter ein silberner Becher, der auf einem schönen Schränkchen stand. Bei der Luke zum Maschinenraum prangte ein Grammophon, das nach festgelegter Ordnung nur einmal in der Woche spielte – sonnabends, damit das Erlebnis nichts von seinem Reiz verlor. Erzeugt doch nichts so schnell Überdruss wie die endlose Wiederholung eines Vergnügens. Der Fußboden der Messe war mit Linoleum ausgelegt, darüber waren Kokosmatten gebreitet.

Hier, in dieser Offiziersmesse, an diesem großen Tisch unter der Hängelampe, hatte das letzte Gespräch mit Tessem und Knutsen stattgefunden, ehe sie von Bord gingen. Das war vor etwa einem Jahr gewesen, am 4. September 1918, und bis jetzt hatten sie nichts von ihnen gehört. Was war mit ihnen? War es ihnen gelungen, die zivilisierte Welt zu erreichen, oder streiften sie noch immer durch die unermesslichen Weiten des von Revolution und Bürgerkrieg erfassten russischen Nordens?

Rasch verschlang der Expeditionsleiter ein leichtes Abendessen und begab sich in seine Kajüte. Kaum lag sein Kopf auf dem Kissen, versank er in tiefen, traumlosen Schlaf.

Der nächste Morgen war etwas klarer als der vorangegangene. Jedenfalls hatte der gar zu lästig gewordene Schneefall aufgehört, und hin und wieder blickte aus den aufgerissenen, wild über den Himmel jagenden Wolken eine winterliche, nicht mehr wärmende Sonne. Die »Maud« stand dicht am Küsteneis, und auf dem höher gelegenen Ufer sah man jetzt deutlich drei Jarangas mit einigen menschlichen Gestalten davor.

Offensichtlich hatte das Auftauchen eines unbekannten Schiffs die Aufmerksamkeit der Bewohner dieser winzigen Siedlung geweckt. Aber noch kam niemand auf die »Maud« zu – entweder hatten sie Scheu vor den Unbekannten, oder das Eis trug sie noch nicht.

»Sieht ganz so aus, als wollten sie uns nicht besuchen«, sagte Amundsen. »In diesem Fall gebietet es die Höflichkeit, dass wir ihnen als Erste einen Besuch abstatten.«

Sie warfen das Fallreep und ließen sich behutsam aufs Eis hinab. Voran ging Gennadi Olonkin, ein russischer Expeditionsteilnehmer, der sich ihnen auf Nowaja Semlja angeschlossen hatte, dahinter Hansen, und als Letzter stapfte Roald Amundsen. Das Eis krachte bedrohlich unter ihren Füßen, auf dem weißen Schnee, der die zugefrorene Oberfläche des Meeres überpuderte, bildeten sich Risse. Ein Aufschrei ließ Amundsen sich umdrehen. Unter Hansen war das Eis gebrochen, und nur eine schnelle Reaktion – er konnte noch beiseitespringen – verhinderte, dass er im Eismeer versank.

»Haltet größeren Abstand!«, befahl er.

»Seht nur, wie viel Schwemmholz!« Hansen zeigte auf Bruchstücke von Stämmen, die unterm Schnee hervorragten, bisweilen waren es auch ganze Bäume mit Resten von Wurzeln und Ästen. Von gewaltigen Flüssen aus der unermesslichen sibirischen Taiga ins Meer getragen, hatten sie einen weiten Weg zurückgelegt, ehe die Strömung sie hier anspülte.

»An Holz werden wir jedenfalls keinen Mangel haben«, bemerkte Amundsen.

Als sie fast am Ufer waren, lösten sich von den Jarangas zwei Menschen und kamen ihnen entgegen.

Sie waren ziemlich groß für die Einheimischen, trugen warme, ordentliche Kleidung und lächelten freundlich.

»Ettyk! – Seid gegrüßt!«, riefen sie fast gleichzeitig.

Als Amundsen und seine Gefährten ihnen die Hände entgegenstreckten, streiften sie bereitwillig ihre warmen Renfell-Handschuhe ab und schüttelten mit sichtlichem Vergnügen die Hände der Gäste.

Die Küste war ziemlich steil, und zu den Jarangas mussten sie vorsichtig hochsteigen – sie konnten leicht abrutschen und sich auf dem Eis des Meeres wiederfinden.

Die Hausherren führten die Gäste in eine Jaranga.

Eine so geräumige Wohnstatt hatten die Reisenden in dieser Gegend noch nie gesehen. Ihr Durchmesser war fast fünfzig Fuß, und an der Stelle, wo durch den Rauchabzug der Himmel hereinschaute, betrug die Höhe sicherlich fünfzehn Fuß. Alles im Innern war solide und fest und zeigte, dass die Bewohner keine Nomaden waren, sondern ständig hier lebten, vielleicht gehörten sie gar zu den Ureinwohnern dieses Landes.

Die Jaranga war in mehrere Räume unterteilt. Der vordere war der kalte Teil, der Tschottagin, wo man Gäste empfing und ein fröhliches Feuer brannte, für das hier offenkundig nicht mit Brennholz gespart wurde. Im Hintergrund sah man den aus erlesenen Renfellen genähten Schlaf-Polog. Daraus blickten zwei Kinder und eine Frau auf die Gäste.

Der ältere Mann, offenbar der Hausherr, ordnete in seiner Sprache etwas an, und vor den Gästen, die sich auf einem als Sitz dienenden Walwirbel niedergelassen hatten, erschien ein aus einem ganzen Holzstück geschnitzter flacher Trog. Dahinein legte die Frau gekochtes Renfleisch aus dem über dem Feuer hängenden Kessel.

»Ich heiße Amtyn«, erklärte der Hausherr, als jeder Gast ein Stück Fleisch verspeist hatte, »und er Kagot.« Er wies auf den zweiten Mann, der schweigend und konzentriert an seinem Fleisch kaute.

Amundsen tippte sich seinerseits auf die Brust und sagte: »Ich heiße Amundsen, und meine Gefährten Hansen und Olonkin.«

»Warum seid ihr mit dem Schiff so spät gekommen?«, sagte der Mann, der als Kagot bezeichnet worden war, und Amundsen antwortete vor Verwunderung nicht sofort. Dass er hier in dieser Eiswüste einen Mann treffen würde, der Englisch sprach, hatte er nicht gedacht.

»Verzeihung«, sagte er, und obwohl er begriff, dass seine Frage dumm war, erkundigte er sich für alle Fälle: »Sie sprechen Englisch?«

»Ja«, antwortete Kagot. »Allerdings nicht sehr gut.«

»Ich finde, nicht schlecht«, sagte Amundsen anerkennend. »Wo haben Sie es denn gelernt?«

»Ich bin auf einem amerikanischen Schoner gefahren.«

Amundsen betrachtete das Gesicht des Einheimischen genauer. Jetzt sah er, dass der Mann ziemlich jung war – nur wegen seiner dunklen Gesichtsfarbe wirkte er älter. Die Hiesigen verlieren nie die Frostbräune, zu der im Sommer noch die Bräune von der nie untergehenden Sonne kommt. Der Blick des Mannes war sehr ernst und forschend, und Amundsen war es peinlich, dass er, statt auf die ihm gestellte Frage zu antworten, selbst Kagot ausfragte.

»Wir sind auf einer wissenschaftlichen Expedition durch die Nordwestpassage. Das ist eine große Route, angetreten haben wir sie schon im vergangenen Jahr an der Küste unserer Heimat, das ist Norwegen«, sagte Amundsen, zweifelte jedoch, ob ihn die Einheimischen verstünden.

Die aber lauschten aufmerksam dem, was Kagot ihnen übersetzte.

Amundsen konnte sich nicht daran gewöhnen, dass ein Jaranga-Bewohner Englisch verstand, Englisch sprach, und das verunsicherte ihn, obwohl er begriff, dass daran nichts Übernatürliches war.

»Zu dieser späten Jahreszeit kommen gewöhnlich keine Schiffe hierher«, sagte Kagot zu Amundsen.

»Wir wollten in diesem Sommer die Beringsee erreichen, haben es aber nicht geschafft«, sagte Amundsen betrübt. »Wir müssen hier überwintern … Sagen Sie, ist es von hier weit zu anderen Siedlungen?«

»Ja«, entgegnete Kagot und setzte hinzu: »Aber bald werden Händler hier vorbeikommen. Die einen fahren von der Kolyma nach Uelen, andere in umgekehrter Richtung. Dieser Verkehr beginnt, sowie der Schlittenweg fest ist, das Küsteneis sicher und die Flussmündungen zugefroren sind.«

Die Gäste vom Schiff wechselten Blicke.

»Wir müssen wissen, ob es hier eine Funkstation gibt«, sagte Hansen.

»Ist hier in der Nähe eine Funkstation?«, fragte Amundsen, obwohl er nicht sicher war, dass Kagot ihn richtig verstehen würde.

Doch nachdem dieser einige Worte mit Amtyn gewechselt hatte, sagte er: »Funk kann es in Nishnekolymsk geben, das ist westlich von uns. Oder auch in Nowomariinsk, in der Anadyr-Mündung …«

Amtyn sagte noch etwas, und Kagot setzte hinzu: »Da gibt es auch eine Kirche, falls Sie Verbindung zu Ihren Göttern aufnehmen möchten.«

Amundsen lächelte: »Vorläufig brauchen wir das nicht … Wir würden gern wissen: Hätten Sie und Ihre Nachbarn etwas dagegen, wenn wir den Winter über hierblieben?«

»Sie können bleiben, wo es Ihnen gefällt«, antwortete Amtyn über Kagot. »Wählen Sie sich einen beliebigen Ort am Ufer. Im Winter ist es hier still, das Eis ist fest, starke Verschiebungen gibt es nicht.«

Das Mahl endete mit Teetrinken. Während des Männergesprächs tat die Frau nichts anderes, als ihnen Speisen vorzulegen, und die Kinder verfolgten mit höchster Aufmerksamkeit, wie sich die unerwarteten Gäste benahmen, sie beobachteten jede ihrer Bewegungen. Zwar sahen sie nicht zum ersten Mal Fremdlinge vom Meer, aber jeder Besuch war für sie ein großes Ereignis, von dem sie dann noch lange sprachen und sich jede Einzelheit in Erinnerung riefen.

»Sie behaupten also, dass bald Reisende hier vorüberkommen werden?«, fragte Amundsen, nachdem er die Ehrengästen vorbehaltene große Porzellantasse, die offenbar aus China stammte, geleert hatte.

»Das wird sehr bald sein«, antwortete Kagot.

»Erfahren Sie, was in Russland vor sich geht?«, erkundigte sich Olonkin.

Als Amtyn die Frage vernommen hatte, ließ er sich lange über irgendetwas aus.

»Wir können die Tangitan, die Fremdlinge, nur schlecht unterscheiden. Zum Beispiel – wer Russe und wer Amerikaner ist«, sagte Kagot endlich. »Aber wir haben gehört, der Sonnenherrscher ist gestürzt.«

»Hat es bei euch in Verbindung damit irgendwelche Veränderungen gegeben?«, wollte Olonkin wissen.

Kagot sagte fest: »In unserem Leben hat sich nichts verändert.«

»Gibt es denn hier keine Vertreter der Macht?«, fragte Amundsen. »In Uelen soll es einen Landpolizisten oder auch einen Kreispolizeichef gegeben haben, jedenfalls vor meiner Abfahrt von Kristiania. Das hat man mir in der russischen Botschaft gesagt.«

»Uns ist davon nichts bekannt«, antwortete Kagot.

Nach dem Tee machten sich die Gäste auf den Rückweg. Amtyn und Kagot begleiteten sie bis zum Abstieg aufs Eis. Hier verabschiedeten sie sich, und die Fremdlinge schritten vorsichtig über das dünne junge Eis zu ihrem Schiff.

2

Wieder zurück in der Jaranga, sagte Amtyn aufgeregt zu Kagot: »Die Meeresgötter haben uns Glück gesandt.«

Verwundert sah Kagot ihm ins Gesicht.

»Ja, ja, das ist ein großes Glück!«, wiederholte Amtyn. »Das ist sogar mehr, als wenn uns ein Wal an Land gespült worden wäre! Unvorstellbar, dass bei unserem Eppyn ein fremdländisches Schiff, vollgestopft mit allerlei Waren, überwintern würde! Schade, dass ich nur wenig Rauchwerk habe! Warum nur habe ich die Polarfüchse vom Vorjahr Kibisow gegeben!«

»Wer ist denn Kibisow?«, fragte Kagot.

»Es gibt hier so einen Mann«, antwortete Amtyn. »Aber warum freust du dich denn nicht?«

»Sie sehen nicht aus wie Händler«, sagte Kagot nachdenklich.

»Warum denkst du so? Gibt es denn Fremdlinge, die nicht handeln?«, fragte Amtyn verwundert. »Sogar ihr Schamane, der russische Pope, der vor fünf Jahren hier mit einem Zug Hundegespanne durchgefahren ist, hat mir für ein Bündel Blatttabak drei Blaufuchsfelle abgehandelt!«

Amtyn betrachtete Kagot. Ein sonderbarer Kerl war der! Aufgetaucht war er hier gegen Ende des Winters auf einem einsamen Schlitten – mit Zughunden, die von der langen Fahrt völlig erschöpft waren. Er hielt an der Jaranga, und Amtyn, der ihn begrüßen kam, bemerkte unter dem Wust alter Renfelle nicht sogleich ein Kind – ein ungefähr fünfjähriges Mädchen.

Hier war es nicht üblich zu fragen, wer einer war und warum er kam. Wenn nötig, würde er schon von sich berichten. Die ersten Tage schwieg Kagot. Amtyn brachte ihn bei seiner Verwandten Kaljana unter, einer jungen Witwe, die ein Jahr zuvor ihren Mann verloren hatte. Insgeheim dachte er sogar, die Götter hätten einen Mann geschickt, damit die junge Frau nicht allein bliebe.

Einige Tage darauf, als Kagot sich ein wenig erholt und eingelebt hatte, ging er auf Jagd, machte sich an die althergebrachte Männerarbeit. Interesse an Kaljana zeigte er jedoch nicht, soweit Amtyn aus Gesprächen mit seiner Frau urteilen konnte.

Im Sommer fuhr Kagot zusammen mit Amtyn in einem kleinen Fellboot auf Jagd. Im Herbst schossen sie auf der kieselbedeckten Landzunge hinter der schmalen Meerenge, die die flache Lagune mit dem Meer verband, Walrosse. Dort legten sie auch einen soliden Vorrat von Kopalchen für die Hunde und für sich selbst an – Nahrung für den Winter.

Nach und nach erhielt Amtyn durch Kagots karge Berichte Einblick in das Leben dieses Mannes, der seine ferne Siedlung Inakul verlassen hatte. Dort lebten Tschuktschen und Eskimos gemeinsam, und dort war auch Kagot geboren – von einer Eskimofrau, der Vater aber war Tschuktsche, ein Jäger zur See.

Kagots Kindheit war schnell und unbemerkt verronnen. Angenehme Träume und selige Visionen waren von ihr geblieben – Erinnerung an sorglose, glückliche Tage.

Als kleiner Junge spielte er gern allein und tauchte dann in eine bizarre, von seiner Einbildungskraft geformte Welt, wo er unbegrenzte Macht besaß und ein reicher Rentierzüchter mit unübersehbaren Herden sein konnte, ein erfolgreicher Jäger, der einen riesigen Grönlandwal harpuniert, oder ein bärenstarker Mann, der fähig ist, sich einen Uferfelsen auf die Schultern zu laden und ihn an einen anderen Ort zu versetzen. Er verwandelte sich in den legendären Riesen Pitschwutschin, durchschritt Meere und Ozeane, ohne dass ihm sogar Sturmwellen etwas anhaben konnten – sie nässten höchstens den unteren Fellsaum seiner Kamlejka. Einen ganzen Tag lang konnte er in dieser seiner Welt verweilen, bevor er voll Bedauern in die Wirklichkeit zurückkehrte, in den die Nase reizenden Rauch der Jaranga, auf das harte Lager aus altem, stellenweise schon kahlem Renfell. In seiner Abgeschiedenheit tauchte Kagot nicht nur in die Welt der Träume, sondern auch in eine erschreckende Welt von Fragen, auf die er keine Antwort fand: Warum folgt auf den Sommer so schnell ein kalter Winter? Woher kommt an dieser Küste der Mensch? Was ist dort, hinterm Horizont? Wie weit ist es bis zu den Ländern, aus denen die Schiffe kommen – beladen mit absonderlichen Waren und mit dem von den Erwachsenen so heiß ersehnten, mit blauer Flamme brennenden Feuertrank? Vielleicht werden diese Leute auf ihren Schiffen geboren und sterben da auch, und das schwimmende, ewig das Wasser durchpflügende Schiff ist ihre Erde, ihre Heimat? Bereits in Kinderjahren begriff Kagot, dass die Erklärungen, die die alten Überlieferungen und Legenden für die Umwelt und die geheimnisvollen Naturerscheinungen liefern, nicht überzeugend sind und oft dem gesunden Menschenverstand widersprechen. 

In Inakul hatte ein Mann gelebt, von dem es hieß, er wisse alles. Das war ein noch kräftiger, wenn auch scheinbar von einer übermenschlichen Last gebeugter alter Mann, schweigsam, düster und rätselhaft. Man sagte, Amos habe sich das Rückgrat gebrochen, als er von einem hohen Felsen fiel. Einige Tage in völliger Einsamkeit liegen geblieben, habe er dennoch überlebt, obwohl hungrige Polarfüchse seine Kleidung zerfraßen und sogar seine Hände für immer die Spuren ihrer Bisse bewahrten.

Amos war ein Heilkünstler, ein Enenylyn, ein Schamane. Dieser Mann weckte Kagots größte Neugier.

Als Kagot herangewachsen war, wandte er sich – Scheu und Angst überwindend – oft mit Fragen an Amos, suchte die Ursachen für unbegreifliche Naturerscheinungen und unklare Wünsche, die ihn bestürmten, zu ergründen. Der Schamane, dem der wissbegierige junge Bursche auffiel, bemühte sich, ausführlich zu antworten, aber seltsamerweise weckten seine Antworten nur eine Vielzahl neuer Fragen.

Zu diesen Fragen kam das Interesse für die Frau, für das Geheimnisvolle, das den Mann zu ihr hinzieht. Aber gerade in dieser Zeit geschah etwas, was Kagot für lange Zeit von der heimatlichen Küste wegführte. Nach Inakul kam der kleine Schoner »Belinda«, und der Kapitän fragte die jungen Männer, wer von ihnen bereit sei, bis zum Winter auf dem Schiff mitzufahren. Der Wunsch, zu sehen, was hinterm Horizont vor sich ging, war bei Kagot besonders stark, und er willigte ein, trotz seiner Furcht vor dem Unbekannten. Er ging auf das Schiff, begleitet von den Tränen der Mutter und den finsteren Blicken seiner Dorfnachbarn; noch nie hatte jemand aus dieser kleinen Küstensiedlung sich auf so etwas eingelassen, noch nie hatte jemand die vertraute Jaranga verlassen.

Drei Jahre hintereinander ließ sich Kagot auf der »Belinda« anheuern, und jeden Herbst kehrte er mit einem Haufen Verdientem zurück – das Wertvollste davon waren eine Winchesterbüchse und ein Barometer, mit dessen Hilfe man das Wetter vorhersagen konnte.

Die »Belinda« befasste sich mit Schmuggel, kaufte bei der Küstenbevölkerung illegal Rauchwerk. Einmal wurde sie jedoch von einem russischen Patrouillenschiff aufgebracht. Sie wurde nach Wladiwostok abgeschleppt, Kagot aber setzten sie in seinem heimatlichen Inakul an Land.

Damals kam Amos von selbst zu ihm. Am ersten Abend sagte er nichts, trank nur mit Genuss frischen Tee und rauchte eine Pfeife aromatischen Tabak aus einer Blechdose, auf der ein Mann mit einem hohen, eimerähnlichen Kopfputz abgebildet war. Tags darauf sagte er, für Kagot sei es Zeit zu heiraten, und empfahl ihm seine Nichte Waal. Kagot sah sich das Mädchen an, das er noch als kleines Kind in Erinnerung hatte, und blieb in deren Familie. Diese hatte keine Söhne, und Kagot wurde nicht nur Waals Mann, sondern auch der Hausherr in der Jaranga.

Eines Tages rief Amos ihn zu sich.

Kagot betrat den halbdunklen Tschottagin. Nach hinten begrenzte ihn schwarz die Fellwand des Schlaf-Pologs. Ein kleines Feuer beleuchtete mit seiner Flamme das faltige, der Rinde eines alten Baumes ähnelnde Gesicht des Schamanen, der auf einem Walwirbel saß.

»Ich habe dich gerufen, Kagot, um dir Wichtiges zu sagen«, begann Amos nach langem Schweigen. Die Flamme des Feuers spiegelte sich in seinen Augen. »Ich habe dich gerufen, um dir zu erklären: Ich will dir meine Schamanenkraft übereignen.«

»Amos!«, rief Kagot, verstummte jedoch, als er eine warnende Geste des Schamanen bemerkte.

»Höre!« Durch Amos’ Mund schien ein anderer Mensch zu sprechen, vielleicht sogar ein anderes Wesen. Diese sonderbare Empfindung ergriff sogleich von Kagot Besitz, und sie ließ ihn nicht wieder los bis zum Ende seiner Unterweisung in der Kunst des Heilens, des Weissagens und dergleichen wichtiger Beschäftigungen, und manchmal schien es ihm, er würde nie wieder ins Alltagsleben zurückfinden.

Arme Waal! An ihren erschrockenen Augen sah Kagot mehr als einmal, wie betroffen sie von seinem seltsamen Verhalten war, von den schlaflosen Nächten, von den unbegreiflichen Gesängen im Morgengrauen beim totenähnlichen Glanz des Mondes und den Jubelschreien beim Aufleuchten des Polarlichts. Er verschwand in die zufrierende Tundra und kam abgerissen, vor Hunger entkräftet und mit eingefallenen, entzündeten Augen zurück – in den Mundwinkeln angebackenes schwarzes Blut und unfähig, ein gewöhnliches Menschenwort auszusprechen … Oder er weckte sie nachts und ergriff von ihr wie von heißem Feuer durchglüht Besitz, stöhnend und an unbegreiflichen Tränen und Schluchzern würgend.

Mitunter verlor Kagot tatsächlich den Verstand, und wenn er wieder zu Bewusstsein kam, fürchtete er, sich umzusehen, sich wirklich in eine gespenstische Welt versetzt zu finden – voll von unbegreiflichen Kräften, die er zu verstehen suchte und die seine Handlungen lenkten.

Mitunter versenkte er sich zusammen mit Amos in übersinnliche Rituale, erschütterten sie die Jaranga mit Trommelgedröhn und Gesängen, unterbrochen von tierischem Geheul, Vogelstimmen, dem Echo fernen Steinfalls, dem Getöse strömenden Wassers, dem Krachen aufeinanderstoßender Eisschollen. Alle diese Klänge drangen aus dem dunklen Polog, wo die Tranlampe gelöscht war und sich außer den verschwitzten, müden Männern niemand befand. Verwundert entdeckte Kagot, dass ihm dieser Zustand der Wesensverwandlung gefiel, dass es ihm Genugtuung bereitete, gleichzeitig Tier und Mensch zu sein, ein Sonnenstrahl, ein kalter Wind und ein heißes Feuer. Das festigte in ihm das Bewusstsein, ein besonderer Mensch zu sein, auserwählt von den großen Göttern und unsichtbaren Kräften, um mit einer Welt zu kommunizieren, die den Blicken gewöhnlicher Leute verborgen ist. Jene Kräfte befanden sich außerhalb des Menschen und wurden daher Äußere Kräfte genannt. Sie wirkten durch die von ihnen Erwählten, sandten ihnen durch Stimmen, die einfache Menschen nicht hörten, ihre Offenbarungen. Bisweilen vernahm Kagot solche Offenbarungen, die nicht einmal den erfahrenen Amos erreichten. Zuerst schien es Kagot, als sei das nur ein Traum. Aber es geschah immer öfter, und schließlich musste er sich Amos anvertrauen und ihn fragen, was das bedeute.

»Das bedeutet, du bist vom Schicksal auserwählt«, sagte Amos mit müder, erloschener Stimme. »Nun ist die Zeit gekommen, da ich mich emporschwingen muss und diese Welt für immer verlassen.«

»Du bist doch nicht krank, deine Kräfte haben nicht nachgelassen«, bemerkte Kagot zweifelnd.

Der alte Mann sah für seine Jahre nicht schlecht aus. Die vielstündigen, erschöpfenden Beschwörungsrituale schienen seine Kräfte nur zu stärken. Nach einer Weile Selbstvergessenheit erhob sich der Schamane jedes Mal wieder munter und erfrischt.

»Nein, meine Zeit ist gekommen«, sagte Amos leise, aber fest. »Du bist an meine Stelle getreten, und ich muss gehen. Zwei große Schamanen können nicht gleichzeitig auf Erden leben.«

»Ich kann mich doch mit etwas anderem befassen«, wandte Kagot ein, »ich kann jagen wie andere aus unserer Sippe.«

»Du kannst gegen dich nichts mehr machen«, sagte Amos seufzend. »Du bist auserwählt und hast nicht die Kraft, dich dem Schicksal zu widersetzen, so wie ich nicht dem Willen jener zuwiderhandeln kann, die mich fortrufen aus dieser Welt … Doch ich bin froh, dass ich dich unter den Menschen zurücklasse, ich vertraue dir meine Angehörigen an und bin sicher, dass du für sie sorgen wirst. Und außerdem: Du wirst mich nach altem Brauch töten, und das bedeutet, mein Weg wird leicht sein, ohne überflüssige Leiden.«

Die letzten Worte griffen Kagot ans Herz, er hatte gedacht, Amos würde eines natürlichen Todes sterben. Kommt es nicht vor, dass ein Mensch lebt und lebt, als stünde alles gut, eines Morgens aber ist er schon nicht mehr, das heißt, was ihn in der hiesigen Welt lebendig machte, hat ihn verlassen, und geblieben ist nur seine körperliche Hülle? Die trägt man in einem weißen Gewand auf eine Anhöhe, wo dann die letzte Abschiedszeremonie stattfindet.

»Aber ich … ich habe so was doch noch nie gemacht«, sagte Kagot leise und spürte, wie ihn ein Schauer überrann, so als wäre wie durch ein Wunder winterliche Kälte in ihn gefahren und hielte sein Herz in eisiger Umklammerung.

»Vieles, wovon du bisher nicht einmal gehört hast, wirst du von nun an tun müssen«, antwortete Amos ruhig. »Und dann musst du dir noch merken: Wenn jemand an dich und deine Macht glaubt, dann tu alles, um ihn nicht zu enttäuschen.«

Amos kleidete sich ganz in Weiß: In den weißen Torbassen an den Füßen steckten weiße Pelzhosen aus dem Winterfell von Renläufen, an der abgemagerten Greisengestalt schlotterte eine weiße Kuchljanka – so zieht sich ein Mensch an, der sich anschickt, die Welt der Lebenden für immer zu verlassen. Passend zu dem weißen Renfell schimmerten auf Amos’ Kopf seine gelichteten weißen Haare.

Festgelegt wurden nun der Tag und die Stunde, da der große Schamane aus dem Leben gehen sollte. Das musste im Morgengrauen geschehen, unter den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Ein langer Riemen aus weiß gegerbtem Robbenfell wurde mit einem Ende an den Mittelpfeiler der Jaranga gebunden und zu einer einfachen Schlinge geknüpft, das andere Ende aber, an dem Kagot ziehen sollte, wurde durch eine Öffnung in der Wand nach draußen geführt.

Kagot stand bei Amos’ Jaranga, den Blick zum östlichen Horizont gewandt. Hell flammte die Morgenröte, doch über dem roten Streifen schimmerten noch die letzten Sterne. Der Polarstern, in dessen Umgebung Amos sich begeben wollte, war längst erloschen. Kagot wusste: Er steht hoch am Himmel, und um ihn herum dreht sich der ganze Himmel, drehen sich alle Sterne wie an einen Pfahl gebundene Rentiere. Im Sternbild der Trauer befinden sich auch die Ruhestätten der bedeutendsten Erdenbewohner, die für immer dahingegangen sind. Dort leben inmitten von Helden die großen Schamanen, und ebendort wollte Amos seine himmlische Jaranga errichten.

Schon hielt Kagot das Riemenende in der Hand, und an dessen Zittern spürte er, dass Amos sich bereits die Schlinge um den Hals gelegt hatte und den Augenblick erwartete, da sie zusammengezogen würde. Kagot dachte an den Hals des alten Mannes. Er war dunkel und sehnig, und wenn Amos sprach oder sang, bewegte sich darin etwas, als lebte es ein eigenes Leben. Jetzt umgab also der gelbliche Riemen den Hals, lag auf dem mit Vielfraßfell besetzten Kragen der weißen Kuchljanka.

Stille lag über der Siedlung. Alle wussten, dass Amos an dem Tag für immer dahingehen würde, und alle waren längst wach, aber niemand sprach, sogar die Hunde heulten nicht, und auch vom Meer her war kein Laut zu vernehmen. Vor dem Aufgang der Himmelsleuchte hatte sich auch der Morgenwind gelegt.

Als der erste Strahl aufblitzte, riss Kagot sich zusammen, schloss die Hand fest um das über einen Arm gewickelte Riemenende und stürzte vorwärts. Er spürte, wie der Riemen sich spannte und bebte, und zwang sich, an das erste Walross zu denken, das er eigenhändig harpuniert hatte. Jetzt handelte es sich freilich nicht um ein Walross, sondern um einen Menschen, der in die Umgebung des Hauptsterns dahinging. Ein schmaler Rand der Himmelsleuchte zeigte sich, das Licht blendete die Augen, und im selben Moment erhob sich von der See her eine leichte Brise, brachte den Geruch von Meer mit sich. Mit weit geöffneten, in Tränen schwimmenden Augen blickte Kagot auf die über Eisschollen aufgehende Sonne und flüsterte die wer weiß woher kommenden Worte vor sich hin:

O Sonne, großes Tagesgestirn, Herrin des Himmels!

Hilf mir, flöße mir die Kraft ein,

dass ich diese bedeutende Tat vollbringe …

Hilf mir, o Sonne, hilf, hilf, große Sonne!

Der Riemen ruckte und zitterte so stark, dass es Kagot für einen Augenblick schien, Amos hätte es sich anders überlegt, hätte beschlossen, nicht in das Sternbild der Trauer zu gehen. Zugleich begriff Kagot, dass es keinen Weg zurück mehr gab und das Wichtigste nun darin bestand, den Riemen festzuhalten, die Spannung nicht zu vermindern und das heilige Ritual zu Ende zu bringen. Als es schon so aussah, als hätte er keine Kraft mehr, und unter dem über den Arm gewickelten Riemen Blut hervortrat, warf er wieder einen Blick auf die Sonne und sah, dass sie sich von der Erde gelöst hatte, bereits über dem Eisfeld hing. Kagot sank auf die Knie und spürte plötzlich, dass am andern Ende des Riemens niemand mehr war, als hätte Amos sich befreit, und der Riemen hielte sich nur noch am Mittelpfahl der Jaranga … Entsetzen ergriff Kagot. Er wandte sich um und blickte auf die von greller Sonne beleuchtete schweigsame Jaranga. Für einen Augenblick zeigte sich eine kleine Rauchfahne über dem Dachkegel, dann erhob sich über der alten Wohnstatt ein großer weißer Vogel, flog unter langsamen Flügelschlägen empor und entfernte sich kreisend von der Erde, bis er sich in den Strahlen der Morgensonne aufgelöst hatte, entschwunden war. Warum hat er mir nicht gesagt, dass er in Vogelgestalt davonfliegen wird, dachte Kagot.

Über der Jaranga war nun weder Rauch noch ein Vogel zu sehen.

Kagot zog am Ende des Riemens. Am andern Ende war kein Leben mehr zu spüren.

Überraschende Ruhe durchströmte ihn.

Langsam ging er in den düsteren Tschottagin und wartete, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Amos lag unweit des Mittelpfahls, Arme und Beine von sich gestreckt. Allen Anzeichen nach hatte das Leben lange nicht aus seinem Körper weichen wollen, er hatte die Asche der Feuerstelle aufgewirbelt, den als Kopfstütze dienenden Balken aus der Verankerung gerissen und die als Sitze verwendeten Walwirbel über den Tschottagin verstreut.

Auf die weit geöffneten Augen des ehemaligen Schamanen hatte sich bereits der Schleier des Todes gelegt. Kagot zog dem alten Mann die Lider herunter, befreite seinen Hals von dem Riemen und legte den Körper in den Polog. Dann verließ er ruhig die Jaranga und kniff unter der grellen Sonne die Augen zu.

Als er die Augen wieder öffnete, sah er Menschen von allen Enden der Siedlung kommen. Sie gingen langsam, bedächtig. Während sie sich näherten, bemerkte Kagot, dass sie sich gleichsam verändert hatten. Ihre Blicke waren auf ihn gerichtet, als erwarteten sie Anweisungen, gewichtige Worte oder Offenbarungen.

Da begriff Kagot: Sie waren dieselben wie früher, diese Menschen, seine Landsleute – er war ein anderer geworden, nachdem er Amos’ Platz eingenommen hatte.

»Er ist von uns gegangen«, teilte Kagot den Leuten mit.

Er sagte nicht, dass er einen davonfliegenden weißen Vogel gesehen hatte, denn er hatte entschieden, es lohne nicht, alles über seine Erscheinungen zu sagen. Vieles war ihm allein gegeben, und es war durchaus nicht nötig, dass ein jeder davon wusste.

Kranke zu heilen und andere Verpflichtungen wahrzunehmen, war nicht so schwierig und belastend, wie er gedacht hatte. Ist es etwa schwer, herauszufinden, wer hoffnungslos krank ist und wer wieder auf die Beine kommen kann, wenn er im Glauben an Heilung durch die Worte eines mächtigen Schamanen bestärkt wird? Manchmal genügte es, nach einem Blick auf den Leidenden zu sagen: »Du wirst gesund«, und schon ging es dem Kranken besser. Was die Wettervoraussage anbelangt, so erwies sich das alte Barometer als ein treuer Helfer, der Kagot nie täuschte. Außerdem war er nicht vergeblich ein dankbarer und aufmerksamer Zuhörer von Amos gewesen und hatte von dem Verstorbenen vieles angenommen.

Im Übrigen unterschied sich Kagot nicht von den anderen Bewohnern Inakuls. Er ging auf Jagd, stellte Fallen für Pelztiere und fuhr mit Hunden in ferne Siedlungen von Rentierzüchtern.

Wenn überseeische Schoner kamen, erwies sich Kagot als erfolgreicher Handelsmann, denn er kannte die Sprache und die Bräuche der Weißen, tauschte gegen Rauchwerk Patronen für seine alte Winchesterbüchse ein, Tee, Zucker, bunten Stoff und andere absonderliche Dinge, die auf einmal so notwendig geworden waren. Das Einzige, was er nie nahm, war das erheiternde Feuerwasser, auf das seine Stammesgenossen so erpicht waren. Er hatte ein anderes Mittel, sich in höchste Erregung zu versetzen – er lauschte auf die Stille. Dann vernahm er die Stimme der Äußeren Kräfte. Wenn es nötig wurde, sich an diese Kräfte zu wenden, entstanden von selbst in wohlklingende Folgerichtigkeit sich fügende Worte. In der besonderen Anordnung der Aussagen verbarg sich ein Sinn, der nur dem zugänglich war, dem er galt. Die Worte zu verflechten, wurde Kagot zum Bedürfnis, und er ertappte sich oft bei dem Versuch, sie sogar bei der alltäglichen Arbeit aneinanderzureihen – so, wenn er übers Eis auf Robbenfang ging, Netze stellte oder einen neuen Schlitten baute.

Feuer ist doch in jeglichem Holzstück verborgen,

im dunklen, vom Wasser gerundeten Brett.

Doch erst wenn du Kiesel gegen den Stein schlägst,

entflammt es, verharrt nicht in ewigem Schlaf.

So flammt auch in dir, die du unscheinbar bist,

in der Frau, die sich neben mir Nacht für Nacht

auf dem Fell eines Rens zum Schlaf legt, kein Feuer,

solang meine Hand nicht zarte Zonen berührt.

Der einzige Mensch, der sich lange nicht an Kagots neuen Stand gewöhnen konnte, war seine Frau Waal. Zuerst war sie einfach erschrocken und versteckte sich, denn sie war zu jung und unerfahren, um etwas zu verstehen. Doch die neu gewonnene Weisheit sagte Kagot, dass niemand als er selbst aus diesem Mädchen, das scheu war wie ein Frühlingsvogel, eine echte Frau und Freundin machen könne.

Er war ungewöhnlich zärtlich und aufmerksam zu ihr. Beschwörungen flüsternd, taute er nach und nach das Herz der Frau auf, setzte Zärtlichkeit frei, Vertrauen und innere Schönheit.

»Wie schön deine Worte sind!«, flüsterte Waal heiß und drückte sich an ihn. »Sie ergießen sich in mich wie ein Frühlingsstrom, erwärmen mein Blut … Sprich weiter, sprich, Kagot …«

Für dahingegangenes Leben wird ewig neues geboren,

so ist es auf unserer kalten Erde Brauch.

Zwei heiße Leiber, als wär’n sie zu einem verschmolzen,

zeugen neues Leben in warmer Nacht …

Mitunter wunderte sich Kagot selbst über seine innere Kraft, und ihm schien, als vermöge er jetzt viel. Waal wurde schwanger, und sie erwarteten ein neues Leben anstelle des dahingegangenen, damit sich wieder ein gerechtes Gleichgewicht herstellte. Zugleich aber befürchtete Kagot insgeheim, dass es ihm sehr schaden könne, wenn er seine Macht grenzenlos nutzte, dass dies die ihn beschützenden Äußeren Kräfte erzürnen oder ihre Unzufriedenheit hervorrufen könne. So richtig war Kagot sich nicht im Klaren, was die Äußeren Kräfte im Grunde darstellten. Was Amos gesagt hatte, war widersprüchlich: Zum Begriff »Äußere Kräfte« gehörten die Kräfte des Guten und des Bösen, zahlreiche Geister und Gottheiten – die Naturerscheinungen waren ein Zeichen des Wirkens dieser Kräfte.

Noch nie hatten die Bewohner von Inakul einen so fröhlichen und verständnisvollen Schamanen gehabt, der sich offen des Lebens freute und allen half, die Unterstützung brauchten. Kagots Ruhm verbreitete sich in der Tundra und an der Küste. Bald kamen aus anderen Siedlungen und weit entfernten Nomadenlagern Menschen, die Heilung suchten oder Zuspruch.

Kagot errichtete eine neue große Jaranga mit zwei Gast-Pologen, die selten leer standen. Unter Kagots Gästen waren auch Schamanen, die nicht kamen, um ihre Krankheiten heilen zu lassen, sondern um mit ihm zu reden und vielleicht Neues, Geheimnisvolles zu erfahren. Im Gespräch mit ihnen war Kagot vorsichtig, er konnte stundenlang Erörterungen über die Kompliziertheit der menschlichen Natur anstellen, hütete sich aber, von den Kräften zu sprechen, mit denen er Umgang pflegte.

Die Schamanen, die zu Kagot kamen, wollten vor allem herausfinden, ob er die tiefen Geheimnisse dieser Kräfte ergründen könne. Kagot antwortete ausweichend, nicht weil er etwas verbergen wollte, sondern weil er selbst nicht sicher war, dass er die ganze Kompliziertheit der Welt der Äußeren Kräfte richtig begriffen hatte.

Wem offenbart sich einst der Sterne ewiges Rätsel?

Wer hört die Sprache, die aus des Polarlichts Rauschenspricht,

errät in ihrem Klang, wovon die Sterne reden?

Wer kann erklären, welchen Sinn die Form hat

von Vögeln, Tieren, Felsen, fernen Bergen,

von Wolken, weiß und schwarz, vom Regenbogen,

auf dem der Himmel ruht?

Kagot hielt eine kleine, spielzeugähnliche Trommel in der Hand, berührte ihr straff gespanntes Fell sacht mit einem biegsamen Fischbeinstab und murmelte aus seinem Innern kommende Beschwörungen, die Gäste aber lauschten ihm und glaubten, durch Kagots Mund sprächen zu ihnen die Äußeren Kräfte.

Das neue Leben erschien, wie es sich für ein neues Leben ziemt, im Morgengrauen, während draußen ein Frühlingsschneesturm um die Jaranga tobte.

Als Kagot erfuhr, dass er eine Tochter bekommen hatte, überwältigte ihn große Freude. In seinen Träumen hatte er das künftige Leben gerade in Gestalt eines kleinen Mädchens gesehen, als Verkörperung von Zärtlichkeit und Zartheit – wie eine Tundrablüte. Erst nach einer geraumen Weile gestattete man ihm Zutritt zu der jungen Mutter, und sowie er das erschöpfte, aber glückliche Gesicht seiner Frau erblickte, begriff er, dass sie ihm jetzt endgültig vertraute. Von nun an würde es zwischen ihnen nicht einmal mehr den Schatten von Entfremdung, von Unverständnis geben, die Fremde nicht bemerkt, sie beide aber sehr gespürt hatten. Das kaum sichtbare, in Fell gewickelte Häufchen Leben brach plötzlich in so lautes Geschrei aus, dass Kagot zusammenzuckte und sagte: »Sie ruft mich … Deshalb soll sie Ainana heißen, die Rufende.«

Was war das für eine glückliche Zeit! Es schien, als habe sich eine winzige Sonne in der Jaranga niedergelassen und erhelle nun mit ihrem Licht die abgelegensten, finstersten Winkel der alten Wohnstatt. Sooft Kagot vom Meer der Küste zustrebte, vernahm er schon die Stimme der Kleinen und antwortete ihr in Gedanken mit Worten, die ihm aus dem Herzen kamen:

Ein Vöglein hat den Himmel durchgepickt –

schon strömt die Sonne auf die Tundra, auf die Küste.

Ein Vöglein hat mit seinem Lied den Schneesturmübertönt –

mit seiner Stimme herrscht es über Ruh und Stille.

Dein Lächeln durchwärmt den nächtlich ausgekühltenPolog,

fort jagst du Kälte und Verdrossenheit –

ein Lächeln wird dir selbst zur Antwort,

dein Gutsein hat ein anderes Herz erwärmt.

Ein ereignisreicher Sommer brach an. Amerikanische Schoner trafen ein, und Seeleute, die Kagot kannten, berichteten ihm, dass der größte Mann Russlands, der Sonnenherrscher, von seinem goldenen Thron gestürzt worden war.

Kagot interessierten diese Nachrichten nicht, denn das Herrschaftssystem des weißen Mannes war für ihn unbegreiflich. Er bemerkte jedoch, dass das russische Patrouillenschiff nicht mehr kam und dass amerikanische Händler im Bewusstsein der Straffreiheit auf großen oder kleinen Schiffen die küstennahen Lagunen und kleinen Buchten durchpflügten und erhandelten, was sie nur konnten – von zerdrückten Renkalbfellen bis zu Splittern von vergilbtem Walrosszahn, der auf alten heiligen Stätten ausgegraben worden war.

Mit seinem eigenen Glück beschäftigt, schenkte Kagot den Ereignissen, die sich in fernen Gegenden abspielten, keine Beachtung – ohnehin hatten so fernher kommende Neuigkeiten keinen Einfluss auf die bedächtige, seit Urzeiten festgelegte Lebensweise der Küstenbevölkerung. Oft nahm Kagot die heranwachsende Tochter mit in die Tundra, führte sie zu entlegenen stillen Seen, die von Fischen wimmelten, an die Ufer von versonnenen, langsamen, von weichem Moos eingefassten Wasserläufen, auf trockene, steinige Anhöhen, von denen aus sich eine weite Sicht eröffnete und wo man bei leichtem Wind sogar meinen konnte, er trage die eigenen Gedanken hinter die gezackten Ränder des fernen Gebirgszuges.

Kagot sang Lieder, und das kleine Mädchen beobachtete mit überraschend ernst gewordenen Augen die Bewegungen seiner Lippen, lauschte dem gemächlichen Strom der Worte, die sich von selbst zusammenfügten – hörte auf die Stimmen der Äußeren Kräfte.

So vergingen noch zwei Winter.

Niemand hatte vermutet, dass das Unglück zu einer so schönen Zeit kommen würde, da die Sonne neue Kraft gewann, der schwer gewordene Schnee zusammensackte und unter ihm durchsichtige Ströme von Tauwasser hervorsprudelten. Zuerst erkrankte eine alte Frau in einer abgelegenen Jaranga. Sie starb gegen Morgen, konnte nicht einmal mehr Kagot rufen. Er kam erst, als man den erkalteten Körper bereits in die Totenkleider hüllte. Dann traf es eine junge Frau aus derselben Jaranga. Erst überzog sie sich mit roten Flecken, als drängte das Blut nach außen, dann begann sie, vor Fieber zu glühen. Kagot erschien im vollen Schamanenaufzug und befahl, ihn mit der Kranken allein zu lassen.

Er suchte sich zu erinnern, was Amos ihm über die Krankheiten gesagt hatte, suchte in seinem Gedächtnis nach jedem Wort. Es sah ganz so aus, als wären die »Rekken« in der Siedlung aufgetaucht, winzige Wesen in Menschengestalt, die ansteckende Krankheiten übertrugen und großes Unglück brachten. Ihre Hundeschlitten irrten wohl zwischen den Jarangas herum, trugen das unsichtbare Übel in die Wohnstätten. Doch wo waren sie? Warum erlaubten ihm die Äußeren Kräfte nicht, sie zu sehen und aus der Siedlung weit weg in die Tundra zu befördern? Seltsam – gerade jetzt, wo er in solcher Unruhe war, sprachen die Stimmen nicht mit ihm, äußerten sich nicht durch seine eigene bedächtige Rede, blieb er angesichts des schrecklichen Unglücks sprachlos.

In einer weißen Stoff-Kuchljanka, einen kleinen Speer in der Hand, streifte er durch die Umgebung und betrachtete aufmerksam jedes Fleckchen im Schnee, wobei er oft etwas Schwarzes für einen Schlitten hielt, ein Gespann, eine winzige Menschengestalt. Doch dann war es wieder nur eine Rebhuhnspur im Schnee oder eine Krähenfeder, die sich im leichten Wind bewegte.

Am dritten Tag wurde ihm bewusst, dass sein Augenlicht gelitten hatte – er sah nichts mehr. Aus seinen Augen rannen in unendlichem Strom Tränen, und er hatte Schmerzen, als habe man in einem Steinmörser leere Glasbehälter von Feuerwasser zerschlagen und ihm dieses Pulver unter die Lider geschüttet. Kagot wusste, in dem Fall half nur ein einziges Mittel – mit fest verbundenen Augen im Halbdunkel der Jaranga zu bleiben.

Man rief ihn in benachbarte Jarangas, doch er sagte beschämt, er mache seine Beschwörungen zu Hause, die Wirkung der Schamanenkraft hänge nicht von der Entfernung ab und erfordere nicht unbedingt die persönliche Anwesenheit des Schamanen.

Als er sein Augenlicht wiedergewann, entdeckte er voll Schrecken Anzeichen der Krankheit auch auf dem geliebten Antlitz seiner Frau Waal. Doch sie klagte nicht, und ihre Stimme war wie immer gleichmäßig und ruhig, als wäre nichts geschehen.

Kagot brachte die kleine Tochter in die Jaranga der Eltern, wo die alten Leute noch gesund waren, und kehrte nach Hause zurück. Er legte seine Frau an die hintere Wand des Fell-Pologs und entblößte ihren Körper. Nur eine Tranlampe brannte, die Flamme war winzig wie die rote Zunge eines Welpen. Kagot schien es, als strahle der Körper der Frau sichtbar Hitze aus.

Langsam hüllte er sich in die Schamanenkleidung, legte alle Amulette und Machtsymbole an, die er von Amos übernommen hatte. Die kleinen Figuren geheimnisvoller Tiere und Vögel aus unbekanntem dunklen Holz schmiegten sich kalt an seinen Körper und ließen ihn erschauern. Kagot nahm eine große Trommel, die – als wären es Quasten – von getrockneten und bei jeder Bewegung dumpf dröhnenden Wolfspfoten eingefasst war, und blies ins Feuer. Die Flamme sprang von der Tranlampe weg und verschwand. So erlischt und entschwindet menschliches Leben ins Unbekannte, dachte Kagot und hob den Kopf zur niedrigen Decke aus Renfellen.

Zunächst wartete er. Wartete, wann ihn gleich einer Woge, gleich dem Widerhall eines fernen Sturms, der sein ganzes Wesen erfassende, in jedem Teilchen seines Körpers aufflammende Schauer ergreifen würde. Doch aus irgendeinem Grund kamen andere Gedanken, nahmen andere Gefühle von ihm Besitz. Er sah den Körper seiner Frau. Arme und Beine weit von sich gestreckt, lag sie an der hinteren Wand des Fell-Pologs, und ihre Haut leuchtete. Die Fellhäute des Pologs waren nicht dicht, hatten viele im Hellen unsichtbare kleine Löcher und Kahlstellen, und durch sie drang nun Licht aus dem Tschottagin.

Kagot lauschte auf den Atem seiner Frau. Er kam stoßweise und heiß.

»Waal«, rief er leise.

»Ich höre dich, Kagot …«

Erschrocken fuhr Kagot zusammen: Die Stimme kam nicht aus dem liegenden Körper, sondern aus einem oberen Winkel des Pologs, aus dem finstersten Teil, wo es selbst beim Schein der hellen Tranlampe immer düster blieb, so als hielte sich die Dunkelheit dort, in dem abgelegenen Winkel verborgen.

»Warum sprichst du von dort?«

»Weil ich hier bin, Kagot.«

»Du liegst doch aber unten … Ich sehe deinen Körper.«

»Ich sehe meinen Körper auch, Kagot, es ist schon nicht mehr meiner …«

»Nein! Nein! Nein!«, schrie Kagot mit schrecklicher Stimme, die ihm selbst fremd erschien, und stürzte zu der an der Wand liegenden Waal. Er warf die Trommel weg, umfasste mit beiden Armen ihren glühenden Körper und flehte: »Halt noch ein wenig aus! Warte, Waal!«

Er ertastete die Trommel und schlug sie mit aller Macht, entlockte dem straff gespannten Fell einen Laut von unwahrscheinlicher Kraft. Der rollte über seinen Kopf, schlug gegen die Wand des Fell-Pologs, durchdrang das Renfell und durchlöcherte es, strebte nach oben, in den freien Raum.

Die Töne entrangen sich wie von selbst Kagots Kehle, er fürchtete nur, ihr heftiger Anstrom könne sie zerreißen. Seine Hand schlug die Trommel, nach dem Gesang schoss nun ihr starkes und helles Gedröhn aus der Jaranga nach draußen und zauste die Ränder eines im Fell-Polog entstandenen Lochs. Er konnte nicht sagen, welche Worte, welche Laute aus seinem vom Krampf erfassten Mund geflogen kamen, das geschah unbewusst, ohne dass er es begriff. Nur ein Gedanke war klar und deutlich: Er wollte seine Frau retten, sie den Klauen der Krankheit entreißen. Er konnte den Blick nicht von dem an der Fellwand des Pologs liegenden entblößten Körper lösen, und durch Tränen und Schweiß sah er, wie Waal sich bald erhob, über dem mit Walhaut ausgelegten Boden schwebte und bald sich wieder herabließ, weich die Renfelle streifend. In der sterbenden Siedlung gab es niemanden, der hier hätte vorübergehen, der Kagots flehenden Gesang hätte hören können – Worte, die mächtig genug zu sein schienen, nicht nur das gefühlloseste Herz schmelzen zu lassen, sondern sogar einen Eisberg.

Wie lange die Beschwörung gedauert hatte, wusste er nicht mehr, er wusste nicht, wie lange er ohnmächtig bei der erloschenen Tranlampe gelegen hatte. Das Bewusstsein kehrte langsam zurück, Kälte hatte seine bloße Brust erfasst, war zum Gesicht, zu den geschlossenen Augen hochgestiegen. Als Erstes kam Kagot der Gedanke: Das war ein langer und quälender Traum. Alles hatte er nur geträumt, die Seuche, die unsichtbaren Rekken, die auf winzigen Hundeschlitten das Unglück gebracht hatten, und die von der glühenden Krankheit gezeichnete Waal. Gleich würde er die Augen aufschlagen und in dem gewohnten ausgekühlten Polog sein – die Tranlampe wäre erloschen, und allmählich sickerte eiskalte Luft herein. So ist es immer im Morgengrauen, wenn die Träume kommen. Gleich würde er die Hand ausstrecken und die warme Schulter seiner Frau berühren. Sie würde zusammenzucken, was ihm bedeutete, dass sie aufgewacht sei, und näher rücken. Aber was war das? Seine Hand stieß auf einen eisigen, erkalteten Körper. Er riss sie zurück, fürchtete, die Augen zu öffnen. Nein, das war kein Traum! Wie denn das? Er hatte doch auf die Beschwörung seine ganze Fähigkeit, die ganze Kraft seiner Liebe verwandt, den ganzen Glauben an die Macht und die Gerechtigkeit der Äußeren Kräfte. Sie aber hatten sein Flehen nicht erhört …

Das konnte doch nicht sein!

Wie qualvoll war es, in die traurige Wirklichkeit zurückzufinden. Ja, das war kein Traum, sondern Wirklichkeit, jetzt war nichts mehr rückgängig zu machen, nichts mehr zu ändern. Wie grausam! Wie ungerecht! Warum war das geschehen? Wen hätte ihr stilles, niemandem schadendes Glück stören können? Wo seid ihr, große Äußere Kräfte?

Dein Leib liegt immer noch hier auf der Erde,

doch das, was du warst, hat sich für ewig verflüchtigt.

Niemand bringt mir dein Lächeln zurück, deinen Blick,

deine lebendige Stimme, den Atem, die Wärme der Haut.

Die große Sonne – sie flößt mir keine Glut mehr ein,

Kälte verströmen ihre glänzenden Strahlen.

Könnte doch lieber ich zu dem hohen Stern entschweben,

wenn nur zu dir ein neuer Frühling käme.

Sein Herz wurde zu Stein. Er wusste nur, dass die unerbittliche Krankheit auch Ainana packen, auch sie aus dem Leben reißen konnte. Daher beeilte er sich, Waal zu beerdigen. In seinen Armen trug er sie auf den Hügel ewiger Ruhe, überließ den Körper nicht einem Begräbnisschlitten.

Der Frühlingshimmel strahlte, teilnahmslos gegenüber dem Leid, gleichgültig gegenüber der Trauer. Er strahlte über Kagot, als er die Hunde anspannte und in der Stille einer hellen Nacht von Inakul wegfuhr – um den Rekken zu entfliehen, dem Leid, seiner Machtlosigkeit … Er erwartete, man würde ihn verfolgen, doch nichts dergleichen geschah. Vielleicht hofften sie dort, in Inakul, zunächst, er würde zurückkehren? Doch jetzt musste ihnen schon klar sein, dass er für immer gegangen war.

Noch einmal blickte Amtyn auf Kagot, dann sagte er entschieden: »Morgen gehen wir aufs Schiff, zum Handeln. Kaljana soll alles mitnehmen, was sie hat. Wir müssen uns beeilen. Sowie sie in den umliegenden Siedlungen von dem Schiff erfahren, werden sie hier auftauchen, dann bleibt für uns nichts mehr. Dabei haben wir keinen Tee mehr, keinen Tabak und keine Patronen für die Winchester. Wir wären schön dumm, wenn wir die Gelegenheit nicht nutzten, dass ein Schiff an unserer Küste angelegt hat … Ich vermute, sie haben einen großen Vorrat an erheiterndem Feuerwasser!«

Im Vorgenuss des Vergnügens schluckte Amtyn sogar an seinem Speichel.

3

Hauptgegenstand der Gespräche in der Messe der »Maud« waren die bevorstehende Überwinterung und die Einheimischen. Sie unterhielten sich gewöhnlich nach ihren Mahlzeiten. Das Essen für die Expeditionsteilnehmer bereitete der Chef selber. Nun also erklärte Amundsen nach dem Kaffee den Gefährten seinen Plan. 

»Wenn wir das Schiff für die Überwinterung vorbereitet haben, werden wir versuchen, die nächste Funkstation zu erreichen. Soweit ich verstanden habe, befindet sich eine in Nishnekolymsk.«

»Ob sie die nicht mit einer Kirche verwechseln?«, zweifelte der besonnene Mechaniker Sundbeck.

»Ich denke, Kagot hat sehr wohl verstanden, worum es geht«, antwortete Amundsen. »Wenn der Funk in Nishnekolymsk aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, müssen wir uns nach Nowomariinsk begeben. Ich weiß, Sverdrup möchte brennend gern hiesige Nomadenlager aufsuchen, um sich ethnografischen Forschungen zu widmen. Er muss sich gedulden … Was aber den Ort der Überwinterung betrifft, können wir uns nicht beklagen: Von der Tschaunbucht bis zum Ostkap finden wir keinen geeigneteren Ort. Heute Morgen habe ich mir auch überlegt, dass es für uns nur vorteilhaft ist, wenn sich viele Meilen im Umkreis keine größere Ansammlung von Menschen befindet. Das erlaubt uns, ruhig unserer wissenschaftlichen Arbeit nachzugehen, ohne Zeit damit zu verlieren, Gäste zu empfangen. Aber ganz allein bleiben können wir doch nicht. Der gestrige Besuch bei der einheimischen Bevölkerung hat einen guten Eindruck auf mich gemacht. Nach allem zu urteilen, sind die Menschen hier hinreichend entwickelt und nicht aufdringlich.«

»Und einer spricht ausgezeichnet Englisch!«, ergänzte Hansen.

Amundsen nickte. »Sagen Sie, Herr Olonkin, existiert eine ethnische Verbindung der hiesigen Tschuktschen zu den Völkern auf Taimyr?«

»Die Sprache der Tschuktschen ist, soweit ich nach dem Gehör urteilen kann, ganz anders«, antwortete Olonkin. »Was aber ihre administrative Unterordnung betrifft, so werden im Verzeichnis der Völker des Russischen Reiches, das in Verbindung mit der dreihundertjährigen Herrschaft der Romanows veröffentlicht wurde, die Tschuktschen zu den nicht völlig unterworfenen Völkern gerechnet.«

»Haben sie denn keinen Jassak, keinen Tribut, gezahlt?«, fragte Amundsen.