Der Muttercode - Carole Stivers - E-Book

Der Muttercode E-Book

Carole Stivers

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Beschreibung

Im Jahr 2049 haben sich die Lebensbedingungen auf der Erde drastisch verändert. Um den Fortbestand der Menschheit zu sichern, werden Kinder nun von Robotern ausgebrütet und aufgezogen. Um sicherzustellen, dass es den Kindern an nichts mangelt, wurde ein spezielles Computerprogramm, der sogenannte Muttercode, entwickelt, der dafür sorgt, dass die Roboter agieren und empfinden wie ein Mensch. Kai ist so ein Roboterkind. Gemeinsam mit seiner Mutter Rho-Z streift er durch das zerstörte Amerika der Zukunft. Kai ist glücklich, denn Rho-Z umsorgt ihn liebevoll und lehrt ihn alles, was er wissen muss. Doch als die erste Generation der Roboterkinder heranwächst, sollen die Mütter wieder abgeschaltet werden ...

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Seitenzahl: 474

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Das Buch

Amerika in der nahen Zukunft. Eine kaum erprobte Bio-Waffe rottet beinahe die ganze Bevölkerung aus. Die einzige Chance, das Überleben der Menschen zu sichern, besteht in einer speziellen und noch nie da gewesenen In-Vitro-Behandlung. Zu diesem Zweck entwickelt die US-Regierung ein streng geheimes Programm, den sogenannten »Muttercode«: Neuartige High-Tech-Brutkästen in Form von Robotern sollen die befruchteten Eizellen austragen und im Anschluss daran auch die Kinder großziehen – bis das Kind alt genug ist, dass es in die Gesellschaft integriert werden kann. Die Robotermütter sind darauf programmiert, für »ihre« Kinder Liebe, Fürsorge und Zuneigung zu empfinden, sodass es dem Nachwuchs an nichts fehlt.

Elf Jahre später streift Kai gemeinsam mit seiner Mutter Rho-Z durch das zerstörte Amerika. Kai ist glücklich, denn Rho-Z umsorgt ihn liebevoll und lehrt ihn alles, was er wissen muss. Und auch Rho-Z hat sich verändert, auf eine Art und Weise, die die Wissenschaft nicht vorhersagen konnte. Doch als die erste Generation der Roboterkinder herangewachsen ist, beschließt die Regierung, die Mütter wieder abzuschalten …

Die Autorin

Carole Stivers wurde in East Cleveland, Ohio, geboren. Sie studierte Biochemie an der University of Illinois, bevor sie in Stanford promovierte. Inzwischen lebt die Autorin in Kalifornien. Der Muttercode ist ihr erster Roman.

Mehr über Carole Stivers und ihren Roman erfahren Sie auf:

Carole Stivers

DERMUTTERCODE

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Jürgen Langowski

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe THE MOTHER CODEDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 08/2021

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2020 by Carole Stivers

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com / Willyam Bradberry

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25561-9V001

www.diezukunft.de

Für Alan, meinen Navigator,und Jeannie, meine Muse.

»Ein kleines Kind kennt die Mutter als den Geruch der Haut, als Lichtschein, als starke Arme und als Stimme, die vor Gefühlen bebt. Später erwacht das Kind und entdeckt die Mutter – und fügt Tatsachen, Eindrücke und ein ­Verständnis für die eigene Geschichte hinzu.«

– Annie Dillard, An American Childhood

Erster Teil

1

3. März 2054

Die Laufräder dicht unter die Rümpfe gezogen und die Flügel ausgebreitet, zogen sie in enger Formation nach Norden. Die Sonne glänzte auf den Metallkörpern und zeichnete ihre verschmolzenen dahinrasenden Schatten auf die Höhenzüge und Hügelkämme der offenen Wüste. Unten war es völlig still, dort herrschte das unendliche tiefe Schweigen, das sich einstellt, wenn alles verloren und vertan ist.

Ihre Annäherung durchbrach die Stille. Jedes Sandkörnchen summte im Tosen der Luft, die durch die Mantelpropeller strömte. Winzige Geschöpfe wurden aus ihrem erhitzten Schlummer gerissen und rührten sich in den Verstecken, sobald sie es spürten.

Die Mütter bremsten ihren Flug ab und bewegten sich in größer werdenden Kreisen. Rho-Z behielt die Flughöhe bei und überprüfte ihren Flugcomputer, der sie zum vorbestimmten Ziel leiten sollte. Tief in ihrem Bauch trug sie eine kostbare Fracht – die Saat einer neuen Generation.

Allein landete sie im Schatten eines Felsüberhangs, wo sie vor dem Wind geschützt war. Dort wartete sie auf das schwerfällige Pochen eines Herzens. Sie wartete auf das Tasten eines kleinen Arms, auf das Zucken eines winzigen Beins. Gewissenhaft registrierte sie die Lebenszeichen und wartete auf den Augenblick, in dem ihre nächste Mission beginnen würde.

Endlich war es so weit.

Geburtsgewicht: 2,4 kg

Atemfrequenz 47 ::: Sauerstoffsättigung 99% ::: Blutdruck systolisch 60 diastolisch 37 ::: Temperatur 36,8 °C.

GEBÄRMUTTERLEERUNG: Beginn 03:50:13. Beendet 04:00:13.

NABELSCHNURTRENNUNG: Beginn 04:01:33. Beendet 04:01:48.

Atemfrequenz 39 ::: Sauerstoffsättigung 89% ::: Blutdruck systolisch 43 diastolisch 25.

REANIMATION: Beginn 04:03:12. Beendet 04:03:42.

Atemfrequenz 63 ::: Sauerstoffsättigung 97% ::: Blutdruck systolisch 75 diastolisch 43.

TRANSFER: Beginn 04:04:01.

Der Neugeborene war in das dichte faserige Innere des Kokons gekuschelt. Er wand sich und strampelte. Sobald seine Lippen ihre weiche Brustwarze fanden, strömte die nährstoffreiche Flüssigkeit in seinen Mund. Sobald die warmen, elastischen Finger ihn wiegten, entspannte er sich. Als er die Augen aufschlug, sah er weiches, blaues Licht und die verschwommenen Umrisse eines mensch­lichen Gesichts.

2

20. Dezember 2049

DRINGEND VERTRAULICH VERTEIDIGUNGSMINISTERIUM

Dr. Said,

bitte nehmen Sie an der Konferenz im CIA-Hauptquartier in Langley, Virginia, teil.

20. Dezember 2049, 11:00 Uhr.

Höchste Priorität.

Transportmöglichkeit wird gestellt.

Bitte antworten Sie so schnell wie möglich.

General Jos. Blankenship, U.S. Army

James Said zog das Okular des Armbandtelefons vom rechten Auge ab und schob es in die Plastikhülle. Dann schälte er das Flexphone vom Handgelenk, löste den Gürtel der Hose und packte alles zusammen mit den Schuhen und der Jacke auf das Förderband. Anschließend blickte er geradeaus in den Augenscanner und schlurfte an der Reihe der Inspektionsbots des Flughafens vorbei. Die dünnen, weißen Arme tasteten ihn geschickt am ganzen Körper ab.

Dringend. Vertraulich. Er hatte längst gelernt, solche Begriffe, die er früher beunruhigend gefunden hätte, in den Mitteilungen des Militärs zu ignorieren. Trotzdem sah er sich verstohlen im Sicherheitsbereich um. Irgendwie rechnete er damit, dass jeden Moment ein Mann im militärischen Blau auftauchen würde. Blankenship. Wo hatte er den Namen schon mal gehört?

Er fuhr sich mit den Fingern über das Kinn. Am Morgen hatte er sich rasiert, und das dunkle Muttermal direkt unter dem Kieferknochen war gut zu erkennen. Die Stelle, wo ihn, wie seine Mutter sagte, Allah bei der Geburt geküsst hatte. War sein Äußeres verdächtig? Er glaubte es nicht. Er war am vierten Juli in Kalifornien auf die Welt gekommen, in jeder Hinsicht völlig weltlich orientiert und so amerikanisch, wie man überhaupt sein konnte. Er hatte die helle Haut seiner Mutter und die Körpergröße seines Vaters geerbt. Aber sobald er einen Flughafen betrat, fühlte er sich wie ein Feind. Die tragischen Anschläge am 11. September waren dreizehn Jahre vor seiner Geburt geschehen, doch die Londoner Intifada von 2030 und die Selbstmordattentate am Reagan Airport im Jahre 2041 hielten im Westen ein starkes Misstrauen gegenüber jedem wach, der auch nur entfernt wie ein Moslem aussah.

Als ihm der letzte Bot grünes Licht gab, sammelte er seine Siebensachen ein und drückte den Daumen auf den Sensor der Tür, durch die er die Flugsteige erreichen konnte. Im hellen Licht des stark frequentierten Terminals setzte er sich das Okular wieder auf und befestigte das Telefon am Handgelenk. Als ihm ein dreifaches Blinken zeigte, dass die Geräte verbunden waren, wählte er auf der Steuerung des Telefons »Antworten« aus und murmelte: »Fliege über die Feiertage nach Kalifornien. Müssen für die Zeit nach dem 5. Januar neu planen. Bitte um neue Terminvorschläge.«

Mit gesenktem Kopf eilte er an den farbenfrohen Auslagen vorbei, wo ihn schöne Gesichter lockten und beim Namen riefen. »James«, gurrten sie, »hast du schon unsere neuen ExoTea-Geschmacksrichtungen probiert? Brauchst du Queeze-Ease gegen die Flugangst? Oder die neue Dormo-Flughaube?« Er mochte es nicht, dass die neuen Telefone seine Identität herausposaunten, aber das war der Preis, den man zahlen musste, wenn man an öffentlichen Orten in Verbindung bleiben wollte.

Als er am Kaffeestand in der Schlange wartete, wechselte die Anzeige des Flexphones. Er lächelte, als er den Namen seiner Mutter sah.

Die Ernte ist eingebracht. Wir freuen uns auf das neue Jahr. Wann bist du da?

Mit dem langen Zeigefinger wischte er über das kleine Display, suchte die Flugreservierung und heftete sie an die Antwort.

»Siehe Anhang«, diktierte er. »Sag Dad, er muss mich nicht abholen, ich nehme ein Autotaxi. Ich freue mich schon darauf, euch zu sehen.«

Anschließend blätterte er die Mails weiter durch und ergänzte die Eintragungen im Online-Kalender:

8. Januar Mittagessen mit der Fakultät.Graduiertenseminar, Lehrstuhl für Zell- und Entwicklungsbiologie, Thema muss bis 15. Januar vorliegen.25. Januar Jahreskonferenz über Gentechnik: Neue ­Horizonte, neue Regeln.

James runzelte die Stirn. An der Jahreskonferenz nahm er nicht immer teil, aber dieses Jahr sollte sie in Atlanta stattfinden, ganz in der Nähe seines Labors an der Emory University. Man hatte ihn eingeladen, über seine Arbeit an Genveränderungen im menschlichen Körper zu sprechen. Dieses Mal ging es um die Heilung der Mukoviszidose beim ungeborenen Kind. Doch diese von der Regierung angesetzten Konferenzen drehten sich meist weniger um die Wissenschaft und viel mehr um die Politik. Das betraf auch die stetig im Wandel begriffene Landschaft der amtlichen Kontrolle über das neuartige Material, das seine Arbeit erst möglich machte.

Vor mehr als einem Jahrzehnt hatten Wissenschaftler an der Universität von Illinois eine Art DNA aus Nanopartikeln erzeugt, die sie Nukleinsäure-Nanostruktur nannten, abgekürzt NAN. Im Gegensatz zu natürlicher DNA konnten diese kleinen Kügelchen aus synthetischer DNA die menschlichen Zellmembranen aus eigener Kraft durchdringen. Sobald sie sich in der Zelle befanden, konnten sie sich mit der natürlichen DNA verbinden und gezielt bestimmte Gene verändern. Daraus ergaben sich schier unendliche Möglichkeiten – Heilverfahren für genetisch bedingte Störungen und eine ganze Reihe bislang besonders hartnäckiger Krebserkrankungen. James hatte damals, noch als Student der Zellbiologie in Berkeley, von NAN gehört und sich sofort entschlossen, mit diesem Mate­rial, das seine Träume wahr werden lassen konnte, zu arbeiten.

Gentechnische Veränderungen von Embryos vor der Implantation hatten sich inzwischen zu einer anerkannten Wissenschaft entwickelt – es gab strenge Bestimmungen und genau definiertes Werkzeug, und die unerwünschten Nebenwirkungen, die anfangs so oft aufgetreten waren, kamen praktisch nicht mehr vor. Auch die Tests für die Diagnose von Fehlbildungen des Fötus in der späteren Entwicklung nach der Implantation in die Gebärmutter waren schon seit Jahrzehnten verfügbar. Doch wenn ein solcher Defekt entdeckt wurde, gab es nach wie vor keinen sicheren Weg, den Fötus im Mutterleib entsprechend zu verändern. James war überzeugt, dass es mithilfe der NAN möglich sein müsste, fehlerhafte Gene in der Gebärmutter umzuwandeln. Damit konnte man durch Gentherapie behandelbare Krankheiten wie Mukoviszidose vollständig ausrotten.

Allerdings galt es, einige technische und politische Hürden zu überwinden. In den falschen Händen konnte sich diese Technologie durchaus als gefährlich erweisen. Die Universität von Illinois war gezwungen worden, alle Lizenzen an die Regierung zu übergeben. Jetzt befanden sich die Unterlagen in Fort Detrick, einer Einrichtung in Maryland nordöstlich von Washington, unter strengem Verschluss.

Er vermisste Kalifornien. Er vermisste Berkeley. Jeden Tag musste er sich von Neuem einreden, dass es richtig gewesen war, nach Atlanta zu gehen. Das Zentrum für Gentherapie an der Emory war die einzige öffentliche Einrichtung, die mit NAN arbeiten durfte.

Im Warteraum lümmelte er sich in der Nähe des Flugsteigs auf einen Sitz. Früher war er ein drahtiger, sportlicher Bursche vom Land und auf der Highschool sogar der Kapitän des Baseballteams gewesen. Leider hatte er sich gehen lassen. Der einst gerade Rücken war jetzt krumm, nachdem er sich so viele Jahre über Labortische gebeugt hatte, und die scharfen Augen waren schwach geworden, nachdem er viel zu lange in Mikroskope und auf Computerbildschirme gestarrt hatte. Seine Mutter hätte sich wegen seiner Gesundheit Sorgen gemacht und ihn mit scharf gewürzten Linsen und Reis behelligt. Kaum dachte er daran, schon hatte er den Geschmack im Mund.

James sah sich um. Zu dieser frühen Stunde waren die meisten Plätze leer. Vor ihm saß eine junge Mutter, ihr kleines Kind lag vor ihr auf dem Boden in einem Tragekorb. Sie ignorierte das Kind und spielte mit einem kleinen GameGirl, das sie auf dem Schoß hatte. Ihre Aufgabe bestand darin, ein Alienbaby mit großen, grünen Augen zu füttern, das auf dem Bildschirm den Mund aufsperrte. Am Fenster mampfte ein älterer Herr einen Proteinriegel.

Als es an seinem Handgelenk summte, zuckte James zusammen. Die Antwort vom Verteidigungsministerium.

Dr. Said,

Terminänderung ausgeschlossen. Jemand holt Sie ab.

General Jos. Blankenship, U.S. Army.

Als er den Kopf hob, hatte bereits ein Mann in einem neutralen grauen Anzug am Gate seinen Posten bezogen. Der dicke Hals des Mannes quoll förmlich aus dem Kragen heraus. Fast unmerklich nickte er. James nahm das Okular ab und blickte nach rechts. Als ihm jemand leicht auf die Schulter tippte, zuckte er zusammen.

»Dr. Said?«

»Ja?«, krächzte er erschrocken.

»Es tut mir leid, Dr. Said, aber Sie werden im Pentagon erwartet.«

»Was?« James starrte den jungen Mann in der adretten Uniform und den glänzenden schwarzen Schuhen an.

»Ich muss Sie sofort nach Langley begleiten. Es tut mir leid. Die Flugtickets erstatten wir Ihnen natürlich.«

»Aber warum …«

»Keine Sorge, Sir, wir werden sehr bald dort eintreffen.« Weiße Handschuhe legten sich um James’ Arm. Der Offizier geleitete ihn zu einem gesicherten Ausgang und dann eine Treppe hinunter. Sie traten durch eine Tür und standen im Freien. Ein paar Schritte entfernt wartete schon der Mann mit dem grauen Anzug, hielt ihm die hintere Tür einer schwarzen Limousine auf und winkte James, er möge einsteigen.

»Und mein Gepäck?«

»Darum kümmern wir uns.«

Das Herz drückte ihn wie ein Stein in der Brust. James ließ sich tief in den Ledersitz sinken und legte unwillkürlich die rechte Hand schützend auf das Telefon am linken Handgelenk – das letzte Bindeglied zu der Welt außerhalb der Limousine. Wenigstens hatten sie es nicht konfisziert. »Was ist denn los? Warum verhaften Sie mich?«

Der junge Offizier grinste wissend und stieg vorne ein. »Man wird Sie in Langley informieren, Sir.« Er drückte auf ein paar Knöpfe im Armaturenbrett. Sofort spürte James, wie der Wagen sanft beschleunigte. »Lehnen Sie sich einfach an und entspannen Sie sich.«

Dann schaltete der junge Mann ein Kommunikationsgerät im Armaturenbrett ein. »Zielperson ist unterwegs«, versicherte er jemandem am anderen Ende. »Erwartete Ankunft um zehn-null-null Uhr.«

»So schnell?«

»Wir haben ein Flugzeug für Sie bereitgestellt. Bleiben Sie einfach sitzen.«

Draußen vor der getönten Scheibe raste der schwarze Asphalt vorbei. James hob das Handgelenk, aktivierte das Telefon und verfasste eine kurze geflüsterte Nachricht an seine Mutter: »Amani Said. Nachricht: Tut mir leid, Mom. Ich kann euch nun doch nicht besuchen. Es ist etwas dazwischengekommen. Sag Dad, er soll sich keine Sorgen machen. Senden.«

Mit zitternder Stimme fügte er noch hinzu: »Falls ihr in zwei Tagen nicht wieder von mir gehört habt, ruft bitte Mister Wheelan an.« Insgeheim betete er, dass die Nachricht überhaupt durchkam.

3

Rick Blevins fuhr seinen Computer hoch und machte es sich auf dem Stuhl bequem. Während er darauf wartete, dass die sichere Verbindung aufgebaut wurde, strich er mit einer Hand über den Oberschenkel und massierte die Stelle direkt über dem Knie, wo die Prothese mit dem verbunden war, was von seinem rechten Bein noch vorhanden war. Er zuckte zusammen. Es war wohl doch recht schwierig, sich an dieses neue Ding zu gewöhnen.

Genau wie die alte bestand auch die neue Prothese größtenteils aus einem synthetischen Gewebe, das sich beim Gehen versteifte und erweichte und so die Nachgiebigkeit oder Steifigkeit des Oberschenkelgewebes nachbildete. Die bionischen Muskeln wurden über Elektroden gesteuert, die mit seinem Nervengewebe verbunden waren. Doch die neue Prothese, die eigentlich seine Beweglichkeit verbessern sollte, besaß anscheinend ein Eigenleben. Wenn er sie morgens einrasten ließ, liefen ihm immer winzige Energiestöße aufwärts bis zur Wirbelsäule durch den Körper. Es war ein ausgesprochen fremdartiger Eindruck. Noch schlimmer war, dass das neue Bein anscheinend mit seinem Neurostimulator im Krieg lag. Dieses Gerät war im Kreuz implantiert und sollte die Schmerzen lindern. Doch die alten Phantomsignale erwachten pulsierend und brennend immer wieder zum Leben.

Er starrte aus dem Fenster. Das Wetter bot ihm keinen Trost. Der eiskalte Regen der vergangenen Nacht hatte die Betonfassade des Pentagon mit einer dünnen Reifschicht überzogen. Als er sich mit der Hand über den Schädel fuhr, spürte er das dichte und borstige braune Haar. Er musste sich mal wieder die Haare schneiden lassen …

Das Summen des Intercom am Jackenaufschlag riss ihn in die Gegenwart zurück. »Wir brauchen Sie hier unten«, ließ ihn eine militärisch strenge Stimme wissen.

»Hier unten«, das war General Blankenships Büro im Keller. Rick trank noch einen Schluck Kaffee aus dem Thermo­becher und rückte den Schlips zurecht. Er war ziemlich sicher, was gleich kommen würde.

Vor einem Monat hatte man ihn nach Fort Detrick gerufen und gebeten, einen Kommentar zu einem Biowaffenprojekt abzugeben. Den unmittelbaren Gefahren, die beim Dienst in der Spezialeinheit sein Leben geprägt hatten, war er nicht mehr ausgesetzt, doch bei seinem Schreibtischjob als Analytiker im Hauptquartier der CIA hatte er die scharfen Instinkte, die ihm im Feld so gute Dienste geleistet hatten, durchaus nutzen können. Mit zunehmender Sorge hatte er die Machbarkeitsstudie gelesen und sich mit wissenschaftlichen Begriffen wie Apoptose, »programmierter Zelltod«, »Caspase« und »Nukleinsäure-Nanostrukturen« vertraut gemacht. Von den DNA-Nanostrukturen, die man kurz »NAN« nannte, hatte er schon früher gehört. Unter anderem war er dafür zuständig, die Verwendung in den Forschungseinrichtungen des Landes zu genehmigen und zu überwachen. Dies hier war jedoch etwas anderes.

Das Projekt hieß »Tabula Rasa«. Der Name war für sich genommen bereits erschreckend. Als er dann den Abschnitt mit der Überschrift »zu erwartende Auswirkungen« zum zweiten Mal gelesen hatte, blieb ihm fast das Herz stehen. Die Grundlage des Wirkstoffs war eine bestimmte Art Nukleinsäure-Nanostruktur, die »IC-NAN« genannt wurde. Wenn das Opfer diese mit Nanopartikeln manipulierte DNA-Sequenz einatmete, erreichte die Lunge sehr schnell ihr Verfallsdatum. Statt zu sterben und Platz für neue Zellen zu machen, wie es sich gehörte, vermehrten sich die alten Zellen weiter und produzierten neue defekte Zellen. Diese mutierten Zellen überwucherten das gesunde Gewebe, behinderten die Lungenfunktion und breiteten sich nach und nach im ganzen Körper aus, wo sie den anderen Organen die Nährstoffe raubten. Das gewünschte Ergebnis entsprach einem aggressiven Lungenkrebs – ein langsamer, aber unausweichlicher Tod.

Statt dem Programm den erwarteten Genehmigungsstempel zu verleihen, hatte er eine ganze Salve mit Eingaben abgefeuert, um die sofortige Einstellung zu bewirken. Es war verrückt, neuartige, unerforschte Biowaffen in die Welt zu entlassen, auch wenn die Zielorte noch so entlegen sein mochten. Die massenhaften Vergiftungen, die Vernichtung unschuldiger Einwohner, um die wenigen zu treffen, auf die es ankam … hatten sie mit so etwas nicht schon längst abgeschlossen?

Inzwischen war er sicher, dass seine vehementen Reaktionen nicht unbemerkt geblieben waren. Zweifellos war Blankenship unzufrieden. Während er den Aufzug rief und drei Stockwerke nach unten fuhr, wappnete er sich innerlich gegen die unausweichliche Maßregelung.

Summend ging die Aufzugtür auf, er lief den schwach beleuchteten Korridor hinunter. Ein First Lieutenant erwartete ihn vor der Bürotür des Generals. Als der Mann Haltung annahm, bemerkte Rick das Schimmern eines Gewehrs. Ein bewaffneter Wachtposten. Kalter Schweiß benetzte sein Hemd.

»Sir.« Der junge Mann salutierte. Rick blieb stehen und erwiderte den militärischen Gruß. »Sir, Sie müssen Ihren Eid wiederholen.«

»Hier?«

»Ja. Ein strikter Befehl.«

Ihm sträubten sich die Nackenhaare. Rick wiederholte den Eid, den er so gut kannte. »Ich werde die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika gegen alle Feinde, ob fremd oder heimisch, schützen und verteidigen … und ihr in wahrer Treue und Loyalität dienen …« Während er die Worte sprach, hörte er seine hektischen Pulsschläge in den Ohren. »… so wahr mir Gott helfe.«

Der junge Offizier packte den Türknauf und wartete auf das deutliche Klicken, das ihm die Erlaubnis gab. Die Tür ging auf, und Rick trat ein.

»Setzen Sie sich«, sagte Blankenship. Es war ein Befehl. Rick ließ sich auf einem alten Holzstuhl nieder und betrachtete die anderen beiden Leute, die sich bereits in dem Raum eingefunden hatten. Erschrocken sah er, dass eine von ihnen Verteidigungsministerin Henrietta Forbes war. Der andere war ein kleiner Mann mit schütterem Haar in einem abgetragenen braunen Anzug.

Blankenship hustete – es blieb unproduktiv und war eher ein Knurren. »Rick«, begann er, »wir haben ein Prob­­lem.«

Rick musterte seinen Boss, General Joseph Blankenship, den Helden zweier Kriege, ausgezeichnet mit dem Purple Heart, jetzt Direktor der CIA. Der gewöhnlich eher heiter gestimmte General hatte die ledernen Armlehnen fest gepackt und die Lippen zusammengepresst.

»Dr. Rudy Garza war so freundlich, aus Fort Detrick he­rüberzukommen. Ich überlasse ihm die Erklärungen.« Blankenship drehte sich um und nickte dem Mann mit dem schütteren Haar zu, der sofort ein dünnes Tablet zückte.

»Danke, General.« Dr. Garza sprach leise, die Stimme verlor sich fast im verknitterten Kragen seines weißen Hemds. »Darf ich davon ausgehen, das Ihnen Tabula Rasa bekannt ist?«

»Das Projekt, mit dem Sie vor ein paar Jahren begonnen haben? Die auf Initiatorcaspase wirkende NAN?« Rick beugte sich vor und sah den General scharf an. »Ich habe empfohlen, das Projekt einzustellen.«

Der Doktor hob den Kopf und sah ihn mit überraschend blauen Augen über die alte Drahtgestellbrille hinweg an. »Ja, ich weiß«, antwortete er.

»Es tut mir leid, Dr. Garza.« Blankenship erwiderte Ricks Blick mit einem stahlharten Funkeln. »Bitte fahren Sie fort.«

»IC-NAN wurde am 5. Januar, das ist jetzt etwas mehr als sechs Monate her, in einer entlegenen Region in Südafghanistan eingesetzt«, erklärte Dr. Garza.

»Eingesetzt? Aber …« Ricks Herz raste, das Bein pochte, während er gegen den Impuls ankämpfte, vom Stuhl aufzuspringen. Er hatte seine Zeit verschwendet. Als er seine Einschätzung zu Tabula Rasa abgegeben hatte, war die ­IC-NAN längst eingesetzt worden.

Nun schaltete sich die Verteidigungsministerin Forbes ein. »Trotz des Waffenstillstands war die Region westlich von Kandahar nicht unter Kontrolle. Feindliche Kämpfer hatten sich in Höhlen verschanzt und schossen aus dem Hinterhalt auf unsere Friedenstruppen … wir haben bis zu fünf Soldaten am Tag verloren. Wir brauchten eine präzise Waffe, die keine Spuren hinterließ. Keine Spuren von sich selbst, keine Spuren der Herkunft. Sie sollte töten und verschwinden.«

»Wie Sie ja wissen«, fuhr Dr. Garza fort, »war IC-NAN für diesen Zweck wie geschaffen. Eine synthetische Nukleinsäure-Nanostruktur oder NAN ahmt die Aktivitäten eines Virus nach, kann jedoch von dem befallenen Individuum nicht repliziert werden. Deshalb ist sie nicht ansteckend. Außerdem war diese NAN dergestalt konstruiert, dass sie nach wenigen Stunden von selbst zerfallen würde, wenn sie nicht inhaliert wurde.«

»Zerfallen …«, wiederholte Rick. Er erinnerte sich an diese Eigenschaft und ihre Bedeutung.

»Ja. Sobald der Stoff in die Luft entlassen wird, denaturiert oder zerfällt die aktive Version der Nanopartikel, die als kleine Kugeln hergestellt werden, zu einer lang gestreckten Form. Diese lang gestreckte Form kann nicht in die menschlichen Zellen eindringen. Nach intensiven Untersuchungen wurde unsere IC-NAN für sicher genug gehalten, um sie mittels einer Drohne als Aerosol freizusetzen.«

Rick schloss die Augen. Er erinnerte sich, Garzas Namen in den Berichten gelesen zu haben – ein Chemiker mit einem Doktortitel in Molekularbiologie vom Instituto Politécnico in Mexico City. Sein geübtes Ohr nahm einen leichten spanischen Akzent wahr, der beinahe musikalisch klang. Es war schwer, auf diesen bescheidenen Überbringer schlechter Nachrichten böse zu sein. Aber lag es nun an seiner Wut oder seiner Verwirrung, dass sich der Raum plötzlich um ihn zu drehen schien? »Und? Hat die NAN getan, was sie tun sollte?« Er fand, dass seine Stimme jämmerlich klang.

Dr. Garza rückte mit einem nervösen Zeigefinger die Brille zurecht. »Normalerweise werden die Zellen in den menschlichen Lungenbläschen alle zwei bis drei Wochen durch frische Zellen ersetzt. Binnen fünf Wochen nach unserem Angriff fand man alle befallenen Personen tot auf. Die Lungenbiopsien zeigten keine Spuren von nicht infizierten und normal funktionierenden Lungenzellen. Also ja, die NAN hat offenbar funktioniert wie erwartet.«

Rick hatte einen Kloß in der Kehle. Von Blankenships makellos sauberem Schreibtisch lächelte ihn ein winziger Schneemann an, der in der stickigen Atmosphäre seiner kleinen Kugel festsaß. Wenn wirklich alles nach Plan verlaufen wäre, hätte man ihn nicht hierher einbestellt. »Und die Rückstände? Das Material, das nicht inhaliert wurde?«

Dr. Garza schluckte schwer, und Rick entging nicht, dass die Stimme des Mannes bebte, als er fortfuhr. »Wie Sie wohl schon vermutet haben, ist genau dies der springende Punkt. Die Personen, die zur Aufklärung eingesetzt wurden – das GeoBot-Team, das die Leichen suchte –, also einige Teammitglieder, erlitten … Spätschäden. Und am Zielort wurden mehr tote Personen in einem weiteren Bereich gefunden, als man aufgrund der vor dem Einsatz gemachten Luftaufnahmen hätte erwarten können.«

»Demnach hat sich die NAN nicht zersetzt?«

»Doch, das hat sie. Jedenfalls in dem Sinne, dass sie auf die nicht infektiöse gestreckte Form zurückgefallen ist. Aber …«

»Aber?«

Dr. Garza riss sich von seinen Notizen los und wandte sich an die anderen in dem Raum. »Diese Form konnte zwar keine menschlichen Zellen infizieren, wurde jedoch von einer empfänglichen Spezies von Archaeen aufgenommen, die im Wüstensand leben. Die NAN fügte sich in deren Genom ein. Und anscheinend waren diese Mikroben fähig, sie bei jeder Teilung zu replizieren.«

Rick umfasste die Armlehnen seines Stuhls. »Also haben diese Dinger weitere Kopien der NAN-DNA hergestellt? Woher wissen Sie das?«

»Wir haben aus der Kleidung der Opfer entnommene Proben analysiert. Die NAN-DNA ließ sich in der DNA der Archaeen nachweisen. Aber … das Problem ist noch viel schlimmer. Wir haben entdeckt, dass einige dieser Mikroben mit rekonfigurierten sphärischen NAN gefüllt waren.«

»Demnach haben sie die Partikel selbst hergestellt?«

»Ja. Und sobald diese neuen NAN produziert waren, veranlassten sie die Archaeen zu … explodieren. Es gibt keinen besseren Ausdruck dafür.«

»Sie haben also die sphärischen NAN wieder in die Luft entlassen …«

Der Wissenschaftler nickte langsam. »So scheint es. Der Zyklus konnte dann mit frischer IC-NAN wieder von vorne beginnen.«

Rick beugte sich vor. »Damit ich das richtig verstehe – die sphärischen NAN, die Sie aus der Drohne versprüht haben, konnten menschliche Zellen infizieren. Die abgebaute lineare Form, in die sich die NAN im Freien zurückverwandelt, ist dazu nicht in der Lage. Das sollte doch eigentlich die wichtigste Sicherheitsvorkehrung sein.«

»Das ist korrekt.«

»Aber die Archaeen sind fähig, die lineare Form aufzunehmen, Kopien herzustellen und aus der DNA wiederum sphärische NAN zu produzieren?«

»Ja«, antwortete Dr. Garza und starrte wieder wie gebannt in seine Notizen.

Rick holte tief Luft. »Und die sphärischen NAN können dann wiederum aus den Archaeen entweichen und weitere Menschen infizieren?«

Dr. Garza hob mit versteinerter Miene den Kopf. »Ja. Anscheinend wirken dabei zwei Mechanismen.« Er drehte sein Tablet herum, damit es die anderen sehen konnten. Die Abbildung zeigte das Archaeon, einen stabförmigen grünen Organismus, der voller kleiner DNA-Brocken war, die als IC-NAN gekennzeichnet waren. Wie um ihre Gefährlichkeit zu unterstreichen, hatte Garza die NAN rot dargestellt. Das Archaeon begann gerade an einem Ende mit der Teilung. Vor dem Riss in der Zellwand waren weitere NAN-Teilchen eingezeichnet. Einige besaßen die sphärische infektiöse Form, andere waren zu der wurmähnlichen linearen Struktur zerfallen. »In einem Szenario«, erklärte Garza, »werden die neu synthetisierten sphärischen NAN vom Archaeon direkt in die Umwelt ausgeschieden. Binnen weniger Stunden dürften diese NAN zur linearen Form degenerieren – die allerdings, wie wir jetzt wissen, zwar keinen Menschen, aber wiederum ein anderes Archaeon infizieren könnte. Falls ein Mensch in der Nähe ist, könnte die NAN natürlich auch, ehe sie degeneriert, einen Menschen befallen, der gerade in der Nähe ist.« Er wischte weiter zu einem zweiten Bild, das den seitlichen Querschnitt eines Menschen zeigte. Die Atemwege waren offen und ließen winzige grüne und rote Punkte eindringen. »Wie gesagt, ein Mensch könnte diese neue NAN einatmen. Aber in einem anderen Szenario wird das Archaeon von dem Opfer eingeatmet und entlässt dann die NAN innerhalb des Körpers.« Er löste den Blick vom Bildschirm. »Wir haben Beweise dafür, dass alle diese Mechanismen auftreten können und aufgetreten sind.«

Rick lehnte sich zurück und massierte sich den Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. »Das heißt, die Sache ist außer Kontrolle geraten«, sagte er. »Die Bodenorganismen replizieren die IC-NAN-Sequenz und scheiden aktive NAN in die Biosphäre aus. Sie dienen somit als Überträger einer neuartigen Archaeeninfektion, die jeden treffen könnte. Jeden Menschen.«

Garza schaltete das Tablet ab und presste es sich an die Brust. »Ja.«

Rick wandte sich an Blankenship. »Ich habe Sie vor den unberechenbaren …« Er hielt inne. Natürlich hatte ihn niemand nach seiner Meinung gefragt, ehe sie losstürmten. Gereizt wandte er sich wieder an Garza. »Die menschlichen Opfer können doch die NAN nicht auf andere Menschen übertragen, oder?«

»Nein«, entgegnete Dr. Garza. »Dieser Teil des Plans hat funktioniert. Die Opfer sind nicht ansteckend. Nur die infizierten Mikroben sind …«

»Und Tiere und Pflanzen sind nicht betroffen?«

»Die Wirkung dieser DNA ist auf Menschen beschränkt.«

»Dann müssen wir noch einmal über die Archaeen sprechen. Wissen wir, wie viele davon infiziert sind? Oder wie viele verschiedene Spezies dieser Gruppe betroffen sein müssten? Die Antwort könnte …«

»Wir schätzen gerade die Ausbreitung ein. Bisher konnten wir nur die DNA einer einzigen Archaeenspezies isolieren. Wir sind nicht sicher, ob verschiedene Mikrobenarten fähig sind, in freier Wildbahn untereinander das Genmaterial auszutauschen. Diese Hypothese wird derzeit im Labor untersucht.«

Rick biss die Zähne zusammen und ließ den anklagenden Blick durch den Raum zu Henrietta Forbes wandern. »Jetzt müssen wir alle mit anpacken«, warf Blankenship ­eilig ein, um der Ministerin unangenehme Fragen zu ersparen. »Im Augenblick sind Sie der einzige verfügbare Agent, der vollständig über das Projekt informiert ist.«

»Vollständig?« Rick suchte Blankenships Blick. »Haben Sie mir wirklich alles gesagt?«

»Alles, was wir im Augenblick wissen«, bestätigte Dr. Garza ruhig. »Allerdings bekommen wir ständig neue Informationen.«

Rick hatte Mühe, ein gehässiges Lachen zu unterdrücken. Natürlich, alles, was er befürchtet hatte, trat jetzt ein – und es war sogar noch schlimmer. Die Natur hatte immer die besseren Karten. Man musste kein Naturwissenschaftler sein, um das zu verstehen. »Evolution«, sagte er. »Die kleinen Biester haben tatsächlich die Fähigkeit entwickelt, NAN zu synthetisieren.«

Rudy Garza starrte stur geradeaus, die blauen Augen waren stahlgrau. »Ja. Die Archaeen entwickeln sich.«

»Rick, Sie werden mit Ihrem früheren Rang als Colonel wieder in den aktiven Dienst einberufen und beaufsichtigen die gemeinsamen Ermittlungen«, erklärte Blankenship. »Das schließt das Personal vom Verteidigungsministerium, das Wissenschaftlerteam in Fort Detrick und alle untergeordneten Wissenschaftler ein, die wir hinzuziehen.«

»Aber … Sir …« Ricks Blick wanderte über die erwartungsvollen Gesichter in dem Büro. »Ich bin kein Wissenschaftler«, protestierte er. »Ich hatte mit Spezialeinsätzen zu tun, und die paar Semester Biologie in West Point qualifizieren mich sicher nicht … sie werden nicht auf mich hören …«

Blankenship schüttelte den Kopf. »Sie sind für die Sicherheit zuständig«, erwiderte er. »Man wird auf Sie hören. Wer das nicht einsieht, fliegt raus.«

»Na gut«, lenkte Rick ein. »Schön. Mir bleibt ja sowieso nichts anderes übrig.« Er lehnte sich an, die Holzleisten seines Stuhls drückten im Rücken. Warum sonst hatten sie ihn hierhergeholt und ihre Sünden gebeichtet? Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie das Projekt schon vorher begraben, aber jetzt musste er den Mist wieder aufräumen.

Es gab eine unbehagliche Pause, während Blankenship auf dem Schreibtisch mit einem Tablet herumfummelte. »Wir haben einen weiteren Wissenschaftler identifiziert, den wir im Team brauchen. Er lehrt an der Emory. Er muss noch informiert werden«, verkündete der General.

»An der Emory? Wer ist es denn?«

Blankenship massierte sich die Stirn mit einer Hand. »Sie haben sicher schon von ihm gehört. Said. Dr. James Said.«

Wieder einmal erschrak Rick. Said. Die schwierige Freigabe, die er im letzten Jahr selbst bearbeitet hatte. »James Said … Emory … meinen Sie den Pakistani? Aber Sie haben doch schon das Team in Fort Detrick …«

Blankenship starrte ihn über den Rand des Tablets hinweg an. »Dr. Garzas Team weiß alles über die NAN, die wir freigesetzt haben – wie man sie synthetisiert, wie sie funktionieren soll. Aber wenn wir die Menschen vor diesem Ding beschützen wollen, brauchen wir Fachleute für die menschliche Physiologie. Genauer gesagt, für … wie heißt das noch gleich, Garza?«

»Zellbiologie«, half Dr. Garza ihm aus.

»Genau«, bekräftigte Blankenship. »Dr. Garza hat Dr. Said vorgeschlagen.«

»Dr. Said ist übrigens kein Pakistani. Er ist Amerikaner, geboren in Bakersfield, Kalifornien«, erklärte Dr. Garza. »Er ist ein anerkannter Experte für die rekombinante DNA-Therapie und genießt im Zentrum für Gentherapie ein hohes Ansehen. Ich habe gehört, er könnte sogar als der nächste Leiter infrage kommen. Und er hat umfassende Erfahrungen mit der Aktivität von NAN im menschlichen Gewebe.«

Wieder beugte Rick sich vor, um seinem Argument Nachdruck zu verleihen. »Wie Sie wissen, war ich für Saids Überprüfung verantwortlich, als er sich um die Arbeit mit NAN beworben hat«, erinnerte er die anderen. »Ich habe davor gewarnt, dass er ein Gefahrenmoment darstellt. Wir wissen alle, wer sein Onkel war, auch wenn es ihm anscheinend nicht bewusst ist.«

Blankenship machte sich nicht einmal die Mühe, den Kopf zu heben. »Letzten Endes haben Sie ihm aber den Zugang gewährt, oder nicht?«

Rick starrte seinen Boss an. »Wir müssen ihn auf jeden Fall im Auge behalten. Ist es denn wirklich nötig, ihn …«

»Er ist sauber«, fiel ihm der General ins Wort. »Er weiß nichts über seine entfernten Verwandten.«

»Sind Sie da ganz sicher?«

»Seine Eltern haben sich seit der Einbürgerung vorbildlich verhalten. Sie haben ihn im Dunkeln gelassen«, erwiderte der General. »Ich kann Ihnen die Überwachungsakten zeigen, wenn Sie möchten.«

Rick lehnte sich zurück, aus seinen Gliedern wich die ganze Kraft. Akten. Soweit Farooq Said betroffen war, James Saids berüchtigter Onkel, hatte er alle Akten gesehen, die er je sehen musste. »Schon gut«, antwortete er. »Wo ist er jetzt?«

Der General stand auf und gab ihm damit zu verstehen, dass die Sitzung beendet war. »Er ist in diesem Moment nach Langley unterwegs. Sie sollen ihn dort empfangen.«

In dem kleinen, nur schwach beleuchteten Konferenzraum beugte sich James Said über den Tisch. Auf den abgedunkelten Bildschirmen liefen die Berichte aus Fort ­Detrick vorbei. Mit stetigen Bewegungen der Finger blätterte er weiter und bewegte lautlos die Lippen.

Mit seiner schmächtigen Figur, den sorgfältig gegelten Haaren und den kaschierten, vorzeitig ergrauten Stellen wirkte Said überhaupt nicht wie die Militanten, denen Rick damals bei seinem verdeckten Einsatz in Pakistan begegnet war. Trotzdem ballte er unwillkürlich die Fäuste, als er sich dem Mann gegenüber an den Tisch setzte und wartete. Er konnte sich gut erinnern, wie er einmal in einer verlassenen Hütte ein Stück außerhalb von Karatschi sehnigen Armen ein abgesägtes Gewehr entwunden hatte. Der stechende Geruch von Kreuzkümmel hatte sich mit dem von Schweiß gemischt. Er erinnerte sich an die rasen­den Schmerzen, die durch seinen Bauch geschossen waren. Dann die Heimfahrt ohne sein Bein – und ohne Mustafa, den vertrauenswürdigen Dolmetscher, den zu beschützen er geschworen hatte.

Dieser Mann roch nach einem alltäglichen amerikanischen Rasierwasser. Die verknitterte Kleidung passte zu einem Akademiker in mittleren Jahren, der über Weihnachten die Familie in Kalifornien besuchen wollte. Rick legte sich eine Hand in den Nacken und überwand sich, den geistigen Zustand von Orange auf Gelb zu setzen, dann von Gelb auf »alles klar«. Der General hatte ihm versichert, der Mann sei in Ordnung, auch wenn Saids Familiengeschichte verdächtig war.

Schließlich lehnte Said sich zurück und schob die Lese­brille von der markanten Nase zur Stirn hinauf. Seine Miene war undurchdringlich.

»Was halten Sie davon?«

»Wovon?«

Rick starrte ihn an. Said war offenbar nicht erfreut darüber, auf seinen Urlaub verzichten zu müssen. Doch da die Karten jetzt auf dem Tisch lagen, war dies wirklich nicht der richtige Augenblick, um mit einem Frage-und-Antwort-Spiel zu beginnen. »Sind die Erkenntnisse belastbar?«

»Die DNA-Sequenzen in den Archaeen entsprechen denen der NAN. Die Archaeen sind fähig, aktive NAN herzustellen und auszuscheiden. Es steht doch alles in den Berichten.«

»Dann brauchen wir jetzt ein paar Ideen.«

»Wozu?«

O mein Gott. »Natürlich auf die Frage, wie wir darauf reagieren wollen.«

»Wenn das hier wirklich passiert ist …«

»Sie sagten doch gerade, dass Ihnen genau dies klar ist …«

»Wenn all das zutrifft, dann bitten Sie mich, ein riesiges Problem genauso überstürzt zu lösen, wie Sie das hier losgelassen haben.«

»Hören Sie.« Rick stand auf und ignorierte die tausend Nadelstiche in dem Bein, das nicht mehr existierte. Er umrundete den Tisch und blieb neben dem Wissenschaftler stehen. »Ich habe nichts losgelassen. Ich bin nur der arme Hund, der sich überlegen muss, wie man das aufräumt. Und ich bitte Sie um Hilfe.«

»Tut mir leid.« Der Mann suchte seinen Blick, seine Miene zeigte vorübergehend sogar etwas, das an Mitgefühl erinnerte. »Ehrlich, ich hatte eigentlich damit gerechnet, jetzt zu Hause bei meinen Eltern zu sein. Stattdessen sitze ich hier mit Ihnen herum, und Sie erzählen mir solche Sachen. Das … das ist schwer zu verdauen.«

»Falls es Ihnen hilft, wir erwarten nicht gleich morgen früh ein Ergebnis«, erklärte Rick.

»Was meinen Sie, wie viel Zeit wir noch haben?«

»Detrick hat die Datenbank im Argonne National Lab konsultiert. Die vorliegenden Daten über die natürliche Ausbreitung von DNA bei dieser Art Wüstenmikrobe ergaben mehrere Modelle. Wahrscheinlich fünf Jahre, bis es aus der Region ausbricht. Möglicherweise aber weniger …«

»Und wir wissen, dass die DNA im Augenblick nur in einer Spezies von Archaeen vorkommt?«

»Im Augenblick schon.«

»Gut.« Said rieb sich mit den Handrücken die Augen. »Ich nehme an, ich habe in dieser Angelegenheit nicht viel zu melden. Wie Sie schon sagten, weiß ich jetzt zu viel … wir müssen uns jedenfalls sofort an die Arbeit machen.«

Rick beugte sich vor. »Woran denken Sie? Eine Art Impfstoff vielleicht?«

»Ein Impfstoff wirkt nicht.«

»Nein?«

»Ein traditioneller Impfstoff hilft dem Körper, eine Immunreaktion auf fremde Erreger aufzubauen. IC-NAN ist jedoch so entworfen, dass es dem Körper nicht als fremd erscheint. Wir brauchen eine DNA-Version, die das unerwünschte Verhalten aufhebt. Und wir brauchen eine Methode, um sie in den menschlichen Körper zu bekommen. Gentechnik in einem nie gekannten Ausmaß.«

»Können wir nicht einfach die Quelle ausschalten und diese Dinger töten?«

»Solange sie leben, sind diese Mikroben Fabriken für gefährliche DNA, die Sie … die unsere Regierung so unklug in die Biosphäre entließ. Sie haben sich bereits weit über das Maß der Dosis hinaus vermehrt, die Ihre Drohnen abgeworfen haben. Wenn sie sterben, scheiden sie anscheinend die DNA in der ursprünglichen ansteckenden Form aus. Wenn Sie sie absichtlich töten, werden Sie den Freisetzungsprozess vermutlich noch beschleunigen. Kurz und gut, Sie haben ein Monster erschaffen.«

»Können wir sie … nicht einfach verbrennen?«

»Das können Sie versuchen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Sie damit Erfolg haben. Wir reden über viele Milliarden infizierte Mikroorganismen, die sich dank des Winds inzwischen wahrscheinlich über mehrere Quadratkilometer ausgebreitet haben. Gut möglich, dass mit der Zeit auch neue Mikrobenarten befallen werden. Ich kann mir keine vollkommen sichere Methode vorstellen, um jegliche infizierte Materie zu vernichten …« Said stand auf und stützte vorgebeugt und mit hängendem Kopf die Hände auf den Tisch, Finger gespreizt. Rick hatte Mühe, die nächsten Worte zu verstehen. »Nein, wir müssen einen Weg finden, den menschlichen Körper so zu verändern, dass er mit diesem … mit diesem losgelassenen Monster leben kann.«

Rick setzte sich schwerfällig wieder hin. Er hatte gehofft, etwas Besseres zu hören, irgendeine erstaunliche Lösung. Er mochte Said nicht – diese defätistische Haltung, die offenkundige Arroganz. Aber auf ein Wunder konnte er wirklich nicht hoffen.

Und was der Mann sagte, entsprach der Wahrheit. Sie wussten beide zu viel, um dem Problem den Rücken zu kehren. »Wissen Sie, warum man Sie ausgewählt hat?«, fragte er.

»Ausgewählt?« Said hob verständnislos den Kopf.

»Man hat Sie für dieses Projekt aus dem gleichen Grund ausgewählt wie mich. Sie haben keine Familie.«

»Aber meine Eltern …«

»Keine Frau, keine Kinder. Wir können nicht darauf vertrauen, dass die Menschen rational urteilen, wenn …«

»Hören Sie«, antwortete der Wissenschaftler. Seine hellbraunen Augen blitzten erregt. »Ich glaube, das hier kann niemand, der noch einigermaßen bei Verstand ist, gelassen betrachten. Aber ich will versuchen, so vernünftig zu sein, wie ich nur kann.«

4

James knirschte mit den Zähnen. Kaum zu glauben, dass seit seinem ersten Treffen mit Colonel Richard Blevins erst ein paar Wochen vergangen waren. Sein Bioschutzanzug der Klasse 4 fühlte sich an wie ein Gefängnis. Die hellen Deckenlampen spiegelten sich in dem durchsichtigen Plastikhelm, der seinen Kopf umgab, und blendeten ihn. Der kurze Gang durch den engen Flur zum Hochsicherheitslabor von Fort Detrick war anstrengend, der Schweiß rann ihm seitlich am Gesicht herab und störte ihn erheblich.

»Früher waren die Anzüge noch schlimmer«, erklärte Rudy Garza. Gedämpft drang die Stimme des kleinen Mannes aus James’ Ohrstöpsel, beinahe unhörbar in dem Zischen der geringelten Luftschläuche, die sie mit den Anschlüssen in der niedrigen Decke verbanden. »Heute haben wir wenigstens eine gute periphere Sicht.«

Auf einer so hohen Sicherheitsstufe hatte James noch nie gearbeitet. Bei seinen Versuchen an der Emory war dies nicht nötig. Doch Rudys derzeitige Aufgabe drehte sich um ein kontaminiertes Archaeon, das aus einer in ­Afghanistan genommenen Probe stammte. Und wenn James helfen wollte, dieses Biest zu bändigen, musste er sich ihm von Angesicht zu Angesicht stellen.

Sie traten durch die zweite Luftschleuse und näherten sich in einem kleinen Innenraum dem mit einer Haube gesicherten Arbeitsplatz. Die winzigen Organismen, die ihnen solche Probleme machten, hatte man inzwischen als Angehörige des Stamms der Thaumarchaeota aus der Domäne der Archaeen klassifiziert. Zu dieser Gruppe gehörten einige der ältesten Organismen auf der Erde. Wie James inzwischen wusste, waren die Archaeen keine Bakterien, sondern bildeten eine eigene Gruppe von Lebewesen, die auf gewöhnliche Antibiotika nicht ansprachen. Sie waren von Natur aus Trockenheit gegenüber unempfindlich und konnten Sporen bilden, um widrige Bedingungen zu überleben. Archaeen wie diese gab es in allen möglichen Umgebungen, wie lebensfeindlich sie auch sein mochten.

Bisher beschränkten sich die Todesfälle durch IC-NAN auf zwei Bergdörfer in einem Umkreis von fünfzehn Kilo­metern um den Einsatzort. Die im Labor untersuchten Archaeen stammten von der Uniform eines verstorbenen Feldaufklärers. James zuckte zusammen, als er sich an die geheimen Videos erinnerte, die man ihm gezeigt hatte: Frauen und Kinder lagen in schlecht ausgerüsteten Lazarettzelten auf dem Boden und spuckten hustend Blut in den Sand. Ein junger amerikanischer Soldat lag auf dem Rücken und hing am Beatmungsgerät – unfähig, nach Hause zu fahren, und unfähig zu sterben. Das Problem war, dass niemand genau sagen konnte, wie weit sich ­IC-NAN ausbreiten würde.

Unter der Haube standen Reagenzgläser mit trübem Agar in ordentlichen Reihen bereit.

»Das sind unsere Wirte«, erklärte Rudy. Der schwache mexikanische Akzent des Mannes und die raschen, siche­­ren Bewegungen, während er mit einem Roboterarm aus dem hinteren Teil der luftdicht verschlossenen Haube einen kleinen Halter mit Objektträgern nach vorne holte, erinnerten James an die fähigen Arbeiter, die in Bakersfield die Hanfernter bedient hatten. Der Roboterarm zog eine dünne Glasscheibe aus dem kleinen Regal. »Diese Archaeen sind fähig, sich in freier Wildbahn gegenseitig genetische Merkmale zu übertragen. Ich habe herauszufinden versucht, ob die infizierte Thaumarchaeotaspezies die neu erworbene Fähigkeit der NAN-Synthese auch auf andere ­Archaeenspezies übertragen kann.«

»Sollte ich auf dem Objektträger irgendetwas erkennen?«

»Setzen Sie sich«, antwortete Rudy. Der ferngesteuerte Arm schob den Träger auf einen Mikrometerschlitten, der seinerseits gehorsam unter das Objektiv eines Fluoreszenzmikroskops wanderte, das in eine gläserne Nische der Haube eingelassen war. »Bitte sehen Sie selbst.«

James drückte seinen Helm gegen das Okular und bemühte sich, durch das durchsichtige Plastik etwas zu erkennen. Zu seiner Überraschung passte sich der weiche Plastikring des Okulars genau an die Schutzkleidung an. »Können wir damit tatsächlich die NAN sehen? Sind sie nicht zu klein?«

»Jedes NAN-Teilchen ist nur dreizehn Nanometer groß. Aber wenn sie mit dem Fluoreszenzfarbstoff markiert werden, kommt etwas heraus, das hell und groß genug ist, damit es die Filter des Geräts auffangen können.«

James kniff die Augen zusammen. Das Bild erinnerte an ein altmodisches Kreuzworträtsel. Einige quadratische Segmente waren völlig dunkel, während andere hellgelb leuchteten. »Wonach muss ich Ausschau halten?«

»Jedes Segment des Gitters enthält annähernd hundert Organismen, jeweils von einer anderen Archaeenspezies. Die Organismen sind auf einem Kulturmedium gewachsen, auf dem vorher die infizierten Thaumarchaeota gezüchtet wurden. Die Frage war, ob von der infizierten auf die neue Spezies eine Art Gentransfer stattfindet. Als Kontrollgruppe haben wir auch einige normale Bakterien hinzugefügt – Kolibakterien aus dem Darm und eine Pseudomonas-Spezies, die im Erdreich vorkommt, und so weiter. Auf jedem Objektträger sehen wir die Ergebnisse für fünfzig verschiedene Organismen.«

»Welche sind betroffen?«

»Die Segmente, die von der Fluoreszenz hervorgehoben werden, enthalten diejenigen Organismen, in denen sich die NAN so gut angereichert hat, dass sie unter dieser Vergrößerung sichtbar wird. Glücklicherweise hat keine der bisher getesteten häufigen Bakterienarten die Fähigkeit erworben, NAN herzustellen. Allerdings haben es einige der Archaeenarten getan – namentlich einige aus den Vereinigten Staaten. Die Probe rechts unten stammt aus der Argonne-Sammlung. Sie wurde unweit von Chicago genommen.«

»Das bedeutet …«

»Wir haben einen Mechanismus identifiziert, mit dem sich diese neue Fähigkeit auf der ganzen Erde ausbreiten könnte. Möglicherweise ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir auch in den USA Spezies finden, die IC-NAN herstellen können.«

James’ Herz raste. Er wollte – musste – an diesen Mann glauben, an den einzigen Menschen, dem er seit Beginn seiner Mitarbeit an diesem Projekt begegnet war, der anscheinend willens und bereit war, sich der gewaltigen Aufgabe zu stellen. Doch er brauchte unbedingt auch gute Neuigkeiten. Etwas lahm verlegte er sich auf die Fragen, die Blevins ihm bei ihrer ersten Begegnung gestellt hatte. »Aber … können wir nicht die gegenwärtigen Wirte töten, ehe sie die Gelegenheit bekommen, andere Spezies zu infizieren?«, fragte er.

»Wir müssen es eben versuchen«, antwortete Rudy gleichmütig. »Aber es gibt nicht viele preiswerte Mittel zur Dekontamination, die nicht auch gleichzeitig für Menschen toxisch sind. Diese Organismen lachen nur, wenn sie mit etwas wie Bleiche konfrontiert werden. Und wir können nicht einfach eine ganze dicht besiedelte Region in Brand stecken …«

James nickte. Er hatte es schon in den Abendnachrichten gesehen – Militärbots bearbeiteten mit Flammenwerfern eine anscheinend leblose weite Wüste. Die Presse hatte sich darauf gestürzt, und die Spekulationen, was dort im Gange sein mochte, kochten über. Doch bisher funktionierte die Geheimhaltung, und es war nichts durchgesickert.

»Was die Sache noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass sich die Archaeen laut den Daten des Argonne-Laboratoriums auch durch Luftströmungen, durch den Jetstream und so weiter verbreiten können. Gut möglich, dass sie mit Militärfahrzeugen und Gerätschaften schon die Region verlassen haben. Wir können nur weiter versuchen, den Ausbruch einzudämmen und die weitere Verbreitung zu verhindern, und wir müssen die schon existierenden Modelle verfeinern, um vorherzusagen, wo der nächste Ausbruch stattfinden könnte.« Wieder arbeitete Rudy an der Steuerung und ließ den Roboter den Schlitten zurückziehen. Dann steckte er den Träger wieder in den kleinen Ständer. Mit hängenden Schultern schlurfte er zum Eingang. Während er die behandschuhte Hand hob, um die Luftschleuse zu aktivieren, drehte er sich zu James um. »Was haben Sie Colonel Blevins gesagt?«

»Ich sagte ihm, wir müssten uns einen Weg überlegen, wie wir die Zielzellen im Menschen verändern. Die DNA umbauen. Eine Art Gegengift finden, das ständig jedem Menschen auf der Erde verabreicht wird. Höchstwahrscheinlich läuft es auf eine andere NAN hinaus.«

»Was hat er darauf geantwortet?«

»Bisher noch nichts.«

Rudy seufzte. »Es ist seltsam, wie eines zum anderen führt … vor vielen Jahren empfahl mir mein Doktorvater, in Mexiko zu bleiben und in der Lehre zu arbeiten. Stattdessen entschied ich mich für einen Posten an der Rockefeller University in New York. Danach wollte ich in den USA bleiben …«

»Warum?«

»Ein Mädchen natürlich … wieder etwas, das nicht gelaufen ist wie geplant. Sie hat unsere Verlobung gelöst, nachdem ich mich für eine Anstellung entschieden hatte.«

»Und dann sind Sie nach Fort Detrick gekommen.«

»Das war ein schneller Weg zur Einbürgerung.«

»Aber warum sind Sie nach der Trennung noch geblieben?«

»In Detrick musste ich mir über die Mittel keine Sorge machen – ich hatte alles, was ich nur wollte. Ein großzügiges Labor, gute Geräte … ich wurde sogar zum Leiter der Gruppe befördert. Und ich habe an vielen interessanten Projekten gearbeitet.« Rudy senkte den Blick und betrachtete die geschützten Hände. »Ich muss aber zugeben, dass es manchmal auch frustrierend war. So viele Untersuchungen, so viele Berichte, die auf den Schreibtischen von Leuten wie Colonel Blevins verstaubt sind und ungelesen archiviert wurden. Mir war wichtig, dass die meisten Arbeiten auf den Schutz vor Bioterrorismus zielten – meiner Ansicht nach ein wertvolles Ziel.«

»Aber Sie müssen doch erkannt haben, dass IC-NAN nichts mit Verteidigung zu tun hatte …«

»Als ich die Leitung des Projekts übernahm, das dies hier erschaffen hat … da dachte ich, es sei genau wie alle anderen. Nur eine Machbarkeitsstudie. Eine Gelegenheit, an etwas zu arbeiten, das ein wenig außerhalb meines sonstigen Fachgebiets lag. Ich war sicher, dass es genauso abgelegt werden würde wie alles andere. Genau darauf habe ich vertraut.« Rudy sah ihn durch die Plastikscheibe flehend an. »James, ich wusste nicht, dass sie es tatsächlich einsetzen würden. Jetzt ist mein einziger Trost, dass wir mit Ihrer Hilfe einen Weg finden werden, um es aufzuhalten.«

Wieder einmal spürte James den Schweiß an den Schläfen, und wieder wurde ihm eng im Anzug. »Glauben Sie denn, wir können es noch … aufhalten?«

»Es gibt nicht mehr viel, dessen ich mir sicher bin. Aber eines wird mir mit jedem Tag deutlicher bewusst. Wie drückt man es aus? Die Uhr … tickt?«

James schloss die Augen. Er hatte versucht, es sich wie irgendein beliebiges Projekt vorzustellen, irgendeine wissenschaftliche Hürde, die sie überwinden mussten – denn sobald er sich etwas anderes ausmalte, verschwamm es ihm vor Augen. Dies hier war alles, was er noch tun konnte, um nicht in Panik zu geraten. Für Panikattacken hatte er keine Zeit. Er würde einen Weg finden, die Menschen vor dieser schrecklichen Bedrohung zu beschützen. Es musste einfach gelingen.

5

Juni 2060

Kai spürte, wie die morgendliche Wärme durch Rosies Luke drang und seinen Kokon erfüllte. Als er sich den Schlaf aus den Augen rieb, berührte er den kleinen Höcker auf der Stirn, die wunde Stelle, wo der Chip direkt unter der Haut implantiert worden war.

»Dein Chip ist etwas Besonderes«, hatte Rosie ihm erklärt. »Er verbindet uns.« So konnten sie einander erkennen, sagte sie. So konnte sie mit ihm sprechen. Abgesehen vom Sprachtraining, benutzte sie nie die hörbare Stimme.

Er tastete nach der glatten Fläche der Luke vor ihm. Sobald er sie mit den Fingerspitzen berührte, wurde die transparente Fläche undurchsichtig. Ein Bild erschien – eine Gruppe Männer mit sonnengegerbter Haut, die sich farbenfrohe handgewebte Umhänge über die gebeugten Schultern geworfen hatten.

Rosie hatte ihn etwas über die Völker gelehrt, die in der Wüste lebten – in einer Wüste, die dieser hier sehr ähnlich war, die sich jedoch auf der anderen Seite der Erde befand, und außerdem war es schon sehr lange her. Rosie sagte, die Männer auf den Bildern seien die Hüter der Schriftrollen. Alte Schriften wie jene, die man mehr als hundert Jahre vor der Epidemie aus Höhlen geborgen hatte. »Was ist das?«, fragte er und zeigte auf einen der Männer. Über der Stirn trug er ein kleines Kästchen, das mit einem Leder­riemen befestigt war.

Rosie summte und klickte leise und beruhigend in seinem Kopf, während sie die gewünschten Informationen abrief. »Man nannte sie Tefillin. Sie enthielten vier winzige Schriftrollen mit Auszügen aus einem Buch, das ›Tora‹ hieß.« Die Servomotoren surrten leise unter ihrer Konsole. »Das Buch beschrieb die Glaubensregeln, nach denen sie lebten.«

»Du lehrst mich durch meine Tefillin.« Kai zeigte auf seine staubige Stirn und den Chip, der dort implantiert war. »Bist du meine Tora?«

Rosie hielt inne. Sie dachte nach und verfasste gewissenhaft ihre Antwort, wie sie es oft tat, wenn er ihr eine schwierige Frage gestellt hatte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Die Informationen, die ich liefere, beruhen ausschließlich auf Tatsachen. Es ist wichtig, zwischen dem Glauben und den Tatsachen zu unterscheiden.«

Kai zog die Hand von dem Bildschirm zurück, und die Darstellung verblasste. Er spähte durch die Luke, die wieder durchsichtig war. Draußen umgaben die vertrauten Felsformationen schützend ihr Lager, die mächtigen roten Finger zeigten zum Himmel. Sie waren stark wie Rosie und ließen sich durch Wind und Wetter nicht beirren.

Er kannte die Namen der Felsen – das Rote Pferd, der Mann mit der großen Nase, der Gorilla und der Vater, der sein dickes rundes Felsbaby bis in alle Ewigkeit auf den Riesenknien wiegte. Rosie hatte ihm geschildert, wie die Menschen früher gelebt hatten. Sie war seine Mutter. Damals hatte er geglaubt, die Felsen seien seine Familie – die Hüter, die zusammen mit Rosie seit seiner Geburt über ihn wachten.

Er drückte auf der linken Seite gegen die Luke, und als die Klappe aufschwang, traf ihn sofort die Wärme der Sonne. Er krabbelte über Rosies Laufketten hinunter auf den Boden. Im vernarbten Spiegelbild des Metalls konnte er sich selbst betrachten. Sein Gesicht war gebräunt und voller Sommersprossen, auf dem Kopf saß ein Gestrüpp rotbrauner Haare, zwischen dichten Wimpern blitzten blaue Augen. Irgendwo, das hatte Rosie ihm erzählt, gab es noch andere Kinder. Andere wie ihn, die aber anders aussahen. Rosie konnte nicht sagen, wie viele es jetzt waren. Am Anfang waren es fünfzig gewesen. Wenn die richtige Zeit gekommen war, würden sie die anderen finden.

Als Kai über die rissige Erde zum Gipfel einer niedrigen Anhöhe lief, tropfte der Schweiß durch die Augenbrauen herunter. Der Sand knirschte im Mund. Oben angekommen, krümmte er die Handflächen zu einem Fernglas, durch das er die einsame Landschaft überblickte. Er versuchte, im unwirklichen Flimmern der fernen Trugbilder die entlegenen Orte zu entdecken, die Rosies Bildschirm ihm gezeigt hatte. Dort gab es hohe Berge, deren Gipfel im Winter mit Schnee bedeckt waren. Jetzt waren sie schwarz, ihrer Decken beraubt.

»Können wir bald gehen?«, sendete er an seine Mutter. »Ich glaube, ich bin bereit …«

»Wenn es die Bedingungen erlauben, können wir heute aufbrechen.«

»Heute?«

Er hatte gespürt, dass der Tag bald kommen würde. Auf ihrem letzten Ausflug zum Depot hatte Rosie die riesigen Felsblöcke beiseitegeschoben und die schweren Metalltüren mit den mächtigen Armen aufgezogen. Sie hatten die letzte Kiste mit Vorräten und die allerletzten Wasserflaschen mitgenommen. Abends, wenn die heiße Sonne hinter den Felsen versank und die Schatten länger wurden, hatte sie ihn gelehrt, sein Essen selbst zu suchen. Mit einer verbeulten Blechdose hatte er trockene Grassamen gesammelt und über einem kleinen Feuer geröstet, dann hatte er Wasser dazugegeben und aus Stückchen von Maus- oder Eidechsenfleisch eine dünne Suppe gekocht. Er hatte die zarten Blütenstängel der Bananenyucca gekaut und darauf geachtet, ein paar zu verschonen, damit er im kommenden Herbst die süßen Früchte ernten konnte. So hatten sich vor langer Zeit die Einwohner dieser Gegend ernährt.

»Du bist sechs Jahre alt«, sagte Rosie. »Die Zeit ist gekommen, diesen Ort zu verlassen.«

»Wohin gehen wir?«

»Das weiß ich nicht.«

»Du weißt es nicht?« Sein Herz schlug schneller, als er hörte, dass es etwas gab, das seine Mutter nicht wusste.

»Der Befehl ist unvollständig. Er weist uns an, hier wegzugehen. Das Ziel ist allerdings nicht definiert.«

Kai starrte Rosies mächtigen Körper an. Auf den verkratzten Flanken flimmerte die Hitze. Sein Kopf summte, während ihre Prozessoren arbeiteten. »Woher wissen wir dann, ob wir zu dem richtigen Ort gehen?«

»Es gibt sechsundsiebzig Vorratslager. Alle besitzen einen Kondensatorturm und eine Wetterstation«, erklärte sie.

»Und was ist mit den anderen Kindern? Werden wir sie jetzt finden?«

Wieder hielt sie inne. Er stellte sich vor, wie die Elektronen durch ihre Nanoschaltungen sausten, und wie die Informationsbröckchen durch die Teile ihres Gehirns flogen, dessen Aufbau sie ihm geduldig beschrieben hatte. »Das ist möglich«, erwiderte sie schließlich. »Die Wahrscheinlichkeit, dass andere Kinder überlebt haben, ist größer als null.«

Aufgeregt rutschte Kai den Abhang hinunter in den Schatten seiner Mutter. Er hatte die Petroglyphen gesehen, die Zeichnungen, die alte Völker an den hohen Flanken der Felsen hinterlassen hatten. Er wollte auch selbst ein Zeichen anbringen und hob mehrere kobaltblaue Steine auf, die er in Form von Buchstaben wieder ablegte. Kai, Sohn von Rho-Z, buchstabierte er. ICH WAR HIER. Sobald er gewissenhaft die Worte geformt hatte, stellte er sich vor, wie sich ein anderes Kind hier in den Staub hockte und die Botschaft las. Benommen lehnte er sich zurück, die Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen.

»Du musst etwas essen«, ermahnte Rosie ihn.

So kletterte er über die Raupenketten hoch, um ein Päckchen Nahrungsergänzung hinter seinem Sitz hervorzuholen, riss eine Ecke der Verpackung ab und quetschte sich die zähflüssige Masse in den Mund. »Soylent Pedia-Supp Nutri-Gro – 6-8 Jahre«, stand auf dem Etikett. Die Packung enthielt alle Nährstoffe, die er brauchte, doch er war die milchige Beschaffenheit und den salzig-süßen Geschmack leid. Danach bekam er immer Durst.

Er hob die leere Feldflasche vom Boden seines Kokons auf und ging zu dem flaschenförmigen Kondensatorturm, der so hoch war wie der Gorillafelsen. Das Gebäude war aus verflochtenen Strängen eines biegsamen Materials konstruiert und verfügte über ein engmaschiges Netz, dessen helles Orange sich von dem dunklen Auffangbecken ganz unten abhob. Kai tauchte die Feldflasche ein und wartete, bis sie sich gefüllt hatte. Der Wasserstand war so niedrig, dass er die trübe Flüssigkeit mit der Hand in die schmale Öffnung schöpfen musste.

Er konnte sich an die Regengüsse erinnern, die sich früher als reißende Ströme in den Canyons gesammelt hatten. Manchmal hatte er in Mulden gebadet, die nach Jahren der Erosion entstanden waren. An kühlen Abenden hatte er dem Tröpfeln des Wassers gelauscht, das durch das Netz im Turm gelaufen und platschend im Becken gelandet war. Inzwischen warfen auch die bedrohlichsten Wolken kaum noch etwas ab. Das Becken war beinahe leer. Und der Notvorrat an Wasser im Vorratslager, der säuerlich und chemisch schmeckte, war erschöpft. Als er in Rosies Schatten im Staub kauerte, stellte Kai sich vor, er wäre ein Stein und hätte die Kälte in sich, die er während der Nacht aufgespeichert hatte.

Im Laufe des Tages war seine Mutter schweigsam. Heute gab es keinen Unterricht. Sie hatte zu tun. Unterdessen starrte er zur Wüste hinaus, zu den spärlichen, stachligen Pflanzen, in deren Schutz Insekten, Eidechsen und kleine Nagetiere mühsam ihren Lebensunterhalt zusammenkratzten. Er leckte sich über die trockenen Lippen. In der Ferne im Westen wechselte die Farbe der Mesas von Gold nach Purpur. Vielleicht würden sie heute doch nicht aufbrechen.

Doch dann drang Rosies Stimme in sein Bewusstsein. »Es ist Zeit«, sagte sie. »Zieh dich bitte an.«

»Wohin gehen wir?«

Sie antwortete nicht. Er hörte ihre Prozessoren und zwischen den Ohren ein leises Geräusch wie vom Wind.