Der NSU-VS-Komplex - Wolf Wetzel - E-Book

Der NSU-VS-Komplex E-Book

Wolf Wetzel

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Beschreibung

13 Jahre blieb der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) unentdeckt. Zehn Morde wurden begangen, zehn Mal verschoben die Behörden verschiedener Bundesländer die Mordhintergründe ins ›ausländische Milieu‹. Zehn Mal will man keine ›heiße Spur‹ gehabt haben. Dennoch legte man alle zehn Morde in die Blutspur des ›organisierten Verbrechens‹. Nachdem die Existenz des NSU nicht mehr zu leugnen war, reihte sich eine Panne an die andere. Dass in allen Behörden Beweise verschwinden, Akten verheimlicht, Falschaussagen gemacht, ganze Aktenberge geschreddert werden, beweist, dass weder ›Behördenwirrwar‹ noch ›Kommunikationschaos‹ herrsch(t)en, sondern der gemeinsame Wille, unter allen Umständen zu verhindern, dass etwas ans Licht kommt, was den bisherigen Erklärungen widersprechen würde. Ab wie vielen Pannen muss man von einem System sprechen? Wenn über zwei Dutzend V-Männer hervorragende Kontakte zur neonazistischen Organisation ›Thüringer Heimatschutz‹ und zu den späteren Mitgliedern des NSU hatten, waren staatliche Stellen nicht etwa auf dem ›rechten Auge blind‹, sondern ließen sehenden Auges zu, dass über sieben Jahre hinweg zehn Morde begangen werden konnten. Eine Spurensuche von Wolf Wetzel

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Seitenzahl: 233

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Wolf Wetzel

Der NSU-VS-Komplex

Wolf Wetzel war Autor der ehemaligen autonomen L.U.P.U.S.-Gruppe, in den 90er Jahren Mitglied im antirassistischen Plenum/Frankfurt, Mitinitiator des Aufrufes ›Die Brandstifter sitzen in Bonn‹ (Bundestagblockade anlässlich der Abschaffung des Asylrechtes 1993), und zwischen 2001 und 2007 Mitglied in der AntiNaziKoordination (ANK) in Frankfurt. Seit 2011 Vorstandsmitglied von Business Crime Control (BCC) Frankfurt.

Wolf Wetzel

Der NSU-VS-Komplex

Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund –wo hört der Staat auf?

Wolf Wetzel

Der NSU-VS-Komplex

ebook UNRAST Verlag, Oktober 2013

ISBN 978-3-95405-012-3

© UNRAST-Verlag, Münster

Postfach 8020, 48043 Münster

Tel. (0251) 66 62 93 | Fax: (0251) 66 62 20

www.unrast-verlag.de | [email protected]

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage

Kapitel IDie Gegenwart der Vergangenheit

Kapitel IIDer Nationalsozialistische Untergrund (NSU), der Verfassungsschutz (VS), der Rassismus und der Terrorismus – eine Zwischenbilanz und Aufforderung zugleich

Kapitel IIIDer institutionalisierte Rassismus: die Spur von den Pogromen in den 90er Jahren über die Abschaffung des Asylrechts zum Nationalsozialistischen Untergrund

Kapitel IVDie Legende von den spurlos Verschwundenen

Kapitel VDie Mär vom Behördenwirrwar

Kapitel VINagelbombenanschlag in Köln 2004

Kapitel VIIDer Mord in Kassel 2006: Der 1001. Zufall oder Beihilfe zu Mord

Kapitel VIIIDer Mordanschlag auf PolizistInnen in Heilbronn 2007

Kapitel IXInterview mit Petra Senghaas alias ›Krokus‹

Kapitel XWo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Über unsichtbare staatliche Tatbeiträge

Kapitel XIDie Verschwörung der Zufälle – Erhellendes im Darkroom

Teil XIIVon der schonungslosen Aufklärung bis zum totalen Blödsinn

Kapitel XIIIDie parteiübergreifende Angst der Aufklärer

Kapitel XIVGanz sicher: Selbstmord?

Kapitel XVDie Abschaffung der Geheimdienste – oder: Wer macht’s?

Kapitel XVIStand antifaschistischer Bewegung

Kapitel XVIIFaschismustheorien: Von der Renazifizierung über den neuen / institutionellen Faschismus bis zum 4. Reich

Kapitel XVIIIZwischen blindem und tiefem Staat – jenseits obskurer Mächte

Kapitel XIXWie viel Staat steckt im Nationalsozialistischen Untergrund?

Anhang

Chronologie: Die NSU-Mord- und Terrorserie – die verdächtigen Opfer

Offener Brief der Schwester des 2001 in Hamburg ermordeten Süleymann Tasköprü, Aysen Tasköprü (2013)

Brief an den NSU-Untersuchungsausschuss. Auszüge aus dem Schreiben einer kurdischen Mitbürgerin aus Köln (2013)

Literatur und Hinweise

Zum Autor

Vorwort zur 2. Auflage

Der Prozess gegen mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) wurde am 6. Mai 2013 in München eröffnet.

Für allergrößte Aufregung sorgte die Sitzplatzvergabe. Nachdem fast alle Platz gefunden haben, verläuft der Prozess laut Süddeutscher Zeitung »in geordneten Bahnen«. Eine mehr als beunruhigende Einschätzung.

Für die zweitgrößte Aufregung sorgte Beate Zschäpe zur Prozesseröffnung:

»Die Staatsfeindin Nummer 1 trägt einen schwarzen Hosenanzug, die weiße Bluse lässig über der Hose. Schwarze Halbschuhe, große silberne Creolen in den Ohren. Das Haar offen und vom Gefängnis-Friseur für 10 Euro kastanienbraun getönt, schlendert sie um 9.55 Uhr in den Gerichtssaal A 101, die Arme vor der Brust verschränkt.« (Bild).

Auch die Frankfurter Rundschau haderte mit ihren eigenen Stereotypen: »Sieht so das Böse aus?« (FR vom 7.5.2013)

Dankbar und gekonnt aufgeregt platzierte man Beate Zschäpe auf dem Laufsteg der Berichterstattung. Beate Zschäpe von hinten, von vorne, von der Seite. Alle durften empört sein, alle durften maßlos enttäuscht sein: Eine Nazifrau darf keinen schwarzen Hosenanzug tragen – so die einhellige Kleiderordnung der medialen Öffentlichkeit. Wie soll, wie darf ein neonazistisches Kadermitglied aussehen? Wie muss sie gekleidet sein, dass die mediale Öffentlichkeit zufrieden, angenehm schockiert ist? Soll sie ein T-Shirt tragen, mit der Zahl 18 drauf ? Soll sie ein Tattoo sichtbar tragen, auf dem ein Hakenkreuz oder das Emblem von ›Blood & Honour‹ zu sehen ist? Damit jeder aufrechte Demokrat sofort erkennt: So sieht Neonazismus aus? So sehen wir nicht aus?

Beate Zschäpe enttäuschte nicht nur, was ihr Outfit angeht, sie enttäuschte auch in ihrer Haltung. Unisono wird sie als entspannt, unbeschwert, freundlich, locker, aufmerksam, gesprächig beschrieben. Wie hätten es denn die Medien gern: Eine Nazifrau, die ihre KameradInnen mit einem Nazi-Gruß begrüßt? Eine, die unentwegt Naziparolen, möglichst hasserfüllt brüllt? Eine Nazifrau, die an den Nägel kaut, die nervös ist, sich versteckt?

Die Medien waren schlichtweg mit Beate Zschäpe nicht zufrieden: Sie sollte wie ein schreckliches Monster aussehen, eine, die ganz sicher nicht zu uns gehört, die mit uns nichts gemein hat! Jetzt kann man sie kaum von uns unterscheiden. Das bereitet gerade jenen Medien große Sorge, die mit rassistischen und nationalistischen Theoremen (von der ›Asylantenflut‹ bis hin zu den ›faulen Griechen‹) kein Problem haben, aber mit der Blutspur, die sie hinterlassen, nichts zu tun haben möchten. So titelte die BILD-Zeitung einen Tag nach Prozesseröffnung: ›Der Teufel im schwarzen Kleid‹.

Endlich war die Welt wieder in Ordnung: Ein Teufel, der sich nur verkleidet hat, der uns alle täuschen wollte, aber dank BILD uns nicht täuschen kann!

Wundersam auch die rührende Sorge der medialen Öffentlichkeit um die Opfer der NSU-Morde. Dreizehn Jahre lang waren sie ihnen keinen Cent, keine Zeile wert. Dreizehn Jahre hat die mediale Öffentlichkeit sie nicht in Schutz genommen, dreizehn Jahr lang dauerten die Unterstellungen an, sie hätten etwas mit den Morden zu tun, hätten irgendwie selbst (Mit-)Schuld.

Nun möchte man die Opfer, die man jahrelang verhöhnt hat, für sich, für das eigene gute Gewissen sprechen lassen – selbstverständlich nur die Opfer, die ihnen genehm sind, die authentisch das Versprechen der lückenlosen, schonungslosen Aufklärung wiedergeben.

Noch einmal benutzt man sie, versteckt die Farce dieses Gerichtsverfahrens hinter ihren Wünschen! Denn selbstverständlich wird es in diesem Prozess nicht um eine lückenlose Aufklärung gehen, schon gar nicht um die Frage, welche staatlichen Behörden dazu beigetragen haben, dass der NSU dreizehn lang ›unerkannt‹ im Untergrund (mit regelmäßigem Urlaub, mit Teilnahme an Neonazidemonstrationen, mit guten Kontakten zur Nachbarschaft, mit Familientreffen etc.) leben konnte, dass die zahlreichen Möglichkeiten, diese neonazistische Terror- und Mordserie zu stoppen, unterlassen, verhindert wurden.

Man beutet die Hoffnung der Opfer aus, weil man weiß, dass ihre Hoffnungen nicht die geringste Chance haben, erfüllt zu werden. Dazu muss man nicht das Orakel von Delphi anrufen, sondern sich einfach die Pressekonferenz des OLG München nach dem Verhandlungsauftakt in Erinnerung rufen: Dort erklärte man der Presse, dass kein Verfassungsschutz, kein Innenministerium, kein MAD, keine Polizeibehörde vor Gericht stehen werden, sondern genau fünf Neonazis. Alles andere könne, dürfe man sich wünschen, wäre aber nicht Gegenstand dieses Verfahrens: »Wir haben bisher noch keinen Hinweise auf lokale Unterstützer, auch noch keine Hinweise auf die Verstrickung staatlicher Behörden gefunden«, sagte Bundesanwalt Herbert Diemer.

Während sich die Presse unisono über das Hosenkleid von Beate Zschäpe echauffierte, war diese haarsträubende Festlegung keine Aufregung wert.

Auch die systematischen Vertuschungen, die Falschaussagen, die Vernichtung von Beweismitteln, die in allen Behörden vorgenommen wurden, werden nicht Gegenstand dieses Prozesses sein. Daran ließ das OLG München in selbiger Pressekonferenz keine Zweifel aufkommen: »Gegenstand sind die angeklagten Personen und Taten. Ziel kann es nicht sein, mögliche Versäumnisse bei Ermittlungen aufzuklären, dazu gibt es die Untersuchungsausschüsse der Länder und des Bundes.«

Das Gericht wird also mithilfe der vernichteten Beweise nur das verfolgen, was mit den übrig gebliebenen Beweisen aufgeklärt werden kann/soll. Das heißt im Klartext: Grundlage dieses Prozesses ist eine manipulierte Beweislage.

Das sollten alle wissen, die aus Verzweiflung oder Hoffnung darauf setzen, dass in diesem Prozess eine lückenlose, schonungslose Aufklärung erfolgen wird.

Nun liegen 32 Prozesstage hinter uns. Von über 600 Zeugen wurden 98 befragt. Terminiert ist die Urteilsverkündung für Dezember 2014. Was in dieser Zeit zur Sprache kam, fällt meilenweit hinter das zurück, was aufmerksame BeobachterInnen längst wissen (müssten). Das stört das Magazin Der Spiegel überhaupt nicht und zieht fröhlich Zwischenbilanz: »Rasant in Richtung Wahrheit«. (7.8.2013)

Mit diesem Titel könnte man auch eine Anstaltszeitung in einer bayerischen Psychiatrie schmücken.

Glücklicherweise verläuft nicht alles ›in geordneten Bahnen‹. Nach Fertigstellung der Manuskripte für die erste Auflage kamen neue Fakten hinzu und ab und an versagte auch die Geheimhaltung und der Verweis ›Nur für den Dienstgebrauch‹.

Aus diesem Grund kann diese 2. Auflage um einige wichtige Beiträge ergänzt werden: Neu hinzugekommen sind Texte zu dem Nagelbombenanschlag in Köln 2004, zum Mord in Kassel 2006 und zu dem Mordanschlag auf zwei Polizisten in Heilbronn 2007 – in Verbindung mit einem Interview mit Petra Senghaas, der V-Frau des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg mit dem Decknamen ›Krokus‹.

Letzterer Text war der schwierigste. Während es bei allen anderen Morden – nach offizieller Lesart – so gut wie keine Spuren gab, so wurde man in diesem Fall mit DNA-Spuren, Hinweisen und Mutmaßungen geradezu überschüttet: Sie reichten von Andeutungen, die ins kriminelle Milieu führen sollten, über das Wattestäbchen-Phantom, über ein US-amerikanisches Geheimdienstprotokoll (veröffentlicht im Magazin Stern), bis hin zu den entwendeten Dienstwaffen, die 2011 im Campingwagen der beiden namentlich bekannten NSU-Mitglieder gefunden wurden.

Die Entscheidung, diesen Mordanschlag mit aufzunehmen, verdanke ich im Wesentlichen einer ungewöhnlichen Zeugin, einer ehemaligen V-Frau, die seit Oktober 2006 unter dem Decknamen ›Krokus‹ für den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg arbeitete. Sie hatte den Auftrag, über Aktivitäten von Neonazis im Raum Schwäbisch Hall zu berichteten.

Ans Herz legen möchte auch einen Text, der sich mit der vielerorts verwendeten Metapher vom ›tiefen Staat‹ auseinandersetzt und auf diese Weise versucht, die Verfasstheit dieses Staates noch einig wenig präziser zu fassen.

Zu guter Letzt möchte ich mich bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben, dass es zu dieser zweiten erweiterten Auflage gekommen ist. Bei denen, die das Buch gekauft haben, bei jenen, die mich auf Fehler hinwiesen, bei denen, die sich bei der Spurensuche beteiligt haben, bei denen, die ›Geheimnisverrat‹ begingen und bei Petra Senghaas alias Krokus, die trotz Bedrohungen und Flucht bei dem bleibt, was sie wenige Tage nach dem Mordanschlag auf die Polizisten in Heilbronn erfahren und ihrem V-Mann-Führer mitgeteilt hatte.

Kapitel I

Die Gegenwart der Vergangenheit

Mit 14 Jahren erzählte mir mein Vater empathisch von seinen Kriegserlebnissen. Sie waren spannend und ich hörte ihm gebannt zu. Er erzählte, wie er ein Stilett in den Hals bekam, als er ein Haus in Jugoslawien nach Verdächtigen durchsuchte, wie er 1944 hinter den feindlichen Linien im Nahkampf durch einen Spatenstich schwer verletzt wurde, als sie mit dem Panzer auf Hirschjagd gingen. Ich war stolz auf meinen Vater. Das war um das Jahr 1968 herum.

Nicht nur meine Eltern gehorchten dem NS-Staat, es wimmelte nur so von Nazis im Nachkriegsdeutschland. Viele hatten führende Ämter in der Bundesrepublik Deutschland inne. Das aber erfuhr man weder von den Eltern, noch in der Schule, in der ebenfalls viele Nazis jetzt Demokratie lehrten.

Es waren die 1968er Bewegungen, die an unser Ohr drangen, die das untergründige Unbehagen in der Familie, in der Schule und bei der Arbeit erklärten, entschlüsselten, herausschrieen.

Plötzlich wusste man, dass ein amtierender Ministerpräsident (Filbinger, CDU) als Marinerichter Todesurteile ausgesprochen hatte, dessen Vorgänger im Amt und späterer Bundeskanzler (Kiesinger, CDU) führender Mitarbeiter im Reichsaußenministerium war, dass viele Bosse in Politik und Wirtschaft führende Nazis waren.

Heute wissen wir, dass in fast allen Behörden, in fast allen staatlichen Institutionen über 50 Prozent des leitenden Personals ehemalige NSDAP-Mitglieder und auch SS-Angehörige waren. Besonders hoch war der Anteil in den nicht ganz neu aufgebauten Geheimdiensten (Organisation Gehlen/BND) und in der Polizei.

Das war der nationalsozialistische Untergrund derjenigen Generation, die für Deutschland die ›Stunde Null‹ ausgerufen hatte.

Und seit dem verdienstvollen Buch von Malte Herwig ›Flakhelfer – wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden‹ verstehen wir, warum alle Bundesregierungen bis in die 90er Jahre hinein alles dafür taten, dass das Archiv des Berlin Document Center/BDC das deutsche Nachkriegsgewissen nicht belastete: »Die im BDC verwahrte Mitgliederkartei der NSDAP gab fast 50 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes vertraute Namen preis, darunter drei Bundespräsidenten – Walter Scheel (FDP), Karl Carstens (CDU) und Heinrich Lübke (CDU), den ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages Richard Stücklen (CSU), die Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Walter Scheel (beide FDP), Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller (SPD) und Liselotte Funcke (FDP), Kanzleramtschef Horst Ehmke (SPD), den ehemaligen Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger und viele mehr…

Man gewann den Eindruck, das Land sei in seinen frühen Jahren von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern regiert worden. Der Eindruck täuschte nicht. Allein in der Regierung Willy Brandts saßen zwölf ehemalige Nationalsozialisten.« (FR vom 22.6.2013)

An dieser Renazifizierung beteiligten sich Regierung und Opposition in großer Eintracht: »Das Desinteresse an den Dokumenten des BDC war (…) allumfassend und parteiübergreifend. Union, SPD und FDP waren sich darin einig, eine neue ›Entnazifizierung‹ um jeden Preis verhindern zu wollen.« (s.o.)

Mit Blick auf das, was noch kommen sollte: Ein nationalsozialistischer Untergrund, der mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland – für sich – die ›Stunde Null‹ ausgerufen hatte.

Ende der 70er Jahre wurde das oft unterschwellige, das nicht offensichtliche sichtbar: Es entstanden viele neofaschistische Kameradschaften, viele neonazistische Gruppierungen, deren Hauptziel die Linke war und alles, was nicht deutsch genug war. Die Zahl der rassistischen Überfälle, der bewaffneten Auseinandersetzungen wuchs.

Schließlich kam es auch zu terroristischen Aktionen, wie dem Bombenanschlag auf das Oktoberfest in München 1980. In ganz Westeuropa kam es zu solchen Anschlägen, die nur ein einziges Ziel verfolgten:

»Man musste Zivilisten angreifen, die Bevölkerung, Frauen, Kinder, Unschuldige, Unbekannte, die mit der Politik nichts zu tun hatten. Der Grund dafür war einfach. Die Anschläge sollten das italienische Volk dazu bringen, den Staat um größere Sicherheit zu bitten. […] Diese politische Logik liegt all den Massakern und Terroranschlägen zu Grunde, welche ohne richterliches Urteil bleiben, weil der Staat sich ja nicht selber verurteilen kann.« (Prozessaussage von Gladio- und Ordine Nuovo-Mitglied Vincenzo Vinciguerra, 1990)

Diese Strategie des Terrors war in Italien besonders furchtbar (wie der Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof in Bologna 1980, wo 85 Menschen ermordet und über 200 verletzt wurden). Das Anwachsen neofaschistischer Gruppierungen, die bewaffnet und gezielt linke Projekte angriffen, Menschen zusammenschlugen und ermordeten, die nicht ihre Hautfarbe hatten oder ihre neofaschistische Gesinnung nicht teilten, wurde zu einem (west)europaweiten Phänomen.

Das offene, das geradezu demonstrative Auftreten, das Gewährenlassen vonseiten staatlicher Stellen, das Bagatellisieren neofaschistischer Überfälle als Taten einzelner ewig Gestriger, der beständige Versuch der Regierenden, für diese Terrortaten die Linke verantwortlich zu machen, machte damals nicht nur mich stutzig.

20 Jahre später lagen die Beweise vor: Es gab in vielen Ländern Europas, besonders dort, wo die außerparlamentarische Linke stark war, eine systematische Zusammenarbeit von neonazistischen Gruppierungen mit Polizei- und Geheimdienststellen. Man bewaffnete sie, man ließ sie Depots anlegen, man besorgte ihnen Sprengstoff, man schützte sie vor Strafverfolgung, man gab ihnen Hinweise über ihre Gegner aus der parlamentarischen wie außerparlamentarischen Linken. In Italien bekamen diese staatsterroristischen Aktivitäten den Namen ›Strategie der Spannung‹.

Der Aufbau und die Bewaffnung neonazistischer Terrorgruppen war ein transnationales Unternehmen. Sie wurden von NATO-Stellen geleitet, in den jeweiligen Ländern über die Geheimdienste umgesetzt. Das Programm nannte sich ›Gladio‹ und sah vor, in Krisensituationen, in bürgerkriegsähnlichen Zuständen neofaschistische Kampfverbände hinter den Linien einzusetzen, um so einen illegalen, schmutzigen Krieg zu führen, der je nach nationalen Bedingungen auch die Liquidierung linker ParlamentarierInnen einschloss. Die Verflechtung, die Zusammenarbeit von neofaschistischen Gruppierungen und staatlichen Organen wurde damals, als dieser Verdacht aufkam, vehement zurückgewiesen. Im schlimmsten Fall sprach man von Ungereimtheiten, von tragischen Pannen – wie heute. Wer damals hingegen eine Systematik vermutete, wurde als VerschwörungstheoretikerIn lächerlich gemacht. Heute ist dieser Staatsterrorismus eine bewiesene Tatsache.

Wieder zwanzig Jahre später, wollte ich auch biografisch, familiengeschichtlich dieser Blutspur nachgehen. Die Kriegsabenteuer meines Vaters bekamen einen anderen Ton, eine andere Farbe. Ich machte mich auf, die Wehrmachtsakten meines Vaters zu studieren. Ich bekam heraus, dass er sich mit 17 Jahren freiwillig zur SS meldete, dass das, was er für Kriegsabenteuer hielt, Kriegsverbrechen waren: Er war an der Partisanenbekämpfung in Jugoslawien genauso beteiligt gewesen wie an dem letzten Versuch von SS-Verbänden, noch einmal bis Budapest zu gelangen, um die begonnene Ermordung der dort lebenden Juden zu vollenden.

2012 verurteilte das Amtsgericht Dresden den Antifaschisten Tim H. zu einem Jahr und 10 Monaten Haft – ohne Bewährung. Es sah es als erwiesen an, dass Tim H. im Zuge der Gegendemonstrationen gegen einen Neonaziaufmarsch am 19. Februar 2011 in Dresden folgende Straftaten begangen habe: Körperverletzung, besonders schwerer Landfriedensbruch und Beleidigung. Letztere soll er mit dem Wort »Nazi-Schwein« gegenüber einem Polizeibeamten begangen haben. Die beiden schweren Straftaten habe er zwar nicht selbst begangen, aber so gut wie: Mittels eines Megafons habe er andere dazu »aufgeheizt«, was den Richter zu dem Fazit führte: »Was andere getan haben, müssen Sie sich mit anrechnen lassen.«

Damit habe er sich der Mittäterschaft nach § 25, Absatz 2 StGB schuldig gemacht. Ein Paragraf, der in seinen traumwandlerischen Ausdeutungen darlegt, wie man Täter ohne Tat werden kann:

»Mittäter ist, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen Tatbeitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint. (…) Für eine Tatbeteiligung als Mittäter reicht ein auf der Grundlage gemeinsamen Wollens die Tatbestandserfüllung fördernder Beitrag aus, der sich auf eine Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlung beschränken oder in einer geistigen Mitwirkung liegen kann.« (http://www.wiete-strafrecht.de/User/Darstellung/StGB/25%20StGB.html#mittaeterschaft)

Lässt man dieses Urteil einmal so stehen und geht man von dem Gebot der Rechtsgleichheit aus, dann wird eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord in mindestens zehn Fällen, für die der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) verantwortlich gemacht wird, gegen die zwischen 2000 und 2006 amtierenden Innenminister von Thüringen und Sachsen, gegen die Behördenchefs der Verfassungsschutzämter in Thüringen und Sachen und gegen den Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) zu einem revisionssicheren, der Abschreckung dienenden Urteil zwischen drei und fünfzehn Jahren führen.

Genügen in diesem Land zur Verhängung einer Haftstrafe von fast zwei Jahren, ein Megafon und ein Gesetz, dem »geistige Mitwirkung« als Straftat völlig ausreicht, dann kann man im Fall der längst fälligen Prozesse gegen führende Staatsbeamte von einem Berg an Beweisen ausgehen, von der Evidenz materieller Tatbeiträge, ohne die es den NSU keine dreizehn Jahre hätte geben können.

Das sind einige der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe.

Kapitel II

Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), der Verfassungsschutz (VS), der Rassismus und der Terrorismus – eine Zwischenbilanz und Aufforderung zugleich

Am 6. Mai 2013 wurde in München der Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere vier Neonazis wegen Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach § 129a und Beihilfe zu Mord eröffnet. Laut Anklageschrift bestand der Nationalsozialistische Untergrund aus drei Mitgliedern, das letzte lebende Mitglied soll Beate Zschäpe sein.

Die Frage der Verwicklung staatlicher Behörden in die NSU-Morde ist ebenfalls bereits geklärt: »Es gab bei unseren Ermittlungen keine tragfähigen Hinweise auf eine strafrechtlich relevante Verstrickung staatlicher Stellen in die Straftaten des NSU«, bekräftigte Generalbundesanwalt Harald Range in Karlsruhe. (Deutschland today vom 12.12.2012)

Ebenso will die Generalbundesanwaltschaft keine Belege dafür gefunden haben, dass es »Verflechtungen des NSU mit anderen Gruppierungen« (FAZ vom 8.11.2012) gab.

Damit will die Generalbundesanwaltschaft etwas justiziabel machen, was seit zwei Jahren kolportiert wird: Der Nationalsozialistische Untergrund ist ›das Zwickauer Terrortrio‹, Beate Zschäpe das letzte lebende Mitglied. Damit ist bereits vor Beginn des Prozesses alles entschieden, alles wieder gut: Den NSU gibt es nicht mehr.

Die Frage ist also nicht, wer ab dem 17. April 2013 auf der Anklagebank sitzt, was dort verhandelt werden soll. Die Frage ist vielmehr, wer nicht vor Gericht steht, was alles nicht verhandelt werden soll.

Der Prozess ist auf zwei Jahre angesetzt. Viel, sehr viel Zeit, um das herauszufinden, was mit diesem Prozess verhindert werden soll!

Dreizehn Jahre lang wusste niemand in den zahlreichen Strafverfolgungsorganen, dass es eine neonazistische Terrorgruppe namens ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ gibt. Nachdem die Existenz des NSU Ende 2011 nicht mehr zu verheimlichen war, wussten alle, die Polizei, die Geheimdienste, die Innenministerien, die Generalbundesanwaltschaft und alle Leitmedien, dass der NSU aus exakt drei Mitgliedern besteht. Weder fünf, nicht zwanzig, noch eine bislang unbekannte Zahl. Exakt drei! Nachdem alle (Straf-)Verfolgungsbehörden 13 Jahre lang ›im Dunkeln tappten‹, nachdem 13 Jahre absolute Finsternis herrschte, folgte gleißende, gebündelte Erleuchtung.

Seitdem ätzt sich das Wort ›Mordtrio‹ ins öffentliche Gedächtnis und die gesamte Presselandschaft folgt zwanglos dieser Diktion. In manchen Ländern Europas müsste eine solche ›Sprachregelung‹ mit Drohungen und Repressionen durchgesetzt werden – in Deutschland nicht.

In anderen Staaten, beispielsweise in Russland, in Syrien, im Iran, wäre diese voll synchronisierte Eingebung typisches Merkmal eines autoritären, diktatorischen Regimes.

Nun sind fast zwei Jahre vergangen, seit öffentlich geworden ist, dass das, was dreizehn Jahre lang irgendwelchen kriminellen ausländischen Milieus zugeschrieben worden war, eine beispiellose neonazistische Mordserie war.

Eine neonazistische Mordserie, bei der die einflussreichsten Helfer des Nationalsozialistischen Untergrundes nicht aus den Reihen der Kameradschaften oder aus Blood-&-Honour-Gruppierungen kamen, sondern aus dem staatlichen ›Sicherheits‹apparat.

Seitdem alle Ahnungslosen lückenlose Aufklärung versprechen, reiht sich ein ›einmaliger Vorgang‹ an den anderen: Vertuschungen, Täuschungen, Vernichtung und Unterschlagung von Beweismitteln, Aktenmanipulationen, Falschaussagen usw. …

Noch nie in der Geschichte der BRD standen staatliche Sicherheits-/Verfolgungsbehörden so sehr in der öffentlichen Kritik. Noch nie gab es ein solch konzentriertes Chef-Sterben. Wie Domino-Steine fallen die Köpfe von Behörden: Der vorläufig letzte war der Chef des Verfassungsschutzes in Sachsen-Anhalt.

Allerdings ein Chefsterben der Luxus-Klasse: Entlassung bei vollen Bezügen, sicheres Geleit in den vorzeitigen Ruhestand, komfortable Versetzungen.

Noch nie gab es in Deutschland ein organisiertes Verbrechen, das – angesichts erdrückender Beweise – so straffrei blieb. Noch nie waren die Zweifel an der Notwendigkeit von Geheimdiensten, sei es der Verfassungsschutz oder der MAD so laut, so prominent. Noch nie gab es eine solch hochkarätige Chance, das im Detail zu belegen, was man für falsch hält, was man als Verdacht geäußert hat, was man im schlimmsten Fall befürchtet hat.

Eigentlich die Chance für eine kritische Öffentlichkeit, für die Linke, hier die Verfolgung aufzunehmen, den Spieß endlich umzudrehen. Schließlich hat die Linke in vielerlei Hinsicht Erfahrungen damit, was die Geheimdienste können, was Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden selbst dann aus etwas machen, wenn sie rein gar nichts in der Hand haben ...

Und gerade deshalb ist das Ausbleiben einer politischen, eigenständigen Aktion so schwer zu verstehen. Zehntausend verhinderten mit Blockaden Neonazi-Aufmärsche in Dresden. Warum blockieren nicht Zehntausend ein Landesamt für Verfassungsschutz? Warum blockieren nicht 20.000 das Bundesamt für Verfassungsschutz?

Keine Frage: Viele werden sagen, dass sie jetzt doch nur darin bestätigt werden, was sie seit Jahren, seit Jahrzehnten rufen und sagen: »Deutsche Polizisten schützen die Faschisten«. Und natürlich brauchen viele Linke keine zusätzlichen Beweise dafür, dass der Verfassungsschutz abgeschafft gehört.

Auf den ersten Blick einleuchtend, auf den zweiten ziemlich falsch: Noch nie bot sich der Linken ein solch präziser Einblick in Verfolgungsorgane. Noch nie bot sich so viel Material, die Legende vom Rechtsstaat zu zerstören. Noch nie zeigten sich staatliche Strukturen auf eine Weise, die die Frage beantworten hilft: Um was für einen Staat handelt es sich heute? Um einen Überwachungsstaat? Um einen tiefen Staat, in dem sich Staatsterrorismus und demokratische Wahlen nicht ausschließen? Um einen Staat, der operative Kerne herausgebildet hat, die weder institutionell legitimiert sind, noch parlamentarisch kontrolliert werden? Operative Kerne, für die Terrorismus und Unterstützung von terroristischen Aktionen kein Problem sind, sondern konstituierendes Moment?

Wem die Verfasstheit dieses Staates nicht egal ist, wer in seiner Kritik nicht nur radikal sein will, sondern sie im Detail belegen und begründen will, der sollte sich angesichts der vielen Skandale rund um die neonazistische Mordserie nicht müde abdrehen, sondern hellwach hinschauen.

Dies ist auch ein wesentlicher Grund dieser Recherche: Genau und präzise zu belegen, was viele Wenige in den 70er und 80er Jahren für möglich hielten und aufgrund vergleichsweise weniger ›Beweise‹ als wilde Spekulation abgetan werden konnte.

Heute fehlen nicht die Belege für einen Staatsterrorismus, ohne den die Mordserie des NSU nicht möglich gewesen wäre – es fehlt der Mut, aus der Geste ›Das haben wir doch schon immer gewusst‹ herauszutreten, aufzuhören, recht zu haben und anzufangen, an den Verhältnissen etwas zu verändern.

Noch nie in der Geschichte der BRD war die Chance so greifbar, das, was man schon immer wusste, aus einer radikalen Geste in politisches Handeln zu verwandeln.

Man kann sich darüber beklagen, dass für den NSU-Prozess in München zu wenige ZuschauerInnenplätze zur Verfügung gestellt wurden. Man kann auch froh darüber sein und die Zeit nutzen, außerhalb der Gerichtsbarkeit dafür zu sorgen, dass das, was im Gericht zur Sprache kommt, nicht das letzte Wort sein wird.

Bei der Suche nach Antworten, die von der offiziellen Version abweichen, wird man bevorzugt von denen, die beweisfreie Räume anlegen, mit dem Bannstrahl der Verschwörungstheorie belegt.

Aus diesem Grund möchte ich allen LeserInnen meine Arbeitsbedingungen und Arbeitsweise offenlegen, anhand derer meine Analysen und Antworten überprüfbar sind:

Man darf davon ausgehen, dass vielleicht zehn Prozent von dem öffentlich sind, was den Komplex ›NSU-VS-MAD‹ umfasst. 90 Prozent der Geschehnisse liegen im Dunkeln. Das liegt nicht an den Lichtverhältnissen, sondern an dem konzertierten Willen vieler Behörden, taterhebliche Erkenntnisse zu leugnen, Akten verschwinden zu lassen, mit Falschaussagen zu täuschen, Beweismittel verschwinden zu lassen.

Im Dunkeln kann niemand etwas sehen, auch wenn man sich an die Dunkelheit gewöhnt hat. Es macht also keinen Sinn über diese 90 Prozent zu spekulieren, dort Mutmaßungen anzustellen. Aus diesem Grund stützen sich die folgenden Einschätzungen auf die zehn Prozent an Informationen, die uns allen zur Verfügung stehen.

Kapitel III

Der institutionalisierte Rassismus: die Spur von den Pogromen in den 90er Jahren über die Abschaffung des Asylrechts zum Nationalsozialistischen Untergrund

Der Thüringer Heimatschutz (THS), aus dem der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) hervorging, war nicht vom Himmel gefallen. Er wurde Anfang der 90er Jahre gegründet und spielte innerhalb der Neonaziszene, weit über Thüringen hinaus, eine bedeutende Rolle. Sektionen des THS gab es in Saalfeld/Rudolstadt, Gera, Jena, Sonneberg, Gera und Eisenach. Je nach Zählweise hatte der THS zwischen 120 und 150 aktive Mitglieder. Ausgezeichnete Beziehungen pflegte der THS zu ›Blood-&-Honour‹-Gruppierungen, die sich offen zu einer ›weißen‹, arischen Terrorstrategie, zum ›Rassenkrieg‹ bekennen.

Der neonazistische THS agierte nicht im Verborgenen, sondern ganz offen. Er organisierte Gedenkmärsche für Rudolf Hess, Nazi-Konzerte, führte Aufmärsche durch, griff immer wieder linke Projekte an, veranstaltete Fußballturniere und traf sich zu ›Stammtischen‹.

Nicht einmal dem Verfassungsschutz ist diese neonazistische Gruppierung verborgen geblieben: In zahlreichen Verfassungsschutzberichten wird explizit auf die größte neonazistische Gruppierung in Thüringen hingewiesen.

Um zu verstehen, wie eine solche Gruppierung in so kurzer Zeit so viel Aufsehen erregen und Schrecken verbreiten konnte, muss man die 90er Jahre in Erinnerung rufen und etwas genauer beschreiben.

Wenn es eine Zeit nach 1945 in Deutschland gab, in der Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus fast so etwas wie einen Grundkonsens dieser Gesellschaft bildeten, dann waren es die 90er Jahre. Zweifellos spielten dabei der Zusammenbruch des ›real‹sozialistischen Ostblocks, die Implosion der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die Erschöpfung der außerparlamentarischen/radikalen Linken in Europa, der Triumphzug eines Kapitalismus, der sich für das Ende der Geschichte hält (There Is No Alternative – to capitalism/TINA) eine kumulative Rolle.

Auch wenn sich die Häufigkeit rassistischer Angriffe und die stattgefundenen Pogrome geradezu gleichmäßig über alle Bundesländer verteilten, so ist es dennoch wichtig, kurz die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen anzureißen, die die verschiedenen Staatsverfassungen zurückgelassen haben.

Bei der Gründung der DDR fand man eine schier aussichtlose Situation vor: Der in die Verfassung eingelassene antifaschistische Auftrag war nicht Wunsch der Mehrheit in der neu gegründeten Republik, sondern Ergebnis der militärischen Niederlage und das Projekt einer Minorität von AntifaschistInnen, die überlebt hatten, die aus der Emigration zurückgekehrt waren. Der dortige antifaschistische Grundkonsens war also nicht das Ergebnis einer inneren politischen Überzeugung, sondern zuallererst der einer Anpassung an die neuen Machtverhältnisse (Enteignung von Naziaktivisten und Kriegsverbrechern, Entlassung von »aktiven Nazis« aus dem Staatsdienst und aus allen politischen Ämtern, Verbot von faschistischen Organisationen etc.). Daran änderte auch die unermüdliche Überzeugungsarbeit der wenigen AntifaschistInnen in der DDR nicht viel. Antifaschismus lässt sich nirgendwo auf der Welt von oben verordnen.

So verwundert es nicht, dass mit dem Zusammenbruch der DDR viele junge Menschen mit der festen Überzeugung ins Leben traten, nun sei Faschismus nicht mehr verboten. Und die vielen älteren BürgerInnen, die den SED-Sozialismus und verordneten Antifaschismus so duldsam und autoritätshörig hingenommen hatten, wie die BürgerInnen im Westen den Kapitalismus und die Lehren von Auschwitz, ließen ihrer völkischen und rassistischen Grundhaltung wieder freien Lauf.