Die drei Hälften meines Lebens - Wolf Wetzel - E-Book

Die drei Hälften meines Lebens E-Book

Wolf Wetzel

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Beschreibung

Wolf Wetzel hat seine Autobiographie geschrieben und sein rebellisches Leben in drei Hälften geteilt. In der ersten Hälfte lebt man fast nur das Leben der Anderen - das der Eltern, der Lehrer, der Erwachsenen: der Übermächtigen. Die zweite Hälfte ist dann das Gegen-Leben, ein Kampf gegen das, was bereits in einem ist und was jetzt von außen dazukommen will. Die dritte Hälfte ist der Versuch, endlich zu sich selbst zu finden, sich freizumachen und über die ersten beiden Hälften hinauszuwachsen. In einem schonungslosen Parforceritt lässt ein Autonomer der ersten Stunde sein Leben vorüberziehen, ein Leben voller emotionaler und politischer Grenzgänge, das in noch unausgeleuchtete Zonen deutscher Geschichte führt.

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Seitenzahl: 345

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Ebook Edition

Wolf Wetzel

Die drei Hälften meines Lebens

Opfer, Täter, Störenfried

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-98791-058-6

1. Auflage 2024

© Westend Verlag GmbH, Waldstr. 12 a, 63263 Neu-Isenburg 2024

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Cover-Motiv: Startbahn-West-Proteste, Frankfurt am Main am 23.1.1982, © picture-alliance/ dpa | Roland Holschneider

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Inhalt

Cover

Vorwort: Die drei Hälften meines Lebens

Die erste Hälfte meines Lebens

Die Vergewaltigung

Vom Waisenbub zur Waffen-SS

Das Schloss und die Nazis

Suche einen Kameraden

Mit Mann und Maus

Über Landser bis in die JVA Stammheim

Ein Matrose – ein Traum(a)

Die Stunde Null

Im Westen nichts Neues

Kinderheim mit »Familienanschluss«

Die zweite Hälfte meines Lebens

Hồ Chí Minh in Offenbach

12 Quadratmeter

Wo warst du?

Kirche besetzt

Die Besetzung einer Villa in Frankfurt

Der Schwarze Block. Ein Phantom kommt in Fahrt

Eine Nachtaktion bei 20 000 Watt

Selbstmord

Die lange Blutspur

Sägeblätter und Nervengas in Wackersdorf

Gerold von Braunmühl auf dem Sonntagsspaziergang

Das Tennis-Match und zwei tote Polizisten

Die Brandstifter sitzen in Bonn

Hightech-Terroristen schlagen zu

In Gottes Namen – drei Kündigungen

Der Märchenprinz

Die dritte Hälfte meines Lebens

In einer Nacht

Bring doch deine Mutter um!

Im Wehrmachtsbundesarchiv in Berlin

Der Gefährder

Überwacht

Der Schattenmann des Staatsschutzes

Wetzel gegen Bundesrepublik Deutschland

Zwei Hülsen und eine dritte Hand

Späte Berufung: Meister der Verschwörungstheorie

Warum machen Sie das?

Danksagung

Die zwei Gesichter plus x

Orientierungsmarken

Cover

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Die drei Hälften meines Lebens

In der ersten Hälfte des Lebens lebt man fast nur das Leben der anderen … der Eltern, der Lehrer, der Erzieherinnen, der Erwachsenen: der Übermächtigen.

In der zweiten Hälfte lebt man – wenn es gut läuft – gegen das, was bereits in einem ist und was von außen dazukommen will. Am besten gelingt das, indem man die Einflüsse der ersten Hälfte leugnet beziehungsweise nicht wahrnimmt.

In der dritten versucht man, zu sich selbst zu kommen, die erste Hälfte zu begreifen, die Fremdherrschaft nicht mehr zu leugnen, sondern die vielen Gesichter dieser Macht zu vermessen. Damit einher geht die Erfahrung, dass das Gegen-Leben in der zweiten Hälfte nicht frei war und dass man sich Zug um Zug daranmachen muss, im dritten Teil des Lebens über die ersten beiden Hälften hinauszuwachsen.

Neunmalkluge werden einwenden, dass man nach Adam Riese nur zwei Lebenshälften hat. Eine dritte gäbe es nicht. Das stimmt. Jedenfalls rechnerisch. Aber ich rechne ja nicht. Ich blicke auf mein Leben und versuche es zu begreifen. Dieses Buch ist also meinen drei Lebenshälften gewidmet.

Die erste Hälfte meines Lebens

Die Vergewaltigung

1925

Anne Fütterer wurde 1902 geboren. Ihr habe ich zu verdanken, dass ich einen Vater habe. Ich bin ihr zum ersten Mal begegnet, als ich 2002 in SS-Unterlagen, die im Wehrmachtsbundesarchiv in Berlin aufbewahrt sind, nach dem Leben meines Vaters suchte. Da habe ich sie kennengelernt.

Anne Fütterer, meine Großmutter, hatte eine Kindheit, von der ich nichts weiß. Gewiss stand ihr nicht die ganze Welt offen. Sie war Dienstmädchen im Schlossgartenhotel in Stuttgart. Dort kam es 1925 wohl zu einem Seitensprung aus den Klassenverhältnissen. Es war ein Geschäftsmann aus Wien. Ob es ein Seitensprung war, den beide wollten, darf man bezweifeln. Das Ergebnis hatte sie jedenfalls auszubaden, ganz alleine. Sie wurde schwanger.

Abtreiben konnte und wollte sie nicht. So wenig das Kind gewollt war, so klar war ihr mit ihren 23 Jahren: Sie kann dieses Kind nicht großziehen. Bevor es zur Welt kam, ging Anna zum Jugendamt in Tübingen. Sie gibt an, dass sie für dieses uneheliche Kind nicht aufkommen könne, und beantragt die Amtsvormundschaft. Dazu füllt sie einen Fragebogen aus, der unter anderem Auskunft darüber geben soll, wer der Vater dieses unehelichen Kindes ist:

Name: Josef Paul Günther

Geburtstag und -ort: 31 Jahre, Wien

Beruf: Kaufmann

Anerkennt er die Vaterschaft: Nein

Am 13.6.1926 bringt Anna das Kind zur Welt. Es bekommt einen Namen: Willy Fütterer. Irgendwann später wird es mein Vater. Die ersten Tage verbringt es im Säuglingsheim in Beil bei Tübingen. Dann wird es ans Steudelsche Kinderheim in Freudenstadt abgegeben. Das Jugendamt in Tübingen leitet Ermittlungen ein, die die Angaben der Mutter überprüfen sollen. Schließlich sind Kosten entstanden.

Das Schlossgartenhotel in Stuttgart bestätigt, dass sich dort ein Josef Günther, Direktor, geboren am 29.6.1895 in Wien, Wohnort Wien, eingeschrieben habe. Daraufhin werden die Behörden in Wien – im Rahmen der Amtshilfe – eingeschaltet. Nachdem seine aktuelle Wohnadresse feststeht, wird Josef Günther auf eine Wiener Polizeidienststelle vorgeladen und zur »Sache« vernommen. Josef Günther bestätigt, dass er »in Büroartikeln reise« und immer wieder geschäftlich in Deutschland zu tun habe. Auch sei er im Jahre 1925 in Stuttgart gewesen, mit seiner Frau und einem gemeinsamen Kind. Sie hätten im Hotel Zum schwarzen Hahn logiert: »Meine Frau reiste mit dem Kinde nach vierwöchigem Aufenthalt über München nach Wien zurück, während ich selbst meine Familie bloß bis München begleitete und dort verblieb. Nach circa drei- bis vierwöchigem Aufenthalte in München reiste ich ebenfalls nach Wien.«

Auf die Frage, ob er einer Frau Anna Fütterer begegnet sei, gibt er zu Protokoll: »Eine Anne Fütterer ist mir gänzlich unbekannt.«

Das Rätsel, wer dann aber jener Josef Günther sei, der sich tatsächlich im Schlossgartenhotel mit seinem Pass eingeschrieben habe, löst Josef Günther mit einem Schwager auf. Dieser habe ihm 1925 seinen Pass gestohlen. Seitdem reise der unter falschem Namen. Ein paar Monate später sei der Schwager an der jugoslawischen Grenze im Zuge einer »Schmuggelaffäre« festgenommen und der falsche Pass eingezogen worden. Auf die Frage, ob er ein aktuelles Passbild habe, um es den deutschen Behörden zu überlassen, ist Josef Günther unpässlich: »Ein Lichtbild vorzulegen, bin ich derzeit nicht in der Lage, da ich keines besitze.«

Seine Frau, die ebenfalls vernommen wurde, widerspricht der Version ihres Mannes an entscheidender Stelle: »Mein Mann verblieb nach meiner Rückreise (am 1.6.1925) noch circa vier Wochen in Stuttgart und wohnte – meines Wissens – auch weiterhin im gleichen Hotel.«

Mehr geht aus den Unterlagen nicht hervor. Alleine die spärlichen Hinweise und die offensichtlichen Widersprüchlichkeiten hätten ausreichen müssen, die Ermittlungen weiterzuführen. Weder wurde den unterschiedlichen Angaben von Josef Günther beziehungsweise seiner Ehefrau nachgegangen, noch wurde die Behauptung überprüft, ob und wie lange die Familie Günther tatsächlich im Hotel Zum schwarzen Hahn in Stuttgart eingeschrieben war. Genau so wenig kamen die damit betrauten Beamten auf die raffinierte Idee, Herrn Josef Günther von einem Polizeifotografen aufnehmen zu lassen, um dieses Foto Anna Fütterer und den Angestellten im Schlossgartenhotel in Stuttgart vorzulegen. Doch die geradezu ins Gesicht springende Weigerung, behördlicherseits weiter zu ermitteln, lässt die Angelegenheit hier enden.

Die eine war eben nur ein Dienstmädchen und der andere ein Geschäftsmann aus Wien.

Vom Waisenbub zur Waffen-SS

1928–45

Zwei Jahre verbrachte der mit dem Namen Willy Fütterer in die Welt Gesetzte im Steudelschen Kinderheim in Freudenstadt, bis sich die kinderlosen Studienrats-Eheleute Wetzel entschließen, das »Mündel« in »kostenloser Pflege« zu sich zu nehmen. Alles schien gut zu gehen. Darüber gibt zumindest ein Schreiben des Steudelschen Kinderheimes Auskunft: »Ihr lieber ausführlicher Brief hat uns sehr gefreut … Es freut uns so, dass sich Willy nun so gut eingelebt hat und sie alle Freude an ihm haben. Sie dürfen mir glauben, dass es mir stets ein großes Anliegen ist, dass meine Schutzbefohlenen auch wirklich gut untergebracht sind und dann noch, dass die Eltern, die so arme Kindle aus Liebe annehmen, auch befriedigt sind und nicht enttäuscht werden. Dass das aber immer schwierig ist, dürfen und werden Sie mir glauben …«

Nur wenn die Pflegeeltern einmal enttäuscht waren, schimpften sie das »arme Kindle« als »Waisenbub« und drohten damit, es ins Heim zurückzubringen. So wuchs das Kind, mein späterer Vater, in ordentlichen deutsch-nationalen Verhältnissen auf.

Mit etwa zehn Jahren kam Willy zum »Jungvolk«, 1940 trat er in die »Hitlerjugend« ein. Im selben Jahr wurde die »Kindesstattannahme«, die Adoption, also urkundlich beglaubigt. Anna Fütterer, die zwischenzeitlich geheiratet hatte und in Berlin-Dahlem lebte, willigte ein. Auch Willy, nun 14 Jahre alt, unterschrieb einen »Annahme-Vertrag«.

Von 1941 bis 1943 besuchte Willy die Gewerbliche und Kaufmännische Berufsschule in Schorndorf. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Mit noch nicht ganz 17 Jahren erklärte Willy Fütterer den Austritt aus der katholischen Kirche. Da er sich freiwillig bei der Waffen-SS melden wollte, rechnete er sich mit dieser antibürgerlichen Geste bessere Chancen aus, angenommen zu werden. Nur einen Monat nach seinem Kirchenaustritt wurde er am 24.3.1943 für tauglich erklärt. Zwei Monate später hielt er den Annahmeschein des Ergänzungsamtes der Waffen-SS in Stuttgart in seinen Händen: »Sie werden hiermit als Freiwilliger für die Waffen-SS, nachdem das Wehrbezirkskommando Esslingen/N. Sie hierfür freigegeben hat, angenommen.«

Er brach die Schule ab und wurde der 9. SS-Panzer-Grenadier-Division »Hohenstaufen« zugeordnet. Dieser SS-Kampfverband wurde 1942 in Frankreich aufgestellt und bestand aus etwa 70 Prozent Wehrpflichtigen und Teilen der »Leibstandarte Adolf Hitler«.

In Holland wurde er in aller Eile zum Grenadier ausgebildet. In den knapp eineinhalb Jahren, die Willy Fütterer bis zur militärischen Kapitulation blieben, wurde fast alles an ihm kaputtgeschossen. Wahrscheinlich in Belgien wurde er aus den Bordwaffen eines Flugzeugs der Alliierten beschossen und kam so zu seiner ersten Kriegsverletzung, zu einem Durchschuss der rechten Hand.

Während einer »Partisanenbekämpfungsaktion« hatte seine Einheit den Auftrag, ein Haus zu »säubern«. Dabei wurde er durch einen Stilettstich in den Hals schwer verletzt. Als er wieder kriegstauglich war, wurde Willy Fütterer 1945 in der Ardennenoffensive an die französische Front versetzt. Während eines nächtlichen Patrouillenganges kam es zu einem Nahkampf. Ein US-Soldat schlug ihm einen Spaten auf den Kopf und verletzte ihn schwer. Er wurde in den nahe liegenden Gefechtsstand gebracht, der kurze Zeit später unter Beschuss geriet und zerstört wurde. Nach dem Angriff barg man Willy Fütterer aus den Trümmern des Gefechtstandes. Nach zweimonatigem Lazarett-Aufenthalt in Bad Ahrweiler schrieb man ihn wieder »kv« (kriegsverwendungsfähig) und versetzte ihn nach Wien.

Die letzte Kriegsstation als Mitglied der Waffen-SS sollte Ungarn sein. Der Roten Armee war es bis Ende 1944 gelungen, die Donau zu überschreiten, die Hauptstadt Budapest einzuschließen und auch südlich des Plattensees weit nach Westen vorzustoßen. Um die drohende Einkesselung der deutschen Verbände in Budapest abzuwenden, sollten zusätzliche Verbände herangeführt werden, um die »Verteidiger« der ungarischen Hauptstadt vor der Kapitulation zu bewahren. Trotz des Scheiterns der letzten großen Offensive an der Westfront befahl Adolf Hitler, die 6. SS-Panzerarmee nach Ungarn zu verlegen. Diese Panzerarmee war zumindest auf dem Papier mit der 1. SS-Panzerdivision »Leibstandarte«, der 2. SS-Panzerdivision »Das Reich«, der 9. SS-Panzerdivision »Hohenstaufen« und der 12. SS-Panzerdivision »Hitlerjugend« die beste Division der Waffen-SS. In Wirklichkeit war sie aber nur zum Teil einsatzbereit und bereits von hohen Verlusten und wachsender Demoralisierung gezeichnet. Aus dem »Unternehmen Frühlingserwachen« wurde ein Alptraum. So auch für Willy Fütterer.

Nach einem Artilleriebeschuss wurde er aus der offenen Panzerluke geschleudert und landete mit mehreren Splittern in Bein und Oberschenkel und einem Steckschuss am Oberarm im Graben. Man transportierte ihn in ein Lazarett nach Wien. Dort wurde er dienstunfähig geschrieben und in das Heimatlazarett nach Schorndorf zurückgeschickt. Einen Monat später marschierten die Alliierten in Schorndorf ein. Willy Fütterer wurde am 11.4.1945 festgenommen und im US-Internee Camp 74 der Dritten Amerikanischen Armee in Ludwigsburg interniert. Ihm wurde die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend und in der Waffen-SS vorgeworfen. Im Kriegsgefangenen-Formular, das ihm im Internee Camp 73 der Siebten Amerikanischen Armee vorgelegt wird, machte er folgende Angaben:

An officer of the N.S.D.A.P. or one of its affiliates or approved organisations – Nein

Military Occupation – Schütze

Abt. oder Org. bei Gefangennahme – Infanterie der Waffen-SS

Auskunft über Dienststelle – Aufkl.Abt. LG

Auskunft über die Division – SS-Panzer-Grenadier-Division Hohenstaufen

Dienstgrad – SS-Schütze

Zuständiges Wehrbezirkskommando – Esslingen

Knapp anderthalb Jahre später wurde Willy Fütterer aus dem US-Internierungscamp entlassen. Ende 1947 stellte er aufgrund seiner Kriegsverletzungen einen Antrag auf Rente nach dem KB-Leistungsgesetz. Eine »Minderung der Erwerbsfähigkeit« (MdE) von 70 Prozent wurde festgestellt, was ihm eine Rente von etwa 300 Mark sicherte. 1950 wurde sein Rentenanspruch überprüft. Als »labiler Psychopath« wurde ihm die bislang gewährte Rente entzogen.

Ich kann nicht ausschließen, dass mein späterer Vater auch ein »Psychopath« war. Das ändert aber nichts an den zahlreichen Kriegsverletzungen, worunter ich – ohne in die medizinische Erkenntnislage einzugreifen – eine psychopathische Erkrankung dazuzählen würde, wenn man berücksichtigt, dass für einen 16-jährigen Junge die Waffen-SS eher ein Zuhause war als das Elternhaus, dem er entrinnen wollte.

Ich fragte oft meine Mutter, was sie über die Kriegserlebnisse meines Vaters wusste. Ich wollte von ihr hören, was sie dazu als Erinnerung abgespeichert hatte. Aber bei diesem Thema war sie sehr schmallippig. Ich musste ihr jeden Wurm aus der Nase ziehen, was meist in der Antwort endete: »Ja, so ähnlich wird es gewesen sein.«

Mir blieb bei dieser ganzen Fragerei nur eine Bemerkung hängen, die sich bei mir festhakte: »Na, da war noch etwas, irgendein Streit, der deinen Vater sehr belastet hat.«

»Um was ging es dabei?«

»Ich kann dir das nicht genauer sagen. Da musst du deinen Vater fragen.«

Das jedoch tat ich nie.

Das Schloss und die Nazis

1931–53

Fast ihre gesamte Kindheit und Jugend verbrachte meine Mutter im württembergischen Schloss Altmannshofen, einem geradezu märchenhaften Ort. Vielleicht kommt daher meine Liebe zu Burgen, Befestigungen und Wassergräben. 1931 hatte mein Großvater Gustav Pazaurek, Leiter des städtischen Landesgewerbemuseums in Stuttgart, das Schloss Altmannshofen für 20 000 Mark gekauft und hatte sich damit, kurz vor seiner Pensionierung, seinen Jugend- und Lebenstraum erfüllt. Gerade einmal vier Jahre konnte er seinen herrschaftlichen Alterssitz genießen.

Meine Mutter war fünf Jahre alt, als sie beobachtete, wie ihr Vater, im Sessel sitzend, plötzlich zur Seite hin wegkippte. Die Reaktion ihrer Mutter verriet ihr, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie wurde sofort aus dem Zimmer gebracht. Gustav Pazaurek verstarb an diesem Mittag, dem 27.1.1935, in aller Seelenruhe.

Altmannshofen bestand aus nicht mehr als dem Schloss, ein paar vereinzelten Häusern und einer Kirche. Der ganze Ort zählte etwa 200 Einwohner. Die nächstgrößere Kleinstadt Leutkirch war für meine Mutter ihre Großstadt. Dazu gehörte auch ein Kino.

Während man über die enttäuschende Gebietsreform 1938 noch etwas erfährt, existiert der deutsche Faschismus in dieser Stadtgeschichte nicht. Auch wenn Leutkirch für die faschistische »Bewegung« nicht ins Gewicht fiel, so war die Zustimmung zur NSDAP doch beachtlich. Im Oberamtsbezirk Leutkirch ging die Reichstagswahl vom 5. März 1933 wie folgt aus:

Von 2 945 Stimmberechtigten wählten 1 166 die NSDAP, 1 263 die Württembergische und Hohenzollner Zentrumspartei, 121 die SPD und 67 die KPD. Fast 40 Prozent wählten also die NSDAP.

Mit welcher Inbrunst die Gemeinsamkeiten zwischen der nationalsozialistischen und deutschnationalen Zentrumspartei betont wurde, bezeugt ein Kommentar des Allgäuer Volksfreund vom 6.3.1933: »Die gestrigen Reichstagswahlen standen im Bezirk wie überall im Reich im Zeichen der Zunahme der nationalsozialistischen Stimmen. Andererseits hat sich die Zentrumspartei bei dem schweren Ansturm der Nationalsozialisten tapfer geschlagen und konnte sich im Wesentlichen behaupten. (…) In den meisten Landgemeinden hat sich das Zentrum recht wacker gehalten, während die Nationalsozialisten andererseits vielfach einen großen Stimmenzuwachs gegenüber der letzten Wahl registrieren können. (…) Sie konnten ihre Stimmenzahl im Bezirk von 2 922 auf 6 083 Stimmen erhöhen, also mehr als verdoppeln (…). Die Nationalsozialisten (…) haben in wuchtigem Ansturm und in vorbildlichem Eifer ihre Stellungen verstärkt und ausgebaut. Nun ist der Kampf vorüber. Nun kommt die Zeit der positiven, verantwortungsvollen Arbeit für Volk und Vaterland. (…) Möge es im neuen Reich allen gesunden, aufbauwilligen Kräften ermöglicht werden, sich für das Vaterland einzusetzen. Möge aller Hass und Groll, der sich im Bezirk über die Wahlzeit erhob, nun zu Grabe getragen werden und einer aufrichtigen, vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Richtungen zwischen Stadt und Land Platz machen. Wir gehören doch alle zusammen und sind auf Gedeih und Verderb auf einander angewiesen. (…) Möge der gestrige Tag dem deutschen Volk das Tor zu besseren Tagen öffnen. Heil Deutschland!«

Der »Kampf gegen den Faschismus« war im bürgerlichen Lager ein Kniefall.

Ungefähr 70 Jahre später bat ich meine Mutter, mir Leutkirch zu zeigen und mir etwas über ihre Kindheit zu erzählen. Zuerst statteten wir meinem Geburtsort einen Besuch ab, dem damaligen städtischen Spital, das von der evangelischen Kirche unterhalten wurde. Wenig später kamen wir an einer Bäckerei vorbei.

»Guck mal. Da haben wir nicht nur unser Brot gekauft. Dort konnte man auch baden!«

»Wie, in dieser Bäckerei? Du willst mich auf den Arm nehmen!«

»Nein. Damals gab es noch kein Schwimmbad und ein Bad hatten die wenigsten. Selbst das Schloss Altmannshofen verfügte über keine Badewanne mit entsprechendem Ofen. So schlug die Bäckerei zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie backten Brot und nutzten die Abwärme zum Erhitzen von Badewasser, das man im 1. Stock des Fachwerkhauses in einem Boiler sammelte. Dort stand in einem kleinen Zimmer eine Badewanne, in die man sich für eine Reichsmark legen konnte. Die Nachfrage war so groß, dass alles nur auf Vorbestellung lief.«

»Und woher wusstet ihr von dieser Möglichkeit?«

»Im Schaufester hing ein Schild: ›Wannenbad‹. Das war unsere Badeanstalt im Ort. Und ungefähr einmal die Woche habe ich mir diesen Luxus geleistet.«

Wir kamen an einem Platz vorbei, mit einem großen Gebäudekomplex in der Mitte. Ohne dass ich gefragt hätte, sprudelte es aus Gertrud, meiner Mutter, heraus: »Das war das größte Bekleidungsgeschäft damals. Es gehörte einem Herr Golowitsch, einem Judd.«

Ich schluckte, mit welcher giftigen Kürze das Wort aus ihr he­rausschoss. »Du meinst, er war ein Jude.«

»Ja, ja, das ist doch dasselbe.«

»Was machte er beziehungsweise seine Familie während der NS-Diktatur?«

»Ich weiß es nicht mehr genau. Irgendwann war er weg.«

»Und nach dem Krieg? Kam er zurück?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann mich aber daran erinnern, dass er der Erste war, der mit Preisen wie 0,99 Mark geworben hatte.«

Der erste Satz roch nach einer glatten Lüge. Der zweite Satz stand in keinem Zusammenhang zu meiner Frage. Ich merkte, dass ich jetzt ganz vorsichtig sein musste, damit ihr Erinnerungsvermögen nicht schlagartig erlosch. Wir liefen weiter, wechselten das Thema, wurden etwas unverfänglicher und passierten das einzige Kino, das in seinem Äußeren zwischen Reminiszenz und Galgenfrist verharrte. Für meine Mutter war das Kino in den 1930er- und 1940er-Jahren das einzige Vergnügen, das sie sich leisten konnte. Nachdem sie meinen Vater kennengelernt hatte und die beiden gemeinsam im Schloss Altmannshofen wohnten, besuchten sie des Öfteren das Kino – was mit einer anschließenden dreiviertelstündigen Rückfahrt mit dem Fahrrad verbunden war.

Auf dem Rückweg kreuzten wir abermals den Platz, wo sich auch heute noch ein Bekleidungsgeschäft befindet, nur nicht mehr im Besitz des eigentlichen Eigentümers. Betont nebensächlich zeigte ich mit dem Kopf auf das Bekleidungsgeschäft: »Wer hat das Geschäft nach dem Krieg weitergeführt?«

»Es war ein Herr Fischer.«

»Hat er das nach dem Krieg übernommen?«

»Nein, das war noch während des Krieges.«

»Das heißt doch, dass Herr Gollowitsch und seine Familie verhaftet und sehr wahrscheinlich im KZ umgebracht wurden! Danach wurde das Geschäft ›arisiert‹ und Herr Fischer neuer Besitzer?«

»Schon möglich, ja.«

Gertrud sagte das in einer Knappheit, die signalisierte, dass sie sich nun an nichts Weiteres erinnern wollte. Und so war es auch.

Mit diesen wenigen, aber ausreichenden Andeutungen wandte ich mich an die Stadtverwaltung in Leutkirch. Dort wurde ich auf ein von ihr herausgegebenes Festbuch verwiesen, das die Chronik der Stadt Leutkirch zusammenfasst. Tatsächlich befasst sich das 384 Seiten starke Buch »In und um Leutkirch. Bilder aus zwölf Jahrhunderten. Beträge zum Stadtjubiläum 1993, Hsg.: Große Kreisstadt Leutkirch im Allgäu« in vierzehn Seiten mit dem Schicksal der Familie Gollowitsch. Verfasst wurde dieses aufschlussreiche Dokument vom damaligen Stadtarchivar Emil Hösch: »Die Gollowitsch in Leutkirch. Schicksal einer jüdischen Familie«. Diesem Bericht zufolge übernahm 1905 der Kaufmann Lippmann Gollowitsch das ansehnliche Gebäude. Das Geschäft lief so gut, dass er dazukaufte und sein ›Kaufhaus zum Anker‹ zu einem Textilgeschäft ausbauen konnte, das weit über das Gebiet der heutigen Großen Kreisstadt Leutkirch hinaus einen guten Namen und zahlreiche Kundschaft hatte. Wie stark die Familie Gollowitsch mit antisemitischen Ressentiments zu kämpfen hatte, erfährt man nicht. Der Bericht erwähnt hingegen das einschneidende Jahr 1938, als ihr Geschäft »arisiert«, also die Familie Gollowitsch beraubt wurde: »Die nach 1939 noch in Deutschland lebenden Angehörigen der Doppelfamilie Friedrich und Heinrich Gollowitsch wurden alle Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung; jeweils eine Tochter hatte sich diesem Schicksal durch Auswanderung entziehen können.«

Dankenswerterweise ist dem Bericht auch zu entnehmen, wie die »Arisierung« vonstattenging: Sie war ein Zusammenspiel aus Antisemitismus, Rechtsbrüchen und Geschäftssinn. Denn bei dem erzwungenen »Verkauf« des Gebäudes spielten die Stadtverwaltung, die Gerichte und deutsche »Investoren« blendend zusammen. Am Ende des »Enteignungsverfahrens« war die Stadtverwaltung mit 14 000 Mark dabei. Die andere Hälfte kam von »Leutkircher Volksgenossen, die nicht genannt werden wollen«.

1938/39 war meine Mutter dem Bund Deutscher Mädchen/BdM beigetreten. Da war sie gerade einmal zehn Jahre alt. Zweimal in der Woche hatte sie Dienst. Im nahe gelegenen Memmingen fanden die BdM-Gruppentreffen statt, an denen etwa 30 Mädchen teilnahmen.

»Was habt ihr da gemacht? Weißt du das noch?«

»Ich kann mich daran erinnern, dass wir in einer Gruppe von Mädchen Spielzeug gebastelt haben, Puppen zum Beispiel, die wir anschließend an kinderreiche und arme Familien verteilt haben. Und manchmal haben wir auch Lieder gesungen, also gemeinsam geübt. Ja, das war alles ziemlich locker. Man traf sich für ein paar Stunden, machte etwas zusammen, ja, so eben.«

»Und kannst du dich sonst noch an etwas erinnern? Ihr wart ja in einer Jugendorganisation der NSDAP organisiert. Da fanden doch bestimmt auch ideologische Schulungen statt …«

»Na, so war das auch nicht, nein. Na ja, ein paarmal haben wir auch Marschformationen geübt …«

»Wozu denn das?«

»Wenn es größere Feste gab, haben wir vom BdM dort Aufstellung genommen und irgendwann auch die Lieder gesungen, die wir vorher geübt hatten.«

»Bei dieser Art von Festen kamen doch bestimmt Nazi-Größen und hielten Reden?«

»Das kann schon sein. Ich weiß es nicht mehr so genau.«

»Und was für Lieder habt ihr da gesungen? Kennst du ein paar Titel?«

Gertrud lachte. »Die meisten Lieder drehten sich damals um den Osten.« Dabei zuckte sie mit den Schultern und fuhr fort: »Die Gefahr kam damals vom Osten, so wurde das jedenfalls gesehen. Ich weiß nicht mehr genau die Titel, aber so ähnlich wie ›Im Osten ist unsereZukunft‹ oder ›Der Osten hat’s uns angetan‹ müssten sie geheißen haben.«

»Das alles war ja während des Krieges. Habt ihr da nicht bestimmte Funktionen übernommen?«

»Irgendwann wurde ein Sanitätskurs bei uns abgehalten. Man nannte das Gesundheitsdienst oder so. Aber viel haben wir da nicht gelernt. Das hätte bestenfalls für kleinere Verletzungen gereicht.«

»Du warst da ja ein paar Jahre. Hast du nicht mit der Zeit eine höhere Funktion eingenommen?«

»Ich war damals Schaftführerin.«

»Was war das in der Hierarchie des BdM?«

»Das bedeutete den untersten BdM-Grad. Eine Schaft umfasste etwa zehn Mädchen. Die nächste Stufe war die Scharführerin, die für zwei bis drei Schaften verantwortlich war, und der war wiederum die Gruppenführerin übergeordnet. Also, wie gesagt, nichts Berühmtes.«

Das alles müsste sich zwischen elf und sechszehn Jahren abgespielt haben.

Als meine Mutter starb und ich ihre Wohnung auflöste, fand ich unter anderem Aufzeichnungen von einer »Feierstunde zum 1. September 1940 im Lager 15/92 Bockhorst«, an deren Durchführung Gertrud beteiligt war. Eine durchorchestrierte Mischung aus faschistischer Geschichtsschreibung und -propaganda, versetzt mit und umrahmt von deutschtümelndem Liedgut: Mit dem Lied »Volk will zu Volk …« wurde die Feierstunde eröffnet. Dem folgte ein Kapitel aus dem Buch »Blitzkrieg in Polen«: »Die Geschichte des polnischen Feldzuges ist bekannt. Das Versailler Diktat schaffte neben der Grundtendenz, Polen als ewigen Bedrücker im Rücken Deutschlands (…)«

Bei anderen Gelegenheiten ließ man die Festakte mit Liedern, Gedichten und Prosa, die in ihren Titeln von »Es tagt der Sonne Morgenstrahl« über »Mutter Erde« bis zu »Vaterland in tausend Jahren kam dir solch ein Frühling kaum« von Max von Schenkendorf reichten, ausklingen.

Ihre Mitgliedschaft im BdM spiegelte weniger ihre Überzeugungen, mit Sicherheit aber die großbürgerlichen, deutsch-nationalen Einstellungen ihrer Eltern wider. Meine Großmutter war kein Mitglied der NSDAP und hielt sich auch ansonsten von der »nationalsozialistischen Bewegung« fern. Der antibürgerliche, proletenhafte Ton der nationalsozialistischen Bewegung passte nicht zu der gepflegt deutsch-nationalen Gesinnung. Trotz dieses Abstandes zur NSDAP war die Begeisterung im großmütterlichen Haushalt für Hitler groß. Daran konnte sich Gertrud noch eindrücklich erinnern: »Wenn Hitler eine seiner Reden hielt, kroch meine Mutter buchstäblich ins Radio. Wir alle versammelten uns um den Volksempfänger und lauschten andächtig. Die Faszination für Hitler hielt fast bis zum Ende. Mein Mutter war fest überzeugt, dass Hitler noch eine Wunderwaffe im Ärmel hatte, um das Blatt im letzten Augenblick zu wenden.«

Nach der Kapitulation bescheinigte ein Mitglied eines Entnazifizierungsausschusses meiner Großmutter, dass sie »es verstanden habe, sich aus der Partei herauszuhalten«. Mit Partei war selbstredend die NSDAP gemeint. Meine Mutter setzte ihre Ausbildung als Chemielaborantin fort.

Obwohl im Nachkriegsdeutschland nur selten an das Dritte Reich erinnert wurde, das eben alles andere als ein Werk des Führers, von ein paar Wahnsinnigen und vielen Verführten war, musste man sich nach Kriegsende doch noch an die »Schatten« dieses »dunklen Kapitels« erinnern. Das betraf auch den Leutkircher Stadtrat. Schon 1947 wurde auf Erlass der Militärregierung die Feststellung jüdischen Vermögens durchgeführt, um die Arisierung zumindest finanziell »wiedergutzumachen«.

Es kam dabei in vielerlei Hinsicht zu possenhaften Ereignissen und Ergebnissen: »Zu einer wichtigen und interessanten Gemeinderatssitzung kam es dann am 8. Mai 1951 (…) Dr. Ehrle legte in dieser Sitzung seine Meinung dar, daß das Enteignungsverfahren für die Stadt nötig und rechtlich in Ordnung war. Gleichzeitig seien auch Enteignungsverfahren gegen ›arische‹ Bürger gelaufen. Der ›Schatten‹ sei deswegen kein Fall für die Restitution wegen Judenverfolgung. Dazu vermerkt das Protokoll: ›Einzelne Ausführungen werden von den zahlreich anwesenden Zuhörern mit Heiterkeit und auch mit zynischem Lächeln aufgenommen.‹Beschlossen wurde in dieser Sitzung (…), dass die Stadt den Vergleichsvorschlag (70 000 DM) ablehne.« (In und um Leutkirch. Bilder aus zwölf Jahrhunderten. Beträge zum Stadtjubiläum 1993, Hg.: Große Kreisstadt Leutkirch im Allgäu, S. 330–344.)

Am Ende dieses »Wiedergutmachungsverfahrens« stand ein Betrag von sage und schreibe 20 000 DM.

Suche einen Kameraden

1950–56

»Ich, 21 Jahre, Chemieassistentin, suche einen Kameraden, mit dem man viel unternehmen kann. Fahrrad erwünscht.«

Mit dieser 1950 aufgegebenen Anzeige nahmen die Dinge ihren Lauf. Kurze Zeit später bekam Gertrud eine schriftliche Antwort. Er war Angestellter in einer staatlichen Versicherungsanstalt und wohnte in Schorndorf. Für ihre erste Begegnung vereinbarten sie sich in Leutkirch, wo zur selben Zeit ein Volksfest stattfand. Sie bummelten gemeinsam an den Ständen und Buden vorbei. Als ich Gertrud nach den Gefühlen dieser ersten Begegnung fragte, kam von ihr ganz trocken: »Es war nichts Sensationelles.«

Dennoch fuhr meine Mutter mit dem Fahrrad »wie auf einer Wolke« zurück.

»Gab’s vor diesem Mann noch eine andere erotische Begegnung?«

»Was meinst du damit?«

»Na ja, kannst du dich an deinen ersten Kuss erinnern? Gab’s vor Willy noch einen anderen Mann?«

Gertrud überlegte. »Ja, da gab’s einen Schulkameraden, der Helmut. Aber besonders aufregend war der erste Kuss auch nicht.«

Ich wartete noch ein bisschen ab, dachte, dass da noch mehr kommen müsste, aber musste mich am Ende damit zufriedengeben.

»Ich war immer realistisch.«

In den folgenden Wochen und Monaten trafen sich Willy und Gertrud jeweils an den freien Wochenenden zu gemeinsamen Unternehmungen. Zwischendurch schrieben sie sich Briefe. Meine Mutter per Hand, mein Vater meist mit der Schreibmaschine, da seine Handschrift – aufgrund des Durchschusses – kaum zu lesen war. Nur ein halbes Jahr später heirateten sie.

Gertrud arbeitete als Chemotechnikerin in einer Lackfirma, bis sie Kraft, meinen Bruder, zur Welt brachte. Mit der Geburt ihres ersten Kindes verlor sie umgehend ihren Arbeitsplatz. Einen gesetzlichen (Kündigungs-)Schutz für schwangere Frauen gab es zu dieser Zeit nicht. Auch Willy gab seine Arbeitsstelle in der staatlichen Versicherungsanstalt auf. Gemeinsam versuchten sie nun, sich mit Vertreterjobs über Wasser zu halten. Sie verkauften Uhren und Waschmaschinen, von Haustür zu Haustür, wobei der Verkauf von Waschmaschinen zum Kraftakt wurde. Gemeinsam wuchteten sie die Waschmaschine zu den Interessenten in die Wohnung. Ein Probelauf gehörte zur notwendigen Überzeugungsarbeit. War der potenzielle Kunde jedoch nicht zufrieden, mussten beide die Waschmaschine wieder aus der Wohnung schleppen, ins Auto verfrachten und das Ganze von vorne beginnen. Da die potenziellen Käufer von Uhren und Waschmaschinen nicht reichlich gesät waren, suchten sich beide für ihre Touren eine wohlhabende Gegend, die den Untergang des »Tausendjährigen Reiches« im Großen und Ganzen gut überstanden hatte, die Bodensee-Region. Tagsüber klingelten sie sich von Villa zu Villa und abends suchten sie eine billige Übernachtungsmöglichkeit in der Nähe. Das war damals nicht besonders schwer: Kinder standen am Straßenrand und hielten Schilder mit der schlichten Information »Zimmer« den Autofahrern entgegen. Man brauchte nur anzuhalten und nach dem Preis zu fragen. Im Durchschnitt kostete eine Übernachtung in einem »Fremdenzimmer« nicht mehr als zwei Mark. Nach einer Woche kehrten beide nach Altmannshofen zurück. Der Erfolg war durchgängig mäßig. Es reichte gerade so zum Leben, zu mehr auch nicht.

Was beide als Anfangsschwierigkeit in Kauf nahmen, wurde zu einer dauerhaften Belastung. Auf diese Art war kein wirkliches Auskommen möglich. Je beständiger die Erfolgslosigkeit wurde, desto mehr lenkten sie den Blick auf das Testament meines Großvaters, der verfügte, dass das Schloss Altmannshofen nach seinem Tod zu gleichen Teilen an meine Mutter und Großmutter übergehen sollte.

Am Anfang war es erst ein spielerischer Gedanke, meine Großmutter zum Verkauf des Schlosses zu bewegen. Dann aber drängte Willy Gertrud, ihrer Mutter die Vorzüge eines Verkaufs schmackhaft zu machen. Er sah darin die einzige Möglichkeit, der Misere zu entfliehen und mit dem Erlös eine eigene berufliche Existenz aufbauen zu können. Gertrud wusste, dass Willys Vorhaben auf großen Widerstand stoßen würde, und befürchtete einen Bruch mit ihrer Mutter. Doch angesichts mangelnder Alternativen willigte Gertrud ein, ihre Mutter mit dem Plan des Schlossverkaufs zu konfrontieren. Erwartungsgemäß widersetzte sie sich diesem Plan und die Atmosphäre im Schloss Altmannshofen wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Die Gespräche über das leidige Thema endeten fast regelmäßig in Schreiereien und gegenseitigen Vorwürfen. Inmitten dieses vergifteten Klimas wurde Gertrud ein zweites Mal schwanger. Normalerweise wäre ich in einer Hausgeburt auf die Welt gekommen – wie mein Bruder eineinhalb Jahre zuvor. Doch daran war jetzt nicht mehr zu denken. Meine Mutter entschloss sich kurz vor den letzten Wehen, nach Leutkirch zu fahren, um mich im städtischen Spital zur Welt zu bringen.

Danach dauerte es noch zwei weitere Jahre, bis meine Großmutter entnervt und erschöpft aufgab und alles andere als freiwillig in den Verkauf einwilligte. Für 29 000 Mark wurde das Schloss Altmannshofen im September 1956 an den Pasamentenfabrikanten Herrn Gustav E. Gerster aus Biberach an der Riss verkauft. Gänzlich zerstritten zog meine Großmutter nach Isny und mein Vater machte sich daran, das Geld zu investieren. Er kaufte sich in eine Immobilienfirma ein und wurde zu gleichen Teilen Geschäftspartner.

Meine Eltern zogen nach Ravensburg, wo sich auch das Maklerbüro »Oberschwäbischer Immobilienverkehr« (OIV) befand. Fortan nannte sich Willy kaufmännischer Direktor. In der Erinnerung meiner Mutter war dies seine geschäftlich erfolgreichste Zeit. Willy verkaufte viele Immobilien-Objekte und verdiente für damalige Zeiten eine Menge Geld. Und zwar so viel, dass es für eine Sekretärin, einen kaufmännischen Angestellten, einen Lehrling und ein Kindermädchen reichte – das sich um uns kümmerte, während unsere Eltern ihr Wirtschaftswunder erlebten.

Mit Mann und Maus

1960–63

Auch bei diesem Wirtschaftswunder ging es nicht mit rechten Dingen zu. Zuerst war eine Steuerfahndung meinen Eltern auf den Fersen. Dann kamen noch Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Betrugs in drei Fällen hinzu. Die Aussichten, all das unbeschadet zu überstehen, standen schlecht. Sehr wahrscheinlich hätten bereits die Regressansprüche ihren wirtschaftlichen Ruin bedeutet, ganz abgesehen von dem Strafmaß, das Gertrud und Willy zu erwarten hatten. Und so ergriffen sie die Flucht nach vorne. »Mit Mann und Maus« verkauften sie ihre Firma an einen Interessenten, der sie bar auszahlen konnte. Von dem Geld kauften sie sich einen Ford, den sie mit allem vollpackten, was sie für ihr neues Leben brauchten: Tropenkleidung, eine Schreibmaschine und, nicht zu vergessen, der Hund. Mit etwa 50 000 Mark, die sie auf einer ausländischen Bank deponierten, wollten sie sich im Ausland eine neue Existenz aufbauen.

Für meinen Bruder und mich war kein Platz im neuen Leben unserer Eltern. Kurz vor ihrer Abreise brachten sie uns zu den Großeltern, denen sie 10 000 Mark für die Inpflegenahme gaben. Mitte 1960 verließen sie Deutschland. In Italien setzten sie nach Tunis über. Eine anderthalbjährige Weltreise, besser: Flucht, schloss sich an.

Von alledem bekam ich praktisch nichts mit. Ich kann mich an kein Gespräch meiner Eltern erinnern, in dem sie uns die Situation erklärt hätten oder was auf uns bald zukommen würde. Sehr viel später versuchte mir meine Mutter beizubringen, dass sie uns nicht beunruhigen und belasten wollten. Dass das mit dem, was wir sehen und fühlen konnten, nicht übereinstimmte, lag auf der Hand. Ich kann mich übrigens auch an keine Träne erinnern, die ich über ihr Weggehen vergossen hätte.

Es sollten am Ende fast fünf Jahre werden, die wir bei unseren Großeltern verbrachten. Mein Großvater war Oberstudienrat am Waiblinger Gymnasium und stand kurz vor seiner Pensionierung. Meine Großmutter war eine schwäbisch-konservative Hausfrau, wie sie im Buche steht. Mit dem Haushaltsgeld, das sie jeden Monat bekam, managte sie das Leben: vom Kochen, Einkaufen, Putzen, Bügeln bis hin zum Stopfen von Strümpfen und Flicken der Kleider.

»Schaffe, schaffe, Häusle baue und net nach de Mädle schaue« war alles andere als eine bösartige Zuschreibung. Alles hatte seinen Platz und deshalb seine Ordnung. »Das gehört sich nicht«, war die Leitplanke des Lebens. Wenn es etwas in dieser Umgebung und Vorstellungswelt nicht gab, dann war es das Hinterfragen, die Infragestellung der Ordnung. Auch dann nicht, wenn einem dabei die Luft wegblieb.

So war es ganz selbstverständlich, dass wir sonntags mit unseren Großeltern in die Kirche gingen. Das wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, wenn man dazu nicht Sonntagskleider gebraucht hätte. Schließlich bewies man an diesem heiligen Tag nicht nur Gläubigkeit, sondern auch Wohlanständigkeit. Wir mussten mit relativ wenig Geld herausgeputzt werden. Ich hatte zwar einen Sonntagsanzug, aus dem ich schnell herausgewachsen war. Dennoch wurde ich in die zu klein gewordene Sonntagskleidung gezwängt, was bei Hemden mit viel zu engem Kragen zu Problemen führen kann. Da es sich nicht gehörte, mit offenem Kragen herumzulaufen, gab sich meine Großmutter die allergrößte Mühe, den obersten Knopf zuzuknöpfen. Auch ich wusste, was sich gehörte, und beklagte nicht, dass ich kaum noch Luft bekam. Wir mussten uns beeilen, die entstandene Verzögerung aufzuholen, um noch rechtzeitig zum Gottesdienst zu gelangen. Da meine Großeltern zu den Honoratioren dieser Kleinstadt zählten, war für uns die Empore reserviert. Dort nahmen wir unseren Platz ein, und nicht viel später trat der Pfarrer mit zwei Messdienern vor den Altar – und alle erhoben sich von ihren Plätzen.

Ich hörte noch die ersten christlichen Worte, dann wurde es mir schwummrig vor den Augen. Kerzengerade fiel ich nach vorne um. Dank des Holzbodens tat es einen riesigen Schlag. Der Gottesdienst musste unterbrochen werden und ich wurde von der Empore auf die Straße getragen. Glücklicherweise kam einer meiner Helfer auf die Idee, den obersten Knopf meines weißen Sonntagshemds zu öffnen. So kam ich wieder zu Bewusstsein.

Bald wurde es auch meinen Großeltern zu viel. Sie wurden mit dem sie überraschenden Kindersegen nicht fertig und entschieden sich, mich in ein Kinderheim zu geben. Immer und immer wieder erzählte mir später meine Großmutter von der herzzerreißenden Szene, als sie mich dorthin brachte. Ich schrie aus Leibeskräften, klammerte mich mit aller Kraft an sie, während sich die Erzieherin bemühte, mich in ihre Arme zu nehmen, ohne mich zu zweiteilen. Ich selbst kann mich an nichts erinnern. So bleibt auch im Dunkeln, warum ich nach dem ersten Schuljahr wieder zurück zu meinen Großeltern kam. Erzählungen lassen vermuten, dass ich nicht »artig« war, zu viele Probleme machte und für das Heim untragbar wurde. Dieser Version läuft jedoch eine andere Erzählung zuwider, die besagt, dass meine Großmutter es nicht länger ausgehalten hatte, mich weggegeben zu haben.

Ich ging jetzt in die Grundschule in Waiblingen und erwies mich als echtes Sorgenkind, was meine Leistungen anbelangte. Es dürfte wohl der »schützenden Hand« meines Großvaters zu verdanken gewesen sein, dass ich immer wieder versetzt wurde. Dennoch beschrieb mich meine Großmutter als sonniges, offenes Kind, das zwar nicht gut in der Schule war, aber von allen ins Herz geschlossen wurde. Mein älterer Bruder hatte nicht so viel Glück. Eines Tages wurde er auf dem Weg von der Schule nach Hause von Mitschülern mit Steinen beworfen.

»Hau ab, dein Vater ist ein Verbrecher«, riefen sie ihm nach. Völlig verängstigt und verwirrt rannte er nach Hause und erzählte von diesem Vorfall. Er wusste nicht im Geringsten, worum es ging und was die Schüler seiner Schule gegen ihn hatten. Meine Großeltern hingegen konnten sich sehr wohl darauf einen Reim machen. Ein paar Tage zuvor hatte die »Waiblinger Zeitung« in großer Aufmachung berichtet, dass Willy Wetzel und seine Ehefrau im Ausland festgenommen worden waren und nun in Deutschland in Untersuchungshaft saßen. Als Grund nannte der Artikel Steuerhinterziehung und mehrere Betrugsfälle.

Meine Großeltern beruhigten meinen völlig aufgelösten Bruder und erklärten ihm den Zusammenhang zwischen der reißerischen Titelgeschichte und den Steinen. Tags darauf ging mein Großvater zum Direktor der Schule und bat ihn, dafür zu sorgen, dass sich ein solcher Vorfall nicht mehr wiederholen dürfe.

Über Landser bis in die JVA Stammheim

1963–65

Wir haben unsere Eltern im Knast nie besucht. So ein Besuch war auch nicht im Sinne unserer Großeltern. Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, waren ein paar Briefe unserer Mutter und zwei gleiche Pullover, die sie für ihre beiden Söhne gestrickt hatte. Man ließ Fotos von uns mit den Zwillingspullovern machen, schickte diese Fotos in den Knast und wir bedankten uns auf diese Weise. Als ihre Entlassung 1965 anstand, bereitete uns Großmutter auf die erste Begegnung vor: »Seid nett zu ihr. Sie hat es wirklich schwer im Leben gehabt.«

Unsere Tage bei unseren Großeltern waren jetzt gezählt. Sobald unsere Mutter eine Wohnung gefunden hätte, würde sie uns zu sich holen. Mit welchen Gefühlen wir damals kämpften, kann ich nicht sagen. In meiner Erinnerung existieren weder Trauer noch Wut. Das Einzige, was sich mir eingebrannt hat, ist ein Bild.

Es klingelt an der Haustür. Mein Bruder und ich wissen, dass dies unsere Mutter ist, dass es nun ernst wird. Wir rannten aber nicht an die Tür, stürmten nicht die Treppen hinunter und warfen uns nicht an den Hals unserer Mutter. Wir blieben hinter verschlossenen Gardinen am Fenster im Esszimmer stehen und starrten auf die Straße.

Nach diesem Bild fällt wieder der Vorhang der Erinnerung.

Unsere Mutter hatte eine erschwingliche Zwei-Zimmer-Wohnung in Stuttgart-Nord gefunden, eine Mansardenwohnung, von der man einen Blick auf den Dunst werfen konnte, der sich regelmäßig über dem Stuttgarter Kessel bildete. Um eine geringere Miete bezahlen zu können, verpflichtete sie sich gegenüber dem Hausbesitzer, einmal die Woche, samstags, bei ihm zu putzen.

Die Wohnung selbst war spärlich eingerichtet. Da unsere Mutter nach dreieinhalb Jahren Knast mit exakt 123,09 Mark und einem Gutschein für eine Fahrkarte nach Stuttgart entlassen wurde, war der finanzielle Spielraum für einen Neuanfang gleich null. Die erste Einrichtung bestand komplett aus gebrauchten Möbeln, die wir von der »Wohlfahrt« bekamen. Nichts passte zusammen. Dazu zählten auch zwei Feldbetten, auf denen wir schliefen. Unsere Mutter hatte inzwischen eine Anstellung als Sekretärin bei einer Elektrofirma gefunden und kam erst abends nach Hause.

Auf den ersten Blick waren die Verhältnisse äußerst bescheiden. Doch abgesehen von den materiellen Umständen war unser Leben eine wahre Pracht, ein Paradies an Möglichkeiten, die Welt zu erkunden, die Grenzen auszuloten. Mein Bruder und ich gingen zur Schule. Während er an seine guten bis sehr guten Leistungen anknüpfte, blieb ich sitzen und musste das Schuljahr wiederholen. Anstatt des erwarteten Donnerwetters tröstete mich meine Mutter damit, dass auch ganz große Geister in der Schule sitzenblieben, wie Einstein zum Beispiel. Das beruhigte mich und ließ mir noch alle Zukunftschancen offen.

Nicht nur unsere Mutter, auch wir mussten uns in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld behaupten. Diesbezüglich konnten sich unsere Leistungen und unsere Bereitschaft zur Eigeninitiative sehen lassen. Mein Bruder klaute wie ein Rabe. Seine Methode war so einfach wie dreist: Anstatt in einem toten Winkel oder einer schwer einsehbaren Ecke etwas heimlich einzustecken, klemmte er sich zum Beispiel mehrere Schallplatten unter den Arm und ging damit in aller Seelenruhe aus dem Geschäft. Er wurde dabei nie erwischt. Außerdem nahm er zahlreiche kleine legale Tätigkeiten an, wozu auch gehörte, Zeitungen auszutragen, was zu einem ganz ansehnlichen Einkommen führte.

Ich verdiente mir mein Geld anfangs damit, dass ich am Fuß eines großen Treppenaufganges stand, um älteren Menschen anzubieten, ihre Einkaufstaschen nach oben zu tragen. Oft nahmen sie mein Angebot dankbar an und entlohnten mich mit Pfennigbeträgen. Meinen »Aufstieg« verdankte ich allerdings einer Anzeige in einer Stuttgarter Zeitung, die meine Mutter beantwortete. Das Stuttgarter Staatstheater suchte für den Kinderchor talentierten Nachwuchs. Ich sang vor und wurde angenommen. Da ich in Aufführungen mitwirkte, kam ich auf ein monatliches Einkommen von bis zu 100 Mark. Das war unglaublich viel und mehr, als meine Mutter frei zur Verfügung hatte.

Mit der Zeit formte sich unser eigenes System der Verteilungsgerechtigkeit: Unsere Mutter stellte die Grundversorgung sicher und wir sorgten für das Vergnügen. Regelmäßig luden wir unsere Mutter zum Essen ein. Ganz oben stand der Besuch beim »Chinesen«, die erste multikulturelle Begegnung mit Frühlingsrollen, Sojasoße und Bambussprossen. Dazu gehörten aber auch Kinobesuche. Wir luden unsere Mutter ein und sie schleuste uns an den Kartenabreißern vorbei, wenn unser tatsächliches Alter die vorgeschriebene Altersbegrenzung unterschritt – was bei unseren acht beziehungsweise zehn Jahren fast immer der Fall war.