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Der Nussknacker, im Jahre 1900 geschnitzt, ist nicht nur ein hölzener Nussknacker - er ist auch Talisman, Geschenk, Trostpreis, Spielzeug, Kunstobjekt, Überbringer von Spionagenachrichten, Trophäe ... und vor allem ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Er erzählt seine Geschichte und die eines ganzen Jahrhunderts. Er fliegt Zeppelin, fährt auf der Titanic, erlebt die Weltkriege und die Gründung der DDR. Er wandert immer wieder von Kinderhand zu Jugendhand und erzählt auch die einzelnen Geschichten seiner Besitzer ...
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Seitenzahl: 824
Sobo
DER NUSSKNACKER
Reise durch ein Jahrhundert
Lübbe Digital
Vollständige E-Book Ausgabe
des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes
Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
Originalausgabe
Copyright © 2011 by Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Lektorat: Wolfgang Neuhaus
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München
Umschlagmotiv: © BW Folsom / shutterstock; Vasilius / shutterstock;
Terry Chan / shutterstock; MADDRAT / shutterstock
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0599-6
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www.luebbe.de
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1900 – 1908, Oberammergau, Bayern
1908 – 1911, Friedrichshafen, Echterdingen, Deutschland
1912 – 1914, Belfast, Southampton, Irland, Nordatlantik
1914 – 1916, Flandern, Belgien
1916 – 1919, Bonn, Deutschland
1918 – 1923, München, Deutschland
1924 – 1929, Berlin, Deutschland
1929, Hiddensee, Deutschland
1929 – 1932, Köln und Ruhrgebiet, Deutschland
1932 – 1938, Berlin, Deutschland
1938 – 1940, Paris und Marseille, Frankreich
1941 – 1942, Berlin
1943 – 1945, New York, Amerika
1946 – 1948, Westsektor Berlin
1949 – 1954, Berkum, Ruhrgebiet, Westdeutschland
1954, Bern, Schweiz
1954 – 1956, Budapest, ungarn
1956 – 1957, Wien, Österreich, Auffanglager Nürnberg, BRD
1958 – 1961, Suhl, Eisfeld, Thüringen, Ostberlin, DDR
1961 – 1963, Templin, Uckermark, DDR
1963 – 1965, Stuttgart, BRD
1966, Hanoi, Demokratische Republik Vietnam
1966, Ramstein, Rheinland-Pfalz, BRD
1966 – 1967, Plauen, Sachsen, DDR
1967, Hof, Frankenwald, Westberlin, BRD
1968 – 1969, Frankfurt am Main, BRD
1969, Mond, Milchstraße, Weltraum
1969 – 1976, München, BRD
1977 – 1979, Köln, Hamburg, Kopenhagen, Dänemark
1980 – 1983, Danzig, Polen, Finnland, Estland, Litauen, Norwegen, Sowjetunion
1983 – 1985, Kreis Steinburg, Schleswig-Holstein, BRD
1985, Norderney, BRD
1985 – 1987, Schwäbische Alb, BRD
1987, Hamburg, BRD
1988, Konstanz, Bodensee, BRD
1989, Leipzig, DDR
1989 – 1990, Ost- und Westberlin, DDR und BRD
1990 – 1991, Venedig und Duisburg, Italien und BRD
1992 – 1994, Sarajevo, Bosnien, Jugoslawien
1995 – 1996, Lübeck
1997, Frankfurt an der Oder, Gelsenkirchen
1997 – 1998, Herozero, cyberspace, Zürich, Schweiz
1999 – 2000, Ulm und Ammertal, BRD
2000, Ammertal, BRD
Dieses Buch ist ein Roman und folglich ein Werkder Fantasie und reine Erfindung, wenngleichdie Geschichte sich eng an tatsächlichen Begebenheitenund historischen Ereignissen orientiert.
Dieser Roman wurde mit einem Autorenstipendiumder Stiftung Preußische Seehandlung unterstützt.
»Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben:Entweder so, als wäre nichts ein Wunder,oder so, als wäre alles eins.Ich glaube an Letzteres.«
– Albert Einstein –
Erich Kästner, der große Schriftsteller – bestimmt kennen einige von euch seinen Namen –, mochte keine dicken Bücher, die so schwer waren wie Ziegelsteine, weil, wie er sagte: »Mein Schreibtisch ja keine Ziegelei ist«. Außerdem mochte er keine Bücher ohne Vorwort.
Ich mag zwar keine Vorworte, dafür aber dicke Bücher. Dick wie die dicksten Holzscheite, weil dicke Holzscheite viel länger Wärme spenden als dünne Späne. Außerdem gibt es Geschichten, die lassen sich einfach nicht in dünne Bücher pressen, ohne dass ihnen dabei die Luft ausgeht. Na ja, so ganz stimmt das nun auch wieder nicht, weil ja nicht die Geschichten, sondern die Leser einen langen Atem haben sollten. Zumindest bei dieser Geschichte. Und schlussendlich, um auf den großen Schriftsteller zurückzukommen, bin ich ja nicht Erich Kästner – der ist ja auch schon tot. Deshalb gibt es an dieser Stelle kein Vorwort. Dafür kommt jetzt ein dickes Buch!
»Fertig!«, sagte der Mann mit der blauen Schürze.
Vor ihm auf dem Boden lagen Holzspäne. Wie Gold schimmerten sie im Licht, das sich durch die Fensterscheiben und die staubige Luft zwängte. Auf der Werkbank neben dem Mann lagen unterschiedliche Messer. Große und kleine und seltsam gebogene, die aussahen wie der Sichelmond. Und in seiner zerfurchten Hand hielt der Mann mich, noch ganz nackt und glatt, mit feinstem Schmirgelpapier abgeschliffen.
»Wie ein Kinderpopo«, murmelte der Mann. Dann grinste er still vor sich hin, wie immer, wenn er mit seiner Arbeit zufrieden war.
Der Mann mit der blauen Schürze und dem langen gekräuselten Bart war ein Holzschnitzer, ein Meister seines Fachs, der Beste weit und breit. Er schnitzte alles, was man aus einem Stück Holz schnitzen konnte: Salatschüsseln, Kochlöffel, Kinderspielzeug, Toilettenpapierrollenhalter, Wäscheklammern, Kleiderbügel und was noch so alles im Haushalt gebraucht wurde und aus Holz war. Manchmal schnitzte er auch Gegenstände, die nicht nur zu gebrauchen, sondern obendrein schön anzusehen waren. Und manchmal schnitzte er Dinge wie mich, einen Nussknacker.
Ich war durch seine Kunst und unter seinen scharfen Messern in zwei Tagen und Nächten entstanden. Neunzehn Zentimeter hoch, mit Bart und dickem Bauch. Noch ohne Farbe im Gesicht und am Körper.
»Jetzt bist du an der Reihe!«, rief der Meister in den hinteren Teil seiner Werkstatt.
Sein Geselle, ein junger, schlaksiger Bursche mit einem dünnen Flaum auf der Oberlippe, ließ alles stehen und liegen und kam an die Werkbank des Meisters geeilt.
»Ein Prachtexemplar!«, sagte er bewundernd, als er mich in den Händen seines Meisters erblickte. »Jetzt fehlt nur noch ein bisschen Farbe, dann können wir stolz auf ihn sein.« Der Geselle wollte mit seinen langgliedrigen Fingern nach mir greifen.
»Stolz allein reicht nicht!«, brummte der Meister und gab dem Gesellen einen Klaps auf die Hand. So machte er es immer, wenn der ihm mal wieder zu ungeduldig erschien. »Stolz kann man sich nicht aufs Brot schmieren und essen. Wir müssen den Nussknacker verkaufen!«
Der Geselle nickte, senkte den Kopf und murmelte: »Ich weiß.«
Dann standen die beiden in ihren blauen Schürzen da, mit Blicken, die nichts Gutes verhießen, und dachten nach, bis der Meister schließlich mit brummiger Stimme sagte: »Und das ist in diesen Zeiten nicht einfach.«
Wieder nickte der Geselle schüchtern. Er wusste, was der Meister meinte. Überall sprach man von den schlechten Zeiten. Auch der Meister jammerte oft und redete davon, dass das Geld knapp sei, dass immer weniger verkauft werden könne und alles teurer werde.
Ganz in Gedanken packte er mich an den Beinen und sagte: »Da! An die Arbeit!«
So gelangte ich von den dicken Fingern des Meisters in die zarten Hände des Gesellen. Er trug mich zu sich in den hinteren Teil der Werkstatt und stellte mich auf der Werkbank ab, auf der zahlreiche Farbtuben und Pinselgläser standen.
»So, mein kleiner Nussknacker«, sagte der Geselle liebevoll. »Jetzt werde ich dir ein schönes Farbenkleid verpassen, so schön, dass jeder dich haben will!«
Er grinste, nahm Pinsel und Farbtuben und machte sich ans Werk. Er gab sich alle Mühe und malte mir ein blaues Gewand auf den Leib, schwarze Stiefel und rote Bäckchen. Ich glänzte am ganzen Körper und strahlte im Gesicht. Zuletzt malte er mir zwei schöne runde Augen, mit denen ich jetzt deutlich den Eiffelturm sehen konnte.
Den Eiffelturm?, schoss es mir durch den Kopf. Was macht der Eiffelturm in Oberbayern? Der stand doch in Frankreich. Allerdings noch nicht lange. Er war erst seit ein paar Jahren das Wahrzeichen von Paris, der französischen Hauptstadt. Ich aber war in Oberammergau, mindestens tausend Kilometer weit weg. Und doch konnte ich diesen seltsamen Turm erkennen, stand sogar mit beiden Beinen darauf. Natürlich nicht wirklich, sondern auf einer Zeitung, in der ein Foto vom Eiffelturm war. Darüber stand: »Weltausstellung in Paris«.
Der Geselle kümmerte sich weder um die Weltausstellung noch um den Eiffelturm. Er zerknüllte die Zeitung und warf sie in den Mülleimer. Auch ich riss mich von meinen französischen Gedanken los und schenkte meine Aufmerksamkeit mir selbst. Du bist gut gelungen, sagte ich mir, als ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe erblickte. Ohne überheblich klingen zu wollen, kann ich mit Fug und Recht behaupten: Ich sah richtig gut aus!
Auch der Meister nickte anerkennend. Seine Frau Hedwig, die einen so dicken Bauch hatte, dass es aussah, als trüge sie einen Ballon unter ihrem Rock spazieren, meinte: »Da ist euch mal wieder ein besonders schönes Stück geglückt!«
Auch alle Kunden, die mich im Laden sahen, blieben stehen. Sie betrachteten mich lange und sagten voller Bewunderung: »Schön, wirklich schön.« Manche schmunzelten auch und ergänzten: »Und lustig sieht er aus!«
Trotzdem wollte mich keiner haben. Nach drei Monaten stand ich noch immer im Regal und sah der Kundschaft zu, wie sie Garderobenhaken, Salatlöffel und Toilettenpapierrollenhalter kaufte. Niemand blieb noch vor mir stehen, und keiner sagte mehr, wie schön ich sei. Offenbar hatten die Leute andere Dinge im Kopf als Nussknacker. Außerdem hatte sich mein Aussehen verändert. Meine Schönheit verblasste. Staub legte sich auf mich, ließ die Farbe stumpf werden und nahm mir den Glanz.
Anfangs pries mich Hedwig, die immer dicker wurde, mit marktschreierischen Worten noch bei jenen Kunden an, die aussahen, als könnten sie sich einen Nussknacker leisten.
»Zu teuer«, sagten aber selbst die Wohlhabenden, schüttelten den Kopf oder zuckten mit den Schultern.
»Was soll ich mit ’nem Nussknacker?«, entgegneten andere, die weniger Geld in der Tasche hatten. »Ich kann mir nicht mal die Nüsse leisten.«
»Ja, ja«, meinte dann Hedwig, die jetzt so dick war, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis sie platzte. »Kein Wunder in diesen Zeiten.«
Alle sprachen von »diesen Zeiten«, die angeblich so furchtbar schlecht waren. Aber die Leute hatten recht. Die Zeiten waren schlecht.
Doch dem Meister und Hedwig schien es auf einmal gut zu gehen, dass sie strahlten wie die Honigkuchenpferde, als hätten sie alle Ladenhüter auf einmal verkauft, und davon gab es mehr als genug. Jetzt erst fiel mir auf, dass Hedwig nicht mehr dick war. Dafür schrie nun mehrere Stunden am Tag ein kleines rotgesichtiges Baby ohne Haare und Zähne: Wilhelm, der Sohn vom Meister und seiner Frau, der im Winter geboren und gleich darauf getauft worden war.
»Wie soll er denn heißen?«, hatte der Pfarrer gefragt.
»Wilhelm!«, hatte Hedwig geantwortet.
»Wie unser Kaiser!«, hatte der Meister hinzugefügt.
Immer, wenn Wilhelm endlich schlief, statt zu krakeelen, machten der Meister, Hedwig und der Geselle drei Kreuze. Ich auch.
Wilhelm wurde größer, aber die Zeiten besserten sich nicht. Die Lebensmittel wurden immer teurer. Als in Wuppertal die erste Schwebebahn der Welt ihren Betrieb aufnahm, der Wissenschaftler conrad Röntgen mit den von ihm entdeckten Strahlen experimentierte, mit denen man Körper durchleuchten, Knochen sehen und Brüche erkennen konnte, und als in Amerika das erste Motorflugzeug in die Luft stieg, drohte der Holzschnitzladen pleitezugehen. Niemand wollte mehr die vom Meister und dem Gesellen so kunstvoll gefertigten Schnitzereien haben. Ich konnte es mit eigenen Augen sehen und am eigenen Leibe spüren. Das Holzschnitzgeschäft lief so schlecht, dass immer weniger Salatschüsseln, Garderobenhaken, Toilettenpapierrollenhalter und Kleiderbügel gekauft wurden.
»Wo soll das bloß enden? Alles geht zum Teufel«, sagte Hedwig und sah dabei so aus, als wäre sie auf direktem Wege dahin.
Der Meister schwieg, und Wilhelm brüllte mal wieder, als wäre das Ende bereits gekommen.
Wieder verging einige Zeit. In Ägypten wurde der größte Staudamm der Welt eingeweiht. In Deutschland schrieben die Schüler – auch der kleine Wilhelm, der inzwischen zur Schule ging – nach einheitlichen Regeln. Und immer mehr Warenhäuser entstanden, die alles Mögliche zum Kauf anboten, auch Salatschüsseln, Garderobenhaken, Toilettenpapierrollenhalter und Kleiderbügel, also all das, was es auch in dem kleinen Holzschnitzladen gab. Deshalb ging es für den Holzschnitzladen bald nicht mehr weiter. Zumindest nicht für den fleißigen Gesellen. Der Meister musste ihn schweren Herzens entlassen.
»Das Geld reicht nicht mehr für vier«, sagte er. »Das Geschäft ernährt höchstens noch mich, Wilhelm und meine Frau. Tut mir leid.«
Dem Gesellen tat es auch leid. Er war so traurig wie noch nie. Am traurigsten aber war Wilhelm, für den der Geselle in seinem kurzen Leben schon wie ein älterer Bruder war. Flehend sah er seinen Vater an und lag ihm bittend in den Ohren, den Gesellen zu behalten.
»Wenn die Zeiten wieder besser werden, hole ich ihn zurück«, sagte der Meister. »Mehr kann ich jetzt nicht für ihn tun.«
* * *
Die Zeiten wurden nicht besser. Sie wurden schlechter und schlechter. Es gab immer weniger Arbeit und immer mehr Menschen, die hungern mussten. Nicht einmal Brot und Wurst konnten sie sich kaufen. Geschweige denn Toilettenpapierrollenhalter und Salatschüsseln. Und Nussknacker am allerwenigsten. Wenn überhaupt, kauften sie meine billigeren Verwandten in den Warenhäusern.
Hedwig stellte mich ins Schaufenster neben die Tür, in der Hoffnung, dass ein zufällig vorbeikommender Passant mich sah und das nötige Geld hatte, mich zu kaufen. Die zufällig vorbeikommenden Passanten sahen mich auch, und ich sah sie, aber keiner kam in den Laden und wollte mich. Hin und wieder blieb ein Kind vor dem Schaufenster stehen, drückte sich die Nase an der Scheibe platt und blickte mich mit großen, traurigen Augen an, bevor es barfuß und in zerlumpten Hosen davonrannte.
* * *
Die Zeit verging wie im Fluge. Es kam mir vor, als fegte sie dahin wie eine Windböe, die alles mit sich reißt. Im Ruhrgebiet streikten Hunderttausende von Bergarbeitern gegen eine Verlängerung der Arbeitszeit. In Berlin fuhren jetzt Autobusse anstelle von Pferdefuhrwerken durch die Stadt. Und während Kaiser Wilhelm II . in München den Grundstein für das Deutsche Museum legte, war der kleine Wilhelm traurig. Nichts konnte ihn aufheitern, weil es dem Holzschnitzladen einfach nicht besser gehen wollte.
Ich stand neben einem Wäscheständer im Schaufenster, schaute durch die Glasscheibe dem Treiben auf der Straße zu und verstaubte und verblasste zusehends. Draußen liefen immer mehr Leute barfuß auf der Straße herum, weil sie sich keine Schuhe mehr leisten konnten. Die Kleidung wurde zerlumpter, die Körper abgemagerter. Alles wurde grauer, trostloser, verzweifelter. Je länger ich im Schaufenster stand, umso weniger Kunden kamen in den Laden. Manchmal hockte Hedwig den ganzen Tag hinter dem Verkaufstresen, ohne dass die Türglocke ein einziges Mal gebimmelt hätte. Der Meister vergrub sich in seiner Werkstatt, sprach kaum noch ein Wort und wurde immer eigenbrötlerischer. Wenn er alle paar Wochen in den Laden kam, war er ganz fahl im Gesicht. Und wenn seine Frau ihn dann fragte, was los sei, brummte er nur: »Es hat ja doch keinen Sinn.«
»Was hat keinen Sinn, Papa?«, wollte Wilhelm einmal wissen.
Der Meister schaute ihn verunsichert an, dachte nach und sagte dann wie zu sich selbst: »Die Schnitzerei. Das hier!« Er zeigte mit einer weit ausholenden Geste im Laden herum. »Alles!«
Dann verschwand der Meister wieder in seiner Werkstatt. Hedwig schüttelte den Kopf, und Wilhelm zuckte mit den Schultern.
Irgendwie, dachten beide, wird es schon weitergehen.
* * *
Es ging weiter. Aber es wurde nicht besser. Der Winter kam, und mit ihm der Frost. Das Thermometer fiel immer tiefer und erreichte zuletzt minus dreißig Grad celsius. Das Wasser gefror in den Rohren. An den Fenstern im Haus und am Schaufenster des Ladens prangten zentimeterdicke Eisblumen, die im Sonnenlicht wie geschliffene Diamanten funkelten. Den Leuten ging das Heizmaterial aus, und die Kohlen waren längst aufgebraucht. Die Menschen bibberten in ihren Wohnungen. Viele, die kein Dach über dem Kopf hatten, erfroren.
Der Meister verheizte zuerst seine Holzvorräte aus der Werkstatt. Als die aufgebraucht waren, warf er nach und nach seine Schnitzereien ins Feuer. Er lief mit einem Wäschekorb durch den Laden und sammelte alles ein, was gut brannte und nicht zu verkaufen war: Salatschüsseln, Wäscheständer, Kochlöffel, Toilettenpapierrollenhalter und Kleiderbügel verflüchtigten sich durch den Schornstein und spendeten vorübergehend ein bisschen Wärme.
Ich hatte Angst, auch so zu enden, wenn der Winter nicht bald vorbei war. Als hätte der Meister meine Gedanken gelesen, rief er durch den Laden: »Wo ist dieser Nussknacker? Der stand doch die ganze Zeit im Schaufenster!«, und suchte nach mir, fand mich aber nicht.
Seine Frau zuckte mit den Schultern, und Wilhelm tat so, als hätte er noch nie von einem Nussknacker gehört.
Jedenfalls, der Meister bekam mich nicht zu fassen. Ich kauerte in der Registrierkasse, wo früher die Geldscheine und Münzen gelegen hatten. Jetzt gab es keine Geldscheine und Münzen mehr; deshalb war genügend Platz für einen vom Meister steckbrieflich gesuchten Nussknacker.
Wie ich in die Kasse gekommen war, wusste nur Wilhelm. Es war sein Verdienst, denn er mochte mich und wollte nicht, dass ich als Rauch durch den Schornstein gejagt wurde.
* * *
Dann war der Winter endlich vorbei. Allen fiel ein Stein vom Herzen, so groß wie die Sonne, die mit jedem Tag wärmer wurde. Die Temperaturen stiegen, und ich konnte gefahrlos die Registrierkasse verlassen und mich zurück ins Schaufenster stellen. Neben mir stand eine Holzlokomotive, die es auch irgendwie geschafft hatte, dem Feuer zu entkommen. Rasch freundeten wir uns an und versuchten, die Langeweile mit einem Ratespiel zu vertreiben. Gewonnen hatte immer der, der erriet, wer als Nächstes am Schaufenster vorbeikommen würde – ob Mann oder Frau, Kind oder Tier, vielleicht ein Hund.
»Katze«, schnaufte die Holzlokomotive.
»Frau!«, sagte ich.
Es war Wilhelm. Er kam in einem Affenzahn um die Ecke geflitzt und stürmte in den Laden. Er ließ die Tür offen stehen, rannte zur Mutter an den Verkaufstresen und rief: »Mama, Mama! Nur Einser und Zweier!«
Stolz wedelte er mit seinem Zeugnis herum, bis es plötzlich knallte wie ein Böllerschuss. Hedwig und Wilhelm erschraken. Eine Windböe hatte die Ladentür zugeworfen. Die zufallende Tür wiederum hatte einen stürmischen Windstoß ins Schaufenster geweht. Dieser Windstoß ließ mich und die Holzlokomotive wackeln. Ich schwankte und kämpfte ums Gleichgewicht. Vergeblich: Ich kippelte, fiel von meinem kleinen Sockel, auf dem ich die ganze Zeit gestanden hatte, und flog durch die Luft. Ich kam mir vor wie ein Rotkehlchen, das ein schießwütiger Jäger abgeschossen hatte.
In freiem Fall stürzte ich nach unten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich auf den Linoleumboden knallte. Anfangs dachte ich: Nichts passiert! Bis ich feststellte, dass mit meinem Gesicht etwas nicht mehr stimmte.
Wilhelm kam herbeigerannt, kniete sich vor mich hin, nahm mich liebevoll in die Hand und sagte: »Der Kiefer! Mama, der Kiefer ist gebrochen!«
»Macht nichts«, entgegnete Hedwig. »Der Nussknacker ist ohnehin nicht mehr zu verkaufen.«
Trotzdem war Wilhelm untröstlich. Er entschuldigte sich mehrmals bei mir, sagte mir, wie leid es ihm täte und dass er gar nicht wisse, wie er die Sache wiedergutmachen könne.
»Geschehen ist geschehen«, flüsterte ich. »Flick mich lieber wieder zusammen, als zu jammern.«
Als könnte Wilhelm mich verstehen, fragte er: »Wie krieg ich das bloß wieder hin?«
»Mit Leim«, sagte ich.
»Mit Holzleim«, ergänzte Hedwig.
Also nahm Wilhelm mich mit in die Werkstatt seines Vaters und leimte meinen gebrochenen Kiefer. Danach sah ich genauso aus wie vor dem Unfall, und doch war ich verändert, denn ich konnte den Kiefer nicht mehr bewegen. Der Mechanismus, der auch die härteste Nuss geknackt hätte, funktionierte nicht mehr, nicht mal bei der kleinsten Nuss der Welt. Als Nussknacker war ich unbrauchbar.
»Ein Nussknacker, der keine Nuss mehr knacken kann, ist wie ein Auto ohne Räder. Oder wie eine Trillerpfeife, die immerzu stumm bleibt«, sagte Hedwig.
Der Meister meldete sich nach langer Zeit mal wieder zu Wort und ergänzte brummend: »Und deshalb ist er nicht zu verkaufen!«
Wilhelm freute sich insgeheim, denn wenn ich nicht verkauft werden konnte, blieb ich umso länger.
Mir schien, dass es um meine Zukunftsaussichten im Holzschnitzladen von nun an besser bestellt war denn je.
Umso schlechter ging es dem Holzschnitzladen. Immer weniger wurde verkauft. Wochenlang hockte Hedwig hinter dem Verkaufstresen, ohne dass ein einziger Kunde erschienen wäre. Manchmal zog Wilhelm mit einem Korb voller Wäscheklammern los und versuchte, sie im Dorf und auf dem Markt zu verkaufen.
Dem Meister ging es immer schlechter, und schließlich wurde er krank. Ob es das Fieber war, die Gliederschmerzen oder der Kummer, der ihn ins Bett verbannte, konnte selbst der Arzt nicht sagen. Jetzt konnte Hedwig gar nicht mehr im Laden stehen, denn sie musste ihren bettlägerigen Mann pflegen. Von nun an saß Wilhelm, wenn er aus der Schule kam, hin und wieder auf dem kleinen Schemel hinter dem Tresen und wartete vergeblich auf Kundschaft. Und wenn auch Wilhelm nicht im Laden hockte, hing ein Schild an der Tür, auf dem stand: Wegen Krankheit geschlossen.
* * *
Eines Tages, als ich mich mal wieder mit der Holzlokomotive über die schlechten Zeiten unterhielt und wir uns dann mit einem Ratespiel die Langeweile vertrieben, blieb ein gut gekleideter Mann vor dem Schaufenster stehen. Er entdeckte das Schild an der Tür und klopfte. Wilhelm bog gerade mit dem Korb um die Ecke und kam die Straße entlang. Hinter dem Mann blieb er stehen und fragte: »Was wünschen Sie?«
Der Mann drehte sich erschrocken um, sodass ihm beinahe der Hut vom Kopf rutschte. Er schien überrascht zu sein, dass ein Kind den Laden aufschloss.
Als der Fremde neben Wilhelm im Laden stand, sagte er: »Ich möchte deinen Vater sprechen.« Als Wilhelm nicht reagierte, fügte er hinzu: »Oder deine Mutter. Sind sie nicht da?«
»Mama!«, rief Wilhelm die Treppe hinauf, so laut er konnte.
»Was ist denn?«, kam es zurück.
»Ein Mann will dich sprechen!«
»Ein Mann? Moment, ich komme.«
Ein paar Sekunden später stand Hedwig vor dem Fremden und erkundigte sich: »Was kann ich für Sie tun?«
»Sie für mich nichts. Ich für Sie.«
Hedwig blickte verwirrt. Wilhelm ebenso. Auch ich verstand nur Bahnhof.
»Sie haben gewonnen!«, sagte der Mann.
»Gewonnen?«, fragte Hedwig. »Ich?«
»Ja! Das heißt, eigentlich Ihr Mann. Ist er da?«
Hedwig brach in Tränen aus. Die Miene des Fremden verdüsterte sich, und er sagte mit belegter Stimme: »Tut mir leid, aber so sind nun mal die Bestimmungen. Nur Ihr Mann Wilhelm kann die Reise antreten.«
Was für eine Reise?, fragte ich mich.
»Wilhelm?«, fragte Wilhelm erstaunt.
»Wilhelm ist nicht mein Mann«, sagte Hedwig verdutzt. »Wilhelm …«
»… bin ich!«, sagte Wilhelm.
»Du?« Der Mann überlegte. Dabei zeichneten sich auf seiner Stirn tiefe Falten ab. »Na, wenn das so ist«, sagte er dann, »ist es dein Gewinn und deine Reise. Du weißt doch, was ein Zeppelin ist?«
Wilhelm und ich staunten. So etwas hatten wir noch nie gesehen.
»Sieht aus wie eine aufgeblasene Zigarre«, sagte Wilhelm beim Anblick des Luftschiffs. »Kann das Ding wirklich fliegen?«
»Keine Angst, das fliegt schon«, sagte ein Mann mit strubbligem Bart, der in einer verschlissenen Uniform vor der kleinen Reisegruppe stand.
»Das ist der verrückte Graf«, tuschelten ein paar Leute hinter dem Rücken des Mannes. »Der Erfinder des Luftschiffs.«
Der Graf grinste, wobei sein Bart sich seltsam verzog. »Jedenfalls ist es schon mal geflogen. Vor acht Jahren das erste Mal. Allerdings nur achtzehn Minuten. Aber jetzt wird es wieder fliegen. Einen ganzen Tag lang. Und Sie, meine Damen und Herren, haben die Ehre, mitzufliegen.«
Viele Leute waren es nicht. Vielleicht zwanzig Personen drängten sich jetzt in die Gondel des Luftschiffs, die unter einem Gerüst hing, das von einer Leinwand umspannt war.
Auch Wilhelm saß kurz darauf in diesem lenkbaren Koloss, mit schwitzenden Händen und Angst im Nacken. Es war das erste Mal, dass er von zu Hause weg war. Zwar nur für einen Tag, aber er war ganz alleine. Na ja, ganz alleine nun auch wieder nicht. Ich war bei ihm, wie immer. Ich spürte, wie seine Hände sich fest um meinen Bauch klammerten, als jemand plötzlich laut brüllte: »Luftschiff hoch!«
Und tatsächlich, das Luftschiff wurde von den Masten gelöst und stieg langsam vom Boden auf. Motoren wurden angeworfen. Die Propeller drehten sich. Das Luftschiff setzte sich in Bewegung, gewann immer mehr an Höhe und schwebte haushoch über dem Bodensee.
»Na, was habe ich gesagt!« Der verrückte Graf, der sich allen als Graf Ferdinand von Zeppelin vorstellte, schien zufrieden. »Fliegt es, oder fliegt es nicht?«
»Es fliegt!«, riefen alle Passagiere wie aus einem Munde.
Und wie lange fliegt es?, fragte ich mich, denn ich hatte meine Zweifel. Ob andere sich das auch fragten?
Auf jeden Fall starrten alle in die Tiefe und bewunderten den sagenhaften Blick, als wäre die Zeit hier oben knapp und müsste umso mehr ausgekostet werden. Manch »Oh!« und »Ah!« und »Wunderbar!« drang aus einem der vor Staunen offen stehenden Münder, so atemberaubend war der Ausblick. Eine Frau schien beinahe ohnmächtig zu werden. Sie taumelte und musste sich auf den Boden legen. Auch mir wurde ganz schummrig und ein bisschen schlecht.
»Von oben sieht die Welt viel schöner aus«, sagte Wilhelm. »Guck mal die Häuser. Wie winzig!«
Tatsächlich. Das waren keine Häuser, das waren Streichholzschachteln. Wie man darin nur wohnen kann!, ging es mir durch den Kopf.
»Und erst die Menschen! Wie Ameisen!«, sagte Wilhelm.
Er hatte recht: Ameisen in Streichholzschachteln. Nur wir im Zeppelin hatten noch immer dieselbe Größe wie zuvor. Der Graf, der jetzt neben uns stand, blies die Backen auf und strahlte, dass seine Wangen wie polierte Äpfel aussahen.
»Von hier oben sieht man die Menschen fast gar nicht mehr«, sagte Wilhelm. »Als ob sie nicht da wären.«
»Dafür sehen die uns von unten umso besser«, entgegnete der Graf und fügte grinsend hinzu: »Und wundern sich noch mehr.«
»Über die fliegende Zigarre!«, platzte es aus Wilhelm hervor, was ihm sofort peinlich war, sodass sein Gesicht rot anlief.
Das Luftschiff flog bald so hoch, dass die Streichholzschachteln wie Streichholzköpfe aussahen. Dafür konnte man nun große Flächen erkennen.
»Das sind Felder, Äcker und Wiesen!«, sagte Wilhelm.
Handtuchgroße Streifen aus Grün, Gelb und Braun. Alle miteinander verbunden, als wären sie zusammengenäht, wie ein Flickenteppich, in den man sich am liebsten kuscheln wollte, so weich sah er von hier oben aus.
»Da, ein Fußballspiel!«, rief plötzlich eine Frau, die selbst in der Gondel ihren großen Hut nicht abnahm. Sie zeigte auf einen der Flecken tief unten. Ich sah aber kein Fußballspiel. Wilhelm und die meisten anderen auch nicht.
»Wo denn?«, fragten einige Mitreisende, woraufhin die Frau es zu erklären versuchte.
»Fußball?«, unterbrach sie ein dicker Mann mit rotem Gesicht und einem Bart, der aussah wie zwei Rattenschwänze, die wie Antennen nach oben zeigten. »Die Deutschen und Fußball! Diese Versager haben sogar gegen die kleine Schweiz verloren.«
»Warum?«, fragte die Frau mit dem großen Hut.
»Weil sie nicht spielen können«, sagte der Mann mit dem Rattenschwanzbart verächtlich.
»Quatsch! Die haben noch nie gegen die Schweiz gespielt«, konterte ein anderer Mann, der ebenfalls ganz rot im Gesicht war und eine dicke Nase hatte mit Poren so groß, dass man Streichhölzer hätte hineinstecken können.
Der Rattenschwanzbart schaute bitterböse. »Aber sicher! Im April. Am fünften April war das erste Fußballländerspiel der Deutschen, und zwar gegen die Schweiz.«
»Stimmt!«, mischte sich der verrückte Graf ein. »Aber das haben wir nicht verloren, sondern gewonnen.« Er klopfte dem Mann mit Rattenschwanzbart munter auf den Rücken.
»Was heißt wir? Haben Sie auch mitgespielt?«
Der Graf schaute irritiert in die Runde. Die Leute betrachteten ihn aufmerksam, als zweifelten auch sie daran, dass er mit seinen siebzig Jahren überhaupt noch Fußball spielen konnte. Auch ich hatte Schwierigkeiten, mir den Grafen in kurzen Hosen vorzustellen. Wilhelm dachte wohl Ähnliches, denn er kicherte verschämt. Plötzlich schien auch der Graf zu verstehen und sagte mit einem Schmunzeln: »Nein, wir! Ich meine uns, die Deutschen, als Nation.«
»Ich bin kein Deutscher«, sagte der Mann mit dem Rattenschwanzbart. »Aber verloren haben sie trotzdem! Mit drei zu fünf!«
»Drei zu fünf stimmt«, erwiderte der Graf. »Aber gewonnen!«
Der Rattenschwanzbart lachte. »Aber nur, wenn Sie alle fünf Tore geschossen haben!«
Der Graf war eingeschnappt. »Das muss ich mir nicht bieten lassen! Verlassen Sie auf der Stelle mein Luftschiff!« Er zeigte zur Tür.
Alle schauten verwundert nach unten. Jetzt sahen sogar die Felder und Wiesen so klein wie Streichholzschachteln aus.
»Äh … Herr Graf, das mit dem Aussteigen ist im Moment ein bisschen ungünstig«, sagte die Frau mit dem Hut, die die Fußballspieler erkannt haben wollte.
Jetzt dämmerte auch dem Grafen, dass seine Forderung selbst mit dem allergrößten Willen und der nötigen Entschlossenheit kaum einzulösen war. Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster und sagte: »Dann eben nach der Landung.«
»Worauf Sie sich verlassen können!« Der Rattenschwanz verzog sich an das andere Ende der Gondel.
* * *
Bis zur Landung vergingen noch ein paar Stunden, in denen der Graf und der Mann mit dem Rattenschwanzbart kein Wort mehr wechselten. Auch die anderen sprachen immer weniger, je länger die Reise dauerte. Einmal sagte die Frau mit dem großen Hut noch: »Das glaubt einem doch niemand!«
Der dicke Mann mit der roten Nase nickte. »Sie haben recht, gnädige Frau. Für solche Zwecke bräuchte man einen Fotoapparat!«
»Einen Fotoapparat?«, rief ein Mann, der bisher geschwiegen hatte. »Den können Sie vergessen, der zeigt Ihnen alles nur schwarz-weiß!«
»Ich bitte Sie!«, sagte der dicke Mann mit der roten Nase. »Wo leben Sie denn? Letztes Jahr wurde die Farbfotografie erfunden.«
»Was denn?«, sagte die Frau mit Hut erstaunt. »Man kann jetzt auch bunte Fotos machen?«
»So ist es, gnä’ Frau. Dank Herrn Louis Jean Lumière, einem französischen chemiker, können Sie auf den Fotoabzügen jetzt dasselbe erblicken, was Sie auch mit Ihren bezaubernden Augen sehen.«
Die Frau mit dem großen Hut schien sich geschmeichelt zu fühlen. Der Mann, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, schwieg von nun an weiter. Der Dicke mit der roten Nase setzte sich sogleich zu der Frau mit dem großen Hut. Er tuschelte mit ihr, wobei die Frau immer wieder kicherte wie ein kleines Mädchen.
Ich staunte. Wilhelm ebenfalls. Ich über die Frau, Wilhelm wohl mehr über den Erfinder der Farbfotografie.
Danach wurde fast nichts mehr geredet. Die meisten, außer Wilhelm natürlich, schauten auch gar nicht mehr aus dem Fenster, sondern stierten dumpf und müde vor sich hin. Irgendwann sagte der Mann, der bis dahin wieder geschwiegen hatte, leise und aus heiterem Himmel: »Die Besten sterben zu früh.«
Die Fluggäste, die noch nicht eingeschlafen waren, schauten ihn verwundert an.
Der Mann rezitierte:
»Ritzeratze, voller Tücke,In die Brücke eine Lücke.Als nun diese Tat vorbei,Hört man plötzlich ein Geschrei:›He, heraus! Du Ziegen-Böck!Schneider, Schneider, meck, meck, meck!‹Alles konnte Böck ertragen,Ohne nur ein Wort zu sagen;Aber wenn er dies erfuhr,Ging’s ihm wider die Natur.Schnelle springt er mit der ElleÜber seines Hauses Schwelle,Denn schon wieder ihm zum SchreckTönt ein lautes: ›Meck, meck, meck!‹Und schon ist er auf der Brücke,Kracks! Die Brücke bricht in Stücke;Wieder tönt es: ›Meck, meck, meck!‹Plumps! Da ist der Schneider weg!«
Alle Passagiere schauten andächtig.
»Max und Moritz«, sagte Wilhelm.
»Genau!«, erwiderte der Mann. »Und von wem ist das?«
Wilhelm hatte keine Ahnung. Ich auch nicht. Und die anderen sahen so aus, als würden sie nicht mal Max und Moritz kennen.
»Wilhelm Busch!«, rief der Mann nach einer Pause, während der alle so getan hatten, als würden sie angestrengt nachdenken.
»Natürlich! Er lebe hoch!«, riefen die anderen.
»Leider ist er tot.«
»Nein!« Die Erleichterung schlug in Entsetzen um.
»Doch. Wilhelm Busch ist vor Kurzem gestorben.«
Alle schauten jetzt traurig.
»VORSICHT! «, brüllte der Graf plötzlich aufgeregt. »IN DECKUNG! «
Das Luftschiff wackelte und fing an zu schaukeln. Alle warfen sich zu Boden.
»Dieser verdammte Wind!«, schimpfte der Graf.
Die Passagiere wurden hin und her geworfen. Ich und Wilhelm ebenfalls. Das Luftschiff wurde immer langsamer, dabei sank es ziemlich schnell. So schnell, dass mir übel wurde.
»Wir sinken!«, schrie die Frau mit dem großen Hut.
»Na klar sinken wir«, polterte der Graf. »Oder wollen Sie für immer hier oben in den Lüften hängen?«
Die Frau schüttelte den Kopf, dass der Hut wie eine fliegende Untertasse durch die Gondel schwebte und gegen die Scheibe prallte.
»Alle festhalten!«
»Da ist ein Baum!«
»Kann ich doch nichts dafür!«
»Ein ganzer Wald!«
»VORSICHT! «
Das Luftschiff prallte gegen die Bäume, blieb an den Ästen hängen und fing an zu qualmen.
»ALLES RAUS! SCHNELL! «
Die Luke ging auf. Alle kletterten aus der Gondel auf einen Baum und an den Ästen und am Stamm nach unten. Ich konnte von oben alles genau beobachten. Ich konnte sogar hören, wie der Mann mit dem Rattenschwanzbart »Komm schnell, mein Junge!«, sagte und Wilhelms Hand nahm. Zusammen verließen sie das Luftschiff, ohne dass Wilhelm mich mitnehmen konnte.
Ich wollte noch schreien: »Halt, nimm mich mit!«, aber mir blieb die Luft weg, denn es qualmte jetzt so stark, dass die Gondel voller Rauch war. Ich musste husten, keuchen, röcheln. Ich sah nichts mehr, hörte nichts mehr. Ein schwarzer Schleier zog an mir vorüber, und ich fiel in tiefen Schlaf.
* * *
»… aus Eichenholz, fein von Hand gearbeitet, um die Jahrhundertwende, neunzehn Zentimeter hoch, ein Einzelstück, sehr ansehnlich, meine Damen, meine Herren, ein Unikum, ein Original!«
Eine Stimme war zu hören, laut und fordernd wie ein Marktschreier.
Der redet über mich!, schoss es mir durch den Kopf. Ich riss die Augen auf. Zuerst konnte ich kaum etwas erkennen. Alles war verschwommen. Erst langsam bekam ich den Durchblick zurück. Wie lange ich das Bewusstsein verloren hatte, wusste ich nicht. Die Verschwommenheit löste sich langsam auf, und ich sah wieder klarer. Und war enttäuscht und traurig. Von Wilhelm keine Spur. Das Luftschiff war auch nicht mehr zu sehen. Dafür sah ich einen Mann, der auf einem Podest, das neben einem Tisch stand, auf und ab ging. Und auf dem Tisch stand ich – neben Vasen, Kronleuchtern, Wanduhren und Porzellantassen.
Wie ich aus dem qualmenden Zeppelin hierher gelangen konnte, war mir schleierhaft. Vor und um das Podest herum saßen Männer und Frauen auf Stühlen. Sie hoben hin und wieder den Arm, woraufhin der Mann auf dem Podest freudig weiterdröhnte.
»Sechsundzwanzig Reichsmark zum Ersten, zum Zweiten und … siebenundzwanzig für die Dame! Wer bietet mehr?«
Alle Arme blieben unten.
»… und siebenundzwanzig zum Dritten!«
Der Mann am Podest schlug mit einem Hammer auf den Tisch, dass es nur so krachte.
Die Frau kam nach vorne, nahm mich in Empfang, zahlte und ging an ihren Platz zurück. Kaum hatte sie sich hingesetzt, schaute sie mich an und rief plötzlich so laut, dass alle es hören konnten: »Der Mund geht nicht auf!«
Die anderen drehten die Köpfe nach ihr um.
Klar geht der nicht auf, hätte ich sagen wollen, ist ja auch zugeleimt. Mit oberbayerischem Holzleim.
»Ein Nussknacker, der den Mund nicht aufmachen kann!«, rief die Frau, als käme das einem Weltuntergang gleich.
Die anderen schienen nicht zu begreifen. Sie blickten die Frau verständnislos an, bis diese schrie: »Der kann keine Nüsse knacken!«
Der Mann auf dem Podest unterbrach die Versteigerung, zuckte mit den Schultern und sagte: »Kann ich doch nichts dafür!«
Die Frau starrte mich fassungslos an. »Der ist ja zu nichts zu gebrauchen!«
»Höchstens als Talisman!«, rief jemand aus der Menge, und alle lachten, nur die Frau nicht. Sie stürmte mit mir aus dem Saal.
»Willst du, Dorothy Gibson, den hier anwesenden Hans Otto Lord von Breitenbach zu deinem Gemahl nehmen?«
»Ja!«
»Und du, Hans Otto Lord von Breitenbach, willst du die hier anwesende Dorothy Gibson zu deiner Gemahlin nehmen?«
»Ja!«
»Dann seid ihr von nun an Mann und Frau, bis dass der Tod euch scheidet.«
Ich lag noch immer in der Schachtel und hörte, wie Musik einsetzte. Eine Orgel spielte feierlich. Dann sangen Leute dazu. Das war eindeutig eine Feier, eine Hochzeitsfeier, eine Trauung. Daran bestand kein Zweifel. Die Hauptdarsteller: Dorothy Gibson und Lord von Breitenbach. Was ich dabei für eine Rolle spielte, war mir allerdings schleierhaft. Die Orgel verstummte, doch kurz darauf erklang schon wieder Musik – dieses Mal Streichinstrumente. Dann öffnete sich langsam der Deckel meiner Schachtel, und endlich begriff ich, was das alles zu bedeuten hatte.
Ich stand auf einem großen, festlich gedeckten Tisch, eine Art Tafel, umgeben von Blumen und unzähligen, in buntes Geschenkpapier eingewickelten Schachteln. Als der Deckel meiner nach Möbelpolitur riechenden Kiste offen war, erschien die Dame, die mich angeblich als Talisman erworben hatte, wieder in meinem Blickfeld. Aber nicht nur sie. Ihre Hand, die dieses Mal in einem weißen, langen Handschuh steckte, nahm mich aus der Kiste. Sie reichte mich der freudig strahlenden Braut, die in einem weißen Hochzeitskleid mit einer meterlangen Schleppe und einem durchsichtigen Schleier vor dem Gesicht am Tisch stand. Die Braut sah ziemlich hübsch aus und war noch blutjung. Fast noch ein Kind. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass in ihrem Alter schon geheiratet werden konnte.
»Meine liebe Dorothy«, sagte die Dame mit zittriger Stimme und ganz feierlich. »Dieser Nussknacker, ein Symbol meiner Anteilnahme an deinem bisherigen Leben, soll dich auf deinem weiteren Lebensweg begleiten, den du von nun an ohne mich, dafür gemeinsam mit deinem geliebten Gatten beschreiten wirst.«
»Bravo, Madame!«, rief ein älterer Herr, der jetzt neben die Braut trat und begeistert in die Hände klatschte. »Aber zuerst entführe ich Ihre Stieftochter und mit ihr diesen entzückenden Nussknacker nach New York!«
Der Mann trug einen schwarzen Anzug und war allem Anschein nach der Bräutigam, obwohl er vom Alter her eher wie der Brautvater aussah. Er hatte schütteres Haar und einen grauen Schnauzbart, war ziemlich dick und einen halben Kopf kleiner als Mrs Gibson.
»Nach New York?«, fragte Dorothy erstaunt. Sie blickte zuerst mich ungläubig an, als hätte sie noch nie im Leben einen Nussknacker gesehen, dann ihren Mann, als würde ihr erst jetzt der riesige Altersunterschied zwischen ihr und dem Lord auffallen.
»Ja, mein Schatz! New York! Wir fahren nach New York in die Flitterwochen!«
Lord von Breitenbach klatschte wieder in die Hände. Dann nahm er die kleine schmale Hand von Dorothy, die ebenfalls in Handschuhen steckte, die bis zu den Ellbogen reichten, und küsste sie. Auch die Braut küsste den Bräutigam. Nicht auf den Mund oder die Hand, sondern auf die Stirn, sodass von nun an ein kleiner roter Abdruck auf von Breitenbachs Glatze prangte. Anschließend strich Dorothy mir liebevoll über den Wanst, während sie immer wieder »New York, New York! Ich werd verrückt!«, hauchte.
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