Der Papst der Enttäuschungen - Michael Meier - E-Book

Der Papst der Enttäuschungen E-Book

Michael Meier

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Beschreibung

Ist Franziskus ein Reformpapst? Der Religionsjournalist Michael Meier zieht eine nüchtern-realistische Bilanz des Pontifikats: Franziskus ist mehr Seelsorger und Hirte als ein (sei es auch nur gescheiterter) Reformer! Im Einzelfall lässt Franziskus zwar Gnade vor Recht ergehen, stellt Barmherzigkeit über Lehramt und Dogma. Grundsätzlich bleibt aber alles beim Alten. Erwartungen auf substanzielle Reformen werden geweckt, doch letztlich bleiben sie aus. Das Buch schildert detailiert die spannende Geschichte des Pontifikats und markiert deutlich seine Schwachstellen.

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Michael Meier

Der Papst der Enttäuschungen

Warum Franziskus kein Reformer ist

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Stefano Spaziani

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-39716-5

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83970-2

Inhalt

Vorwort und Grundthese: Kein Reformer, sondern Seelsorger

Kapitel 1: Der Zauber des Anfangs

Der Papst der Bilder

Worte und Zeichen der Hoffnung

Die eigentliche Regierungserklärung: Barmherzigkeit, nicht Reformen

Kapitel 2: Die alten Geschlechterrollen, Homosexuelle nicht ehewürdig

Die meistdebattierte Frage des Pontifikats: Dürfen Wiederverheiratete zur Kommunion?

Rechte Revolte gegen »häretischen Papst«

Marco Politi und das prägende Narrativ des Franziskus-Pontifikats

Kampf der »Gender-Ideologie«

Gayfriendly? Homosexuelle Beziehungen entsprechen nicht dem Plan Gottes

Der halbherzig schwulenfreundliche Vorzeige-Priester James Martin

Verpasste Dezentralisierung

Kapitel 3: Halbherziger Kampf gegen Missbrauch, die Sexualmoral bleibt unverändert

Systemische Ursachen bleiben außen vor

Papst verschärft Regeln

Der Fisch stinkt vom Kopf her – Fehlbare Bischöfe zuhauf

Päpstliche Sonderbehandlung für zwei deutsche Kardinäle

Ratlose Kinderschutzkommission

Kapitel 4: Keusch und männlich – der Heilige Stand, der Frauen überflüssig macht

Keine Viri probati – der Papst bläst die Revolution wieder ab

»Die spezifische Macht der Frauen«, die der Weihe nicht würdig sind

Die größte Enttäuschung der Reformkatholiken

Diakonat der Frau in der Endlosschleife

Franziskus will trotzdem ein Freund der Frauen sein

Kapitel 5: Falsche Erwartungen an die Personalpolitik der Peripherie

Engagiert für die Armen, ewiggestrig in der Moral

Kardinäle der Diaspora

Personalpolitik des Papstes: Die eigentliche Revolution?

Politisch motivierte Kardinals-Ernennungen

Matteo Zuppi und die päpstliche »Friedensmission«

Das Kardinalskollegium verliert an Bedeutung

Kapitel 6: Die Kurienreform hat eine Maus geboren

Laien und Frauen an die Spitze – wirklich?

Das Idealbild einer Kurie im Dienste der Ortskirchen

Bruch mit Ratzinger: Der Umbau der Glaubenskongregation

Kapitel 7: Das nebulöse Zauberwort aus der Verlegenheit – Synodalität

Den Parlamentarismus im Heiligen Geist ­überwinden

Laien dürfen mitreden, aber nicht mitentscheiden

Der deutsche Synodale Weg ist aufgelaufen

Alle nationalen Gesprächsprozesse liefen ins Leere

Prominente Theologen und Intellektuelle warnen

Kapitel 8: Auch politisch kein revolutionärer Papst

Der Papst des Südens hält nicht zum Westen

Er lässt sich für seine »Ostpolitik« und das Treffen mit Kyrill feiern

Wie Franziskus Groß-Russland romantisiert

Gemeinsame Erklärungen mit Staatsklerikern

Ein Volkstheologe, kein Befreiungstheologe

Kapitel 9: Tauwetter mit dem Islam, Entfremdung von den Protestanten

Mit dem sunnitischen Leader brüderlich verbunden

Die Ökumene mit den Protestanten lässt er stagnieren

Gemeinsames Abendmahl würde Dialog mit den Orthodoxen gefährden

Kapitel 10: Das falsche Franziskus-Bild. Warum der Papst kein Reformer ist

Die Konstante: Widersprüchlich, doppeldeutig

Das rettende Narrativ

Mal Seelsorger, mal Glaubenswächter – Franziskus spricht mit zwei Zungen

Widerstand, aber kein Bürgerkrieg

Ihm fehlt das intellektuelle Profil eines Reformers

Wie ein falsches Bild entsteht

Kapitel 11: Conclusio: Die Zukunft der Kirche oder warum sie in ihrer Substanz nicht reformierbar ist

Die Ausnahme: Reformpapst Johannes XXIII.

Ja zu den Menschenrechten, aber nicht zu allen

Alleinstellungsmerkmale gibt man nicht preis

Römische Kirche – Kontrastgesellschaft oder Parallelgesellschaft?

Bürokratische Institution versus mystische Seele

Kirche mit südlichem Profil wenig offen für Reformen

Über den Autor

Bibliografie

Vorwort und Grundthese: Kein Reformer, sondern Seelsorger

Warum am Ende dieses Pontifikats abermals ein Buch über Franziskus? Ist über ihn nicht längst alles gesagt? Eben nicht. Denn die allgemeine Wahrnehmung dieses Papstes vom anderen Ende der Welt war von Anfang an in Stereotypien gefangen, die nachweislich falsch sind. Es wurde fast einmütig ein idealisiertes Bild kultiviert, das allen hilft: Dem Papst selber, den Reformern wie den Reaktionären. Franziskus gilt gemeinhin als Reformpapst. Nur: Wie hat er die Kirche erneuert, welche Reformen hat er aufgegleist? Die Frage bringt selbst jene in Verlegenheit, die das Bild des Reformpapstes geprägt haben, allen voran den bekannten Vatikanisten Marco Politi. Er nennt vage die Kurienreform, mehr Rechte für Frauen und Geschiedene oder die Abkehr von der Fokussierung auf die Sexualmoral. Zugleich glaubt er zu wissen, warum der reformwillige Papst mit den Reformen nicht vorankommt: Eine noch nie dagewesene Opposition, ja ein eigentlicher Bürgerkrieg hinter den Mauern des Vatikans breche den päpstlichen Reformwillen. So hat Politi das gängige, Franziskus entlastende Narrativ dieses Pontifikats formuliert: Franziskus ein Reformer, der leider an der Umsetzung gehindert wird, ausgebremst von der konservativen Kurie. Das in seinen Büchern Unter Wölfen1 oder Das Franziskus-Komplott2 beschworene Narrativ vom verhinderten Reformer ist zur dominanten Deutung dieses Papstes geworden.

Das geschönte Bild vom verhinderten Reformer haben nicht nur die Medien, sondern auch zahlreiche andere Vatikan-Kenner übernommen. Andreas Englisch etwa in seinem Buch Der Pakt gegen den Papst.3 Auch Christopher Lamb, der Vatikan-Korrespondent von The Tablet, postuliert in seinem Buch The Outsider: Pope Francis and His Battle to Reform the Church,4 dass der Papst mit einem Guerilla-ähnlichen Aufstand konfrontiert sei, der von »weltlichen und klerikalen Einrichtungen« angeführt werde. Selbst die fundierte Franziskus-Biografie des Engländers Paul Vallely trägt den verfänglichen Untertitel Vom Reaktionär zum Revolutionär.5 In die gleiche Kerbe schlägt die Franziskus-Biografie von Daniel Deckers,6 die ganz vom Zauber des Anfangs inspiriert ist. Überhaupt stammen die meisten wichtigen Franziskus-Monografien aus den ersten Jahren des Pontifikats, als die Hoffnung auf Neuerungen noch eher gerechtfertigt war. Einer der wenigen, der den »Franziskus-Mythos« – fünf Jahre nach Amtsantritt von Franziskus – grundsätzlich hinterfragt hat, ist Marco Marzano in seinem argumentativ bestechenden Sachbuch Die unbewegliche Kirche.7 Als Soziologe ist er vor allem an der Institution und ihrer Trägheit interessiert, mit der es auch Franziskus nicht aufnehmen kann.

Zweierlei ist falsch an der gängigen Lesart: Unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. war die Opposition wesentlich größer. Man denke an den Vatileaks-Skandal innerhalb der Mauern des Vatikans, der Benedikt letztlich zum Rücktritt bewog, vor allem aber auch an die von außen kommende Opposition gegen die beiden Pontifikate. Der Streit um die Deutungshoheit des Zweiten Vatikanischen Konzils bescherte diesen Päpsten von rechts das Schisma mit den Piusbrüdern und von links hartnäckige Reforminitiativen wie die Kölner Erklärung, Wir sind Kirche, Lila Stola, Gruppe verheirateter Priester, Initiativgruppe vom Zölibat betroffener Frauen und wie sie alle heißen. Die Reformbewegungen nahmen die beiden letzten Päpste unter Dauerbeschuss. Es trifft aber noch weniger zu, dass Franziskus ein Reformpapst ist. Dieses Buch zeichnet ein anderes Narrativ: Franziskus als Seelsorger und Hirte, der im Einzelfall Gnade vor Recht ergehen lässt, Barmherzigkeit über Lehramt und Dogma stellt, dieses aber nicht antastet. Barmherzigkeit ist der Schlüssel zum Pontifikat von Franziskus. Damit weckt er Erwartungen auf substanzielle Reformen, ohne ein Reformer zu sein. Und er gerät in Widersprüche, in Teufels Küche. Diese Lesart erlaubt es auch, eine nüchtern-realistische Bilanz des Bergoglio-Pontifikats zu skizzieren. Der analytische Essay zeigt exemplarisch, dass die Kirche in ihrer Substanz schlicht nicht reformierbar ist.

Mein Buch, keine Biografie, sondern ein Sachbuch, treibt die Entmythologisierung des zu Ende gehenden Pontifikats weiter und will zugleich eine Bilanz ziehen. Als Theologe und Religionsjournalist (während Jahrzehnten beim Zürcher Tages-Anzeiger), kann ich die Außen- und Innenperspektive zusammenführen. Ich habe als reformierter Christ und verhinderter Konvertit katholische Theologie in Rom und Fribourg studiert. Das erklärt vielleicht meine Distanz zu Papst und römischer Kirche. Ich finde Franziskus bisweilen sympathisch, fasziniert oder inspiriert hat er mich nie. Ich habe sein Wirken seit seiner Wahl journalistisch begleitet und die gängige Lesart praktisch von Anfang an angezweifelt, mich damit auch Kritik ausgesetzt. Nochmals: Ich halte das Narrativ des gescheiterten Reformers für falsch, und zwar ohne Wenn und Aber. Franziskus ist kein Reformer, sondern Seelsorger und Hirte. Die große Öffentlichkeit nimmt meist nur seine mündlichen Äußerungen zur Kenntnis, die tatsächlich das Bild eines Reformpapstes suggerieren. Man muss aber auch seine lehramtlichen Texte lesen, die eine andere Sprache sprechen.

So kommt es, dass Franziskus sich mit Homosexuellen trifft, die Homoehe aber – und selbst die liturgische Segnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen – für unstatthaft hält. Er ermuntert eine evangelische Frau mit ihrem katholischen Ehemann zur Kommunion zu gehen, untersagt aber das gemeinsame Abendmahl von katholischen und evangelischen Gemeinden. Er hievt einzelne Frauen in administrative Spitzenämter, hält aber ihre Teilhabe an der Definitions- und Leitungsgewalt qua Weihe für nicht gottgewollt. Er anerkennt verheiratete Priester in den katholisch-unierten Kirchen, verpflichtet seine eigenen Priester aber auf den Zölibat. Er will den Laien mehr Mitsprache bei der Entscheidungsfindung geben, von den Entscheidungen selber aber schließt er sie aus.

Entscheidend für das Verständnis von Franziskus: Er ist der erste Papst aus dem Süden, der in einer westlich dominierten Kirche wirkt, sich aber wenig für den Westen interessiert. Das imprägniert seine Haltung nicht nur zu geopolitischen Fragen, sondern auch zu Fragen des interreligiösen Dialogs und der Kirchenreform. Höchstwahrscheinlich wird auch sein Nachfolger aus Lateinamerika, Afrika oder Asien kommen. In der südlichen Hemisphäre, aus der Franziskus stammt, treten strukturelle Reformen der Kirche hinter den Fragen der Armutsbekämpfung, Entkolonialisierung oder Migration zurück. Und trotzdem ist etwa die Frauenfrage keine auf den Westen beschränkte; sie ist global und überall virulent. Auch afrikanischen Nonnen würde in einer geschlechtergerechten Kirche viel Leid erspart bleiben. Und gerade die Amazonas-Synode hat gezeigt, dass selbst im Urwald neue Zulassungsbedingungen zum Priesteramt notwendig wären.

Dieses Buch ist aus einer westlichen Perspektive geschrieben, aus einer aufgeklärten, reformorientierten Perspektive. Der sogenannten Kirchenbasis wirft es aber vor, nicht schon vor Jahren gemerkt zu haben, dass man von Franziskus’ barmherzigen Gesten nicht auf substanzielle Reformen schließen darf. Dagegen stemmt sich die Basis und hält krampfhaft an der Lesart des gescheiterten Reformpapstes fest. Warum? Diese Deutung stabilisiert den Status quo der Kirche und hält zugleich die Hoffnung auf Veränderung am Leben. Sie hilft der Basis und sie hilft dem Papst. Es ist eine Symbiose, die den Kirchenbetrieb aufrechterhält und obendrein die kirchliche Einheit festigt. Die Basis der Gläubigen und das Gros der kirchlichen Angestellten halten am Bild des an der Kurie gescheiterten Reformers fest, weil es ihrer Einbettung in der Kirche oder ihrer pastoralen Arbeit eine Perspektive gibt. Auch Basisinitiativen wie Wir sind Kirche wollen nicht wahrhaben, dass sie ihre Reformforderungen wie den Stein des Sisyphos vor sich herschieben, ohne je ans Ziel zu gelangen. Tatsächlich hat Franziskus zu Beginn des Pontifikats Zeichen gesetzt, die auf Reformen hoffen ließen. Zudem ist dieser Papst bemüht, auf die Reformer zuzugehen, indem er sie über Reformschritte debattieren lässt, die er dann aber auf Retuschen und Kosmetik nivelliert.

Der Essay umreißt entlang der chronologischen Achse mit den wichtigsten Stationen des Pontifikats die von Franziskus gesetzten Hauptthemen. Im Fokus stehen die von ihm ausgelösten Debatten um Reformen, speziell die mit den Bischofsynoden zu Familie und mit der Amazonas-Synode geschürten Hoffnungen auf Abschaffung des Pflichtzölibats, Aufwertung der Frau und eine neue Sexualmoral. Statt aber zu Reform an Haupt und Gliedern kommt es nur zu Retuschen. Zur Sprache kommt weiter der halbherzige Kampf gegen den Missbrauch, die fragwürdige Kardinalspolitik der Peripherie und der mehrjährige Synodale Prozess, der wie andere nationale Dialogprozesse ins Leere laufen wird. Im interreligiösen Bereich setzt Franziskus auf die Öffnung gegenüber dem Islam, zementiert aber binnenkirchlich den Stillstand gegenüber den Kirchen der Reformation, indem er am Verbot des gemeinsamen Abendmahls festhält. Auch politisch ist er kein Revolutionär, weil kein Befreiungstheologe, sondern ein argentinischer Volkstheologe ohne politischen Messianismus. Im Ukraine-Krieg mag er sich nicht dem westlichen Bündnis anschließen, hält vielmehr an der von ihm romantisierten russisch-orthodoxen Kirche als bevorzugter Gesprächspartnerin fest. Das Schlusskapitel zeigt – über Franziskus hinausgehend –, dass die römische Kirche in ihren Identitätsmarkern wie der hierarchischen Struktur, dem Zölibat und dem Ausschluss der Frauen von Leitungsämtern nicht reformierbar ist. Sonst droht das Schisma. Die zur Minderheit gewordene Kirche wird wohl als bürokratische Super-Institution überleben, ohne aber die Herzen der Gläubigen zu erreichen. Zugleich wird der Glaube in kleinen mystischen Gemeinschaften gelebt, die auf sich gestellt überfordert sind. Insgesamt wird die Kirche südlicher, aber nicht reformierter werden.

Dieses Buch begnügt sich häufig mit der männlichen Form und verzichtet auf geschlechtergerechte Sprache. Dies, weil römische Kirche und Papsttum per se patriarchal sind und Frauen qua Weihe vom Priester- und Bischofsamt ausschließen. Und damit auch von jeglicher Definitionsgewalt: Lehre und Dogma der römischen Kirche sind zu hundert Prozent männlich. Es gibt kaum Vatikanistinnen und nur vereinzelt Frauen, die Bücher über Päpste verfassen. Hingegen trifft man auf Frauen an der Basis: als Theologinnen und Pastoralreferentinnen oder als Aktivistinnen in Reformgruppen.

1 Marco Politi, Franziskus unter Wölfen. Der Papst und seine Feinde, Freiburg im Breisgau: Herder 2015.

2 Marco Politi, Das Franziskus-Komplott. Der einsame Papst und sein Kampf um die Kirche, Freiburg im Breisgau: Herder 2020.

3 Andreas Englisch, Der Pakt gegen den Papst. Franziskus und seine Feinde im Vatikan, München: C. Bertelsmann 2020.

4 Christopher Lamb, The Outsider. Pope Francis and His Battle to Reform the Church, New York: Orbis books 2020.

5 Paul Vallely, Papst Franziskus. Vom Reaktionär zum Revolutionär, Darmstadt: Theiss 2014.

6 Daniel Deckers, Papst Franziskus. Wider die Trägheit des Herzens, München: C.H. Beck 2014.

7 Marco Marzano, Die unbewegliche Kirche. Franziskus und die verhinderte Revolution, Freiburg im Breisgau: Herder 2019.

Kapitel 1: Der Zauber des Anfangs

Den ersten öffentlichen Moment von Papst Franziskus erleben viele als so magisch vielversprechend, dass jedes Buch, jedes Porträt ihn immer wieder aufleben lassen muss. Dieser erste Moment eröffnet nicht nur ein neues Pontifikat, nein, auch ein neues Kapitel der Kirchengeschichte. Als Jorge Mario Bergoglio nach seiner Wahl am Abend des 13. März 2013 auf die Loggia des Petersdoms tritt, ist der Zauber des Anfangs mit Händen zu greifen. Ein Anfang voller Verheißungen: zurück zum Charisma des Gründers, zurück zum Geist des Evangeliums, zur Schlichtheit der ursprünglichen Kirche. Demonstrativ ohne Pathos begrüßt der neu gewählte Papst aus Buenos Aires die Menge auf dem Petersplatz mit einem schlichten »Buena sera«. Dann verneigt er sich vor der begeisterten Menge, um sich von ihr segnen zu lassen. Er ist in schlichtes päpstliches Weiß gekleidet, zunächst ohne Stola wie noch seine Vorgänger. Er trägt ein Brustkreuz aus Silber statt aus Gold und Edelsteinen. Dann in den ersten Tagen als Papst mit dem vielversprechenden, aber auch anmaßenden Namen Franziskus lässt er eine Kaskade von Gesten und Symbolen folgen, die die Welt beschäftigen und Auguren zu Hunderten auf den Plan rufen. Eines wird klar: Es ist ein eminent katholischer Papst, der ganz auf die Kraft der Bilder setzt. Den Gesten folgen Ankündigungen und Taten, den Taten das Schreiben Evangelii gaudium (Freude am Evangelium). Aus allem spricht der Geist der Reform. Nach dem gestrengen Theologen-Papst mit barocker Ästhetik regiert jetzt ein schlichter Mann der Praxis, ein Seelsorger, der alles im Geiste des Nazareners neu machen will. So scheint es zumindest.

Die Bilder des neuen Papstes gehen um die Welt. Am Tag nach seiner Wahl auf dem Weg zur Basilika Santa Maria Maggiore erkennt man unter dem Weiß der päpstlichen Soutane schwarze ausgetretene Schuhe. Statt im Mercedes lässt sich Franziskus in einem klapprigen Fiat durch Rom fahren. Im Domus Internationalis Paulus VI, wo er die Tage vor dem Konklave gewohnt hatte, klaubt er seine Kreditkarte hervor, um seinen Aufenthalt zu bezahlen. Als er den traditionellen Wohnort der Päpste, den Apostolischen Palast, aufsucht und entsiegelt, meint er lakonisch, hier sei Platz für 300 Personen. Also bleibt er im Gästehaus des Vatikans, der Casa Santa Marta, wohnen, um unter Menschen zu sein und im gleichen Speisesaal wie sie zu essen. Am Gründonnerstag wäscht er im Jugendgefängnis Casal del Marmo zwölf Insassen, Männern wie Frauen, die Füße.

Vor allem die Namenswahl »Franziskus« ist ein Paukenschlag: Der neue Papst will wie der Poverello aus Assisi im 12. Jahrhundert eine arme Kirche. Keiner seiner Vorgänger getraute sich, den Namen des beliebtesten Heiligen der Kirche, des »Zweiten Christus«, anzunehmen: Eine Verheißung, ein Programm oder eine Anmaßung und Überforderung? An seiner ersten Audienz vor Hunderten Journalisten aus aller Welt fasst er in Worte, worauf seine Gesten hingewiesen haben: »Wie gern hätte ich eine arme Kirche für die Armen«.1 So ist es nur folgerichtig, dass ihn seine erste Reise am 8. Juli 2013 auf die Flüchtlingsinsel Lampedusa führt, wo er an einem zum Altar umfunktionierten Boot die Eucharistie feiert. Auf dem Sportplatz segnet er 200 gestrandete Flüchtlinge, nicht ohne die »Globalisierung der Gleichgültigkeit« zu geißeln.

Dazu passt seine Kapitalismuskritik in drastischen Bildern: »Diese Wirtschaft tötet«, schreibt er. Oder: »Geld, das sind die Exkremente des Teufels«. Überhaupt den Teufel lässt er regelmäßig in seinen Predigten aufleben, den Teufel in Person, den Widersacher und Verführer, den er an der Wurzel so vieler Übel erkennt. Der Kurie hält er in seiner Weihnachtsansprache von 2014 den Beichtspiegel vor und geißelt deren »existenzielle Schizophrenie« und »spirituellen Alzheimer«.2 Die Kirche insgesamt sei krank – sie präsentiert sich »wie ein Feldlazarett nach der Schlacht«.3 Um im Bild zu bleiben: Franziskus sieht sich als Arzt, der alle Wunden heilt.

Mit all diesen volkstümlichen Gesten und Bildern treibt er Gläubige wie Medien um: jede Geste eine Verheißung, ein Hinweis auf das Neue, das da kommen soll. Alles atmet den Geist der Neuerung, des nie Dagewesenen, des heilenden Neuanfangs. Die Öffentlichkeit ist begeistert: nach dem gestrengen, zugleich pompös auftretenden Benedikt jetzt ein einfacher Seelsorger mit abgespeckter Ästhetik und Liturgie – deutlicher geht’s nicht: ein Kontrastprogramm zum Vorgänger. Wie gut er tut, dieser Franziskus-Effekt! Auch hohe Würdenträger baden im neuen Romgefühl. Die Vatikanisten überbieten sich mit immer kühneren Vorhersagen. Die Auguren künden nicht nur eine Reform an, nein »das Ende der imperialen Kirchen«, der »absoluten Monarchie«, eine »Perestroika« und eine »Revolution«, die »missionarische Umgestaltung der Kirche«. Am wortmächtigsten beschreibt Paul Vallely das »Ende der monarchischen Kirche«. In den ersten Tagen »gab Franziskus mit immer neuen Zeichen und Symbolen zu erkennen, dass die Dinge sich auf breiter Basis änderten«.4

Der Papst der Bilder

Gegenüber seinen intellektuellen Vorgängern ist es Franziskus’ Symbol- und Bildsprache, die ihm in unserer Bildergesellschaft einen ungeheuren Sympathiebonus einbringt. Franziskus weiß: Johannes Paul II. und Benedikt XVI. haben mit ihren doktrinären Belehrungen Personal und Kirchenvolk abgeschreckt. Und doch ist gerade er, Franziskus, der volkstümliche Seelsorger, der katholischste Papst seit langem. Er ist der Papst der Bilder, nicht des Wortes, der »Augengläubige«, nicht der »Ohrenfromme«, um mit dem evangelischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf zu sprechen.5 Mit Gesten und Symbolen bedient er die katholische Augenreligion. Die Ohrenreligion der Reformatoren, die sich auf das Wort Gottes berufen und Bilder verschmähen, ist seine Sache nicht.

»Franziskus hat von der ersten Sekunde an eine Zeichensprache gewählt, die eine mediale Öffentlichkeit bedient und vermitteln soll: Ich mache alles anders«, analysiert damals der konservativ-katholische Schriftsteller Martin Mosebach.6 Gelernt hat er diese Bildersprache als junger Jesuit in Argentinien von der peronistischen Volkstheologie. Der Peronismus spielte gekonnt auf der Klaviatur der Volksmythen, die von Bauern, Gauchos und einfachen Leuten bevölkert sind. Der frühere Peronist Jorge Mario Bergoglio inszeniert ein wahres Bilder- und Gestenspektakel. Was damals viele nicht hören wollen: Das sei sein ganzes Programm, sagt einer seiner einstigen Mitarbeiter aus Argentinien. Man müsse nicht immer nach Konsequenzen und Taten schielen. Doch die Warnung, die Gesten und Bilder als solche zu nehmen und aus ihnen nicht alles Mögliche und Wünschenswerte zu folgern, wird nur zu gerne überhört.

Die Suggestivkraft der Bilder verleitet zu Hoffnungen, aber auch zu falschen Interpretationen. Mehr als Begriffe sind Bilder Projektionsflächen – sie sind auslegungsbedürftig, mehrdeutig, widersprüchlich. Der Papst der Bilder wird häufig missverstanden. Sein Glanz ist vielleicht auch sein Verhängnis. Franziskus’ Aufruf, sich nicht wie die Kaninchen zu vermehren, wird als Zulassung der künstlichen Empfängnisverhütung verstanden. Das Dementi aus dem Vatikan folgt auf dem Fuße. Aus seiner Bildrede, dass Petrus kein Bankkonto gehabt habe, folgert man fälschlicherweise, er wolle die Vatikanbank abschaffen.

Worte und Zeichen der Hoffnung

Und doch folgen in den ersten Monaten über die Symbolhandlungen hinaus Ankündigungen, ja auch Taten, die aufhorchen lassen und seinen Reformwillen zu bestätigen scheinen.

Schon am 13. April beruft Franziskus acht Kardinäle aus allen Kontinenten, die ihm bei der Leitung der Weltkirche helfen und mit ihm eine Kurienreform aufgleisen sollen. Mit diesem Kardinalsrat (zuerst K8, dann K9) entspricht er dem Anliegen des sogenannten Vorkonklave, wo etliche Kardinäle eine Reform der Kurie und eine Stärkung der Ortskirchen gefordert hatten. Umgehend reformiert der Rat das Finanzwesen. Der australische Kardinal George Pell wird Präfekt der neuen Behörde Vatikan-Sekretariat für Wirtschaft. Der deutsche Kardinal Reinhard Marx wird in den neuen Wirtschaftsrat berufen. Anfang Oktober 2013 kommen die acht Kardinäle erstmals mit Franziskus in der Casa Santa Marta zusammen.

Vatikanisten und Journalisten kommentieren den Kardinalsrat geradezu euphorisch. Daniel Deckers hält den K8-Rat für Franziskus’ »ehrgeizigsten und grundstürzendsten Plan«. Das »neue Macht- und Entscheidungsorgan« verheiße eine »Korrektur der Machtarchitektur im Vatikan«.7 Noch enthusiastischer ist Paul Vallely. Er erwartet von diesem Gremium, dass seine »Ratschläge durchgreifend und radikal ausfallen werden.« Franziskus habe den Kardinalsrat geschaffen, um die Kirche von einer »absoluten Monarchie zu einem repräsentativen Kabinettsystem umzubauen«8 und um »auf revolutionäre Weise das kollegiale Miteinander in der Kirche« zu stärken.9 Das monarchische Modell des Papsttums erklärt Vallely schlichtweg zum Auslaufmodell.10 Ja, er zitiert den italienischen Kirchenhistoriker Alberto Melloni, der den Kardinalsrat für den »wichtigsten Schritt in der Kirchengeschichte der letzten zehn Jahrhunderte« hält.11

Auf dem Rückflug vom Weltjugendtag in Rio de Janeiro im Juli 2013 gibt Franziskus auf 9000 Meter Höhe seine erste fliegende Pressekonferenz und spricht einen unerhörten Satz aus, der durch sein ganzes Pontifikat hallen wird: »Wenn einer Gay ist und den Herrn sucht und guten Willen hat, wer bin dann ich, ihn zu verurteilen?«12 Mit dieser Äußerung weckt er die allergrößten Hoffnungen; manche sprechen vom Anfang einer kopernikanischen Wende in der Sexualmoral. Der Kontext aber bleibt meist unerwähnt. Der italienische Kirchenjournalist Sandro Magister hatte zuvor enthüllt, dass der von Franziskus frisch ernannte Prälat der Vatikanbank IOR und Direktor der Casa Santa Marta, Battista Ricca, als früherer Nuntiatursekretär in Montevideo ein Lotterleben geführt und ein Verhältnis mit einem Offizier der Schweizer Armee hatte.13 Bei einem Besuch der Schwulenbars von Montevideo wurde Ricca zusammengeschlagen. Priester der Nuntiatur mussten den Verletzten in die Residenz zurückbringen. Dort blieb er eines Nachts im Aufzug stecken. Die zu Hilfe gerufene Feuerwehr befreite den Vatikan-Diplomaten zusammen mit einem jungen Burschen, den die Polizei identifizierte. In der Folge wurde Ricca an die unbedeutende Nuntiatur von Trinidad und Tobago versetzt. Nur: Franziskus denkt nicht daran, ihn deswegen zu entlassen: »Wer bin ich …«Anfang April 2014 empfängt Franziskus zwei Vertreter des Indianermissionsrats, darunter den aus Österreich stammenden Amazonas-Bischof Erwin Kräutler, der damals Präsident dieses Rates war. Er berichtet im Nachhinein, Franziskus habe damals von der brasilianischen Bischofskonferenz »mutige und couragierte« Lösungsvorschläge für die Zukunft erbeten.14 Höchstwahrscheinlich werde dazu eine Kommission gegründet, die den Ball auffange und berate. Ein möglicher Vorschlag sei, dass man Zölibat und Eucharistiefeier entkopple, so Kräutler. Umgehend wird das als Anfang vom Ende des Pflichtzölibats gewertet. Es ist offenbar nur noch eine Frage der Zeit, bis verheiratete Männer sich zu Priestern weihen lassen können.Im März 2014 konstituiert sich die Kinderschutzkommission, allerdings noch ohne festumrissene Aufgaben und Kompetenzen. Fünf der acht Mitglieder sind Laien, vier davon Frauen, darunter das ehemalige Missbrauchsopfer Marie Collins aus Irland. Das Gremium aus Psychotherapeuten, Juristen und Theologen soll mit der Glaubenskongregation kooperieren. Franziskus mache mit diesem Schritt deutlich, dass der Schutz von Minderjährigen zu den vordringlichsten Aufgaben der Kirche zähle, sagt Vatikansprecher Federico Lombardi.15 Die Kommission werde Maßnahmen für einen besseren Schutz von Minderjährigen entwickeln. Es gehe sowohl um die Vorbeugung als auch um die Strafverfolgung sowie um einen Verhaltenskodex. Der begeisterte Tenor der Medien: Franziskus wolle Missbrauch einen Riegel vorschieben und den Opfern helfen.Am 15. November 2015 besucht Franziskus die evangelisch-lutherische Christus-Kirche in Roms Innenstadt. In der Fragerunde will eine evangelische Ehefrau vom Papst wissen, wie lange es noch dauere, bis sie mit ihrem katholischen Ehemann zur Kommunion in der römischen Kirche gehen dürfe. Franziskus antwortet, es sei schwer, die Lehre zu verstehen. Das Ehepaar solle prüfen, wie das Abendmahl für sie persönlich eine Stärkung auf dem gemeinsamen Glaubensweg sein könne. Wörtlich sagt er: »Ich werde nie wagen, Erlaubnis zu geben, dies zu tun, denn es ist nicht meine Kompetenz ... Sprecht mit dem Herrn und geht voran. Ich wage nicht mehr zu sagen.«16 Viele deuten das als eine klare Ermutigung, auf das eigene Gewissen zu hören, ja dass der Papst sich für die eucharistische Gastfreundschaft und das gemeinsame Abendmahl öffnen werde.Im November 2013 veröffentlicht er das Apostolische Schreiben Evangelii gaudium (Freude am Evangelium), das sein in Bildern und Gesten angedeutetes Programm ins Wort zu fassen und zu bestätigen scheint: Die missionarische Kirche, ihre barmherzige Zuwendung zu den Armen, seine Wirtschafts- und Kapitalismuskritik, seine Vision einer synodalen und dialogfähigen Kirche, die auf Dezentralisierung setzt, die nationalen Bischofskonferenzen stärkt und Laien und Frauen mehr Mitsprache einräumt. Das Echo ist euphorisch: Das sei nun die Regierungserklärung des Reformpapstes Bergoglio.

All diese Ankündigungen machen Furore, Franziskus wird als Künder einer kirchlichen Revolution gesehen. Heute, elf Jahre später, wissen wir, dass diese Revolution nicht stattgefunden hat und die Erwartungen ins Leere gelaufen sind. Liest man Artikel und Bücher von damals, ist man meist peinlich berührt, wie sehr die Autoren und Vatikanisten Franziskus überhöht und ihn zum Reformer und Revolutionär stilisiert haben. Man hätte eben auch die skeptischeren Stimmen hören sollen; doch diese kamen meist von rechts. Der Schriftsteller Martin Mosebach urteilte damals: »So zugewandt und herzlich Franziskus auftritt, so verschlossen ist er auch. Er lässt sich nicht in die Karten gucken. Bisher ist völlig unklar, was Franziskus wirklich denkt.«17 Zumal in doktrinären Fragen, die dogmatische Eindeutigkeit verlangten. Auch der katholische Philosoph Robert Spaemann warf Franziskus immer wieder »Unklarheit«, »Zweideutigkeit« und eine »chaotische Amtsführung« vor.

Die eigentliche Regierungserklärung: Barmherzigkeit, nicht Reformen

Vor allem auch hätte man dem frisch gebackenen Papst selber zuhören sollen. Man hätte sein erstes großes Interview vom Juni 2013 mit dem ihm ergebenen Jesuiten Antonio Spadaro in dessen Zeitschrift Civiltà Cattolica stärker beachten sollen. Vielleicht ist dieses Interview ohne lehramtlichen Anspruch seine eigentliche Regierungserklärung und nicht das austarierte Apostolische Schreiben Evangelii gaudium. Wir zitieren etwas ausführlicher aus dem Interview, weil es ein, wenn nicht der Schlüsseltext des neuen Papstes und seines ganzen Pontifikats ist:18

»Ich sehe ganz klar, dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen.« Es folgt sein Lob der Barmherzigkeit: »Barmherzigkeit ist die Medizin für alle Verwundeten. Die Kirche hat sich manchmal in kleine Dinge einschließen lassen, in kleine Vorschriften. Die wichtigste Sache ist aber die erste Botschaft: ›Jesus Christus hat dich gerettet.‹ (…)« »Ich träume von einer Kirche als Mutter und als Hirtin. Die Diener der Kirche müssen barmherzig sein, sich der Menschen annehmen, sie begleiten – wie der gute Samariter, der seinen Nächsten wäscht, reinigt, aufhebt. Das ist pures Evangelium. Gott ist größer als die Sünde.« Und dann der entscheidende Satz zum Stellenwert struktureller Reformen: »Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär, sie kommen danach. Die erste Reform muss die der Einstellung sein. Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen.« Gerade nach dem gestrengen Benedikt wirkt das wie Balsam auf die Seele der Gläubigen: »Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker. Die Bischöfe speziell müssen Menschen sein, die geduldig die Schritte Gottes mit seinem Volk unterstützen können, so dass niemand zurückbleibt. Sie müssen die Herde auch begleiten können, die weiß, wie man neue Wege geht.«

Die »neuen Wege« bedeuten für den neuen Papst vor allem, auf die Kirchenfernen zuzugehen, zu denen, die die Kirche verletzt hat: »Statt nur eine Kirche zu sein, die mit offenen Türen aufnimmt und empfängt, versuchen wir, eine Kirche zu sein, die neue Wege findet, die fähig ist, aus sich heraus und zu denen zu gehen, die nicht zu ihr kommen, die ganz weggegangen oder die gleichgültig sind.«

Aus dem Interview hätte man auch heraushören können, dass er sich gegenüber Homosexuellen an den Katechismus hält: »Wir müssen das Evangelium auf allen Straßen verkünden, die frohe Botschaft vom Reich Gottes verkünden und – auch mit unserer Verkündigung – jede Form von Krankheit und Wunde pflegen. In Buenos Aires habe ich Briefe von homosexuellen Personen erhalten, die ›sozial verwundet‹ sind, denn sie fühlten sich immer von der Kirche verurteilt. Aber das will die Kirche nicht«. Dann zitiert er sich selber: »Auf dem Rückflug von Rio de Janeiro habe ich gesagt, wenn eine homosexuelle Person guten Willen hat und Gott sucht, dann bin ich keiner, der sie verurteilt. Damit habe ich das gesagt, was der Katechismus sagt. Die Religion hat das Recht, die eigene Überzeugung im Dienst am Menschen auszudrücken, aber Gott hat uns in der Schöpfung frei gemacht: Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche Leben geben. Einmal hat mich jemand provozierend gefragt, ob ich Homosexualität billige. Ich habe ihm mit einer anderen Frage geantwortet: ›Sag mir: Wenn Gott eine homosexuelle Person sieht, schaut er diese Existenz mit Liebe an oder verurteilt er sie und weist sie zurück?‹ Man muss immer die Person anschauen. Wir treten hier in das Geheimnis der Person ein. Gott begleitet die Menschen durch das Leben und wir müssen sie begleiten und ausgehen von ihrer Situation. Wir müssen sie mit Barmherzigkeit begleiten. Wenn das geschieht, gibt der Heilige Geist dem Priester ein, das Richtige zu sagen.«