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Der Penner im Pyjama ist mein Papa erzählt von den beiden Schwestern Jenny und Karla, deren Papa aus heiterem Himmel verkündet, dass er fortan nicht mehr arbeiten will. Die Familie soll jetzt mit Mamas Halbtagsgehalt, einem Selbstversorger-Garten und immer stärkeren Einsparungen über die Runden kommen. Karla, die alternative 15-Jährige, ist davon begeistert. Sie ist sich sicher, dass Papa kurz vorm Burnout stand. Karla hilft im Garten und beim Sparen. Und als selbst gepresste Smoothies aus dem Fallobst vom letzten Herbst, Bäckerware vom Vortag und Haarefärben mit roten Zwiebelschalen das wachsende Budgetloch nicht stopfen, sucht sie sich sogar einen Job neben der Schule. Die 18-jährige Jenny steht kurz vor dem Schulabschluss. Sie schämt sich für Papa und kann seine 'Midlife-Crisis' gerade gar nicht brauchen. Sie glaubt nicht daran, dass Papa die 'Aussteigernummer' durchzieht, und will ihn wieder zum Arbeiten bewegen. Schließlich muss jemand ihr Studium bezahlen. Doch vor allem ist Jenny wütend. Gerade jetzt, wo sie entscheiden muss, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen will, schmeißt Papa die Prinzipien um, die er ihr jahrelang vorgebetet hat. Soll der Grundsatz 'Karriere, Karriere, Karriere' plötzlich nicht mehr gelten? Während Jenny der Sinn abhandenkommt, bürdet sich Karla viel zu viel Verantwortung auf und Mama klinkt sich mit Überstunden und aufwendigen Sparmaßnahmen aus dem Familienleben aus. Papa hingegen merkt bald, dass Aussteigen auch nicht so einfach ist - vor allem, wenn man in Workaholic-Manier den Garten zu Tode pflegt. Geplagt von einem angekratzten Ego, totaler Planlosigkeit und der wachsenden Langeweile, beginnt sich Papa zum ersten Mal ins Leben seiner Töchter einzumischen - und das hat explosive Folgen. Erzählt aus den Perspektiven der beiden Schwestern ist Der Penner im Pyjama ist mein Papa ein einfühlsamer, humorvoller Roman über die Überflussgesellschaft, das Leben im Einklang mit der Natur und darüber, wie peinlich es ist, wenn der eigene Papa am Nachmittag noch immer im Pyjama rumläuft.
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Seitenzahl: 326
Elisabeth Schmied
Für Andreas
»Well we know where we’re goin’
But we don’t know where we’ve been
And we know what we’re knowin’
But we can’t say what we’ve seen«
The Talking Heads, »Road to Nowhere«
Kapitel 1
Karla
Da verpasst man einmal am Nachmittag den Zug, und wenn man nach Hause kommt, steht plötzlich alles kopf. Also, ich beschreibe das Ganze mal so:
Einer meiner Lieblings-YouTube-Clips ist ein Homevideo, das eine ganz normale Reihenhaussiedlung zeigt. Ein paar Leute stehen am Straßenrand und reden. Die Straße windet sich eine Kurve hoch und endet in einer Sackgasse, oder genauer gesagt, an einer ziemlich hohen Gartenmauer. Wir hören ein lautes Motorengeräusch und sehen gleich darauf ein altes rostiges Auto die Kurve hochfahren. Es fährt nicht wirklich schnell, da die Straße zu steil und das Auto zu klapprig ist, dennoch macht es einen Lärm, als würde es mit 180 glühen. Es biegt um die Kurve, wird kein bisschen langsamer oder leiser. Es fährt weiter. Und dann kracht es ungebremst gegen die Mauer. Dann folgt eine kurze Pause, die Leute am Straßenrand schauen geschockt, der Fahrer und sein Beifahrer steigen unversehrt aus, der Knall klingt in den Ohren nach wie der letzte Tusch nach dem Trommelwirbel, und dann platzt den beiden das Lachen heraus.
*
Als ich ins Wohnzimmer komme, habe ich das Gefühl, ich wäre gerade in diese Pause, in den toten Moment hineingeraten, nachdem alle mit offenem Mund und ohne zu reagieren einem Unfall zugesehen haben: einem Auto beim Gegen-die-Mauer-Krachen, oder eben einem Papa beim Aussteigen. Bloß ist in diesem Fall die Pause unendlich in die Länge gezogen und das erleichternde Lachen fehlt.
*
Schon im Vorraum fällt mir auf, dass etwas komisch ist. Die Schuhe stehen durcheinander, so, als wollten sie alle voreinander weglaufen. Und Papas Sneakers sind auch da, obwohl es erst früher Nachmittag ist. Drinnen sieht es ähnlich aus: Mama sitzt mit Papa auf der Couch und flüstert laut, sofern das überhaupt geht. Papa wirkt einfach nur fröhlich abwesend, und Jenny geht indessen vor ihnen auf und ab, und einen Moment lang habe ich das Gefühl, sie würde Selbstgespräche führen.
Aber wahrscheinlich wartet sie nur inständig darauf, endlich jemandem ihre abgefahrene Theorie zu erklären. Sie glaubt tatsächlich, Papa habe das alles bloß für sie inszeniert, um ihr eine Lektion zu erteilen. »Ich habe zu oft gejammert, dass ich ein Auto will, oder?«, fragt sie mich. Ich finde, sie hat recht, sie hat viel zu viel gejammert, dass sie ein Auto will. Aber das hat mit Papas Entscheidung nichts zu tun.
Jedenfalls war ich zu spät dran, um Papas offizielles Statement zu hören oder um mitzukriegen, ob es überhaupt eines gab. Alles, was ich irgendwie zwischen Tür und Angel erfahre, ist:
»Papa will nicht mehr arbeiten.«
»Papa steigt aus.«
*
Gerade jetzt muss ich an den Internet-PR-Film denken, den Papas Firma vor ein paar Jahren auf der Weihnachtsfeier präsentiert hat:
# PR Film – Eine Beschreibung von Karla Körner
Dynamische Menschen gehen in Büros umher. Die Kamera folgt jetzt einer gut aussehenden Frau im Business-Kostüm.
Die Sprecherstimme sagt:
»Sind Sie so schlank, wie Sie denken?«
Die Frau dreht sich um und lächelt, dann geht sie weiter, während wir hören:
»Realisieren Sie nachhaltige Wettbewerbsvorteile durch bessere, schnellere und kostengünstigere Prozessabläufe. – Wir optimieren Ihre Geschäftsprozesse und helfen Ihnen, Ihr Unternehmen auf die Zukunft auszurichten.«
Auf ihrem Weg vorbei an mehreren Schreibtischen erklärt die Kostümfrau anderen dynamischen Menschen deren Arbeit. Die nicken, freuen sich und sehen gut aus.
»Unser Organisationsmanager-Team analysiert Ihren Betrieb, erarbeitet eine Entwicklungsstrategie und begleitet Sie unterstützend bei der Anpassung Ihrer Geschäftsprozesse.«
Die dynamische Frau öffnet eine doppelflügige Tür. Dahinter tut sich ein strahlendes Bergpanorama auf, das wohl »Erfolg« und »Zukunft« repräsentieren soll.
Dann wird die Schrift eingeblendet:
Flormeier Consulting AG
Ich weiß noch, dass ich den Film irrsinnig cool fand und danach Papas Arbeit zu Hause nachspielte. Ich untersuchte den Prozess des Wäsche-in-den-Mülltrenn-Wäscheraum-Bringens und optimierte ihn danach. So ging das Aufräumen schneller und machte mehr Spaß. Natürlich musste ich dabei niemandem kündigen, was ein großer Bestandteil von Papas Arbeit als Organisationsmanager war, wie ich später herausfand. Ich erfand bloß die Inlineskating-Wäschefahrt, nachdem ich die Situation genauestens evaluiert hatte.
Jetzt »evaluiere« ich die Situation auch. So ein blödes Wort. Dabei heißt es bloß »beurteilen«. Und das heißt, auf sein Gefühl zu hören, auf seinen Instinkt. Ich habe nichts davon gemacht.
Ich hatte vor einem halben Jahr schon das Gefühl, dass es Papa in der Arbeit nicht gut ging. Oder vielmehr, dass eine Last auf ihm lag. Und dass er von dieser Last erst befreit wurde, als er nicht an der Arbeit war, sondern die Grube grub.
*
Er grub die Grube neben dem Haus im letzten Sommer. Die Mauer im Keller war undicht geworden, und wenn es regnete, bildeten sich kleine Wassertröpfchen auf der Außenwand des Vorratskammer-Fitnessraums (ich weiß, dafür, dass wir ein Haus mit ziemlich vielen Zimmern haben, ist die Raumaufteilung völlig ohne Sinn und Verstand – wir haben einen Mülltrenn-Wäscheraum, ein Bügelzimmer-Büro, einen Schutzraum-Weinkeller und einen Vorratskammer-Fitnessraum). Auf jeden Fall brachte Papa seinen gesamten Urlaub damit zu, ein Loch direkt neben der Terrasse zu graben, um den Riss in der Mauer zu finden. Sein Haarschopf sank immer weiter die Erde hinab. Am Schluss war die Grube so tief, dass wir uns, um Papa ein Glas Wasser zu reichen, flach auf den Boden legen und unsere Hand ganz nach unten strecken mussten. Die Nachbarn – Margit Schusser, die Sattlers und Herr Kaltherr – spähten immer wieder neugierig in unseren Garten und glaubten eine Zeit lang, dass Papa einen Pool grabe. Immer, wenn sie etwas über den Zaun riefen wie: »Na, Bert, lädst du uns dann ein zur Poolparty?«, hörten wir Papas Lachen aus der Tiefe. Aber es kam nicht nur aus der Tiefe der Grube, sondern auch aus der tiefsten Tiefe seines Bauches.
Papa tat mir anfangs leid, weil er den ganzen Urlaub mit Graben verschwendete, doch bald war es nicht mehr zu übersehen, dass ihm die Arbeit gefiel. Selbst als der Boden immer felsiger wurde und er eine Spitzhacke brauchte, um ein paar Zentimeter weit zu kommen, wirkte er keineswegs verzweifelt. An den Abenden zündete er sich einen seiner Zigarillos an, was er sonst nur macht, wenn wir im Urlaub sind, und erzählte uns zum eintausendsten Mal davon, dass Mama und Papa beim Hausbauen einen riesigen Felsen in der Erde sprengen lassen mussten, um den Keller ausheben zu können. Jetzt war der Fels eben zurückgekommen, aber nur so schmächtig, dass man ihn mit einer Spitzhacke bezwingen konnte. Auch Papas Gang war in diesem Sommer anders. Leicht, und federnd und das, obwohl er jeden Tag einen Muskelkater vom vielen Graben hatte.
Am Ende des Sommers hatte Papa die undichte Stelle noch immer nicht gefunden. Er schüttete das Loch zu, kurz bevor die Wettervorhersage heftige Regenfälle prophezeite. Als es wirklich zu regnen anfing, war der Boden richtig schön aufgelockert, und Mama hatte den Vorratskammer-Fitnessraum vorsichtshalber ausgeräumt und Eimer und Lappenbereitgelegt. Doch es kam kein Wasser durch. Nicht einmal die Wand wurde feucht. Dabei regnete es tagelang. Wir waren alle ganz aufgeregt über diese wundersame Entwicklung, und wir lachten und machten Scherze. Später kam es mir dann vor, als hätten wir uns alles bloß eingebildet: die Tröpfchen auf der Mauer und die Veränderung von Papa. Nach ein paar Wochen Arbeit war er wieder der Alte. Er wirkte sogar noch etwas gedrückter und schneller aus der Puste, gar nicht so, als ob er den ganzen Tag lang Löcher graben und am Abend Geschichten erzählen würde.
*
»Das kann doch nicht sein, dass der das ernst meint«, sagt Jenny zu mir. Ich sitze auf ihrem Bett und höre mir seit zehn Minuten Jennys Gejammer an, in dem es keine Sekunde lang um Papa geht, außer vielleicht darum, dass Papa so etwas nicht bringen könne.
Mama hat uns aus dem Wohnzimmer geschickt, und ich habe den Fehler gemacht, mit in Jennys Zimmer zu gehen und sie zu fragen, was ich verpasst habe. Ich ahnte nicht, dass sie mir ihren finanziellen Fahrplan für ihre verbleibende Schulzeit und das komplette Studium erklären würde. Dann sagt Jenny plötzlich: »Jetzt sag schon, was du denkst!« Ich erkenne einen vorwurfsvollen Unterton in ihrer Stimme. Dabei hatte sie mir zuvor nicht einmal einen Atemzug lang Gelegenheit gegeben, etwas dazu zu sagen.
Trotzdem – irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass sie jetzt hören will, dass ich Papas Entscheidung richtig großartig, längst überfällig und irrsinnig mutig finde. Ich bin stolz auf Papa. Aber Jenny will meine Antwort, also sage ich vorsichtig: »Vielleicht gings ihm wie dir nach deinem Sommerjob.« Ich zeige auf die Liste der möglichen Studienrichtungen, die Jenny an ihre Wand gepinnt hat. »Public Relations« steht ganz oben auf dieser Liste, bloß hat Jenny die beiden Worte mit dickem Edding energisch durchgestrichen, nachdem sie einen Sommerjob in einer PR-Agentur gemacht hatte.
»Wie meinst du das jetzt?«, fragt Jenny. Ich weiß es selbst nicht genau.
»Vielleicht hat er seine eigene Arbeit nutzlos gefunden«, antworte ich.
Jenny schüttelt den Kopf und meint, das mache absolut keinen Sinn. Ich spüre, wie Jennys Streitlust wächst. Ich versuche, sie zu besänftigen, ihr zu erklären, was ich meine. »Vielleicht hat sich Papa einfach bloß ein Vorbild an dir genommen«, sage ich. Ich merke gerade, wie ich die Sache schlimmer mache, aber kann einfach nicht aufhören zu reden. »Ich meine, du hast auch nach drei Wochen in der PR-Agentur einfach gekündigt.«
Jenny funkelt mich an und sagt: »Na toll, soll ich jetzt auch noch daran schuld sein, dass ich mir ab September mein Studium selbst finanzieren muss? Und Tag und Nacht arbeiten muss, nur um in einem versifften Studentenheim zu wohnen?«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sie hat schon recht. Andererseits, was ist so schlimm an einem Studentenheim? Was stellt sie sich denn sonst vor, ein Luxusloft und einen Chauffeur, der sie zur Uni fährt? Ich blicke an Jenny vorbei an die Wand, wo ich sehen kann, was sich Jenny tatsächlich vorstellt. Dort hängt nämlich Jennys »Visionboard«. Das ist eine Collage aus Zeitschriftenschnipseln, mit lauter Dingen, die sich Jenny vom Leben wünscht. Angeblich muss man sich diese Schnipsel nur oft genug ansehen und daran glauben, und dann geht jeder Wunsch, der darauf repräsentiert ist, in Erfüllung.
Auf Jennys Visionboard ist das Bild einer amerikanischen Abschlussklasse beim Hochwerfen der Kappen, ein Foto des Wiener Universitätsgebäudes, ein Bild einer New Yorker Dachwohnung, ein Strand mit einem großen Felsen, der von der Gischt umspült wird, dann ein paar Bilder von Pralinen, Shampoo- und Parfumflakons und Klamotten – was entweder bedeutet, dass Jenny noch immer, wie damals, als sie 13 war, Kirschenkosterin bei Mon Chéri oder Model werden will, oder aber, dass sie ihr Visionboard mit einer Einkaufsliste vermischt hat. Den prominentesten Platz nimmt allerdings das ausgedruckte Bild eines MINI Coopers ein. Ich war dabei, als Jenny die Features ihres zukünftigen Wagens auf der Herstellerwebsite zusammensuchte und auf »Ausdrucken« klickte. Der Drucker hatte fast keine blaue Tinte mehr, aber Jenny bestand darauf, das Bild trotzdem in Farbe auszudrucken. Deshalb hat das Auto jetzt statt einer schönen flaschengrünen Lackierung eine durchschimmernd gelbe Farbe mit vereinzelten blau-grünen Schmierflecken. Ich weiß, dass Jenny das Bild trotzdem liebt. »Ich hab von Leuten gelesen, die mit so einem Visionboard mit 25 Jahren Millionäre geworden sind«, erklärte sie mir, »nur weil sie daran glaubten, und ihre Träume visualisierten.«
Das mochte schon stimmen, dennoch kommt es mir ziemlich willkürlich vor. Wer weiß denn, wie viele Leute ein Visionboard haben und keine Millionäre sind, obwohl sie sich das mindestens genauso fest vorstellen?
Jenny folgt meinem Blick, dreht sich um und reißt das Visionboard von der Wand. Jetzt stopft sie es in den Papierkorb und geht aus dem Zimmer. Ich bleibe auf Jennys Bett sitzen. Ich finde, sie benimmt sich völlig daneben. Wie immer tut sie so, als gehe es nur um sie. Das ganze Universum hat sich um sie zu drehen.
Jenny
Jenny konnte sich das Video mit dem Auto, das gegen die Mauer krachte, nicht ansehen. Oder besser gesagt, sie konnte nicht mit ansehen, wie das Auto zu Schrott gefahren wurde.
»Gebt mir das Auto, bevor ihr es für Nichts verschrottet«, pflegte sie zu sagen. Jenny war überzeugt davon, dass der Clip inszeniert war und nicht ein zufälliges Hoppala. Karla war bloß zu naiv, um das zu erkennen. Jenny hatte ein Gespür dafür, wenn etwas unaufrichtig war. Wenn jemand vorgab, krank zu sein, nur, weil er sich drückte. Wenn jemand etwas vergessen hatte, bloß weil er nicht wollte. Wenn Mama flunkerte, dass Oma keine Zeit für einen Besuch von ihr, Jenny und Karla hatte, nur weil sie keine Lust darauf hatte, den ganzen Nachmittag lang Geschichten aus ihrer Kindheit in den von Oma neu überarbeiteten Versionen anzuhören – immer so, dass Oma aus der Geschichte als Heldin hervorging.
Jenny durchschaute auch, wenn Papa mit einer fadenscheinigen Ausrede von der Arbeit nach Hause kam, ohne mitzubringen, was er zuvor am Telefon versprochen hatte. Er sagte dann immer Dinge wie: »Die DVD war ausverkauft« oder »Der Zeitschriftenladen hatte geschlossen«, dabei erkannte Jenny in Papas Augen, dass er sich genau in diesem Moment erst wieder an seine versprochene Besorgung erinnerte.
Als Papa drei Stunden früher als sonst nach Hause kam und erklärte, er habe fristlos gekündigt und werde fortan nicht mehr arbeiten, war sich Jenny sicher, dass das alles bloß für sie inszeniert worden war. Papa hatte ihr bestimmt bloß eine Lektion erteilen und sie lehren wollen, dass sie das Geld, das er und Mama verdienten, nicht als gegeben hinnehmen durfte und bescheidener sein musste. Das war so, wie damals im Kindergarten, als die Betreuerinnen plötzlich alle Spielsachen »auf Urlaub« schickten, damit die Kinder die Sachen besser zu schätzen wussten. Während sich die anderen Kinder damals alle möglichen Urlaubsziele für die Spielsachen ausdachten und brav warteten, bis die Spielsachen endlich wieder zurückgeholt wurden, machte sich Jenny auf Schatzsuche. Nach wenigen Tagen hatte sie das Urlaubsdomizil ihres Lieblingsspielzeuges, der Frisierpuppe, gefunden, und zwar in einer Holzkiste, im Büro des Kindergartens.
Bloß ging es diesmal nicht um eine Puppe, sondern um ein Auto (am liebsten einen MINI Cooper, aber egal). Jenny wünschte sich einfach nur einen fahrbaren Untersatz und wusste dessen Wert ganz bestimmt zu schätzen.
*
Es war nämlich nicht so, dass Jenny verwöhnt oder verzogen war und sich ein teures Auto zum Schulabschluss, ein Diamantkettchen von ihrem Freund und eine Limousine zum Abschlussball wünschte. Mal abgesehen davon, dass Jenny keinen Freund hatte, ging es Jenny nicht um ein Statussymbol. Es ging vielmehr darum, dass Jennys Eltern ein Haus gebaut hatten, das drei Kilometer außerhalb von Vorchdorf lag. VorchDORF, nicht VorchSTADT. Das bedeutete, die Körners lebten drei Kilometer entfernt vom nächsten Bahnhof, vom nächsten Geschäft und vom nächsten Kaffeehaus, und dann noch immer 30 Kilometer entfernt von der nächsten Stadt. Um in die zu gelangen, musste man den Zug nehmen, der bloß im Stundentakt fuhr, und nur auf den Hochgeschwindigkeitsabschnitten der Strecke 50 km/h erreichte. Eine halbe Stunde später gelangte man dann das kleine Städtchen Lambach. Dort musste man einen anderen Zug nehmen (der zumindest nur dann 50 km/h erreichte, wenn er bremste), und dann erst war man in Wels, wo Jenny und Karla zur Schule gingen und wo es immerhin über 60.000 Einwohner und ein paar Lokale gab, die einer jungen, urbanen Frau wie Jenny würdig waren.
Das Beste, was Vorchdorf für Jenny zu bieten hatte, war ein Freibad. Und da das natürlich im Ortszentrum lag, musste Jenny dorthin mit dem Fahrrad fahren. Doch die drei Kilometer, die das Haus der Körners vom Ort entfernt waren, waren hinterhältige, gemeine drei Kilometer. Die Hinfahrt verging jedes Mal rasch und angenehm, egal, welche Route man wählte. Ein stetiges Gefälle ließ den Wind durch Jennys Haare wirbeln und machte wirklich Spaß. Die Rechnung kam dann auf der Rückfahrt, wo das Gefälle zu einer Steigung wurde, die auch den letzten Rest an Abkühlung und Erfrischung, die der Besuch im Freibad gebracht hatte, völlig zunichtemachte.
*
Die Zeit des In-die-Pedale-Tretens und des Auf-den-Zug-Wartens musste endlich vorüber sein. Jenny hatte zu lange gewartet. Natürlich wusste sie, dass sie nur noch ein bisschen länger aushalten musste, und dann hatte sie ihren Schulabschluss, und dann noch ein bisschen und sie würde anfangen zu studieren. In Wien, einer Großstadt, wo man kein Auto brauchte. Jenny wusste das. Aber das änderte nichts daran, dass sie einfach nicht mehr warten wollte.
Deshalb versuchte Jenny, ihre Eltern seit einem Jahr zu überreden, ihr ein eigenes Auto zu kaufen. Sie hatte alles lange geplant. Jenny hatte das Geld von den zwei Wochen in der PR-Agentur mit ihren Ersparnissen aus nahezu 18 Jahren Weihnachts- und Geburtstagsgeld zusammengelegt und sich den Führerschein – dem Einwand ihrer Eltern zum Trotz – selbst bezahlt. Aber Jenny machte das bloß, um das Pflichtbewusstsein, Wohlwollen und schlechte Gewissen ihrer Eltern anzustacheln und sie dazu zu kriegen, ihr im Gegenzug ein Auto zu schenken. (Ein Auto war mit Sicherheit teurer als der Führerschein, vor allem, wenn Papa es aussuchte.)
Aber Mama und Papa hatten sich Zeit gelassen mit ihrem Geschenk, so lange, dass Jenny nervös geworden war und vielleicht manchmal etwas zu exzessiv gejammert und gebettelt hatte. Außerdem hatte sie, wann immer es ging, einen Pro-Auto-Kommentar in ein Gespräch eingestreut, wie etwa: »Wenn ich jetzt ein eigenes Auto hätte, dann könnte ich Karla vom Bahnhof abholen, während Mama zum Arzt fährt.« Manchmal machten ihre Anmerkungen auch ganz, ganz wenig Sinn wie etwa: »Wenn mehr Jugendliche ein eigenes Auto hätten, gäbe es nicht so viele Fälle von Komasaufen, denn wenn man selbst fährt, darf man doch nichts trinken.« Wahrscheinlich war es zu offensichtlich gewesen, dass Jenny versuchte, ihre Eltern zu manipulieren. Aber war denn das Grund genug, um Jenny jetzt so eine extreme Lektion zu erteilen?
*
Jenny rechnete fest damit, dass Papa jederzeit hinter einem Schrank hervorspringen und »Tata! Reingelegt!« rufen würde – natürlich nur metaphorisch, versteht sich. Aber das tat er nicht. Der ganze Tag verlief bis auf die riesigen, weltbewegenden Neuigkeiten, die Papa zu Mittag einfach so serviert hatte, sehr eigenartig unspektakulär. Und Jenny spürte, dass sie nicht die Einzige war, die auf etwas wartete.
Mama scharwenzelte den ganzen Nachmittag im Esszimmer-Küche-Wohnzimmer herum, begann Wäsche zusammenzulegen, hörte nach drei Wäschestücken wieder auf, verschwand in der Küche, kam wieder zurück, fragte, ob jemand Hunger hätte, und kochte dann erst recht, obwohl alle Nein sagten. Die ganze Zeit über sah sie aus, als hätte sie gerade in diesem Moment etwas vergessen, was ihr einfach nicht wieder einfallen wollte. Außerdemschrieb sie mit dem Daumen ständig Worte auf ihren Zeigefinger – das war ihr Tick, der aussah, als würde sie ihre Handcreme umständlich mit dem Daumen verschmieren –, und sie wirkte einfach noch chaotischer und planloser als sonst.
Man sah Mama und auch Karla immer sofort an, wie es ihnen ging. Das ging so weit, dass die beiden, je nachdem, wie ihre Gemütslage war, verschiedene Schönheitsgrade hatten. Manchmal war Karla zum Beispiel zum Eifersüchtig-Werden schön. An anderen Tagen, etwa wenn sie fertiggemacht wurde, oder wenn ihr jemand wieder einmal den Wind aus den Segeln genommen hatte, wirkte sie wie ein hässliches Entlein. Jenny mochte Karla lieber, wenn sie so war. Nicht, weil sie wollte, dass ihre Schwester hässlich war, sondern, weil das die Momente waren, in denen Karla ihre große Schwester brauchte.
Ein ähnlicher Ausdruck war nun ganz deutlich im Gesicht ihrer Mutter zu erkennen. Jennys Mut sank. Wenn Papa das Ganze wirklich bloß für sie inszeniert hatte, dann hätte er doch Mama eingeweiht. Dann gäbe es für Mama doch keinerlei Grund zur Besorgnis. Vielleicht sorgte sich Mama stellvertretend für Jenny. Vielleicht fand Mama die Lektion zu krass und war deshalb so unausgeglichen. Aber Jenny wusste, dass das sehr, sehr unwahrscheinlich war.
Doch solange sie daran glaubte, gab es noch ein wenig Hoffnung, nicht wahr?
Karla
Papa lässt uns tatsächlich den ganzen Nachmittag warten. Anfangs nehme ich an, dass er mit Mama alles bespricht und Jenny und ich deshalb warten müssen. Doch dann merke ich, dass Mama die ganze Zeit über alleine in der Küche ist und Wäsche macht und nicht mit Papa redet. Dann am Abend, endlich, ruft Papa mich, Jenny und Mama ins Wohnzimmer. Er wartet, bis wir uns auf die Couch gesetzt haben. Dann räuspert er sich. Es kommt mir vor, als würde Papa gleich eine Zaubershow vorführen. Vielleicht liegt das an dem Glitzern in seinen Augen.
Normalerweise hält Papa keine großen Ansprachen. Wahrscheinlich sind sie ihm zu ausschweifend. Papa findet, wenn man nichts Essenzielles zu sagen hat, sollte man still sein. Deshalb kommt er meistens auf den Punkt, ohne Einführung, ohne Ice-Breaker, und ist oft schon fertig, noch bevor ihm jemand zuhört. Das war genauso, als er eine Rede bei der Verlobungsfeier der Schussers von gegenüber, bei Omas Geburtstag und bei der Hochzeit seines Cousins Erwin hielt. (Ich frage mich, wieso Papa immer wieder gebeten wird, Reden zu halten.Vielleicht labern alle anderen zu ausschweifend und Papa ist dadurch die angenehme und gern gesehene Ausnahme.)
Doch jetzt scheint es anders zu sein. Papa räuspert sich noch einmal. Dann sagt er feierlich:
»Ich werde jetzt ein bisschen ausschweifen. Ich habe wirklich schon eine lange Zeit über alles nachgedacht. Ich meine, für euch muss das wie eine recht impulsive Entscheidung wirken, dass ich heute gekündigt habe. Aber ich wusste nicht, wie ich euch das Ganze schonend beibringen sollte, also dachte ich mir, ich warte erst mal, bis sich alle wieder beruhigen, bevor ich euch die Sache genauer erkläre.«
Ich blicke zur Seite und sehe in Jennys Gesicht. Das Warten hat Jenny auf keinen Fall beruhigt. Eher im Gegenteil. Mama hingegen schaut noch immer drein, als würde Papa gleich ein Kaninchen aus einem Hut ziehen. Ihre Augen glänzen, und sie wirkt eigenartigerweise, als sei sie die jüngste Person im Raum. Immer mal wieder merkt man Mama an, dass sie die kleinere von zwei Schwestern ist. Das deprimiert mich unendlich. Ich werde, seit ich denken kann, von Papa als »die Kleine« vorgestellt. »Hallo, das ist meine Tochter. Und das ist die Kleine.« Ich warte sehnlichst auf den Zeitpunkt, wenn man es mir endlich nicht mehr ansieht, dass ich die jüngere Schwester bin. Eigentlich dachte ich immer, dass das sein wird, wenn ich 17 bin und Jenny 20, oder vielleicht mit 21 und 24. Aber wenn ich nach Mama gerate, dann wird man es mir wohl ein Leben lang anmerken.
Papa fährt fort: »Wir haben vor ein paar Wochen einen großen Teil unseres Hausbaukredites abbezahlt. Das habe ich zum Anlass genommen, um unsere Fixkosten in einer Aufstellung aufzulisten.«
Jetzt teilt Papa einen Zettel mit einer Tabelle darauf aus. Mama und Papa sprechen so gut wie nie über Geld mit uns. Ich weiß zwar, was Mama verdient, aber ich habe weder Ahnung, wie viel unser Haus gekostet hat, noch was Papa verdient. Oder verdient hat? Doch jetzt rechnet Papa vor, was wir alles zum Leben brauchen: Strom, Heizung, Benzin, Kfz-Steuer und Versicherungen, Internet, TV und die Handys, dann kommen noch Essen und Kleidung, zehn Euro im Monat für Greenpeace, ein paar jährliche Vereinsgebühren und schließlich zwei Kredite und ein Bausparvertrag dazu. Insgesamt brauchen wir eine, wie mir scheint, schöne Stange Geld. Aber jetzt fällt ein Kredit weg, und wenn Papa nicht die 60 Kilometer täglich nach Wels und zurück fährt, braucht er nicht Unsummen an Benzingeld und auch keine Vollkaskoversicherung für das Auto.
Dann rechnet Papa vor, wie die Summe seiner letzten Prämie zum teilweisen Abzahlen des übrigen Kredites verwendet werden kann und dadurch die Zinsen minimiert werden, dann addiert er die Einnahmen – Mamas Gehalt von ihrem Halbtagsjob in der Spedition, das Kindergeld, Steuerermäßigungen und Pendlerpauschalen und vergleicht sein Gehalt mit dem Arbeitslosengeld, inklusive Zuschläge – und ich versuche tatsächlich aufmerksam zuzuhören. Doch es fällt mir wirklich schwer. Natürlich sind die Zahlen wichtig. Aber bisher habe ich von ihnen auch noch nie etwas gehört. Und von mir aus könnte er statt jeder Zahl das Wort »viel« verwenden. Wie viel brauchen wir für Strom im Monat: viel. Wie viel kosten die Kfz-Versicherungen: viel. Was zahlt man für Internet und Fernsehen: viel.
Nach einer halben Ewigkeit kommt er endlich zu dem Schluss: »Es reicht aus.« Jetzt bin ich wieder bei der Sache.
Wenn wir etwas sparsamer leben, die Handys auf Prepaidkarte umstellen, auf das langsamere Internet umsteigen, und sonst keine Ausgaben haben, bleiben uns im Monat 70 Euro übrig – selbst wenn Papa nur Arbeitslosengeld bekommt. Und das steht ihm neun Monate lang zu. Und genau in neun Monaten ist der letzte Hausbaukredit abbezahlt, und dann können wir allein von Mamas Geld leben.
Ich versuche, begeistert zu sein. Doch etwas fühlt sich eigenartig an, hier im Wohnzimmer. Also eigentlich nicht etwas, sondern alles. Jeder hier wirkt falsch. Ich kann Jennys Wut durch die Couchpolster spüren, als sei sie elektrische Spannung, die an Mama vorbei direkt in meine Muskeln dringt. Mama wirkt verloren und gleichzeitig erwartungsvoll, und irgendwie bin ich stellvertretend für sie eifersüchtig, weil Papa mit ihr offensichtlich nicht vor uns geredet hat. Und Papa ist so enthusiastisch, als wolle er sich für uns mitfreuen.
Papa kommt gerade zum vierten Teil seiner Präsentation. Ich habe gar nicht mitgekriegt, dass er das Ganze überhaupt in Teile eingeteilt hat, bis er sagt: »So, jetzt kommen wir zum vierten Teil meiner Präsentation: Einsparungen.«
Jenny seufzt gequält, doch davon abgesehen, dass wir das Telefonieren nun selbst bezahlen sollen, hat er nicht vor, unser Taschengeld zu kürzen. Was Papa hauptsächlich tun will, um einzusparen, ist, einen Gemüsegarten anzulegen und so viel wie möglich selbst anzubauen. Ich muss plötzlich wieder an die Grube denken. Und ich merke, dass mich gar nicht so sehr die Reaktion der anderen irritiert, sondern meine eigene. Ich blicke auf den Zettel in meiner Hand und finde, dass Papa ein Finanzgenie ist. Ich freue mich für Papa. Und doch bin ich irgendwie traurig. Diese Rechnung hätte er doch schon viel früher machen sollen.
*
Einmal, als ich neun war, hatte ich einen hysterischen Anfall, als Papa an einem Samstag im Begriff war, zur Tennishalle zu fahren. Er hatte davor einige Zeit lang Überstunden gemacht. Es war Winter, und ich erinnere mich an das Gefühl, dass ich Papa nur noch sah, wenn es draußen finster war. Morgens fuhren er und Jenny immer schon eine halbe Stunde, bevor mich Mama in die Schule brachte, los. Manchmal verschlief ich ihre Abfahrt sogar. Und da ich mit neun Jahren früher als alle anderen ins Bett gehen musste, hatte ich am Abend die wenigste Zeit mit Papa, manchmal nur noch genug für einen kurzen Gutenachtkuss.
Und dann eines Nachmittags kniete ich im Wohnzimmer auf der Couch und schrie über die Lehne hinweg, dass Papa hierbleiben solle. Ich kann mich an das Gefühl noch genau erinnern, an den Anblick, Papa im Gang, seine Tennistasche in der Hand, und Mama, die ihren Kopf aus der Küche streckt. Mama versuchte, mich zu beruhigen, und während Papa ging, um seine Schuhe anzuziehen, ließ ich meine Wut an ihr aus: »Aber ich hab Papa nie!!!« Und als Mama meinte, sie hätte ihn auch nie, schrie ich sie an: »Aber du hast ihn doch die ganze Nacht, den Rest will ich.« Meine ganze Wut richtete sich mit einem Mal gegen sie, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte und ich selbst damals schon wusste, dass sie nichts dafür konnte.
Bis zur Unterstufe versuchte ich noch vergeblich, mich für Tennis zu begeistern. Auch wenn es absolut keinen Sinn machte, Papa zur Tennishalle zu begleiten. Ich wurde ohnehin nur in das Mini-Training gesteckt, das in der Tennishalle am diametral entgegengesetzten Punkt der Mannschaftstrainingsplätze lag. Ich bekam Papa dort genauso oft zu Gesicht, als wäre ich zu Hause geblieben und hätte mir einen Film angesehen oder ein Buch gelesen – etwas, was mir nicht mit 30 km/h auf die Stirn schlagen und mir einen faustgroßen blauen Fleck verpassen konnte.
Noch dazu war der Jugendtrainer ein absoluter Idiot. Wenn ich nur den Schläger in die Hand nahm, behandelte er mich, als hätte ich schon etwas falsch gemacht. Die komplette Trainingsstunde über schrie er mich an und tat bei jedem neuen Fehler so, als hätte ich ihn schon eintausend Mal gemacht. Aber vielleicht lag das nur an mir. Ich kam mir tatsächlich komisch vor, sobald ich den Schläger in der Hand hielt. Und immerhin hatte Jenny sein Training auch überlebt und spielte mittlerweile sogar Meisterschaft.
All die Trainingsstunden und das unangenehme Gefühl, das ich schon eine halbe Stunde vor der Fahrt zur Halle hatte, hätte ich mir ersparen können, hätte Papa schon früher weniger gearbeitet.
*
Und mit einem Schlag wird mir klar, warum ich mich komisch fühle, warum ich traurig bin: Warum haben wir ihn nicht gestoppt? Seit ich denken kann, arbeitet Papa viel zu viel. Und für alle war das immer okay. »Papa kann nicht, er muss heute länger arbeiten.« – »Papa ist müde von der Arbeit, lass ihn mal ausspannen.« – »Papa muss auf Geschäftsreise für zehn Tage.« Wir mussten nur kurz durchhalten, und danach freuten wir uns, weil Papa für mich und Jenny das eingepackte Plastikbesteck aus dem Flugzeug mitgebracht hatte. Aber wann war das Durchhalten plötzlich normal geworden?
Papas Räuspern reißt mich aus meinen Gedanken. Er hat fertig gezaubert. Alles, was fehlt, ist eine Verbeugung. Und unser Klatschen. Darauf wartet er jetzt. Und ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben etwas in seinem Blick, was wie Nervosität aussieht.
Ich springe auf und umarme ihn. Ich drücke ihn lange und fest. Dann kommt Mama und umarmt uns beide. Ihre Arme wirken knochig und kühl, nachdem ich mich an Papas warmen, weichen Bauch gedrückt habe. Aber dann küssen sich Mama und Papa und Mamas Umarmung wird weicher.
Nur Jenny bleibt auf der Couch sitzen. Schließlich steht sie auf und sagt: »Ich weiß echt nicht, was mit euch los ist. Papa hat gekündigt, nicht Krebs!«
Dann geht sie auf ihr Zimmer und wirft die Türe hinter sich zu.
Kapitel 2
Jenny
Jenny hasste mehrere Dinge, die so abgedroschen und selbstverständlich waren, dass sie es vermied, darüber zu reden. Zum Beispiel hasste sie Mathematik und Morgen, vor allem Montagmorgen.
Noch mehr hasste sie allerdings Leute, die in der Oberstufe in Mathematik zum eintausendsten Mal die Frage stellten: »Wozu brauch ich denn das später mal?« Dabei wusste jeder, dass es darauf keine befriedigende Antwort gab und dass es schon gar keinen Sinn machte, sich mit einem Mathelehrer auf eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit seines Faches einzulassen. Jenny wusste, dass es nur einen relevanten Grund gab, weshalb man das alles brauchte: für die Noten und das Abschlusszeugnis.
Auch machte es in ihren Augen überhaupt keinen Sinn, darüber zu jammern, dass man morgens müde war. Es gab in Wahrheit keinen einzigen echten Morgenmenschen. Jeder wollte eigentlich länger schlafen, als er durfte – außer an Wochenenden, wenn man sich ausschlafen konnte.
Das Einzige, was zählte, war, zu wissen, wie man sich den Morgen so überlebbar wie möglich gestalten konnte. Und zwar, indem man von guter Musik geweckt wurde, genug Zeit für seine Frisur hatte, vor dem Frühstück mit niemandem sprechen musste und Karla so weit wie möglich aus dem Weg gehen konnte.
Karla war zwar morgens immer völlig verschlafen, aber dabei eindeutig um mehrere Dezibel zu laut für einen leeren Magen und einen überforderten Kreislauf. Wenn Jenny diese paar Punkte einhielt, war alles gut.
*
Am Montagmorgen war gar nichts gut. Zwar hatten sie alle am Wochenende Papa schön artig zugehört und zugeredet bei seiner eindeutig aus einer Midlife-Crisis hervorgegangenen Entscheidung. Aber über die Konsequenzen hatte die Familie so gut wie gar nicht gesprochen. Ja, Papa hatte seine Rechnung vorgerechnet, Jenny war klar geworden, dass ihr Traum vom eigenen Auto verpufft war – zumindest, bis sie einen neuen Plan entwickelt hatte – und Jenny war sich sicher, dass Mama und Karla schon über die Gemüsesorten nachdachten, die Papa anpflanzen konnte. Aber darüber, dass Jenny und Karla von nun an eine ganze Stunde früher aufstehen mussten, um mit dem Zug in die Schule zu fahren, statt wie bisher mit Papa, darüber hatte niemand gesprochen. Jenny hatte auch überhaupt nicht daran gedacht.
Der Umstand wurde Jenny erst klar, als ihre Zimmertüre aufflog und Mama mit einer leicht überdrehten Stimme rief: »Aufstehen, aufstehen«, während der Wecker unmenschliche und unnatürliche 5.30 Uhr anzeigte. Die gute Musik würde erst in einer Stunde spielen, da Jenny den Wecker nicht umgestellt hatte.
Draußen war es noch dunkel, als Jenny ins Badezimmer ging, wo Mama sich gerade die Haare föhnte. Alles war durcheinander. Normalerweise machte Mama Frühstück und Papa stand hier, wusch und rasierte sich und ließ Jenny genug Platz für ihre Morgentoilette. Da die Spedition, in der Mama als Office-Managerin arbeitete, mitten im Dorf lag, musste sie eigentlich erst viel später los und benutzte das Badezimmer erst nach Papa, Jenny und Karla.
»Wo ist Papa?«, fragte Jenny. Mama machte keine Anstalten, den Föhn abzustellen, also fragte Jenny lauter: »WO IST PAPA?« – »DER SCHLÄFT«, rief Mama zurück. »ICH BRINGE EUCH ZUM BAHNHOF.«
Jennys Magen knurrte, und dafür, dass es nicht ihr Haar war, das gerade in Form gebracht wurde, war das Brummen desFöhnseindeutig zu laut. Trotzdem übertönte sie es noch einmal: »FÄHRST DU DANN GLEICH INS BÜRO WEITER?« Mama schüttelte den Kopf. Das war völliger Irrsinn. Mama musste also um 6.30 Uhr zum Bahnhof ins Dorf fahren, dann wieder zurück nach Hause, wo sie 40 Minuten warten konnte, um dann wieder zurück ins Dorf zu fahren?
Als Mama versuchte, sich gleichzeitig die Zähne zu putzen und dabei ihre Hose anzuziehen, flüchtete Jenny aus dem Bad. Von ihrem Zimmer aus konnte sie Mama noch mit vollem Mund fluchen hören. Jenny schüttelte den Kopf. Mama kapierte einfach nicht, dass sie im Endeffekt viel langsamer war, wenn sie alles gleichzeitig machte – auch wenn sie es »Multitasking« nannte. Jenny verstand auch nicht, warum Mama so herumstresste, bloß wegen des Zugs. Sie lagen noch völlig in der Zeit, und selbst wenn sie zu spät dran waren, konnten sie immer noch am Bahnhof anrufen und den Bahnhofsvorsteher, der ein Freund der Familie war,darum bitten, den Zug ein paar Minuten aufzuhalten. Aber seit die Familie vor fünf Jahren den Rückflug des Fuerte-Ventura- Urlaubs verpasst hatte, war Mama immer paranoider geworden, was Abflugs- und Abfahrtszeiten anbelangte.
Über Flüge brauchte sich Mama jetzt ja keine Sorgen mehr zu machen. Jetzt wurde aus dem Rumoren in Jennys Magen ein eigenartiges Ziehen. Jenny hatte keinen Hunger. Im Gegenteil, es fühlte sich plötzlich an, als habe Jenny Steine geschluckt, die sie zur Erde hinunterzogen. Wie in dem blöden Märchen. Jenny gab vor zu lachen für ein Publikum, das gar nicht existierte, und sagte: »Zum Glück ist die Matura-Reise schon angezahlt.« Ein Teil von ihr wollte sich Sorgen um den Restbetrag machen, aber die Steine waren nicht wegen ihrer Matura-Reise in ihrem Bauch, sondern wegen der Endgültigkeit. Wegen des Gedankens, dass Mama und Papa nie wieder in den Urlaub fahren würden. Diese Erkenntnis traf sie mit einer Wucht, auf die Jenny nicht vorbereitet war – wie das Auto in Karlas YouTube-Video, das gegen die Mauer knallt.
Doch plötzlich lachte Jenny noch einmal. Sie hatte Papa ganz vergessen. Spätestens wenn ihm bewusst wurde, dass er ohne zu arbeiten nicht mehr nach Barcelona, nach Ibiza, Korfu oder nach Schottland fliegen konnte, spätestens wenn sie den nächsten Fotoabend machten und sich die Urlaubsfotos ansahen, auf denen Papa mit seinem Zigarillo und dem breiten Grinsen, das es nur im Urlaub gab, mit gutem Wein und zu viel Essen zu sehen war, spätestens dann würde Papa derjenige sein, der schwere Steine im Bauch hatte. Und dann würde er einsehen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er würde sich wieder eine Arbeit suchen, und bald würde alles wieder beim Alten sein.
Alles, was Jenny tun musste, war warten. Vielleicht ein bisschen nachhelfen, aber vor allem geduldig sein, und warten.
»Frühstück schaffe ich leider heute nicht mehr«, rief Mama plötzlich aus dem Badezimmer und meinte dann, Jenny und Karla sollten sich etwas beim Bäcker kaufen. Mitten in diesem Satz fiel Mama aber offenbar ein, dass es nicht gerade sparsam war, sich das Frühstück beim Bäcker zu kaufen, also unterbrach sie sich und lief stattdessen in Jennys Zimmer. Jenny war noch im Pyjama, als Mama, ohne sie wirklich anzusehen, sagte: »Ach, gut, du bist ja schon fast fertig«, und sie bat, Frühstück zu machen.
Jenny zog sich seufzend an und ging dann in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank, der Montagmorgen wie immer völlig ausgeräumt war. Aber jetzt war der Anblick richtig deprimierend. Jenny schmierte Butter auf zwei Schwarzbrotschnitten. Dann schnitt sie sie in der Mitte durch und klatschte die Hälften aufeinander. »Na, das wird ja ein Schmaus«, sagte sie. Dann beschloss sie, damit aufzuhören, die Dinge für ihr imaginäres Publikum zu kommentieren.
Karla war diesen Morgen außergewöhnlich ruhig und schlurfte so schläfrig durch die Gegend, dass Jenny keine Gelegenheit hatte, sie zur Seite zu nehmen und mit ihr zu reden. Jenny hasste es, wenn plötzlich alles im letzten Moment erledigt werden musste. Warum hatte sie sich nicht gestern schon einen Plan zurechtgelegt? Jetzt packte sie hektisch ihre Tasche, und auch Karlas, denn die war noch dabei, ihre Stiefel anzuziehen, während Mama in der Wohnung umherlief und ihr Handy suchte.
Dann saßen die drei schweigsam im Auto. Mamas Autoradio war schon seit einer Ewigkeit kaputt, darum war das Brummen des alten Opel Vectra das einzige Geräusch, das zu hören war. Karla machte die Augen zu. Sie saß immer vorne, selbst bei kurzen Strecken, weil ihr auf dem Rücksitz speiübel wurde.
Jenny starrte aus dem Fenster und musste plötzlich an Christins elften Geburtstag denken.
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Es war das erste Mal, dass Jenny bei Christin eingeladen war. Sie waren kurz zuvor beste Freundinnen geworden und waren es seither. Weil Christin im Winter Geburtstag hatte und deswegen nicht wie ihr großer Bruder eine Poolparty machen konnte, hatten Christins Eltern einen Clown engagiert. Mit einer verstellten Stimme erzählte er Witze, machte ein paar akrobatische Tricks und verknotete den Rest des Nachmittags Luftballons zu Tieren, Schwertern und Blumen. Er unterhielt sich dabei mit den Müttern – bis auf Christins Papa waren keine anderen Väter da – mit seiner normalen Stimme, stellte sie aber sofort wieder um, wenn er einem Kind seinen Ballon reichte. Dann sagte er Dinge wie »Ein Schwert für die Piratenbraut« oder »Ein Blümchen für das Bienchen«.
Jenny konnte mit anhören, wie der Clown einer Mutter erzählte, dass sein Sohn auch gerade neun geworden war. Das war ein verstörender Gedanke. Jenny stellte sich den armen Jungen vor, der auf die Frage, was sein Papa arbeitete, »Clown« antworten musste. Wie erbärmlich. Vor allem, wenn man das zu Erwachsenen, die einen richtigen Job hatten, sagen musste. Aber wahrscheinlich waren Gleichaltrige sogar noch schlimmer. Es genügte schon viel weniger, um in der Schule fertiggemacht zu werden. Sarahs Papa zum Beispiel hatte neben seinem normalen Beruf eine Tanz- und Unterhaltungsband, mit der er in Bierzelten und bei Dorffesten auftrat – in Grün glitzernden Westen. Seither wurde Sarah »Green Goblins«-Tochter genannt.
Jenny beobachtete den Clown argwöhnisch und war froh über Papas Arbeit. Papa machte die Arbeit von anderen effizienter. Außerdem war er Manager, ein »Organisationsmanager«. Er war viel auf Reisen und arbeitete immer in verschiedenen Firmen. Er war Teamleiter einer ganzen Gruppe von weiteren Organisationsmanagern. Und darauf war Jenny, in diesem Moment auf Christins Geburtstagsparty, unendlich stolz.
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