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Vor welchen Herausforderungen stehen Schauspielerinnen und Schauspieler angesichts einer performativen Spielpraxis? Wie gestaltet sich der Erarbeitungsprozess von Texten in der Zusammenarbeit von Regisseuren und ihren Ensembles heutzutage? Wie charakterisiert sich dabei ein performativer Umgang mit dem Text? Diesen Fragen geht die Sprechwissenschaftlerin Julia Kiesler in diesem Buch nach. Auf Basis der Untersuchung von drei Probenprozessen der renommierten Regisseure Claudia Bauer, Laurent Chétouane und Volker Lösch werden verschiedene Arbeitsweisen unter die Lupe genommen. Hierzu gehören u. a. intertextuelle und intervokale Herangehensweisen, Musikalisierungsprozesse, die chorische Arbeit am Text oder Synchronisationsverfahren, die mit der Trennung von Spiel und Sprache einhergehen sowie mit dem Einsatz von Audio- und Videotechnik arbeiten. Die daraus hervorgehenden vielstimmigen Erscheinungsformen werfen eine veränderte Perspektive auf Prozesse des Darstellens und Sprechens auf der Bühne, die es innerhalb der Schauspielausbildung zu berücksichtigen gilt.
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Die Druckvorstufe dieser Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt.
Zugl.: Phil. Diss. Univ. Halle-Wittenberg, 2018
Julia Kiesler
Der performative Umgang mit dem Text
Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater
Recherchen 149
© 2019 by Julia Kiesler, lizenziert unter CC-BY 4.0
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Lektorat: Erik Zielke
Gestaltung: Sibyll Wahrig
Umschlagabbildung: Probenfoto von Faust. Der Tragödie erster Teil in der Regie von Claudia Bauer am Konzerttheater Bern. © Annette Boutellier
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-240-1 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95749-228-9 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-229-6 (EPUB)
ISBN 978-3-95749-251-7 (Open Access)
Julia Kiesler
Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeitim zeitgenössischen Theater
DANKSAGUNGEN
EINLEITUNG
FORSCHUNGSLAGE
1Zum Begriff des zeitgenössischen Theaters
2Semiotische und performative Perspektiven
3Theorie des Performativen
4Klassifizierung von Spiel- und Sprechweisen
5Fazit: Der performative Umgang mit dem Text – Versuch einer Definition
METHODENDESIGN
1Theaterproben als Untersuchungsgegenstand
2Probenprozessbeobachtung
3Probenprozessanalyse
KONZEPTIONELLE UND INSZENATORISCHE ASPEKTE DREIER PROBENPROZESSE
1Konzeptionelle Aspekte der Probenarbeit von Laurent Chétouane im Rahmen des Workshops „Shakespeare-Sonette“ an der Hochschule der Künste Bern
2Konzeptionelle Aspekte der Produktion Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch in der Regie von Volker Lösch am Theater Basel
3Konzeptionelle Aspekte zur Faust-Inszenierung von Claudia Bauer am Konzerttheater Bern
4Fazit: Aspekte performativer Situationsanordnungen
DIE BEHANDLUNG DES TEXTES ALS MATERIAL
1Problemstellung
2Kontingenz als Kennzeichen einer entstehenden Textfassung
3Intertextuelle Arbeitsweisen
4Kompositionsprozesse
5Fazit: verstärkte Autorschaft von Schauspieler/-innen und Regieteams
PERFORMATIVE ANSÄTZE DER TEXTERARBEITUNG
1Einführung ins Kapitel
2Methodischer Referenzrahmen
3Interperformative Bezüge
4Sprechen auf der Basis von Nicht-Wissen: methodische Aspekte der Textarbeit im Probenprozess von Laurent Chétouane
5Die musikalische Arbeit am Text: Musikalisierungsprozesse in den Probenarbeiten von Claudia Bauer, Peer Baierlein, Volker Lösch und Bernd Freytag
6Weitere methodische Aspekte der chorischen Textarbeit
7Intervokale Herangehensweisen
8Die Trennung von Spiel und Sprache
9Dimensionen performativer Texterarbeitungsansätze und ihrer vielstimmigen und polysemantischen Erscheinungsformen
SPRECHKÜNSTLERISCHE PHÄNOMENE
1Rhythmus als sprechkünstlerisches Phänomen
2Zäsur, Pause und Sprechgeschwindigkeit als sprechkünstlerische Phänomene
3Stimmklang als sprechkünstlerisches Phänomen
4Fazit: die performative Funktion sprechkünstlerischer Phänomene
FÄHIGKEITEN FÜR EINE PERFORMATIVE SPIELPRAXIS
1Zwischen Virtuosität und Persönlichkeit
2Bewusstsein für ein relationales Raumkonzept und performatives Situationsverständnis
3Offenheit und Erlebnisbereitschaft als Gelingensbedingungen für die Entfaltung eines transformatorischen Potentials
4Reflexionsfähigkeit und Autorschaft als Kompetenzen der Schauspielerpersönlichkeit
5Bewusstsein für verschiedene Spiel- und Sprechweisen und deren Brüche
6Kompetenzen für einen performativen Umgang mit Texten und gesprochener Sprache
7Umgang mit Emergenzen und den Ambivalenzen von Tun und Nicht-Tun
8Fazit: Rückschlüsse für die Schauspielausbildung
ZUSAMMENFASSUNG, AUSBLICK UND DESIDERATA
QUELLENVERZEICHNIS
ANHANG
An erster Stelle möchte ich all den Menschen danken, die sich dazu bereit erklärt haben, dass ich ihre Probenprozesse beobachten und ihnen bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen durfte. Mein Dank gilt den Schauspieler/-innen und Akteur/-innen der drei untersuchten Produktionen sowie den Regisseur/-innen Claudia Bauer, Laurent Chétouane und Volker Lösch, dem Chorleiter und Regisseur Bernd Freytag und dem Musiker Peer Baierlein, deren Arbeitsprozesse ich begleitet habe. Ohne sie wäre die vorliegende Studie nicht zustande gekommen.
Ebenfalls nicht zustande gekommen wäre diese Arbeit ohne mein Forschungsteam. Ich bedanke mich bei Herrn Prof. Dr. Thomas Strässle und bei Frau Dr. Priska Gisler, die sich an der Hochschule der Künste Bern sehr dafür eingesetzt haben, dass das Forschungsprojekt, aus dem die vorliegende Untersuchung hervorgeht, durchgeführt werden konnte. Sie standen mir über den gesamten Zeitraum unterstützend und beratend zur Seite, ebenso wie Herr Prof. Wolfram Heberle, der mir als Leiter des Studienbereichs Theater der Hochschule der Künste Bern zugleich die Möglichkeit gab, dieses Projekt überhaupt durchzuführen. In dieser Hinsicht sei auch dem Leiter des Fachbereichs Theater der Hochschule der Künste Bern Herrn Florian Reichert gedankt, der das Vorhaben ebenfalls unterstützte. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Kollegin Frau Dipl.-Sprechwissenschaftlerin Claudia Petermann, die mit mir gemeinsam an diesem Forschungsprojekt arbeitete. Ihre fachliche Unterstützung und inhaltlichen Anregungen trugen maßgeblich zum Entstehen dieser Arbeit bei.
Dem Schweizerischen Nationalfond, der das Forschungsprojekt „Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater“, aus dem die vorliegende Untersuchung hervorgegangen ist, im Zeitraum von März 2014 bis November 2017 finanziell gefördert hat, ebenso wie die Open-Access-Publikation, sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt.
Ganz herzlich möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Ursula Hirschfeld von der Abteilung Sprechwissenschaft und Phonetik des Instituts für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für ihre engagierte und hilfreiche Betreuung meiner Dissertation bedanken, ebenso bei Frau Dr. Martina Haase, die mich zur Bearbeitung dieses Themas inspirierte und mir in vielen inhaltlichen Fragen beratend zur Seite stand. Den Fotografinnen Annette Boutellier und Judith Schlosser sowie der Illustratorin Giovanna Bolliger danke ich für die Genehmigungen zur Veröffentlichung der Fotos und Illustrationen im Anhang, außerdem danke ich meinem Lektor Erik Zielke vom Verlag Theater der Zeit für seine Unterstützung.
Bei meiner Familie bedanke ich mich für alles!
Ich hatte einmal die Illusion, theatralisches Wissen sei etwas, das man sich aneignen und dann besitzen könne. Also schaute ich mich um. Zuerst ging ich zu einem, der noch lebte. Drei Jahre lang saß ich da und beobachtete die Arbeit von Jerzy Grotowski. Dann ging ich nach Indien. Später wandte ich mich an die Toten, an die Quellenwerke der „Lehre“ vom Theater: Stanislawskij, Meyerhold, Brecht, die alten Schriften von Zeami und der Natyashastra. Sie standen alle auf meinem Schreibtisch aufgereiht. Eisenstein war auch dabei. So hatte ich mich vorbereitet, bis an den Tag, an dem ich mit meinen Kollegen vom Odin Teatret die Arbeit aufnahm. Liegt es an diesem Wissen, an dem ich als Zuschauer oder als Leser teilhatte, daß heute einige Menschen mit mir arbeiten möchten und mir Fragen über die Arbeit des Schauspielers stellen? Oder liegt es an den Ergebnissen, die von unseren Schauspielern erreicht wurden? (Barba 1985, 90)
Diese kleine Anekdote des italienischen Theatermachers Eugenio Barba fragt danach, ob künstlerisches Wissen erlernbar ist oder ob es vielmehr aus der Erfahrung eines kreativen Prozesses hervorgeht, der zugleich ein Prozess der Erforschung künstlerischer Arbeit ist. Sie wirft die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Probenbeobachtungen auf und verweist damit auf ein Untersuchungsgebiet, dem sich die vorliegende Studie widmet.
Jeder Probenprozess im Theater lässt sich als ein künstlerischer Forschungsprozess betrachten, in dem spezifische Vorgehensweisen entwickelt werden bzw. zum Einsatz kommen. Wie Matzke schreibt, wird innerhalb von Proben nicht nur eine Aufführung vorbereitet, es wird auch ein spezifisches Wissen generiert (vgl. Matzke 2012, 19). Jeder Probenprozess charakterisiert sich durch den Rückbezug auf bestehende künstlerische Praktiken einerseits sowie auf das Entwickeln neuer Herangehensweisen, Formen und Ästhetiken andererseits. „Als Prozess der Wissensgenerierung trifft sich im Begriff des Probens das Theater mit der Wissenschaft.“ (ebd.) Die Reflexion des Einsatzes und der Entwicklung künstlerischer Praktiken innerhalb eines Produktionsprozesses steht im Zentrum der vorliegenden Untersuchung. Eine solche Reflexion kann dazu beitragen, eine veränderte Perspektive auf die schauspielerische Darstellung zu eröffnen. Sie kann zum einen Impulse für die Weiterentwicklung der eigenen künstlerischen Arbeit setzen, zum anderen kann sie der Vermittlung künstlerischer Verfahren, Methoden und Arbeitsweisen im Rahmen von Ausbildungsprozessen dienlich sein.
In seiner wissenschaftlichen Ausrichtung ist die Probenprozessbeobachtung noch jung. Insbesondere innerhalb der angewandten Theaterwissenschaft ist seit einiger Zeit ein Paradigmenwechsel von der Aufführungsanalyse zur Aufarbeitung unterschiedlicher Probenprozesse zu verzeichnen (vgl. Kurzenberger 2009b, 7). Melanie Hinz und Jens Roselt sondieren in ihrer Publikation Chaos und Konzept ein neues Forschungsfeld, indem sie nach den Poetiken sowie nach konkreten Techniken und Verfahren des Probierens im Theater fragen (vgl. Hinz/Roselt 2011, 9). Im Fokus stehen einzelne Regisseurinnen und Regisseure und ihre individuellen Arbeitsweisen mit Schauspielerinnen und Schauspielern sowie ihr Umgang mit Texten und Situationen. Daran schließt die hier vorliegende Arbeit an.
Ihre Untersuchungen bewegen sich im Umfeld des zeitgenössischen deutschsprachigen Theaters und gehen aus einem Forschungsprojekt hervor, das ich an der Hochschule der Künste Bern ins Leben rief. Das Forschungsprojekt mit dem Titel „Methoden der sprechkünstlerischen Probenarbeit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater“ ging von der Beobachtung aus, dass sich die Anforderungen an Schauspielerinnen und Schauspieler in der Theaterpraxis sowohl im darstellerischen als auch im sprachlichen bzw. sprecherisch-stimmlichen Bereich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stark verändert haben. Texte werden chorisch, simultan oder monologisierend statt dialogisch gestaltet und sind nicht mehr unbedingt in die Repräsentation von Handlungen und schauspielerische Vorgänge auf der Bühne eingebunden. Ausdrucksmöglichkeiten wie Körper, Raum, Licht, Bewegung, Bild, gesprochene Sprache und Stimme treten als gleichberechtigte Mittel neben den Text. Sowohl in Inszenierungen, denen ein postdramatischer Theatertext zugrunde liegt, der dramatische Kategorien wie Figur, Dialog, Handlung, Raum- und Zeitgestaltung auflöst und demnach einen veränderten Umgang der Schauspielerinnen und Schauspieler mit dem Text erfordert, als auch in Inszenierungen klassischer Dramen avancieren die Sprache und ihre Erscheinungsweise auf der Bühne als gesprochene Sprache, als Stimmklang, als Rhythmus, als Melodie von einem Mittel zu einem Thema.
Auf der Grundlage dieser Beobachtungen stellte das Projekt die Frage, wie derartige Sprechweisen und Darstellungsformen innerhalb von Probenprozessen entstehen bzw. entwickelt werden und welche Methoden und Arbeitspraktiken dabei zum Einsatz kommen. Durch die teilnehmende Beobachtung an insgesamt fünf mehrwöchigen Probenprozessen sollte herausgefunden werden, wie der Erarbeitungs- und Gestaltungsprozess eines Textes im zeitgenössischen Theater in der Zusammenarbeit von Schauspieler/-innen und Regisseur/-innen erfolgt. Den Untersuchungsgegenstand des gesamten Forschungsprojekts bildeten die folgenden Probenarbeiten:
–ein Workshop des Regisseurs Laurent Chétouane mit Studierenden der Hochschule der Künste Bern, in dem die Erarbeitung von Shakespeare-Sonetten sowie die Annahme des Regisseurs: „Der Text spricht, nicht ich!“ im Zentrum der Beobachtung standen,
–der Probenprozess zur Inszenierung Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch in der Regie von Volker Lösch am Theater Basel, in der insbesondere die chorische Textarbeit fokussiert wurde,
–eine Produktion der Regisseurin Claudia Bauer, die Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil am Konzerttheater Bern auf die Bühne brachte und darin einen speziellen Figurenansatz verfolgte,
–der Probenprozess zur Inszenierung Warum läuft Herr R. Amok? nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder in der Regie von Susanne Kennedy an den Münchner Kammerspielen, einer Produktion, die mit einem aufgenommenen Playbacktext arbeitete,
–schließlich der Probenprozess zur Inszenierung Wut von Elfriede Jelinek in der Regie von Nicolas Stemann an den Münchner Kammerspielen, in dem die Transformation eines postdramatischen Theatertextes im Zentrum der Beobachtung stand.
Die Auswahl dieser Produktionen ging von der Vermutung aus, dass die aufgeführten Regisseurinnen und Regisseure den Konflikt mit traditionellen, etablierten Theaterpraktiken suchen und mit neuen Darstellungs- und Sprechformen sowie Texterarbeitungsansätzen experimentieren.
Dieser Studie liegen nur die drei erstgenannten Produktionen von Laurent Chétouane, Volker Lösch und Claudia Bauer als Untersuchungsgegenstand zugrunde, da ich selbst an diesen drei Probenprozessen als teilnehmende Beobachterin beteiligt war und diese auf Basis der dort erhobenen Daten in eigenständiger Arbeit ausgewertet und analysiert habe (zu den Ergebnissen der anderen zwei untersuchten Probenprozesse vgl. Kiesler/Rastetter 2017 sowie Rastetter 2017a und 2017b). Die zunächst allgemeine Fragestellung nach der Entstehung „veränderter“ Spiel- und Sprechweisen und deren Herstellungsprozessen wurde spezifiziert, in dem nach den Entstehungsprozessen speziell performativerPraktiken des Spielens und Sprechens auf der Bühne des Theaters gefragt wurde. Der Fokus wurde in der Beobachtung dieser drei Probenprozesse auf Ansätze der Texterarbeitung gelegt, die keine realistische, also wirklichkeitsabbildende Spiel- und Sprechweise hervorbringen, sondern sich im weitesten Sinne einer performativen, d. h. wirklichkeitskonstituierenden Spielpraxis zuordnen lassen.
Dabei stand vor allem der sprechkünstlerische Gestaltungsprozess der Schauspielerinnen und Schauspieler im Zentrum der Beobachtung, da insbesondere der Umgang mit sprecherischen und stimmlichen Gestaltungsmitteln in früheren Inszenierungen der drei genannten Regisseur/-innen auffiel, so die chorische Sprechweise in den Produktionen von Volker Lösch, das verlangsamte, Wort für Wort deklamierende Sprechen innerhalb von Chétouanes Inszenierungen oder die vielfältigen Brüche und Wechsel von Sprechweisen in den Produktionen von Claudia Bauer.
Ziel der vorliegenden Studie ist es, Ansätze der Textarbeit, wie sie in der zeitgenössischen Theaterpraxis zum Einsatz kommen, exemplarisch zu beschreiben und methodisch als „performative Ansätze der Textarbeit“ herauszuarbeiten sowie zu definieren. Darüber hinaus ist es das Ziel, Fähigkeiten und Kompetenzen für die Schauspielausbildung abzuleiten, die im Umgang der Schauspielerinnen und Schauspieler mit performativen Herangehensweisen und Erscheinungsformen beobachtet wurden. Die Studie kommt damit der Forderung nach, Ausbildungsinhalte im Hinblick auf die Theaterpraxis zu überprüfen und zu überdenken. Beobachtete künstlerische Praktiken, Erscheinungsformen und Phänomene werden demnach nicht nur theoretisch, sondern auch anwendungsorientiert betrachtet. Darüber hinaus ist es dieser Studie ein Anliegen, die sprechkunsttheoretische Debatte voranzubringen und Impulse für weiterführende sprechkünstlerische Untersuchungen innerhalb der Sprechwissenschaft zu geben.
Die Arbeit gliedert sich in neun Kapitel. Nach der thematischen Einführung der Untersuchung innerhalb der Einleitung wirft das zweite Kapitel einen Blick auf die sprech- und theaterwissenschaftliche Forschungslage. Es werden theoretische Positionen beider Fachgebiete erörtert mit dem Ziel, ein Verständnis für die Formulierung eines „performativen Umgangs mit dem Text“ zu erlangen. Das dritte Kapitel widmet sich dem Untersuchungsdesign und stellt methodische Schritte vor, die im Rahmen der Probenprozessbeobachtungen und -analysen vollzogen wurden. Im Zentrum der Kapitel vier bis acht steht die Analyse der empirischen Probenprozessuntersuchungen, deren Ziel es war, methodische Ansätze eines performativen Umgangs mit dem Text herauszuarbeiten. Die Gliederung der Kapitel vier bis sechs folgt in Ansätzen der Struktur eines Probenprozesses, an dessen Beginn konzeptionelle Überlegungen zu einer Inszenierung sowie ein oder mehrere Texte als Ausgangsmaterial stehen, das im Rahmen der Probenarbeit performativ transformiert wird.
So stellt das vierte Kapitel zunächst die drei der Untersuchung zugrunde liegenden Produktionen vor, deren Probenprozesse beobachtet wurden. Es werden konzeptionelle und inszenatorische Gesichtspunkte der drei Probenarbeiten beschrieben, auf deren Basis Aspekte performativer Situationsanordnungen herausgearbeitet werden. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, welche Texte den drei Produktionen zugrunde lagen und auf welche Weise diese als Material für die jeweilige Inszenierung bearbeitet wurden. Kontingenzmerkmale, intertextuelle Arbeitsweisen sowie Kompositionsprozesse werden hier als künstlerische Ansätze beschrieben, die eine Textvorlage als Material behandeln und die Autorschaft von Schauspieler/-innen und Regieteams herausfordern.
Das sechste Kapitel bildet das Herzstück und größte Kapitel der vorliegenden Studie. Im Zentrum stehen verschiedene Texterarbeitungsansätze, die als performative definiert und herausgearbeitet werden. Dabei untergliedert es sich in neun Teilkapitel. Nach einer Kapiteleinführung stellen die Teilkapitel 2 und 3 allgemein methodische und speziell interperformative Bezugsgrößen vor, um den nachfolgenden Ausführungen einen referentiellen Zusammenhang geben zu können. Kapitel 4 beschreibt methodische Ansätze der Textarbeit, wie sie im Rahmen der Probenprozessuntersuchung des Workshops von Laurent Chétouane beobachtet wurden. Das Unterkapitel 5 untersucht anhand der Probenarbeiten von Claudia Bauer und Volker Lösch sowie ihrer Ensembles musikalische Ansätze der Textarbeit. Exemplarisch werden einzelne methodische Schritte sowie erforderliche Fähigkeiten der Schauspielerinnen und Schauspieler für eine musikalische Texterarbeitung herausgearbeitet. Im Anschluss daran beschreibt das Unterkapitel 6 methodische Aspekte speziell der chorischen Textarbeit, wie sie insbesondere in der Arbeit von Volker Lösch und dem Chorleiter Bernd Freytag zu beobachten war. Auch hier werden am Ende des Teilkapitels Fähigkeiten herausgestellt, die Schauspielerinnen und Schauspieler für das Chorsprechen benötigen. Das Teilkapitel 7 beschäftigt sich mit einem Texterarbeitungsansatz, der als „intervokale Herangehensweise“ bezeichnet werden soll und in diesem Zusammenhang einen neuen Blick auf das Zitieren und Markieren von Figuren und Sprechweisen wirft. Im Unterkapitel 8 steht die Trennung von Spiel und Sprache zum einen als methodischer Ansatz der Probenarbeit, zum anderen hauptsächlich als ästhetische Herangehensweise, wie sie insbesondere im Rahmen der Faust-Produktion von Claudia Bauer zu beobachten war, im Zentrum. In diesem Kapitel wird auch der Einsatz medialer Techniken durch Videoprojektion oder Mikrofon thematisiert. Im letzten Teilkapitel 9 werden schließlich das darstellerische Potential sowie Wirkungsdimensionen der beschriebenen Texterarbeitungsansätze und deren Erscheinungsformen erörtert.
Die Kapitel sieben und acht nehmen eine verstärkte Reflexionsebene ein. Im Kapitel sieben werden auf Basis der empirischen Untersuchungen ausgewählte sprechkünstlerische Gestaltungsmittel als sprechkünstlerische Phänomene beschrieben und damit Überlegungen zu einer erweiterten Theoriebildung hinsichtlich prosodischer Merkmale angestellt. Das Kapitel acht beschäftigt sich abschließend mit der Frage, welche Fähigkeiten und Kompetenzen aufgrund der Untersuchungsergebnisse für eine performative Spielpraxis abgeleitet werden können und welche Rückschlüsse für die Schauspielausbildung zu ziehen sind. Im neunten und letzten Kapitel der vorliegenden Studie werden die Untersuchungsergebnisse zusammengefasst, methodenkritisch reflektiert sowie Perspektiven für nachfolgende Untersuchungen aufgezeigt.
Die Arbeit richtet sich an Sprechwissenschaftlerinnen und Sprechwissenschaftler, an Sprecherzieherinnen und Sprecherzieher, an Dozierende innerhalb der Schauspielausbildung ebenso wie an Schauspielstudierende, an Theaterwissenschaftlerinnen und Theaterwissenschaftler sowie an Theaterpraktikerinnen und Theaterpraktiker. Eine Schauspielausbildung sollte angehende Schauspielerinnen und Schauspieler auf die vielfältigen Anforderungen, die der Beruf mit sich bringt, vorbereiten. Voraussetzung dafür ist die Wahrnehmung der Theaterrealität und der Anforderungen, die auf der Bühne des zeitgenössischen Theaters gestellt werden. Sich verändernde Anforderungen machen das Überdenken und ein Erweitern bestehender Lehrinhalte nötig. Der vorliegenden Studie kommt demnach eine methodische Bedeutung zu, wenn es gelingt, ihre Forschungsergebnisse direkt in die Theaterpraxis und/oder in die Lehre und Ausbildung von Schauspiel- und Regiestudierenden sowie Studierenden der Sprechwissenschaft als zukünftige Sprecherzieher/-innen an Schauspielschulen und Theatern einfließen zu lassen.
Wissenschaftliche Bedeutsamkeit erlangt die Arbeit durch die Erweiterung des Methodenkanons sowohl für die Theaterwissenschaft als auch für die Sprechwissenschaft. Durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung, fokussiert auf den Umgang mit gesprochener Sprache, können Aspekte des Probenprozesses, die sich auf den Erarbeitungsprozess von Texten im zeitgenössischen Theater und die Entstehung von bestimmten Sprechweisen beziehen, untersucht werden. Dank der auditiven Analyse gelangt man auch zu einer genaueren Beschreibung von sprecherischen und stimmlichen Phänomenen. Ebenso wie es allgemein in der Methodologie der Kulturwissenschaft und Sprachphilosophie und speziell innerhalb der Theaterwissenschaft einen Perspektivwandel gegeben hat (vgl. Kolesch/Krämer 2006, 10), nimmt auch die vorliegende Arbeit eine performative Perspektive ein und fokussiert nicht mehr allein Strukturen und Werke, sondern Ereignisse sowie Prozesse der Produktion und Rezeption. Sie leistet damit einen Beitrag zum sich neu konstituierenden Forschungsfeld der Probenforschung innerhalb der Theaterwissenschaft. Die Sprechwissenschaft hat erst in jüngerer Zeit wieder begonnen, sich dem Gegenstand des Theaters zu widmen, ausgehend davon, dass Sprechkunst u. a. am Theater stattfindet. Die vorliegende Arbeit möchte als systematische sprechwissenschaftlich orientierte Untersuchung einen wesentlichen Beitrag in der Diskussion um das zeitgenössische Theater leisten.
Vor dem Hintergrund der Performativität kultureller Prozesse untersucht die vorliegende Studie nicht in erster Linie Aufführungsprozesse, sondern Probenprozesse unter dem Aspekt der Texterarbeitung. Es werden performative Ansätze der Textarbeit herausgearbeitet sowie die damit im Zusammenhang stehenden Anforderungen, vor denen die Schauspielerinnen und Schauspieler im Zuge dieser Herangehensweisen standen. Um zu erläutern, was unter einem „performativen Umgang mit dem Text“ überhaupt zu verstehen ist, widmet sich das folgende Kapitel dem Begriff der „Performativität“. Im Zentrum stehen das Klären von Begrifflichkeiten und die Einordnung der Arbeit in die theater- und sprechwissenschaftliche Forschung. Nachdem zunächst der Begriff des „zeitgenössischen Theaters“ in Abgrenzung zum Begriff des „postdramatischen Theaters“ begründet wird, soll anschließend ein Verständnis des Begriffs „performativ“, wie er im Rahmen der hier vorliegenden Untersuchung Anwendung findet, etabliert werden.
Das zeitgenössische Theater zeichnet sich durch eine Vielzahl an Arbeitsweisen, Darstellungsformen und, damit verbunden, auch Sprechweisen aus. Die Grenzen zwischen Theater, Performance, Tanz, bildender Kunst, Musik und der Arbeit mit neuen Medien sind schon seit einiger Zeit fließend geworden. Nicht mehr der Text steht im Zentrum zeitgenössischer Inszenierungen, sondern theatrale Zeichen wie Licht, Raum, Bühnenbild, Körper, Bewegung, Stimme, Zeit und Musik treten als gleichberechtigte Elemente einer Inszenierung nebeneinander. Text tritt als gesprochene Sprache in besonderer Weise hervor, wobei sich gesprächsferne Redeformen bzw. nicht-illusionistische Figuren- und Handlungskonzepte wiederfinden und die Dialogform radikal infrage gestellt wird. Monologische sowie chorische Möglichkeiten des Theaters werden neu bewertet (vgl. Roselt 2005, 69 f.). Birkenhauer spricht vom Theater der Gegenwart als einem „Ort polyphoner Diskurse und entbundener Signifikanten“ (Birkenhauer 2013, 7).
Hans-Thies Lehmann subsumiert derartige Erscheinungsweisen in seiner gleichnamigen Publikation unter dem Begriff des „postdramatischen Theaters“ und etabliert damit ein Verständnis von Theater, das jenseits des Dramas operiert (vgl. Lehmann 1999, 30). Der Begriff „postdramatisch“ wurde bereits 1987 von Andrzej Wirth, jedoch ohne weitere Ausdifferenzierung, zur Charakterisierung zeitgenössischer Theaterformen verwendet (vgl. Weiler 2005, 245) und auch Gerda Poschmann analysierte bereits 1997 in ihrer Publikation Der nicht mehr dramatische Theatertext angesichts einer „postdramatischen Theaterkunst“ (Poschmann 1997, 1) Texte u. a. von Werner Schwab, Peter Handke, Heiner Müller und Elfriede Jelinek, „die mit dem, was im Allgemeinen unter ‚Drama‘ verstanden wird, nichts mehr zu tun haben“ (ebd. 4). Der Begriff „postdramatisch“ wird demnach einerseits für die Beschreibung von Theaterformen gebraucht, die sich „vom Gebrauch dramatischer Literatur als Vorschrift für ein Inszenierungsgeschehen“ (Weiler 2005, 245) lösen, andererseits für Texte, denen dramatische Kategorien wie Figur, Dialog, Handlung, Raum- und Zeitgestaltung fehlen. Daran anschließend trifft Haase die Unterscheidung zwischen „postdramatischen Theatertexten“ und „postdramatischen Inszenierungsweisen“ (vgl. Haase 2013d, 6).
Der Begriff des „postdramatischen Theaters“ zielt jedoch nicht auf ein Theater jenseits des Textes. Vielmehr werden mit ihm Theaterformen umschrieben, die den Text als theatrales Material begreifen, mit dem Sprache in ihrer jeweils spezifischen Performativität zur Geltung gelangt. Ausdruckselemente wie Körper und Stimme „verbinden sich nicht in psychologischer Absicht zu Zeichen für eine außertheatrale Wirklichkeit, sondern sind selbst ‚Aufmerksamkeit fordernde Manifestationen‘, die als je Besondere wahrgenommen werden wollen, ohne dass sie sich auf den ersten Blick zu einem übergeordneten Sinn zusammenschließen lassen“ (Weiler 2005, 247 f.). Theatermittel treten in postdramatischen Inszenierungsweisen nicht nur in ihrer Referentialität, sondern insbesondere in ihrer Phänomenalität hervor. In Bezug auf stimmliche Erscheinungsformen konstatiert Jenny Schrödl:
Im postdramatischen Theater hat eine Verschiebung der Inszenierungs- und Präsentationsweisen von Stimmen stattgefunden, auch als Resultat verschiedener künstlerischer Bemühungen seit den historischen Avantgarden und den 1960er Jahren. Im Vordergrund steht nicht mehr allein das, was verlautbart wird und somit die Artikulation von Sprache und Rede, die Darstellung von Figuren, die Erzählung und Repräsentation von Geschichte. Man konzentriert sich vielmehr darauf, wie etwas verlautbart wird, und setzt so den Fokus auf die Ausstellung der Stimme und den Vollzug des Sprechens selbst, auf die Hervorbringung von materiellen Erscheinungen von Stimmen im Hier und Jetzt einer Aufführung. Die Stimme als theatrales Element erhält so einen autonomen Status diesseits von Sprache und Subjekt, diesseits von semantischen, expressiven und instrumentellen Funktionen. (Schrödl 2012, 16 f.)
Für die Zuschauerinnen und Zuschauer ergeben sich aufgrund der Uneindeutigkeit, Polyvalenz und Simultanität postdramatischer Erscheinungsformen Schwierigkeiten im Prozess der Sinnfindung. Ihre Wahrnehmungs- und Verstehensleistungen sind innerhalb postdramatischer Inszenierungen stark herausgefordert und werden als solche im Prozess der Aufführung thematisiert (vgl. Weiler 2005, 248).
Haase weist auf die Unschärfe des Begriffs „postdramatisch“ hin (vgl. Haase 2013d, 2), der lediglich deskriptiv als „Arbeitsformel zur Beschreibung verschiedener neuer, performance-naher Theaterformen, die anderen Prinzipien folgen als dem der Werkinszenierung“, gebraucht werden sollte (Primavesi 2004, 9 zit. nach Haase 2013d, 2). Festzustellen ist auch, dass sich das Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneut der dramatischen Literatur zuwendet. Zum einen findet sich eine Vielzahl zeitgenössischer Theaterstücke auf den Bühnen des Gegenwartstheaters wieder, zum anderen bindet sich der Umgang mit klassischen Texten auf neue Weise an Figuren- und Handlungskonzepte (vgl. Weiler 2005, 248). „Klassische Werke“ werden dabei oftmals in performative Prozesse aufgelöst. Diese Auflösung findet zum einen durch die Dekonstruktion von Stückvorlagen statt, die mit einer Durchsetzung anderer bruchstückhafter Elemente oder Fremdbestandteile das aktuelle „Werk“ als „Material der Aufführung“ neu formieren (vgl. Ritter 2013c, 68). Zum anderen erscheinen Figuren auf Inszenierungsebene fragmentiert, chorisch aufgelöst oder wechseln als „agierende Subjekte“ von einer „Aktions- auf die Meta-Ebene“ (vgl. ebd.). Aufgrund dieser Vielfalt bevorzugt die vorliegende Studie den weiter gefassten Begriff des „zeitgenössischen Theaters“, wenngleich immer wieder auch auf den Begriff „postdramatisch“ zurückgegriffen wird (für eine eingehendere Beschäftigung mit dem Begriff „postdramatisch“ vgl. u.a. Lehmann 1999, Weiler 2005, Stegemann 2009, Haase 2013d).
Kennzeichnend für das zeitgenössische Theater ist das Existieren unterschiedlichster Spiel- und Sprechweisen. Eine Figur realistisch auf der Bühne zu verkörpern, aus seiner Figur herauszutreten und selbstreferentiell zu agieren, mal darzustellen, mal zu spielen, einen Text gestisch zu gestalten oder ihn nur zu (re-)zitieren, dramatische Texte szenisch zu transformieren oder Textflächen musikalisch aufzulösen, sich in die Welt eines Textes hineinzubegeben ebenso wie die Differenz zwischen dem Text und sich selbst als Spielerin oder Spieler zu markieren, sich einen Text leibhaft anzueignen und die Einheit von Sprache und Körperlichkeit in einer Figur zusammenfließen zu lassen oder aber diese Einheit zu zerstören – all diese Strategien der Darstellung und des Sprechens finden sich auf den deutschsprachigen Theaterbühnen der vergangenen Jahre wieder. Sie eröffnen die Frage, was überhaupt zum Handwerk einer zeitgenössischen Schauspielkunst gehört bzw. was es erfordert. Vor welchen Herausforderungen stehen die Schauspielerinnen und Schauspieler aufgrund der sich verändernden Theaterpraxis? Und darüber hinaus: Vor welchen Herausforderungen steht die sprecherzieherische Arbeit im Angesicht der aktuellen Ästhetiken und Umgangsformen mit Texten und gesprochener Sprache im Theater der Gegenwart?
Diesen Fragen wird im empirischen Teil dieser Arbeit nachgegangen. Es wird der Erarbeitungsprozess von Texten innerhalb verschiedener Probenprozesse untersucht, wobei der Fokus insbesondere auf Herangehensweisen gelegt wird, die eine performative Spielpraxis hervorbringen. Was darunter zu verstehen ist, erläutert das nun folgende Kapitel.
Nicht nur, dass beim Sprechen etwas gesagt und beim Gegenüber ein Eindruck hinterlassen wird, ist von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass im Sprechen und durch das Sprechen die soziale Wirklichkeit und somit die Welt verändert wird. (Kranich 2016, 11)
Dieser von Kranich umschriebene Sachverhalt gilt nicht nur für die Alltagskommunikation, sondern kann ebenso auf die Kommunikation innerhalb bestimmter theatraler Prozesse übertragen werden. Das Sprechen auf der Bühne ist auch hier nicht nur als Ausdruck einer inneren Befindlichkeit von Figuren zu verstehen oder als Abbild einer dargestellten Welt, sondern es konstituiert Wirklichkeiten zwischen Bühne und Zuschauerraum, die es zuvor nicht gegeben hat. Die Theaterwissenschaft greift die wirklichkeitskonstituierende Funktion theatraler Handlungen im Rahmen einer Performativitätstheorie auf, die als theoretische Ausgangsbasis der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Sie soll im folgenden Kapitel umrissen sowie mit theoretischen Ausgangspositionen sprechwissenschaftlicher Betrachtungen in Zusammenhang gebracht werden.
Dabei soll ein Verständnis des Begriffs „performativ“ aus historischer, theoretisch-terminologischer und theaterpraktischer Sicht etabliert werden. So beleuchten die nachfolgenden Ausführungen zunächst die Entwicklung zweier Fachgeschichten und ihrer Forschungsinteressen, die mit Aspekten des Performativen im Zusammenhang stehen. Im Anschluss daran wird der Begriff theoretisch-terminologisch sowie theaterpraktisch im Zusammenhang mit der Spielweisenklassifikation, wie sie Bernd Stegemann (vgl. Stegemann 2011, 102 ff. sowie 2014, 163 ff.) vorgeschlagen hat, erläutert. Das Ziel ist, den Begriff für die vorliegende Arbeit zu definieren und ihn nicht nur für Aufführungen, sondern auch für verschiedene Zugänge der Texterarbeitung innerhalb von Probenprozessen anwendbar zu machen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen viele geisteswissenschaftliche Fächer nacheinander zwei Wenden: zum ersten den „linguistic“ bzw. „semiotic turn“ in den 1970er Jahren, zum zweiten den sogenannten „performative turn“ in den 1990er Jahren (vgl. Fischer-Lichte 2001, 9). Während der „linguistic/semiotic turn“ einzelne kulturelle Phänomene ebenso wie ganze Kulturen1 als einen strukturierten Zusammenhang von Zeichen begriff, bahnte sich in den 1990er Jahren ein Perspektivwechsel an, der „Kultur als Performance“ fokussierte (vgl. ebd.). Fischer-Lichte konstatiert:
Das Interesse verlagerte sich nun stärker auf die Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, durch die sich bestehende Strukturen auflösen und neue herausbilden. Zugleich rückten Materialität, Medialität und interaktive Prozeßhaftigkeit kultureller Prozesse in das Blickfeld. (ebd.)
Eine erste performative Wende wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzogen, die dann jedoch in den 1930er Jahren mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wieder rückläufig wurde. Diese erste performative Wende ist insofern erwähnenswert, als dass sie mit der Gründung der Theaterwissenschaft als eigenständige Universitätsdisziplin um 1900 zusammenfällt. Ihr Begründer Max Herrmann verstand sie als „Wissenschaft von der Aufführung“ (vgl. Fischer-Lichte 2004, 43). Die Theaterwissenschaft spaltete sich zu dieser Zeit von der Literaturwissenschaft ab und rückte, ähnlich wie die Religions- und Altertumswissenschaften, die eine Theorie des Rituals entwickelten, den Begriff der Aufführung ins Zentrum (vgl. Fischer-Lichte 2001, 14). Nicht mehr der aufgeführte Text stand im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Aufführung als Ereignis (vgl. ebd. 17). Aber nicht nur die sich neu formierende Theaterwissenschaft attackierte die allgemein gültige Vorstellung vom Primat des Textes über die Aufführung, sondern vor allem die europäische Theateravantgarde. Theaterkünstler wie Edward Gordon Craig, Adolphe Appia, Max Reinhardt, Wsewolod Meyerhold u. a. forderten eine „Retheatralisierung“ des Theaters.
Sie verlangten eine totale Umstrukturierung der theatralen Materialien, Mittel, Zeichensysteme. Nicht länger mehr sollte die Sprache dominieren, sondern an ihrer Stelle der Körper des Schauspielers im Raum sowie flüchtige asemantische Mittel wie Musik, Licht, Farbe, Geräusche. Die performativen Qualitäten der Aufführung sollten in den Vordergrund treten. (Fischer-Lichte 2001, 16)
Auch das Verhältnis zwischen Darsteller/-innen und Zuschauer/-innen wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert. Der Theatermacher Max Reinhardt u. a. definierte das Theater neu, nämlich „als ein Fest, als ein festliches Spiel“, in dem die „Teilnahme des Zuschauers an der Aufführung bzw. ihre Wirkung auf ihn“ im Vordergrund des Interesses stand (ebd.).
Etwa zur selben Zeit wie die Theaterwissenschaft gründete sich auch die Sprechwissenschaft als eigenständige Fachdisziplin. Was Max Herrmann in Berlin für die Etablierung der Theaterwissenschaft war, war Ewald Geißler in Halle für die Gründung der Sprechwissenschaft.2 Geißler übernahm im Sommersemester 1906 das Lektorat für Vortragskunst an der Universität Halle und bereitete den Boden für die künftigen Entwicklungen des Fachs (vgl. Krech 2007, 33). Sein Nachfolger Richard Wittsack, der von 1919 bis 1952 in Halle tätig war, baute das Fach inhaltlich aus und fügte den bisherigen Fachinhalten der Rhetorik, Stimmbildung und Vortragskunst die Teildisziplinen Stimm- und Sprachheilkunde sowie Phonetik hinzu (vgl. ebd.). Dieser Fächerkanon prägt die inzwischen wissenschaftliche Disziplin bis heute (zur Entwicklung der Fachgeschichte vgl. u. a. Krech 1999, 2007; Geißner 1997 sowie Haase/Meyer 1997).
Die Forschungen der halleschen Sprechwissenschaft zeichnen sich bis in die Gegenwart durch eine enge Verbindung von Theorie und Empirie sowie durch interdisziplinäre Kooperationen aus (vgl. Krech 2007, 40). Zudem ist die sprechwissenschaftliche Forschung, wie auch die vorliegende Studie, anwendungsorientiert. Bereits zur Zeit der Gründung der Fachdisziplin erhoffte man sich, dass sie „unverzichtbare Aufgaben für die Stimmgesundheit, für die Sprach- und Sprechkultur, für die Ausbildung der Lehrer und andere Berufssprecher erfüllen konnte“ (ebd. 32). Schwerpunkte waren seit den 1950er Jahren u. a. Forschungen auf dem Gebiet der Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen, Forschungen auf dem Gebiet der Phonetik, wobei insbesondere die Orthoepieforschung zu nennen ist, die 1953 von Hans Krech begründet wurde und bis in die Gegenwart reicht. So wurde mit der Publikation Deutsches Aussprachewörterbuch zuletzt 2010 eine völlig neue Kodifizierung der deutschen Standardaussprache vorgelegt (vgl. Krech et al. 2010).
Außerdem bildete die Sprechwirkungsforschung von Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre ein groß angelegtes intra- und interdisziplinäres Forschungsprojekt (vgl. Krech 2007, 42). Die von Eberhard Stock initiierten psycholinguistisch und sozialwissenschaftlich fundierten empirischen Untersuchungen „bezogen sämtliche sprechwissenschaftliche Teildisziplinen ein und ermöglichten Einblicke in bis dahin unbekannte hörerseitige Verarbeitungsprozesse von unterschiedlichen Merkmalen gesprochener Sprache“ (ebd.). Allgemein widmete sich die Sprechwirkungsforschung der Frage, wie verschiedene Formen der Aussprache innerhalb unterschiedlicher Kontexte hörerseitig bewertet werden. Grundfragen, Forschungsmethoden und Ergebnisse der Untersuchungen finden sich in der Publikation Sprechwirkung. Grundfragen, Methoden und Ergebnisse ihrer Erforschung wieder (vgl. Krech et al. 1991). Die sprechwissenschaftliche Kommunikationstheorie wurde durch die Untersuchungsergebnisse erweitert und präzisiert, außerdem wurde ein Methodeninventar entwickelt und erprobt, mit dessen Hilfe nachvollziehbar Reaktionen von Hörerinnen und Hörern gemessen und verglichen werden können. Dies ermöglichte das Entwickeln von Verfahren, mit denen Lehr- und Behandlungsmethoden evaluiert und Ergebnisse pädagogischer Prozesse objektiviert werden können. Die Methoden der Sprechwirkungsforschung werden seit den 1990er Jahren in Projekten zu verschiedenen Forschungsthemen eingesetzt (vgl. Bose et al. 2013b, 4). Größere sprechwissenschaftliche Forschungsprojekte der Gegenwart beschäftigen sich u. a. mit der kontrastiven Phonetik und interkulturellen Kommunikation, mit der Entwicklung der kindlichen Kommunikationsfähigkeit, mit Untersuchungen zur Telekommunikation und professionellen Telefonie sowie im Bereich der Medienrhetorik mit der Hörverständlichkeit von Radionachrichten (vgl. u. a. Bose 2001, 2003, 2006 sowie Bose/Schwiesau 2011). Die Sprechwirkungsforschung im Bereich der Sprechkunst bewegt sich im Grenzbereich zwischen eher theoretisch-empirischen und eher künstlerischen Beschreibungsmodalitäten (vgl. Hirschfeld et al. 2008, 783 f.).
Gemessen am Gegenstand erscheinen beide Betrachtungsweisen sinnvoll, da das Sprechen literarischer Texte einerseits hohe Anteile an individueller künstlerischer Leistung und ausgeprägte ästhetische Rezeptionsfähigkeit verlangt, andererseits aber auch als Subform sprechsprachlicher Kommunikationsprozesse systematisch untersucht werden kann. (ebd. 784)
Hirschfeld et al. weisen darauf hin, dass Hörerinnen und Hörer in sprechkünstlerischen Kommunikationsprozessen mit Äußerungen konfrontiert sind, die sich nicht primär einem kommunikativen Gebrauch unterordnen, sondern vor allem ästhetischen Äußerungs- und Rezeptionsbedürfnissen gerecht werden sollen (vgl. ebd.). Auf dem Gebiet der Vortragskunst, die lange Zeit als „Kunst der sprechgestaltenden Dichtungsinterpretation“ verstanden wurde (vgl. Krech 1991, 193), fragt die Sprechwirkungsforschung nach der Wirkung und den Wirkungsbedingungen sprechkünstlerischer Äußerungen. Wirkungen sprechkünstlerischer Äußerungen sind jedoch seit den 1970er Jahren ausschließlich hinsichtlich sprechkünstlerischer Gedichtinterpretationen (vgl. z. B. Schönfelder 1988, Krech 1991, Anders 2001) oder in jüngerer Zeit hinsichtlich der Wirkung vorgelesener Prosa im Bereich von Hörbüchern untersucht worden (vgl. z. B. Travkina 2010). Bisher bildeten kaum Theateraufführungen den Untersuchungsgegenstand, sondern das Sprechen von Lyrik und Epik. Die sogenannte „Vortragskunst“, wie sie Eva-Maria Krech 1987 in ihrer gleichnamigen Publikation (vgl. Krech 1987) definiert und beschrieben hat, wollte sich immer wieder von der dramatischen Kunst und dem Theater abgrenzen.
Im heutigen Verständnis der Sprechwissenschaft wird diese klassische Grenzziehung zwischen Schauspielkunst und Vortrags- bzw. Sprechkunst nicht mehr getroffen, da im zeitgenössischen Theater Aufführungspraktiken existieren, in denen weniger der schauspielerische Darstellungsprozess und mehr das gesprochene Wort bzw. die sprachliche Gestaltung eines Textes im Vordergrund steht. Umgekehrt bedienen sich sprechkünstlerische Produktionen, in denen die Konzentration auf dem Sprechausdruck als Hauptgestaltungsmittel liegt, theatraler Mittel wie Bewegung, Kostüm, Maske, Licht und Musik im Sinne eines „Sprechspielens“ (vgl. Haase 2013b, 193). Sprechkunst bezieht sich heutzutage nicht mehr nur auf die sprechkünstlerische Dichtungsinterpretation von Lyrik und Prosa, sondern schließt das Sprechen von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne ein. Haase definiert „Sprechkunst“ als
das bewusst gestaltete, gesprochene künstlerische Wort in unterschiedlichen Kommunikationssituationen für ein Publikum (bzw. für einen oder mehrere Hörer), „live“, d. h. direkt im Sinne einer auditiv-visuellen Kunstkommunikation oder medienvermittelt, d. h. indirekt (Haase 2013a, 177).
Dabei sind die Ereignishaftigkeit und damit der performative Charakter der Sprechkunst zu betonen, die sich letztlich im Vollzug des Sprechens u. a. auf der Bühne ereignet.
Mit Ausnahme der Publikationen von Martina Haase, die Bertolt Brechts Theorie des Gestus bereits seit den 1980er Jahren untersucht und ihre Bedeutung für die Sprechwissenschaft beschrieben hat (vgl. Haase 1985, 1987, 1997), sowie mit Ausnahme der Veröffentlichungen von Hans Martin Ritter, der sich seit den 1980er Jahren mit dem Sprechen von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne des Theaters beschäftigt (vgl. Ritter u. a. 1986, 1989, 1998, 1999, 2014, 2013d, 2015a, 2015b, 2016, 2018), nehmen sprechwissenschaftliche Arbeiten das Theater erst seit jüngster Zeit in den Fokus der Betrachtung (vgl. Kiesler 2013b, 2016, 2017; Kiesler/Rastetter 2017, Rastetter 2017a, 2017b; Wessel 2016, 17). Beispielsweise widmet sich ein großes Teilkapitel des Lehrbuchs Einführung in die Sprechwissenschaft dem Gebiet der sprechkünstlerischen Kommunikation, auch im Hinblick auf sprechkünstlerische Prozesse im Theater (vgl. Haase 2013a, 2013b, 2013c, 2013d, 2013e, 2013f; Hollmach 2013a, 2013b, 2013c; Kiesler 2013a; Neuber 2013b; Kranich 2013; Ziegler 2013).
Darüber hinaus sind natürlich sämtliche Publikationen aus der praktischen Theaterarbeit sowie sämtliche Lehrbücher zur Sprecherziehung von Schauspielerinnen und Schauspielern zu erwähnen, die sich deren stimmlichen und sprecherischen Ausbildung unter methodischen Gesichtspunkten widmen (vgl. u. a. Aderhold 1995, 2007; Aderhold/Wolf 2002; Bernhard 2014; Coblenzer/Muhar 1997; Ebert 1999; Ebert/Penka (Hg.) 1998; Hofer 2013; Klawitter/Minnich 1998; Ritter 1986, 1989, 1999; Schmidt 2010; Stegemann (Hg.) 2010; Vasiljev 2000, 2002). In ihnen findet man neben den Ausführungen zur Atem-, Stimm- und Artikulationsschulung auch Methoden zur sprechkünstlerischen Erarbeitung dramatischer und nicht-dramatischer Texte beschrieben (vgl. S. 178 ff.). Die dort aufgeführten Übungen und Methoden basieren meist auf den individuellen Erfahrungen der Autorinnen und Autoren mit Schauspielstudierenden innerhalb der Ausbildung zum Schauspieler bzw. zur Schauspielerin. Was fehlt, sind aktuelle systematische Untersuchungen zum Sprechen auf der Bühne im zeitgenössischen Theater und methodische Ansätze, mit denen man zeitgenössischen postdramatischen Texten und ihrer Erarbeitung gerecht wird. In dieser Hinsicht versucht die vorliegende Arbeit eine Lücke zu schließen.
Im Gegensatz zur Theaterwissenschaft blieb die Sprechwissenschaft institutionell lange Zeit an die Germanistik bzw. Literaturwissenschaft gekoppelt. Sprechkunsttheoretische Ansätze stellten vor allem das „Sprachkunstwerk“, die „Dichtung“ in den Mittelpunkt ihres Interesses, dessen rationaler und emotionaler Gehalt innerhalb der sprechkünstlerischen Äußerung vermittelt werden sollte. So schrieb Krech der Vortragskunst hauptsächlich eine literaturvermittelnde Funktion zu, welche die gedankliche Auseinandersetzung mit einer Dichtung vertiefen, das „genußvolle Erleben oder Nacherleben der künstlerischen Bilder des literarischen Werkes“ fördern und damit die Wirkungspotenzen der Dichtung erweitern kann (Krech 1991, 193 f.). Sie betont, dass insbesondere die Sprechfassung einer Dichtung zur Sinnkonstitution eines literarischen Werks beiträgt bzw. diese mitunter erst ermöglicht. Durch eine ausdrucksvolle Sprechgestaltung, so Krech, kann das Anknüpfen der Rezipienten an ein Sprachkunstwerk begünstigt werden. Eine Sprechgestaltung „bietet Zugangsmöglichkeiten zur Dichtung an und stimuliert die Sinnsuche der Hörer“ (ebd. 195).
Dennoch schrieb Krech der Vortragskunst neben dieser literaturvermittelnden Funktion auch eine Funktion als eigenständige Kunst zu.
Mit der sprechkünstlerischen Interpretation lassen sich Kunsterlebnisse vermitteln, die sich der Art nach von denen unterscheiden, welche sich beim eigenen stillen Lesen literarischer Texte vollziehen. […] Bedeutsam ist darüber hinaus, daß der Sprecher den gedanklichen Inhalt eines literarischen Werkes in neue Zusammenhänge stellt und vor allem schöpferisch weiterführt. Er bereichert ihn um jene Bezüge, die er als Sprecherpersönlichkeit auf Grund seiner eigenen, individuell bedingten (und damit auch sozial geprägten) Sichtweise einbringt. Diese schöpferischen Handlungen führen zu einem veränderten Sinnpotential der Interpretation (gegenüber der Dichtung), welches der Sprecher auf neue Art und mit neuen Mitteln künstlerisch gestaltet, so daß die Hörer im Erleben und Nacherleben ästhetischen Genuß empfinden können. (Krech 1991, 195 f.)
In diesen Aussagen verbergen sich Hinweise, in denen Krech auf das „Erleben“ des Hörers hinweist sowie auf die Vortragskunst als „künstlerisches Erlebnis“. Das theoretische Grundgerüst, welches zu Beginn der Sprechwirkungsforschung für den Bereich der Vortragskunst entwickelt wurde, nahm nicht mehr nur das Verhältnis zwischen Sprecher/-in und Dichtung bzw. zwischen Sprecher/-in und gesprochener Dichtung in den Blick, sondern fokussierte die Beziehungen zwischen einer sprechkünstlerischen Äußerung und ihren Hörer/-innen sowie zwischen Hörer/-innen und Sprecher/-innen. Ähnlich wie die Theaterwissenschaft den Fokus zunehmend auf die Rezeptionsseite der Aufführung als Ereignis legte, lenkte die Sprechwissenschaft im Rahmen der Sprechwirkungsforschung bereits seit den 1970er- Jahren den Blick auf die Beziehungen zwischen Sprecher/-innen und Hörer/-innen innerhalb eines sprechkünstlerischen Kommunikationsereignisses. Merkwürdigerweise hat weder die eine noch die andere Forschungsrichtung Notiz voneinander genommen.
Während sich die Theaterwissenschaft vermehrt erst seit den 1990er Jahren mit stimmlichen und sprecherischen Phänomenen auf der Bühne auseinandersetzt, hat sich die Sprechwissenschaft immer schon mit dem Gegenstand des Sprechens und mit der Analyse akustischer Phänomene beschäftigt. Gemeinsam ist beiden Wissenschaftsgebieten, dass sie sich auf bestimmte sprach- bzw. kommunikationstheoretische Konzepte stützen, die den Anstoß für die Weiterentwicklung theoretischer Positionen innerhalb der eigenen Fachdisziplin geben.
Ausschlaggebend für die Sprechwirkungsforschung auf dem Wissenschaftsgebiet der Sprechwissenschaft war weniger die kommunikativpragmatische Wende in der Linguistik als vielmehr die Erfordernisse der Praxis, die Notwendigkeit, die Rhetorik- und Sprecherziehungsunterrichte inhaltlich und methodisch neu zu gestalten (vgl. Stock 1991, 13). Dennoch fand auch die Sprechwissenschaft für die Entwicklung einer Sprechwirkungsforschung Anregungen in der Sprachwissenschaft, die seit den 1970er Jahren ihre Aufmerksamkeit auf die Funktion von Sprache in Kommunikation und Gesellschaft richtete (vgl. ebd.). Neue Forschungsrichtungen etablierten sich, darunter die Pragmalinguistik, die Sprechakttheorie, die Textlinguistik, die Soziolinguistik und die Psycholinguistik. Die Untersuchung von Funktionen sprachlicher Mittel erforderte, dass die Hörerinnen und Hörer verstärkt in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückten, und zwar als sozial und biologisch determinierte Individuen. Problematisiert wurde das Verstehen des kommunikativen Sinns einer Äußerung und die Wirkung als Resultat dieses Verarbeitungsprozesses (vgl. ebd. 13 f.).
U. a. die Sprechakttheorie von J. L. Austin und J. R. Searle und deren Weiterentwicklung war für die Überlegungen zur Sprechwirkungsforschung von Interesse. Zum einen in Bezug auf das Bestimmen von Sprechhandlungen aus einem Situationskontext heraus, zum anderen in Bezug auf die Erörterung von Wirkungen, die eine Sprechhandlung auslöst (vgl. ebd. 15). Mit dem Entwurf ihrer Sprechakttheorie leiteten Austin und Searle zu Beginn der 1970er Jahre eine kommunikativ-pragmatische Wende ein. In den Vordergrund dieser Theorie rückte nicht mehr die Sprache als System, sondern die Sprachverwendung, in der Sprache als Handeln begriffen wurde. Fokussiert wurden die kommunikative Funktion der Sprache sowie ihre Abhängigkeit von situativen und nichtsprachlichen Faktoren (vgl. Neuber/Stock 2013, 23). Aus den Überlegungen zur Sprechakttheorie entwickelte sich u. a. das linguistische Spezialgebiet der Pragmatik, auf das auch andere Forschungsrichtungen – darunter sowohl die Sprechwissenschaft als auch die Theaterwissenschaft – Bezug nehmen.
Die Theaterwissenschaft nutzt Ansätze der Sprechakttheorie als Grundlage für die Entwicklung einer Performativitätstheorie, die jedoch erst seit den 1990er Jahren für das Fach wissenschaftlich verankert wird. Obwohl innerhalb der Theaterpraxis in den beginnenden 1960er Jahren ein neuer „Performativierungsschub“ einsetzte, der sich zunächst vor allem in der bildenden Kunst mit Formen wie „action painting“, „body art“, „land art“, in Lichtskulpturen, Videoinstallationen sowie in der Aktions- und Performancekunst ausdrückte (vgl. Fischer-Lichte 2001, 18), führte dieser innerhalb der Theaterwissenschaft nicht zu einem erneuten „performative turn“ wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Stattdessen setzte ein „semiotic turn“ ein, der einzelne kulturelle Phänomene ebenso wie ganze Kulturen als strukturierten Zusammenhang von Zeichen betrachtete, die gedeutet und verstanden werden konnten (vgl. ebd. 19).
Dieser „semiotic“ bzw. „linguistic turn“ stand u. a. im Zusammenhang mit der strukturalen Sprachwissenschaft, wie sie Ferdinand de Saussure (1857–1913) und seine Nachfolger wie die Prager Strukturalisten entworfen hatten (vgl. ebd. 10). Die Theaterwissenschaft machte sich die Ideen des Strukturalismus zunutze und begriff Kulturerzeugnisse, darunter auch Theateraufführungen, als Texte, „das heißt als strukturierte Zusammenhänge verschiedener Zeichenarten, die lesbar, verstehbar und interpretierbar sind“ (Weiler/Roselt 2017, 41).
Im Jahr 1983 erschien von Erika Fischer-Lichte die dreibändige Schrift Semiotik des Theaters (vgl. Fischer-Lichte 1983a, 1983b, 1983c), mit der sie die kultur- und geisteswissenschaftliche Theorie des Strukturalismus für das Theater übernahm (vgl. Weiler/Roselt 2017, 41). Mit Fischer-Lichtes Schrift wurde eine „theoretisch-systematische, historisch-fundierte und analytisch-methodische Grundlage gelegt, welche für Aufführungsanalysen anwendbar war“ (ebd.). Hier stand nicht im Vordergrund, „wie und wessen Informationen durch die Aufführung vermittelt werden“, sondern auf welche Weise und welche Bedeutungen durch die Aufführung hervorgebracht werden (ebd.). Die Frage nach den Produktionszusammenhängen, Wirkungsabsichten und Intentionen trat in den Hintergrund, während „die Achse zwischen den Zuschauern und der Bühne“ zum zentralen Untersuchungsgegenstand wurde (ebd.).
Die Semiotik des Theaters wurde innerhalb der Theaterwissenschaft bedeutsam für die Entwicklung der Aufführungsanalyse als einer Untersuchungsmethode, mit der Theateraufführungen wissenschaftlich analysiert und beschrieben werden konnten. Heutzutage unterscheidet man zwischen einer semiotischen und einer phänomenologischen Aufführungsanalyse. Letztere steht mit einer performativen Perspektive in Verbindung. Während die semiotische Aufführungsanalyse eine Aufführung als Text begreift, dessen Zeichen interpretiert und gedeutet werden können, fassen phänomenologische Ansätze eine Aufführung als ereignishaftes Geschehen auf, dessen Phänomene in ihrer selbstreferentiellen Funktion wahrgenommen werden. Im Zuge der performativen Wende orientierte sich die Theaterwissenschaft im Verlauf der 1990er Jahre um und richtete ihr Forschungsinteresse „auf die Auseinandersetzung mit körperlichen Handlungen und Erfahrungsweisen, die weniger hermeneutisch oder semiotisch als vielmehr phänomenologisch zu erschließen waren“ (Weiler/Roselt 2017, 43). Nicht die Zeichenhaftigkeit, sondern die sinnlichen Qualitäten des Wahrgenommenen standen nun im Vordergrund: die besondere Gestalt eines Körpers und seine Ausstrahlung, die Art und Weise, in der eine Bewegung ausgeführt wird, die Energie, mit der sie vollzogen wird, das Timbre und Volumen einer Stimme, der Rhythmus von Sprache oder Bewegungen, die Farbe und Intensität des Lichts, die Eigenart des Raums und seine Atmosphäre oder der spezifische Modus, in dem Zeit erfahren wird (vgl. Fischer-Lichte 2005a, 240).
Dies bedeutete jedoch nicht, dass das Semiotische nun völlig außer Acht gelassen wurde, aber man verstand, dass beides in einem Wechselverhältnis steht und dass es lediglich um zwei verschiedene Perspektiven auf denselben Gegenstand geht.
Während die Semiotik nach den Bedingungen der Möglichkeit für die Entstehung von Bedeutung fragt und unterschiedliche Semiosen in den Blick nimmt, stehen beim Performativen seine Fähigkeit der Wirklichkeitskonstitution, seine Selbstreferentialität (die Handlungen bedeuten das, was sie vollziehen), seine Ereignishaftigkeit und die Wirkung, die es ausübt, im Mittelpunkt des Interesses. (Fischer-Lichte 2001, 20)
Die Theaterwissenschaft hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten, ausgehend vom Verständnis einer Kultur als „Performance“ und nicht nur einer Kultur als „Text“, dieser performativen Perspektive zugewandt und begonnen, Aufführungen, Rituale, Feste, Zeremonien und kulturelle Praktiken zu erforschen. Aktuell wird diese performative Perspektive wissenschaftlich erweitert, indem nicht nur die Aufführungen derartiger kultureller Praktiken, zu denen auch die Theateraufführung gehört, in den Blick genommen werden, sondern auch ihre Herstellungsprozesse sowie Prozesse der kreativen Produktion. Denn sowohl in den Arbeitsweisen von Regisseur/-innen, Performer/-innen, Schauspieler/-innen und Theaterensembles als auch in den Arbeitsweisen einer Schauspielausbildung spiegelt sich eine bestimmte kulturelle Praxis wider.
Mit der Untersuchung von Probenprozessen im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater fokussiert die vorliegende Arbeit hauptsächlich eine performative Perspektive. Jedoch wird auch immer wieder eine semiotische Sicht eingenommen, indem nach den Dimensionen und Bedeutungen eines bestimmten Texterarbeitungsansatzes gefragt wird. Gleichzeitig finden sich beide Perspektiven in den Herangehensweisen der Theaterpraktiker/-innen wieder, deren Arbeit für diese Studie untersucht wurde. So fragt eine Probenpraxis nicht nur nach der Wirkung einer bestimmten Darstellungsform, sondern immer auch nach der Hervorbringung ihrer Bedeutung.
Die Forschungsperspektiven, welche die semiotische und die performative Wende eingeführt haben, sind also eng aufeinander bezogen und ergänzen sich gegenseitig. Zur Untersuchung kultureller Phänomene und Prozesse sind beide unerläßlich, und zwar gerade in ihrem Wechselverhältnis bzw. gegenseitigen Bedingungsverhältnis, auch wenn bestimmte Fragestellungen eine der beiden Perspektiven in besonderem Maße herausfordern oder privilegieren mögen. (Fischer-Lichte 2001, 20)
Im Folgenden soll es nun, nach diesem historischen Überblick über bestimmte Forschungsrichtungen innerhalb zweier Fachdisziplinen um eine nähere Bestimmung des Performativitätsbegriffs gehen. Meine Ausführungen basieren hauptsächlich auf den Überlegungen von Erika Fischer-Lichte zu einer Ästhetik des Performativen (vgl. Fischer-Lichte 2004) sowie zu einer Performativitätstheorie (vgl. Fischer-Lichte 2012). Ihre Ausführungen stellen eine wichtige theoretische Ausgangsbasis für die vorliegende Untersuchung dar.
Seit den 1990er Jahren tritt innerhalb kulturwissenschaftlicher Debatten neben den Begriff der „Theatralität“ der Begriff der „Performativität“. Wie Fischer-Lichte schreibt, lassen sich beide Begriffe nicht immer klar voneinander abgrenzen.
Während Theatralität sich auf den jeweils historisch und kulturell bedingten Theaterbegriff bezieht und die Inszeniertheit und demonstrative Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten fokussiert, hebt Performativität auf die Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft ab. (Fischer-Lichte 2012, 29)
In der deutschen kulturwissenschaftlichen Diskussion findet man beide Begriffe, hingegen hat sich im internationalen Kontext der Begriff des Performativen durchgesetzt (vgl. ebd.). Im Englischen ist der Begriff „theatricality“ eng an das textgestützte Schauspieltheater gebunden, was dazu geführt hat, dass die Begriffe „theatricality“ und „performativity“ sowie „theatre“ und „performance“ eher als Gegensätze begriffen werden. Fischer-Lichte bezieht sich auf Féral (vgl. Féral 1982, 170 ff.), der dem Theater „Repräsentation, Narrativität, Schließung, die Konstruktion von Subjekten in physikalischen und psychologischen Räumen, die Sphäre kodifizierter Strukturen und Zeichenhaftigkeit“ zuschreibt (Fischer-Lichte 2012, 29). Hingegen löst die Performance Kompetenzen, Kodes und Strukturen des Theatralen auf bzw. dekonstruiert diese (vgl. ebd.).
Der Performativitätsbegriff wurde insbesondere durch die Arbeiten des von Erika Fischer-Lichte geleiteten Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Freien Universität Berlin (1999–2010) in die deutschsprachige wissenschaftliche Diskussion eingebracht. Er bezieht sich, ebenso wie der sprachwissenschaftlich geprägte Begriff der „Performanz“, auf das wirksame Ausführen von Sprechakten, darüber hinaus auf die materiale Verkörperung von Bedeutungen und auf das inszenierende Aufführen von theatralen, rituellen und anderen Handlungen (vgl. Fischer-Lichte 2005a, 234). Mit „Performativität“ wird das Konzept bezeichnet, mit dem das Performative als kulturwissenschaftliche Grundkategorie systematisch untersucht wird (vgl. ebd.). Der Begriff des „Performativen“ bezeichnet die Eigenschaft kultureller Handlungen, selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend zu sein (vgl. ebd.). Er meint den Aufführungscharakter von Handlungen, d. h. die theatrale Dimension menschlichen Handelns (vgl. ebd. 238) und stützt sich somit auf den Begriff der „Performance“ als „Aufführung“.
Der dem Englischen entlehnte Begriff „Performance“ besitzt unterschiedliche Bedeutungen, die von „Ausführung oder Darstellung über Aufführung (Theater, Tanz, Oper) oder Vorführung (Film) bis hin zu Leistung, Kompetenz oder Entwicklung (etwa von Aktienkursen) reichen“ (Umathum 2005, 231). Im Kontext der deutschsprachigen Kultur- und Theaterwissenschaft wird der Begriff „Performance“ in einem engeren Sinne als Kennzeichen für Produktionen der Performancekunst oder als Synonym für den Begriff der Aufführung (vgl. S. 35 ff.) verwendet (vgl. Umathum 2005, 234).
Den Begriff „performativ“ prägte der Sprachphilosoph John L. Austin, der ihn vom Verb „to perform“ ableitete, was so viel bedeutet wie „vollziehen“, „man vollzieht Handlungen“ (vgl. Fischer-Lichte 2004, 31). Austin beschrieb mit diesem Begriff Äußerungen, die nicht nur einen Sachverhalt beschreiben oder eine Tatsache behaupten, sondern mit denen Handlungen vollzogen werden, die einen neuen Sachverhalt schaffen (vgl. ebd. 31 f.). Performative Äußerungen sind demnach „selbstreferentiell, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen“ (ebd. 32). Sie sind in der Lage, Transformationen zu bewirken (vgl. ebd.). Austin, der die Grundgedanken seiner Sprechakttheorie 1955 unter dem Titel How to do things with words publizierte, entwickelte seine Theorie später weiter und ging davon aus, dass Sprechen immer als Handeln zu verstehen ist. Er teilte sprachliche Äußerungen in lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Akte ein (vgl. Fischer-Lichte 2004, 33). Der lokutionäre Akt bezieht sich auf die komplexe Einheit aus lautlicher, grammatikalischer und semantischer Struktur einer sprachlichen Äußerung, der illokutionäre Akt auf die Ausrichtung auf ein kommunikatives Ziel hin und der perlokutionäre Akt bezieht sich auf die Wirkungen von Lokution und Illokution (vgl. Hirschfeld et al. 2008, 775). Damit legte Austin die Grundlage für ein Verständnis, das sprachliche Äußerungen als situationsabhängige, motivationsgebundene und zielorientierte Sprechhandlungen begreift, die eine bestimmte Wirkung erzielen.
In den Kultur- bzw. Theaterwissenschaften erlangte der Begriff des Performativen erst in den 1990er Jahren Beachtung, während in der Sprechwissenschaft schon lange Zeit vom Sprechen als Handeln ausgegangen wurde und Austin mit seiner Sprechakttheorie zu den Grundlagen des theoretischen Fachverständnisses zählte. Jedoch wurde der Begriff, insbesondere im Rahmen sprechkunsttheoretischer Betrachtungen nicht angewandt. Auch hier ging man eher vom Werkbegriff aus, so auch von der sprechkünstlerischen Äußerung als „Sprachkunstwerk“, die den rationalen und emotionalen Gehalt einer Dichtung, eines „literarischen Werks“ vermitteln sollte.
In methodischer Hinsicht wurde und wird das Sprechen eines Schauspielers bzw. einer Schauspielerin auf der Theaterbühne im Sinne eines „gestischen Sprechens“ ebenfalls als Handlung begriffen. Der gestischen Äußerung auf der Bühne liegt also ein performatives Begriffsverständnis zugrunde. Dieses performative Begriffsverständnis von Sprechen als Handeln wurde jedoch von Austin für das Theater, das Sprache nur zitathaft gebraucht, infrage gestellt. Er sprach von einem „parasitären Gebrauch performativer Äußerungen“ (Wirth 2004, 18), die zu einer Einklammerung der illokutionären Kraft bzw. einer illokutionären Entkräftung führe (vgl. ebd. 19). Austin ging von der Annahme aus, dass im „Normalfall“ das Gelingen performativer Äußerungen an das Wirken „illokutionärer Kräfte“ gekoppelt ist (vgl. ebd. 18). Wird ein performativer Sprechakt auf der Bühne vollzogen, so erzielt er laut den Aussagen von Austin keine Wirkung. „Ein auf der Bühne gegebenes Heiratsversprechen bleibt in der Alltagswelt – etwa bei der Steuererklärung – folgenlos. Diese pragmatische Folgenlosigkeit bezeichnet Austin als ‚unernsten‘ respektive ‚parasitären‘ Gebrauch von Sprache.“ (Wirth 2012, 82)
Diese Aussagen wurden von der Sprachphilosophie kritisch hinterfragt, so z. B. von Jacques Derrida, der mit der Metapher der „Aufpfropfung“ Austins Auffassung von einem „parasitären Gebrauch“ performativer Äußerungen ein Gegenmodell gegenüberstellte. Während Austin das Zitieren als einen parasitären Gebrauch performativer Äußerungen bezeichnete, behauptete Derrida, „dass gesprochene oder geschriebene Zeichen überhaupt nur dann funktionieren können, wenn sie ‚wiederholbar‘ sind, und das heißt für ihn: wenn sie dem Gesetz der allgemeinen Iterabilität respektive der allgemeinen Zitathaftigkeit gehorchen“ (Wirth 2012, 83). Unter „Iterabilität“ versteht Derrida zum einen, dass jedes Zeichen wiederholbar sein muss, damit es als Zeichen identifiziert werden kann, zum anderen, dass jedes Zeichen zitiert werden kann und mit jedem gegebenen Kontext brechen und unendlich viele neue Kontexte zeugen kann (vgl. Wirth 2004, 19).
Derrida ging davon aus, dass jedes Zeichen, „sprachlich oder nicht, gesprochen oder geschrieben“, zitiert, d. h. in Anführungszeichen gesetzt werden kann (vgl. Derrida 2001, 32 zit. nach Wirth 2012, 79). Er beschreibt das Zitieren als eine „Bewegung des Herausnehmens aus einem Kontext und Einfügens in einen anderen Kontext“ (vgl. Wirth 2012, 79). Für diesen Vorgang verwendet er die Metapher der „Aufpfropfung“ und nutzt damit einen Begriff, der eigentlich der Gartenkunde entspringt. Hier besteht ein Pfropfvorgang darin,
dass man Teile von zwei Pflanzen verletzt und dann so zusammenfügt, dass sie miteinander verheilen. Der eine Teil wird als Unterlage bezeichnet. Er ist eine Art Gastgeber, der im Boden wurzelt und den anderen Teil, den Reis, mit Nährstoffen versorgt. (Allen 1980, 62 zit. nach Wirth 2012, 85)
Derrida dient die Metapher des Aufpfropfens für die Kennzeichnung der allgemeinen Zitathaftigkeit der Sprache, die jedoch nicht zu einer „Entkräftung des Stammes, sondern zu einer Potenzierung der Wachstumskräfte, die Stamm und Pfropfreis miteinander verbinden“, führt (Wirth 2012, 85). Dabei stiftet die Aufpfropfung als das Zitieren sprachlicher Zeichen eine neue Einheit zwischen zwei Zeichenkörpern (vgl. ebd. 86).
Während Austins Sprechakttheorie davon ausgeht, dass der Vorgang des Zitierens zu einem illokutionären Kraftverlust von Äußerungen führt, dass das Zitieren eine parasitäre Form der Zeichenverwendung ist, wird die Pfropfung bei Derrida zur Metapher einer Bewegungsfigur, die gerade durch die rekontextualisierenden Akte des Herausnehmens und Einfügens von Zeichenkörpern die Zirkulation kommunikativer Kräfte in Gang hält respektive überhaupt herstellt. (ebd.)
Das Zitieren vollzieht einen Bruch mit dem Kontext, „um anschließend Wiedereinschreibungen in andere syntaktische Ketten, aber auch andere Assoziationskontexte vorzunehmen“ (ebd. 97). Dieser „Bruch mit dem Kontext“ bzw. das Herstellen neuer kontextueller Bezüge vollzieht sich im zeitgenössischen Theater im Rahmen eines speziellen Umgangs mit Texten und gesprochener Sprache, die mit Techniken der Dekonstruktion, des Zerschneidens und Neuzusammensetzens, der Collage und Montage in Verbindung stehen. Er bringt sprachliche Äußerungen hervor, die als „performativ“ zu bezeichnen sind, insofern sie auch und gerade in einem zitathaften Gebrauch neue Wirklichkeiten und neue Kontexte hervorbringen.
Sowohl Austins Vorstellung von einem „parasitären Gebrauch performativer Äußerungen“ als auch Derridas Metapher der „Aufpfropfung“ führen uns zu einem vertieften Verständnis dessen, was innerhalb dieser Studie unter dem Begriff „performativ“ verstanden werden soll. Derridas Aufpfropfungsmodell nivelliert die Differenz zwischen Original und Kopie (vgl. Wirth 2004, 21), bezogen auf gesprochene Sprache auf der Bühne könnte man auch sagen, zwischen Dichtung und sprechkünstlerischer Äußerung. Ähnlich wie die Aufpfropfung ein neues Drittes entstehen lässt, bringt auch das Sprechen auf der Bühne, das nicht lediglich auf Abbildung und die Vermittlung eines dem literarischen Werk immanenten Sinns abzielt, etwas Neues, Eigenschöpferisches hervor. Dabei führt auch das offensichtliche Zitieren von Texten zu einer Neukontextualisierung, die den performativen Charakter sprachlicher Äußerungen kennzeichnet.
Dennoch sind performative Äußerungen als Sprechhandlungen auch im Theater an die „illokutionäre Kraft“ und deren Wirkung gebunden. Als performativ kann eine Äußerung im Theater bzw. im Rahmen sprechkünstlerischer Kommunikationsprozesse nur dann gelten, wenn sie tatsächlich eine Wirkung erzielt bzw. eine Wirklichkeit herstellt. Eine solche Äußerung ist im Theater an das Erleben des Schauspielers bzw. der Schauspielerin auf der Bühne gebunden sowie an das Gelingen der Kommunikation innerhalb eines Aufführungsereignisses. Für die Schauspielausbildung eröffnet sich mit dem Begriff des Performativen zugleich ein Qualitätskriterium. Erst wenn es gelingt, eine körperliche und/oder sprachliche Handlung zu kreieren, die es vermag, eine Wirklichkeit zwischen den an einer Aufführung oder einer Probe Beteiligten herzustellen und diese in einen Zustand der Transformation zu versetzen, kann von einer performativen Handlung gesprochen werden. Welche Bedingungen hergestellt werden müssen, damit eine Sprechhandlung innerhalb sprechkünstlerischer Prozesse tatsächlich performativ wirkt, wird im empirischen Teil dieser Studie untersucht.
Der Begriff „performativ“ lässt sich, wie Fischer-Lichte schreibt, nicht nur auf Sprechhandlungen beziehen, sondern auch auf körperliche Handlungen (vgl. Fischer-Lichte 2004, 34). So führte Judith Butler den Begriff des Performativen, ohne sich auf Austin zu beziehen, in die Kulturphilosophie ein. Butler geht davon aus, dass „Geschlechtsidentität (gender) – wie Identität überhaupt – nicht vorgängig, d. h. ontologisch oder biologisch gegeben ist, sondern das Ergebnis spezifischer kultureller Konstitutionsleistungen darstellt“ (ebd. 37). Sie versteht den Begriff des Performativen als Gegensatz zum Begriff der Expressivität, denn Handlungen, die als performativ bezeichnet werden, „bringen keine vorgängig gegebene Identität zum Ausdruck, vielmehr bringen sie Identität als ihre Bedeutung allererst hervor“ (ebd.). Darüber hinaus wurde der Begriff auf ästhetische bzw. kulturelle Prozesse insgesamt übertragen und beispielsweise die Aufführung (u. a. im Theater) als performativer Prozess definiert. Das Anliegen der vorliegenden Studie ist es nun, den Begriff auch auf Kreationsprozesse zu übertragen und ihn für Texterarbeitungsansätze anwendbar zu machen.
Meine Untersuchung geht nicht primär von Aufführungen aus, sondern von der Beobachtung und Analyse mehrerer Probenprozesse. Verschiedene Verfahren der Texterarbeitung werden in ihrem Entstehungskontext während der Proben beleuchtet. Im Zentrum steht der performative Umgang mit Texten und gesprochener Sprache, der sich innerhalb verschiedener Verfahren der drei beobachteten Probenprozesse widerspiegelt und beschrieben werden soll. „Performativ“ ist hierbei nicht gleichzusetzen mit „Performance“, heißt also nicht lediglich, dass die Texte zur Aufführung gebracht werden, d. h., körperlich sowie sprecherisch-stimmlich handelnd im Raum vollzogen und von einem Publikum wahrgenommen werden. Der Begriff „performativ“ soll in Anlehnung an Fischer-Lichte bestimmte symbolische Handlungen bezeichnen, „die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen“ (Fischer-Lichte 2012, 44). Um zu bestimmen, was unter einem performativen Umgang mit Texten und gesprochener Sprache zu verstehen ist, sei im Folgenden dennoch auf den Begriff der Aufführung eingegangen, auf den sich das theoretisch-terminologische Verständnis des Performativen im theaterwissenschaftlichen Kontext stützt.
Fischer-Lichte fundiert eine „Ästhetik des Performativen“ im Begriff der Aufführung. Traditionell diente die Aufführung im theaterwissenschaftlichen Verständnis als „Übermittlung von Bedeutungen, die der Text generiert, und in diesem Sinne als Verwirklichung einer bestimmten Lesart des Textes“ (Fischer-Lichte 2005a, 239). Die im Text bzw. Drama vorgegebenen Bedeutungen sollten durch die Aufführung zum Ausdruck gebracht werden (vgl. ebd.). Diese werkzentrierte Vorstellung wurde im Zuge postdramatischer Strömungen innerhalb der Theaterpraxis sowie im Zuge der performativen Wende zunehmend problematisiert. Die Rolle der Zuschauerinnen und Zuschauer wurde neu reflektiert, ihre Aktivität nicht nur als Tätigkeit der Einbildungskraft begriffen, sondern als leiblicher Vorgang (vgl. Fischer-Lichte 2012, 20). Die Aufmerksamkeit wurde weniger darauf gelegt, „dass der Zuschauer bestimmte ihm durch die Darsteller übermittelte Bedeutungen versteht, wie die vom Schauspieler dargestellten Motive, Gedanken, Gefühle, seelischen Zustände einer dramatischen Figur“, vielmehr wurde das „Miterleben der wirklichen Körper und des wirklichen Raumes“ fokussiert, das, „was sich zwischen Darstellern und Zuschauern ereignet“ (ebd.). Mit dieser Neubestimmung des Verhältnisses von Darstellen und Zuschauen wurde die Aufführung als ein Prozess bestimmt, „der aus dem gemeinsamen ‚Spiel‘ von Akteuren und Zuschauern, aus ihrer Interaktion hervorgeht“ (ebd. 21).
Eine Aufführung wird heutzutage als Ereignis bestimmt, das durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteur/-innen und Zuschauer/-innen, durch die performative Hervorbringung von Materialität sowie durch die Emergenz von Bedeutungen charakterisiert ist. Dem Werkbegriff wird mit der Aufführung der Ereignisbegriff gegenübergestellt (vgl. Fischer-Lichte 2004, 55). Laut Weiler/Roselt kann die Aufführung als „einmaliges, vorübergehendes und nicht wiederholbares Geschehen gelten, das zwischen den Teilnehmenden spezifische Wahrnehmungssituationen schafft, die im Moment ihres Vollzugs erfahrbar werden“ (Weiler/Roselt 2017, 45). Die Aufführung gilt als performativ, weil sie „durch die Begegnung von Akteuren und Zuschauern hier und jetzt Gegenwart erzeugt“, und „die so erzeugte Gegenwart nicht darauf reduziert werden kann, anderweitige Wirklichkeiten zu repräsentieren“ (ebd. 46). Der Aufführung wohnen demnach zwei performative Charakteristika inne: Sie ist wirklichkeitskonstituierend und selbstreferentiell. Dabei muss zwischen dem Begriff der Aufführung und dem der Inszenierung unterschieden werden.
Während unter den Begriff der Inszenierung alle Strategien gefasst werden, die vorab Zeitpunkt, Dauer, Art und Weise des Erscheinens von Menschen, Dingen und Lauten im Raum festlegen, fällt unter den Begriff der Aufführung alles, was in ihrem Verlauf in Erscheinung tritt – also das Gesamt der Wechselwirkungen von Handlungen und Verhalten zwischen allen Beteiligten. (Fischer-Lichte 2012, 56)
Die Inszenierung lässt sich als ein Verfahren bestimmen und beschreiben, das spezifische Strategien zur Erregung und Lenkung von Aufmerksamkeit entwirft (vgl. Fischer-Lichte 2004, 330). Die Theaterwissenschaft hat in den vergangenen Jahren vielfältige Inszenierungsverfahren untersucht, darunter auch Strategien der Inszenierung von „Stimmlichkeit“. Die Untersuchungen gehen dabei meist von der Aufführung aus und analysieren diese hinsichtlich verschiedener Inszenierungsstrategien. Dabei wurden kaum die Prozesse des Inszenierens selbst, also die Probenarbeiten der an einer Inszenierung Beteiligten ins Blickfeld genommen. Diese Lücke beginnt sich nun auf wissenschaftlicher Ebene zu schließen. Insbesondere die Arbeiten von Jens Roselt und Annemarie Matzke am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim widmen sich seit jüngster Zeit dem Gebiet der Probenprozessforschung. Eine geeignete Untersuchungsmethodologie muss hierfür erst erarbeitet werden. Erwähnt sei bereits an dieser Stelle, dass sich die vorliegende Untersuchung im Rahmen ihrer Probenprozessanalyse sowohl auf methodische Aspekte der Aufführungsanalyse als auch der Inszenierungsanalyse stützt. Inszenierungsanalytische Kriterien dienen dabei der Untersuchung und Beschreibung von Strategien der Textbehandlung. Dies beinhaltet auch eine auditive Analyse, die eine differenzierte Beschreibung von Sprechweisen ermöglicht. Dennoch spielen auch aufführungsanalytische Kriterien eine Rolle, denn auch eine Probe ereignet sich zwischen Akteur/-innen auf der Probebühne und denen, die den Akteur/-innen beim Proben zuschauen bzw. ihre Handlungen auf der Bühne direkt beeinflussen.
Eine Aufführung wird weiterhin durch ihre Materialität bestimmt, d. h. durch eine je spezifische Räumlichkeit, Körperlichkeit und Lautlichkeit. Auch darin zeigt sich der performative Charakter einer Aufführung. Zudem führt Fischer-Lichte die Emergenz, d. h. die Unvorhersehbarkeit sowie die Ambivalenz von Tun und Nicht-Tun, von Zerstören und Erschaffen, von Destruktion und Kreation als Eigenschaften auf, die dem Performativen innewohnen (vgl. Fischer-Lichte 2012, 76 ff.). Wie sich im empirischen Teil dieser Arbeit zeigen wird, treten diese Eigenschaften auch im Rahmen eines performativen Umgangs mit Texten und gesprochener Sprache zutage.