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Philipp Felsch

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Beschreibung

Das intellektuelle Gesicht einer Epoche Solange Philipp Felsch zurückdenken kann, war Jürgen Habermas around: als mahnende Stimme der Vernunft, als Stichwortgeber der Erinnerungskultur, als Sohn der Nachbarn seiner Großeltern in Gummersbach. Neigt sich die intellektuelle Lufthoheit des Philosophen heute ihrem Ende zu, oder bekommen seine Ideen in der Krise unserer »Zeitenwende« neue Brisanz? Felsch liest in einem kaum zu überblickenden Oeuvre nach, folgt dessen Autor in die intellektuelle Kampfzone der Bundesrepublik und fährt nach Starnberg, um Habermas zum Tee zu treffen. Dabei entsteht nicht nur das Porträt eines faszinierend widersprüchlichen Denkers, sondern auch der Epoche, der er sein Gesicht verliehen hat.

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Der Philosoph

Philipp Felsch, geboren 1972, ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Studium las er lieber die Bücher von Michel Foucault und Niklas Luhmann als den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Sein Buch Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960–1990 (2015) wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, zuletzt erschien Wie Nietzsche aus der Kälte kam (2022).

Solange Philipp Felsch zurückdenken kann, war Jürgen Habermas around: als mahnende Stimme der Vernunft, als Stichwortgeber der Erinnerungskultur, als Sohn der Nachbarn seiner Großeltern in Gummersbach. Neigt sich die intellektuelle Lufthoheit des Philosophen heute ihrem Ende zu, oder bekommen seine Ideen in der Krise unserer »Zeitenwende« neue Brisanz? Felsch liest in einem kaum zu überblickenden Oeuvre nach, folgt dessen Autor in die intellektuelle Kampfzone der Bundesrepublik und fährt nach Starnberg, um Habermas zum Tee zu treffen. Dabei entsteht nicht nur das Porträt eines faszinierend widersprüchlichen Denkers, sondern auch der Epoche, der er sein Gesicht verliehen hat.»Philipp Felschs Rekonstruktion eröffnet einen lesenswerten diskursiven Blick auf die Seinsgebundenheit des einflussreichsten Philosophen der Bundesrepublik.« Armin Nassehi

Philipp Felsch

Der Philosoph

Habermas und wir

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

www.propylaeen-verlag.de

 ISBN 978-3-8437-3175-1

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Alle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Lektorat: Christian SeegerUmschlaggestaltung: Grafik-Design Büro Morian & Bayer-EynckUmschlagabbildung: © Gorka Lejarcegi. / Ediciones EL PAÌS, S.L.Autorenfoto: Jan SingleE-Book powered by pepyrus

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Ein Nachmittag in Starnberg

In der verkehrten Welt

Täter und Opfer

Abschied vom Tiefsinn

Das Bewusstsein der Gegenwart

The center does not hold

Spießrutenlaufen in Frankfurt

Raketenwissenschaft für eine bessere Gesellschaft

Was wir unterstellen müssen

Der Makel des Mündlichen

Unheimliches Deutschland

Theorie des Sinnverlusts

Musste das sein?

Taxonomie der Gegenaufklärung

Distanz und Thymos

J’accuse

Zurück aus der Zukunft

Geschichte und Gedächtnis

Die Stunde der postnationalen Empfindung

Primat der Weltinnenpolitik

Vom Krieg

Der Denker der universellen Provinz

Dank

Literaturverzeichnis

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Ein Nachmittag in Starnberg

Ein Nachmittag in Starnberg

In den vierzig Minuten, die die Fahrt vom Münchner Hauptbahnhof gedauert hat, scheine ich nach Long Island gelangt zu sein. Der modernistische Bungalow, der einen bewaldeten Abhang überblickt, würde besser in die Hamptons als nach Oberbayern passen; in seinen Chinos und fabrikneuen Reeboks kommt mir der Hausherr an der Tür wie ein Amerikaner vor.

Trotz seines Alters macht Jürgen Habermas einen schlanken, beweglichen Eindruck. Ich kann nicht verhehlen, dass ich ihm mit Ehrfurcht gegenübertrete. Der Mann in Sneakers hat Adorno nahegestanden, in New York mit Hannah Arendt und in Paris mit Michel Foucault diskutiert – und ist selbst der Verfasser eines monumentalen philosophischen Werks. Und nicht nur das: Auch jetzt noch, siebzig Jahre nachdem er Anfang der 1950er-Jahre die Bühne der deutschen Öffentlichkeit betrat, scheint er in allen Debatten präsent zu sein. Mit seinen vergangenheitspolitischen Positionen prägt er bis heute die deutsche Erinnerungskultur. Egal, ob er sich zu den digitalen Medien, zum Ukrainekrieg oder zur Krise im Nahen Osten äußert – der landesweiten, selbst internationalen Aufmerksamkeit kann er sich noch immer sicher sein. Mit über neunzig! Wäre Foucault so alt geworden, er hätte die Wahl von Donald Trump gedeutet, Hannah Arendt hätte Nine Eleven und Adorno das Golden Goal von Oliver Bierhoff bei der Europameisterschaft von 1996 kommentiert. Trotz seines Status als uralter weißer Mann scheint an Habermas noch immer kein Weg vorbeizuführen. Es ist, als laufe unsere »Zeitenwende«, der verstörende Bruch mit lang gehegten Überzeugungen, auf eine Wiedervorlage seines Werks hinaus.

Solange ich zurückdenken kann, war Habermas around – aber als jemand, den ich eher pflichtschuldig zur Kenntnis nahm und dessen Ideen ich zumeist aus zweiter Hand und am liebsten aus der Perspektive seiner Gegner rezipierte. Das kommt mir heute wie ein Versäumnis vor. Ist er nicht auch in meiner eigenen intellektuellen Entwicklung ein unvermeidlicher Bezugspunkt gewesen? Hat er nicht, wie kaum ein anderer, die politischen Debatten der alten Bundesrepublik geprägt? Was bedeutet das Ende der Welt von gestern für sein Vermächtnis? Wird dieses Land ohne ihn ein anderes sein?

Auf meine schriftliche Anfrage, ob es möglich sei, ihn zu sprechen, hatte er, von dem es heißt, er würde kaum noch Besucher empfangen, sofort geantwortet und mich nach Starnberg eingeladen. Da er keine Reisen mehr unternehme, richte er sich, was den Termin angehe, gern nach mir. An diesem Freitagnachmittag Anfang Juni 2022 ist es in Bayern fast schon hochsommerlich heiß. Die gemeinsame Suche nach einer Vase für die Blumen, die ich am Bahnhof gekauft habe, hilft über meine anfängliche Befangenheit hinweg. Während er Tee zubereitet, entschuldigt sich Habermas dafür, dass der Marmorkuchen, den er für unser Treffen besorgt hat, zu dick geschnitten sei.

Der merkwürdige Klang seines Namens ist mir seit meiner Kindheit vertraut. Familie Habermas wohnte schräg gegenüber von meinen Gummersbacher Großeltern, dort, wo die Wohnblocks aus den 1950er-Jahren in eine Siedlung von Einfamilienhäusern mit großzügigen Gärten übergingen. Der Name gehörte zum Wortschatz unserer Gummersbach-Besuche – genau wie die »Bergmanns«, zu denen meine Großeltern zum Fernsehen gingen, bevor sie sich ein eigenes Gerät leisten konnten, wie »Adamek«, die Edeka-Filiale um die Ecke, oder wie der »Magerquark«, den sich mein magenleidender Großvater anstelle von Butter aufs Brot strich. Auch zu den Habermasens gab es losen nachbarschaftlichen Kontakt. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter die alte Frau Habermas, deren Mann in den frühen 1970er-Jahren gestorben war, manchmal zum Kaffeetrinken besuchte und bei einer dieser Gelegenheiten – ich glaube, es war eine Geburtstagsfeier – auch deren berühmtem Sohn begegnete.

Auf meine Gummersbacher Reminiszenzen reagiert Habermas reserviert – fast scheint er unangenehm berührt zu sein. Gleich nach dem Abitur habe er die Stadt verlassen; da seine Eltern erst in den 1950er-Jahren in das Haus am Hepel gezogen seien, habe er es nur als sporadischer Besucher kennengelernt. Das distanzierte Verhältnis zur Familie scheint eine allgemeine Eigenschaft westdeutscher Nachkriegsgenerationen gewesen zu sein. Inzwischen hat er mich ins Wohnzimmer geführt, und wir haben in der in hellen Schurwolle-Tönen gehaltenen Couchecke Platz genommen, die als »kommunikatives Epizentrum« des Hauses Habermas längst in die Ikonografie der bundesrepublikanischen Geistesgeschichte eingegangen ist. Auf diesem Sofa, unter den abstrakten Farbflächen eines nach Theodor W. Adorno »Tagtraum Wiesengrund« benannten Gemäldes von Günter Fruhtrunk, das ein ahnungsloser Kritiker in den 1970er-Jahren für eine Landschaftsdarstellung hielt, hat sich der Philosoph der Verständigungsverhältnisse mindestens ebenso häufig wie vor der obligaten Bücherwand fotografieren lassen. Hier haben viele Geistesgrößen, Künstler und prominente Politiker, darunter die halbe Führungsriege der SPD, Herbert Marcuse und Wolf Biermann, mit ihm diskutiert – ein Umstand, der mich das Unprätentiöse der Atmosphäre umso stärker empfinden lässt. Ich male mir aus, mit welchem Zeremoniell ein Besuch bei Jacques Derrida, Umberto Eco oder Peter Sloterdijk verbunden gewesen wäre. Bei Habermas atmet jedenfalls alles gepflegte Normalität. Nach einer Weile gesellt sich seine Frau zu uns. Mit dem nur schwach vernehmbaren oberbergischen Akzent ihres Mannes im Ohr, bei Tee und Marmorkuchen, erlebe ich die zweite Epiphanie dieses Nachmittags: Bei meiner Ankunft war mir Habermas als Amerikaner erschienen; jetzt habe ich für einen Moment das Déjà-vu, bei meinen Großeltern in Gummersbach zu Besuch zu sein.[1]

Freilich wurde das Wohnzimmer meiner Großeltern von Genrebildern in Öl und den dunklen Brauntönen des Gelsenkirchener Barock dominiert. Hier herrscht dagegen die helle Sachlichkeit der Nachkriegsmoderne vor – wenn auch durch die bequeme Sitzgruppe und vereinzelte Antiquitäten ihrer allzu strengen Linien beraubt. Im Neubau an der Ausfallstraße zu wohnen, um sich der brutalen Unwirtlichkeit der wiederaufgebauten Städte auszusetzen, hatte für die Avantgarde der Kritischen Theorie in den 1960er-Jahren noch zur Kultivierung des richtigen Bewusstseins gehört. Dass Habermas sich hier, in diesem Idyll, Anfang der 1970er-Jahre den Traum vom Eigenheim erfüllte, erschien seinen Zeitgenossen auch deshalb als symbolischer Akt, mit dem eine Ära zu Ende ging. »Stil ist gelebte Haltung«, hatte er mit Blick auf Heidegger formuliert, der 1966 in seiner Schwarzwaldhütte eine Fotografin zur Homestory empfing. Zehn Jahre später ließ er sich seinerseits von Barbara Klemm in seinem Bungalow porträtieren. Schlug damals die Stunde der Einfamilienhausphilosophie? »Von Haus zu Haus« pflegte Habermas seine Briefe seit den 1970er-Jahren zu verschicken – an Martin Walser, an Niklas Luhmann, an Freunde und Kollegen, die in anderen Winkeln der Bundesrepublik in ihren Einfamilienhäusern saßen. War diese Wohnform die einzig angemessene Behausung für die Dichter und Denker eines Landes, das den historischen Gegensatz von Metropole und Provinz in seinen Neubaugürteln eingeebnet hat?[2]

Während ich mich beeile, das Gespräch von Gummersbach und meinen Großeltern wegzulenken, um endlich zu meinen eigentlichen Fragen zu kommen, wird die Szene durch das gedämpfte Brummen eines Rasenmähers gestört. Wer in der Zeit, bevor die Leaf Blower kamen, aufgewachsen ist, verbindet mit diesem Geräusch unweigerlich die Atmosphäre träger, ereignisloser Sommernachmittage. Wie der Geschmack der berühmten Madeleine, die Proust in seinen Tee getaucht hatte, lässt es meine Beobachtungen der vergangenen Stunde schlagartig zu einem Gesamteindruck verschmelzen. In den 1990er-Jahren, nach der Wiedervereinigung, als viele seiner Kollegen in Fantasien von Deutschlands neuer Weltgeltung schwelgten, hatte Habermas darauf beharrt, auch in Zukunft der Bürger eines »universell-provinziellen Landes« sein zu wollen.[3] Hier, in seinem nüchtern-behaglichen Wohnzimmer, gewinnt diese Formulierung plötzlich eine unmittelbare Evidenz: Die Mischung aus Weltläufigkeit und Provinzialität, aus Hamptons und Gummersbach, die Konstellation aus Rasenmäher, Mid-Century und Marmorkuchen, gibt ihre geheime Bedeutung zu erkennen – sie ist ein Sinnbild der alten Bundesrepublik.

Dass ich einmal bei Habermas im Wohnzimmer sitzen würde, hätte ich niemals für möglich gehalten. In den 1990er-Jahren, als mir sein Name während meines Studiums zum zweiten Mal begegnete, waren die Fronten klar abgesteckt: Habermas hatte meine damaligen Lieblingsautoren, die französischen Philosophen, als »Jungkonservative« bezeichnet und an die Seite von Leuten wie Arnold Gehlen und Helmut Kohl gestellt – ein Affront, den ihm die Franzosen teils mit Empörung und teils mit Desinteresse vergolten hatten. Bei einem frostigen Abendessen im Frühjahr 1983, als Habermas in Paris am Collège de France unterrichtete, soll Michel Foucault ihn mit charakteristischem Haifischlächeln gefragt haben, ob er ihn für einen Anarchisten halte. Eine positive Antwort hätte er, Ulrich Raulff zufolge, wohl »als Kompliment genommen«. Ich meinerseits hielt Habermas für einen Denker der Haupt- und Staatsaktionen, für mein existenzialistisches Politikverständnis hoffnungslos auf das Gefüge unserer Institutionen und deren Legitimität fixiert. Gilles Deleuzes böses Wort von den »Bürokraten der reinen Vernunft«, den professoralen Verwaltern des Denkens, schien geradewegs auf ihn gemünzt zu sein. Im Byzantinismus seiner Theoriearchitektur sollten das Wahre und das Gute (wenn auch nicht unbedingt das Schöne) – so wie bei Hegel – noch einmal zusammenkommen. Aber wenn schon akademisch, dann lieber im Stil seines innerdeutschen Antipoden Luhmann, der – ohne Verständnis für »nette, hilfsbereite« Theorien mit »Heilungsinteresse« – für ein böseres, härteres Denken stand und im Vergleich zu dessen abgründiger Lakonie die Anflüge von Selbstironie, die sich Habermas hin und wieder erlaubte, schlicht altväterlich wirkten. »Am Ende gewinnt Luhmann« – so hatte es der Luhmann-Anhänger Norbert Bolz nach der Jahrtausendwende gesagt.[4]

Ich habe ihn mir spröder, umständlicher, mandarinhafter vorgestellt. Im Lauf unserer Unterhaltung lehnt er sich mit übereinandergeschlagenen Beinen so weit in seinem Sofa zurück, dass sein linker Sneaker beinah auf Augenhöhe zu liegen kommt. Das Charisma, das er im Gespräch entfaltet, war mir weder aus seinen Büchern noch von seinen öffentlichen Auftritten bekannt. Wie ich inzwischen weiß, haben andere vor mir diese Erfahrung gemacht: Zahlreich die Anekdoten, in denen sich Habermas, der vermeintliche Bürokrat der reinen Vernunft, als zugewandtes, großzügiges, geistreiches Gegenüber erweist. Anfang der 1960er-Jahre, als seine Karriere Fahrt aufnahm, muss seine schnörkellose, fast saloppe Art von einer unwiderstehlichen Modernität gewesen sein. Der Judaist Jacob Taubes, der mit ihm zusammen Berater des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld war, hielt ihn für den »hellsten Intellekt der Generation«. Seinem Freund Karl Heinz Bohrer zufolge verkörperte er etwas »einmalig Neues«, nämlich »den Einbruch des Intellektuellen in die Universität«, in der damals noch die Ordinarien alter Schule den Ton angaben: »Witzig und ernst zugleich, temperamentvoll und streng in Einem. Und: er hatte enormen Stil in seiner partiell frustrierend schwierigen Diktion.« Noch die Redakteure der linksalternativen tageszeitung, die ihn, nicht ohne »Bammel vor der Autorität« zu verspüren, 1980 in Starnberg besuchten, fanden ihn »schlank, beweglich, sehr freundlich« – einen Eindruck, den ich vier Jahrzehnte später bestätigen kann.[5]

Allerdings fremdelte die taz-Delegation dann doch mit seinem bürgerlichen Habitus. Überhaupt änderte sich in den 1980er-Jahren der Ton gegenüber Habermas: Während er außerhalb der Linken konsensfähiger wurde und mit dem hessischen Umweltminister Joschka Fischer ab 1986 in einem informellen Gesprächskreis zusammentraf, gewannen im intellektuellen Milieu und unter Studenten die Vorbehalte, die meine Altersgenossen und ich noch in den 1990er-Jahren hegten, die Oberhand. Im gleichen Atemzug warf man ihm nun vor, das Erbe der Kritischen Theorie verraten zu haben und ein unorigineller Denker zu sein, der Ideen aus zweiter Hand zusammentrage – und das obendrein in einem, wie der ehemalige Suhrkamp-Lektor und Kursbuch-Mitherausgeber Karl Markus Michel schrieb, geistlosen »Prof-Jargon«. Ausgerechnet Habermas, der in den 1960er-Jahren gegen den Denkstil der Mandarine angetreten war, galt plötzlich selbst als scholastischer Philosoph – ein Imagewandel, den er ebenso mit Bedauern wie mit Fassung zur Kenntnis genommen zu haben scheint. Die »Rolle eines Hüters der Rationalität« zu spielen, seufzte er 1983, bringe »zunehmend Ärger« ein.[6]

Einen späten Nachhall findet der Affekt gegen Habermas in einer Gewaltfantasie der britischen Autorin Rachel Cusk: In ihrem Roman Outline von 2014 lässt sie eine Nebenfigur auftreten, die von ihrer komplizierten Beziehung mit einem Philosophieprofessor erzählt. Der Mann ist Habermas-Experte. Die Bücher und Papiere, die er in der gemeinsamen Wohnung herumliegen lässt, bringen sie zur Verzweiflung, doch fehlt ihr ganz buchstäblich die Kraft, um gegen die Unordnung anzukämpfen: »Die Bücher von Jürgen Habermas sind so schwer wie die Steine, die zum Bau der Pyramiden verwendet wurden.« Erst als sie eines Abends beim Nachhausekommen feststellt, dass ihre Katzen die Initiative übernommen haben, wendet sich das Blatt: »Meine Romane waren unberührt. Nur Habermas war schwer beschädigt, sein Bild von jedem Umschlag abgerissen, der Strukturwandel der Öffentlichkeit von tiefen Krallenspuren zerfurcht.« Um weiteren Schaden abzuwenden, hält der Lebensgefährte seine Sachen fortan unter Verschluss.[7]

Mich frappiert nicht nur, dass die Erzählerin ganz unabhängig von ihren Beziehungsproblemen angesichts der Zerstörung von Habermas’ Büchern eine tiefe Befriedigung zu empfinden scheint, sondern auch die zweifelhafte Prominenz des Philosophen, die in ihrer Aversion zum Ausdruck kommt. Andererseits: Welchen zeitgenössischen Denker hätte Cusk sonst als Ikone der Scholastik wählen sollen? Die Franzosen stehen – ob zu Recht oder Unrecht – im Ruf, Rebellen gegen die akademische Konvention zu sein. Und die Amerikaner sind außerhalb der Universitäten zu unbekannt. Schon in den 1970er-Jahren bescheinigte der Franzosenverleger Axel Matthes Habermas, ein »Markenzeichen« zu sein. Nicht nur der Mann, schrieb Ronald Dworkin, sondern auch »sein Ruhm« sei berühmt. Vielleicht handelt es sich bei »Habermas« schon lange nicht mehr um einen individuellen Philosophen, sondern um ein global erkennbares Label, das einen bestimmten Denkstil repräsentiert.[8]

Im Laufe des Nachmittags, während die Junisonne durch die verglasten Erker des Hauses Habermas wandert, unterhalten wir uns über Adorno und Foucault, über New York und Jerusalem, über das, was die Suhrkamp-Kultur und das, was die Wiedervereinigung für ihn bedeutet haben. Erst ganz zuletzt kommen wir auf den Ukrainekrieg zu sprechen, der vier Monate vorher ausgebrochen war. Für seine erste Stellungnahme, die kurz zuvor in der Süddeutschen Zeitung erschienen war, hatte er viel Kritik einstecken müssen. Ohne seine Bestürzung zu verhehlen, erklärt er, der sich auf sein Gespür für den Zeitgeist immer hatte verlassen können, dass er »zum ersten Mal« in seinem Leben das Gefühl habe, die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr zu verstehen. Es ist spät geworden. Kurz darauf verabschieden wir uns. Auf dem Rückweg nach München habe ich das beinah pathetische Gefühl, das Ende von etwas miterlebt zu haben. Aber von was? Das Ende der siebzigjährigen Beziehungsgeschichte zwischen einem Intellektuellen und seinem Publikum? Das Ende der alten Bundesrepublik, die mir an diesem Nachmittag in Habermas’ Wohnzimmer erschienen ist?[9]

Trotz gelinder Zweifel an meinem Vorhaben, ein Buch über ihn zu schreiben, hatte er mir Zugang zu seinem Vorlass gewährt. In den anderthalb Jahren, die seither vergangen sind, habe ich mich im Frankfurter Universitätsarchiv an der Bockenheimer Warte in seine Korrespondenz vertieft. Es ist bezeichnend, dass Habermas seine Papiere nicht ins gediegene Deutsche Literaturarchiv in Marbach, sondern hierhin gegeben hat, wo man sie im fahlen Neonlicht eines aus der Zeit gefallenen Ambientes einsehen kann. Die Loyalität zu seiner alten Wirkungsstätte scheint ihm wichtiger als seine Aufnahme ins Pantheon der deutschen Klassiker zu sein.

Die Lektüre und Relektüre von Habermas’ veröffentlichten Schriften erwies sich als zwiespältige Übung: Seine Hauptwerke sind immer noch so entmutigend unzugänglich, wie sie mir in Erinnerung waren. Dafür habe ich den politischen Kommentator, den Kritiker und Polemiker Habermas entdeckt, der in der Kampfzone der Debatten eine stilistische Brillanz entfaltet, die er sich in seinen wissenschaftlichen Texten mit Absicht zu verbieten scheint. Aus den verschiedenen Puzzleteilen hat sich das Bild eines ebenso stringenten wie widersprüchlichen Denkers zusammengesetzt, der als Philosoph wie kaum ein anderer ins Überzeitlich-Allgemeine zielte, während er als öffentlicher Intellektueller – im Grunde mit allen seinen Interventionen – auf die spezifische historische Situation reagierte, die durch das Nachleben des Nationalsozialismus in Deutschland gegeben war. Obwohl er seit den 1980er-Jahren mit ungewöhnlichem Nachdruck darauf drang, diese beiden Rollen kategorisch auseinanderzuhalten, macht gerade ihre Verschränkung – der Wechsel zwischen Distanz und Engagement, die Dialektik von Universalismus und Partikularismus – das Charakteristische seines Gesamtwerks aus. Deshalb ist Habermas eine Figur, an der sich das eigentümliche Verhältnis von Theorie, Geschichte und Gedächtnis, das für das geistige Terrain der Bundesrepublik so charakteristisch ist, beinah auf idealtypische Weise vermessen lässt. Im Lauf seiner unendlichen Karriere haben sich mehrere Kohorten von Leserinnen und Lesern in seinem Werk gespiegelt. Die Art und Weise, wie sie auf ihn reagierten, sagt mindestens ebenso viel über sie selbst wie über den Philosophen aus: Neben allem anderen ist Habermas auch eine Art ideengeschichtlicher Lackmustest. Jedenfalls meinte ich, während ich mich in sein Leben und Werk vertiefte, ex negativo auch die intellektuelle Silhouette meiner eigenen Generation deutlicher hervortreten zu sehen.[10]

In der verkehrten Welt

Wer sich die Frage stellt, warum Habermas die alte und zumindest auch einen Teil der neuen Bundesrepublik zu verkörpern scheint, kommt nicht umhin, von seiner Generation zu sprechen. Allein die Vielzahl der Labels, die man ihr angeheftet hat – Flakhelfer, Skeptiker, Neunundzwanziger, Fünfundvierziger, zuletzt noch: Achtundfünfziger –, zeugt von dem Raum, den diese Generation im politischen und kulturellen Gefüge, aber auch im Selbstverständnis Nachkriegsdeutschlands einnimmt. Besonders der Jahrgang 1929 hat so viele große Namen hervorgebracht, dass man leicht den Überblick verliert: Hans Magnus Enzensberger und Dorothee Sölle, Christa Wolf und Heiner Müller, Harald Juhnke und Eduard Zimmermann, Ralf Dahrendorf – und eben Jürgen Habermas. Man könnte versucht sein, an den Einfluss einer glücklichen Sternenkonstellation zu glauben, wenn es nicht historische Gründe gäbe – der Publizist Günter Gaus, ebenfalls 1929 geboren, hat von der »Gnade der späten Geburt« gesprochen –, die helfen, den Erfolg dieses Jahrgangs zu erklären: Zu jung, um ernstlich kompromittiert, aber alt genug, um für den Epochenbruch voll empfänglich zu sein, fanden sich die Fünfundvierziger – das Etikett, das auf Habermas am besten passt – nach dem Krieg in bester Ausgangslage wieder. Habermas wäre der Letzte, der diesen Startvorteil leugnen würde. An den zwei Jahre älteren Martin Walser schrieb er nach der Jahrtausendwende, er habe sich »und uns alle, Dich eingeschlossen, stets als die objektiv, also unverdient Begünstigten einer uns im Nachkriegsdeutschland zugefallenen historischen Konstellation« gesehen.[11]

Man hat die politischen Tugenden – den Realitätssinn, Optimismus und Erfindungsreichtum – der Fünfundvierziger gerühmt. Dem Publizisten Florian Illies zufolge macht der »Glaube an die Möglichkeit eines zweiten, besseren Lebens« die »geistige Existenzgrundlage« des Jahrgangs 1929 aus – ein Glaube, der diesen Jahrgang zwar nicht mit Illies und meiner Generation, aber mit unseren Altersgenossen von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs verbindet. Auf einem der Bücherstapel in Habermas’ Wohnzimmer sah ich die Memoiren der albanischen Politikwissenschaftlerin Lea Ypi liegen, in denen sie ihr Leben vor und nach dem Ende des real existierenden Sozialismus rekapituliert. »Wenn man einmal erlebt hat, wie ein System sich verändert, ist es nicht so schwer zu glauben, dass es wieder passieren kann«, schreibt sie über die bleibende Prägung dieser Jahre – ein Satz, der ihrem Starnberger Leser ohne Weiteres eingeleuchtet haben muss.[12]

Auch Habermas, der bei verschiedenen Gelegenheiten beschrieben hat, wie ihm die Radioberichterstattung über die Nürnberger Prozesse und die Bergen-Belsen-Dokumentation der Alliierten die Augen über die wahre Natur des Nationalsozialismus geöffnet haben, glaubte an den politischen Neuanfang. »Wir haben eine geistig-moralische Erneuerung für notwendig, für selbstverständlich gehalten«, erinnerte er sich dreißig Jahre später. An diese Erneuerung waren große Erwartungen geknüpft. Er habe das Bedürfnis nach einem »spontanen Aufräumen«, nach »irgendeinem explosiven Akt« verspürt, »der dann auch für die Bildung einer politischen Identität ein Anfang hätte sein können«.[13] Anstatt des reformistischen Temperaments, das man ihm später nachsagte, kommt hier eine Sehnsucht nach Reinigung, nach Umwälzung und Erlösung zum Ausdruck, die schwärmerische, ja chiliastische Züge trägt.

Pünktlich zur Gründung der Bundesrepublik fing er im Wintersemester 1949, mit zwanzig, in meiner Heimatstadt Göttingen zu studieren an. Schon mit der Bildung der ersten Bonner Regierung, der zwei nationalkonservative Minister angehörten, begann die Serie der Enttäuschungen, und sie nahm mit der Wiederbewaffnung, dem Antikommunismus und der gescheiterten Entnazifizierung ihren Lauf. Die »Politik der Normalisierung eines alten Mannes mit beschränktem Wortschatz«, wie Habermas den ersten Kanzler bezeichnet hat, strafte den erhofften Aufbruch Lügen. Folgt man Ralf Dahrendorf, dann ist er der wahre »Enkel Adenauers«, doch während er später für die Bindung an einen idealen Westen eintrat, hing der junge Habermas der Idee eines demilitarisierten, neutralen Deutschlands an und wählte 1953 die Gesamtdeutsche Volkspartei des abtrünnigen CDU-Mitglieds Gustav Heinemann. Die Überzeugung, eine historische Chance verpasst zu haben, hat sein Verhältnis zur Bonner und selbst noch zur Berliner Republik geprägt, die in seinen Augen aus einer weiteren korrumpierten Gründung hervorgegangen war. Das Gefälle zwischen Anspruch und Realität, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, wurde zum Motor, der seine kritische Gesellschaftstheorie antrieb.[14]