Der Plan - Nando Boers - E-Book

Der Plan E-Book

Nando Boers

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Beschreibung

Eine einmalige Chance, ein besonderes Buch: Drei Jahre hinter den Kulissen einer der besten Sportmannschaften der Welt. Im Juli 2022 krönte das niederländische Radsportteam Jumbo-Visma seine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte, als Jonas Vingegaard erstmals als Sieger der Tour de France in Paris einfuhr. Es war das erträumte Ergebnis eines langen, selten einfachen, stets clever durchdachten Weges, der direkt bei der Gründung des Rennstalls im Jahr 2013 eingeschlagen worden war. In den drei Jahren bis zum Tour-Sieg bekam der Schriftsteller Nando Boers die einmalige Gelegenheit, dem Team Jumbo-Visma hautnah zu folgen. Mäuschen spielend durfte er überall dabei sein und erlebte so aus nächster Nähe, wie die taktischen Rennpläne der Mannschaft ausgeheckt und umgesetzt wurden. Im Laufe dieser drei Jahre sprach Boers regelmäßig während Rennen und Trainingslagern mit Fahrern, Trainern, sportlichen Leitern. Er beobachtete Windkanaltests und lauschte Online-Meetings, in denen Trainer und Wissenschaftler über Taktik, Teamgeist, Ernährung, Trainingsmethoden und Talentförderung diskutierten. Und er durfte auch an den Treffen teilnehmen, bei denen es ans Eingemachte ging und das Wohl und Wehe, die Fortschritte und Kontroversen von Spitzenfahrern wie Primož Roglic, Tom Dumoulin, Wout Van Aert und Jonas Vingegaard besprochen wurden. Das Resultat ist ein packendes, überaus lehrreiches Buch über Planung, Beharrlichkeit und Erfolg im Sport – und auch weit darüber hinaus. • Der niederländische Journalist und Schriftsteller Nando Boers erhält eine einmalige Gelegenheit: Drei Jahre darf er Mäuschen spielend hinter den Kulissen einer der besten Sportmannschaften der Welt verbringen. • In dieser Form einzigartige Einblicke in Planung, Vorbereitung, Strategie und Taktik im Profiradsport. • Macht auf faszinierende Weise greifbar, wie nah Gewinnen und Verlieren im Spitzensport beieinander liegen. • Die besten Radsportler der Welt hautnah erleben. • »Der Plan« ist Sportwriting der Ausnahmeklasse.

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Seitenzahl: 644

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Nando Boers

DER PLAN

Wie Jumbo-Visma das besteRadsportteam der Welt wurde

Aus dem Niederländischenvon Olaf Bentkämper

Die Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel»Het Plan. Hoe Team Jumbo-Visma de beste wielerploeg ter wereld werd«bei Ambo|Anthos, Amsterdam.

© Nando Boers 2023/2024

Nando Boers:

Der Plan – Wie Jumbo-Visma das beste Radsportteam der Welt wurde

Aus dem Niederländischen von Olaf Bentkämper

© der deutschsprachigen Ausgabe: Covadonga Verlag, 2024Covadonga Verlag, Spindelstr. 58, D-33604 BielefeldISBN (Print): 978-3-95726-087-1ISBN (E-Book): 978-3-95726-091-8

Umschlagfotos: © Gruber Images (Titel) /

© Roth & Roth (Rückseite)

Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau GmbH – 1. Auflage, 2024

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise,nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Covadonga ist der Verlag für Radsportliteratur.

Besuchen Sie uns im Internet: www.covadonga.de

Inhalt

Prolog

Einleitung

1Blanco und die All Blacks

2Der Blanco-Kurs und die Armee

3Die Ankunft von Primož Roglič

4Das neue Essen

5Woran erkennt man Talent?

6Die letzten Puzzleteile

7Im Trainingslager

8Ernährung als Waffe

9In der Höhe

10Die Bedeutung von Feedback

11Die Kunst des Zuhörens

12Stress

13Folgenreiche Stürze

14Die Tour de France 2020

15Zeitfahren Nr. 1

16Dumoulin im Windkanal

17Nichts geht mehr

18Ist die Grenze wirklich die Grenze?

19Akzeptieren, wenn ein anderer besser ist

20Die Bedeutung von Spirit

21Die Zukunft des Radsports

22Medaillen in Tokio

23Eigenverantwortung

24Eine neue Taktik

25Das Kopfsteinpflaster von Denain

26Wie fährt man ein Finale?

27Taktik in Aktion

28Am Rande des Todes

29Der letzte Giro

30Ein Kreis um die Fahrer

31Alles auf eine Karte

32Bomben werfen

33Zeitfahren Nr. 2

34Der Bidonplan

35Kopfsteinpflaster-Chaos

36Der Glaube an den Sieg

37Dieser Schmerz geht vorbei

38Die Rolle von Roglič

39Der Plan

40Ein Kreuzfeuer aus Attacken

41Die Falle

42Die Einsamkeit

43Das Krankenhaus

44Führungsqualitäten

45Der entscheidende Moment

46Guter Tonus

47Zu Tränen gerührt

48Krokette

49Paris

50Eine wunderbare Reise

Nachwort

Der Autor

Prolog

»Männer!«

Merijn Zeeman wandte sich mit lauter, auf verraucht gemachter Stimme an die versammelte Mannschaft. Er tat sein Bestes, um das Klischee des in die Jahre gekommenen, Zigarre qualmenden Teamchefs zu bedienen, der seinen jungen Fahrern am Vorabend des Rennens erklärte, wie die Sache am nächsten Tag ablaufen würde. Im hell erleuchteten Speisesaal eines Hotels an der katalanischen Küste klopfte der 43-jährige Sportdirektor von Jumbo-Visma mit dem Finger auf das weiße Tischtuch, als wolle er auf einem Streckenplan der Etappe zeigen, wo »die Schlacht« sich abspielen würde.

»Männer! Das ist die Stelle, an der sich morgen alles entscheiden wird!« Zeeman blickte zu seinen Zuhörern auf, legte seine Rolle ab und sagte mit seiner normalen, helleren Stimme: »Und alle anderen Sportlichen Leiter erzählen ihren Fahrern genau das Gleiche! Jeder einzelne! Sie weisen auf den ihrer Meinung nach kritischen Punkt auf der Strecke hin, und genau da passiert es dann am nächsten Tag. Dort fällt die Entscheidung. Und hinterher sagen sie alle: ›Hab ich’s nicht gesagt?‹ Wenn nämlich alle sagen, dass sich das Rennen an eben dieser einen Stelle entscheiden wird, dann wird es auch so kommen.«

Wir saßen nach dem Essen in erlesener Runde zusammen, unter anderem mit Geschäftsführer Richard Plugge und dem Sportlichen Leiter Grischa Niermann. So wie sie arbeitete Zeeman seit Jahren im Herzen des Radsports. Ein paar Monate zuvor hatte er erkannt, dass sie auf taktischer Ebene noch zulegen konnten. Um ihre stärksten Gegner zu überraschen, wollte Zeeman, dass Jumbo-Visma die eigene Rennstrategie noch kritischer unter die Lupe nahm.

Als Zeeman wenig später vom Tisch aufstand und sich auf sein Zimmer zurückzog, wurde mir klar, dass dies der springende Punkt war und dass es im Jahr 2022 genau darum gehen würde: um die Taktik. Es fühlte sich wie der vorläufig letzte Schritt des Plans an, an dem sie seit der Gründung des Teams im Jahr 2013 gearbeitet hatten. Ich nahm mir vor, in einem ruhigen Moment noch einmal auf das Thema zurückzukommen.

Die Episode trug sich im Dezember 2021 zu, als die Fahrer und das Support-Team von Jumbo-Visma im Hotel Barcarola im Küstenort Sant Feliu de Guíxols untergebracht waren. Es war der Vorabend der dritten und letzten Saison, in der ich das WorldTour-Team begleiten würde, mit dem Ziel ein Buch über dessen Hintergründe und Entwicklung zu schreiben. Als ich mich vom Tisch erhob, fragte ich mich, wie die Fahrer auf die – bislang noch nicht näher definierte – neue taktische Herangehensweise reagieren würden.

Die meisten Fahrer saßen in der kleinen Lobby zusammen und spielten am einzigen Tisch im Raum Poker. Einige Coachs und Betreuer standen an der Bar, tranken ein Glas Bier und sahen den Fahrern dabei zu, wie sie versuchten, sich gegenseitig über den Tisch zu ziehen.

Was würde Steven Kruijswijk von den neuen taktischen Erkenntnissen halten? Ich vermutete, dass er sie begrüßen würde. Kruijswijk, der noch nie für ein anderes Team gefahren war, war vor ein paar Jahren der erste Fahrer gewesen, der den neuen Weg, den das Team unter der Leitung von Richard Plugge und Merijn Zeeman eingeschlagen hatte, mitgegangen war. Kruijswijk, der bei der Tour de France 2019 den dritten Platz belegt hatte, war mittlerweile nicht mehr das Aushängeschild der Mannschaft. Nach zwei enttäuschenden Jahren sei er durchgereicht worden, stellte er fest. Neben einem Etappensieg bei der Tour hegte er einen großen Wunsch: mit seinem Team die Tour zu gewinnen. Bei der Tour 2022 würde er eine wichtige Rolle für die Leader Primož Roglič und Jonas Vingegaard spielen können.

Der junge Däne Vingegaard hielt sich nach dem Winter in seiner Heimat Glyngøre für etwas träge, aber er hatte nun mal eine Schwäche für Hamburger. Dennoch war Vingegaard in Sant Feliu de Guíxols bester Laune. Zwar hatte der Slowene Tadej Pogačar in den beiden Vorjahren die Tour gewonnen, aber im Sommer 2021 hatte Vingegaard ihn einmal im langen Anstieg hinauf zum Mont Ventoux abgehängt. Seine Testergebnisse hier im Trainingslager in Spanien waren für ihn die Bestätigung dessen, was er ohnehin vermutet hatte: Wenn er mit seinem jetzigen Gewicht zu solchen Leistungen in der Lage war, dann könnte er im Juli, wenn er leichter war und gezielter trainierte, auch Pogačar schlagen und die Tour gewinnen.

Und die neue taktische Ausrichtung, die noch nicht feststand? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Vingegaard etwas dagegen haben würde. Der Däne war jung, wissbegierig und formbar, und er hatte bereits im letzten Jahr bei einem Etappenrennen im Baskenland gesehen, dass man mit der richtigen Taktik weit kommen konnte. Vingegaard würde sicher bald von dem neuen Kurs überzeugt sein. Das Gleiche galt für den ehrgeizigen Wout van Aert, auch er einer der Leader des Teams, der nicht dafür bekannt war, neuen Herausforderungen aus dem Weg zu gehen.

Wie offen Tom Dumoulin für die anstehenden Veränderungen war, blieb allerdings abzuwarten. Der Mann aus Maastricht haderte seit einer Weile mit sich selbst und war nur noch ein Schatten des Fahrers, der 2018 mit Sunweb Zweiter der Tour geworden war. Seit seinem Wechsel zu Jumbo-Visma bereitete er seinen Coachs Kopfzerbrechen. Damals hatte man gedacht, mit dem Giro-Sieger von 2017 in den kommenden Jahren große Erfolge erzielen zu können. Doch Dumoulin tat sich schwer, sich an die Methoden von Jumbo-Visma anzupassen. Überhaupt schien er sich mit dem Radsport insgesamt schwerzutun.

Ebenfalls im Trainingslager dabei: Helfer wie Jos van Emden und Nathan Van Hooydonck, Talente wie Tobias Foss und die Neuzugänge Christophe Laporte, Tiesj Benoot und der Mountainbiker Milan Vader, für den sich vor allem die Frage stellte, wie er mit der Umstellung und der Kultur im Team zurechtkommen würde. Er teilte sich das Zimmer mit Roglič, was er sehr spannend fand. Roglič, der nach einem schweren Unfall als Skispringer ebenfalls erst spät mit dem Radsport begonnen hatte, hatte ihn beruhigt. »Wie alt bist du?«, hatte er ihn gefragt. »25? Na, lass es ruhig angehen, du hast noch viel Zeit. Entspann dich.« Vader war für diese Worte sehr dankbar gewesen.

Bei den neuen Fahrern ging ich davon aus, dass sie sich gut an die neuen Vorgaben anpassen könnten. Jeder im Radsport wusste, dass Jumbo-Visma in vielerlei Hinsicht fortschrittlich war, und wenn man den Luxus hatte, für dieses Team fahren zu dürfen, wusste man, dass Innovation ein Teil der Strategie war.

Und Primož Roglič? Wie würde er das sehen? Roglič war ein Fahrer, der einen eigenen Kopf hatte und es liebte, zu attackieren. Er war der Fahrer, der das Team in den letzten Jahren groß gemacht hatte, der es seit seiner Ankunft im Dezember 2015 dazu gebracht hatte, immer besser zu werden. Roglič besaß eine ausgeprägte Siegermentalität und verlangte sich und dem Team viel ab. Er hatte in der Zwischenzeit bereits wieder intensiv allein für sich in Monaco trainiert, so hart, dass die Coachs, die die hochgeladenen Trainingsdateien sahen, ein wenig die Stirn runzelten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Roglič vor fortschrittlichen Ideen im Radsport zurückschrecken würde.

Robert Gesink fehlte im Trainingslager. Der Mann aus Achterhoek hatte sich mit Corona infiziert und war zu Hause in Andorra geblieben. Für die Stimmung war das vielleicht ganz gut so, denn Gesink, der seit 2007 bei der Mannschaft, die damals noch Rabobank hieß, unter Vertrag stand und sie auch in den schwierigen Zeiten zusammen mit Kruijswijk jahrelang getragen hatte, war ziemlich sauer gewesen, als er von Zeeman erfahren hatte, dass er es nicht in die Vorauswahl für die Tour geschafft hatte. Gesink war von Natur aus nicht unbedingt ein progressiver Fahrer, hatte sich aber als einer der ersten ganz und gar dem Höhentraining verschrieben und sich unter Zeemans Anleitung auf Mentaltraining eingelassen. Die Chance, dass Gesink die Tour 2022 fahren würde, war trotzdem gering.

Dies war ein wichtiges Trainingslager, das erste, bei dem die Fahrer seit den italienischen Herbstrennen zusammenkamen. Damals war Zeeman zu dem Schluss gekommen, dass die taktische Marschrichtung von Jumbo-Visma einer Überarbeitung bedurfte. In diesem Trainingslager würden sie in den nächsten Wochen so arbeiten, wie sie es in den vergangenen Jahren sukzessive perfektioniert hatten. Die Trainer und Sportlichen Leiter würden mit den Fahrern etliche Gespräche zum Thema Persönlichkeitsentwicklung führen. Es waren Zeitfahr-Testeinheiten geplant, bei denen ausgeklügelte Geräte eingesetzt wurden, um eine bessere Abstimmung zwischen Mensch und Maschine zu erreichen. Und am Anstieg nach Sant Grau sollte den Fahrern nach intensiven Anstrengungen Blut abgenommen werden, um den Laktatspiegel zu messen, als erster physischer Indikator für die Form der Athleten. Auf der Grundlage dieser Daten erstellten die Coachs und Trainer dann sorgfältig individuell abgestimmte Trainings- und Ernährungspläne, damit die Fahrer in den für sie entscheidenden Rennen so gut vorbereitet wie möglich an den Start gehen könnten.

Wie in den letzten beiden Jahren war auch 2022 der Gewinn der Tour de France das große Ziel von Jumbo-Visma. Seit dem Sieg von Joop Zoetemelk mit TI-Raleigh im Jahr 1980 war es keiner niederländischen Mannschaft mehr gelungen, den Sieger zu stellen. In den Jahren 2020 und 2021, als Roglič und Vingegaard nacheinander den zweiten Platz belegten, war Jumbo-Visma näher dran gewesen als je zuvor. Dennoch war nach der Rückkehr aus Paris ein bitterer Nachgeschmack geblieben. 2020 hatte Roglič das Gelbe Trikot am vorletzten Tag beim Zeitfahren hinauf zur Planche des Belles Filles auf spektakuläre Weise verloren, und 2021 war er in der hektischen ersten Tour-Woche so schwer gestürzt, dass er einige Tage später aufgeben musste. Die Verletzungen hatten ihn körperlich zermürbt. Positive Aspekte der Tour 2021 waren Vingegaards Aufstieg und die Art und Weise, wie sich Wout van Aert als Leader etabliert hatte und dem Team mit seinem offensiven Rennstil neue Impulse gab. Das waren Dinge, auf denen das Team aufbauen konnte.

Nach der abgelaufenen Saison hatten sich die Trainer und Sportlichen Leiter auf sich selbst besonnen und sich gefragt, wo sie ansetzen mussten und was sie verbessern konnten, um dem Team 2022 den entscheidenden Vorteil zu verschaffen. Nachdem sie im Oktober 2021 in drei Evaluierungs-Meetings im neuen Mannschaftsquartier in Brabant unter der Leitung eines externen »Performance-Coachs« alles auf den Prüfstand gestellt hatten, hatten sie sich in die wissenschaftliche Literatur vertieft, sich an ihre Kontakte bei den Spezialeinheiten der niederländischen Armee gewandt und die Fußballclubs AZ Alkmaar und Ajax Amsterdam besucht. Sie würden neue Pläne schmieden. Zeeman hatte inzwischen eine Idee, wo er ansetzen müsste.

Zwei Tage nach seiner markigen Ansprache im Hotel ging ich mit Zeeman an den Strand. Er räumte ein, dass man bei Jumbo-Visma bis dahin im Großen und Ganzen so gearbeitet hatte, wie es alle anderen Teams auch taten.

Diese Zeiten seien demnach offenbar vorbei, merkte ich an.

»Ich hoffe es«, sagte er. »Das ist es, was ich durchbrechen will, denn sonst habe ich kein Vertrauen, dass wir gewinnen werden.«

Wir setzten uns auf eine Steinmauer an der hölzernen Strandpromenade. Das blaue Wasser des Mittelmeers plätscherte uns entgegen. Zeeman erklärte, dass man im Spitzensport auf höchstem Niveau manchmal Risiken eingehen, Dinge durcheinanderwirbeln und die anderen Coachs ins Grübeln bringen müsse. »Wir müssen uns eine List einfallen lassen«, sagte er. Er sah die Rennen vor sich, und wenn sie wie üblich mit ihren größten Konkurrenten ins Finale gehen würden, mit Tadej Pogačar bei der Tour und mit Mathieu van der Poel bei den Klassikern, würden sie nicht gewinnen. »Wir müssen eine Bombe werfen«, sagte Zeeman.

Es war diese Grundeinstellung, die mich schon immer an Sportmannschaften fasziniert hatte, die Suche nach neuen Möglichkeiten. Dieses Team hatte seit 2013 seine Methoden verfeinert, seinen Plan Jahr für Jahr verbessert und nach jeder Saison überlegt: Was ist nun das Wichtigste, das wir verbessern können? Was sollten wir als Erstes anpassen? Jetzt war die Zeit gekommen, sich angreifbar zu machen. Es war an der Zeit, ihre Denk- und Arbeitsweise in Sachen Taktik auf den Prüfstand zu stellen.

Zeeman verwies auf die siebte Etappe der zurückliegenden Tour. Damals hatte Van Aert so eine Bombe platzen lassen. Er und Mathieu van der Poel hatten die Kontrolle übernommen und sich wie junge Hunde in Szene gesetzt, indem sie früh attackierten, wie Junioren fuhren und so die anderen Teams in Unruhe versetzten. Aber Jumbo-Visma fehlte ein Folgeplan. »Wir haben einfach wieder das Gleiche wie immer gemacht«, sagte Zeeman. »Aber was wäre passiert, wenn wir es geschafft hätten, am nächsten Tag wieder Chaos zu stiften? Bei Pogačars Team hatte schon am Vortag Panik geherrscht.« Es war eine verpasste Chance gewesen, und solche Chancen bekommt man nicht oft, wie Zeeman nach all den Jahren wusste. Sie mussten sich noch besser auf mögliche Szenarien vorbereiten. Sie mussten eine Strategie entwickeln, aus der sich jede ihrer Aktionen im Rennen herleiten ließe. Aber wie diese Strategie aussehen sollte, das wusste er noch nicht.

Der Radsport hatte sich in den letzten Jahren rasant verändert. Bei der Tour wurde nicht mehr bis zum letzten Anstieg des Tages abgewartet. Die großen Fahrer griffen früher an. Diese Jungs waren jünger, wilder und schienen jede Gelegenheit zum Angriff zu nutzen, die sich ihnen bot. Es gab keine schwachen Schafe mehr, es gab für ein starkes Kollektiv, wie es das Team Sky in der Vergangenheit gewesen war, keine einfachen Opfer mehr, die man zur Schlachtbank führen konnte. »Die Rennen sind offener geworden«, sagte Zeeman. »Und deshalb gibt es Raum für taktische Schachzüge.«

Ein Mehr an solchen Aktionen bedeutete, dass auch mehr Wissen über die Konsequenzen einer mutigen Fahrweise nötig wäre. Zeeman: »Noch sagt jeder: ›Was bildet der Kerl sich ein?‹ Die Kultur im Radsport war lange Zeit so, dass man als töricht galt, wenn man Risiken einging. Aber ich glaube, dass die heutigen Fahrer viel schlauer sind als die Coachs, die hinter ihnen im Auto sitzen. Die sind oft Angsthasen, die ihre Angst auf die Fahrer projizieren. Aber drehen wir es mal um. Reden wir nicht immer nur über Angst und Kontrolle, überlegen wir uns andere Szenarien. Sagen wir zum Beispiel, Primož greift hundert Kilometer vor dem Ziel an. Was passiert dann? Können wir fünf Schritte weiter denken? Können wir herausfinden, warum das eine kluge Idee wäre? Das ist die Richtung, in die ich gehen möchte.«

Der springende Punkt sei, dass man alles im Auge behalten und sich immer fragen müsse, was das Risiko sei. Das war die nackte Wahrheit: Der Kern der Innovation begann auch damit, dass man es zuließ, sich angreifbar zu machen. Sich etwas zu trauen, zuzugeben, dass man etwas nicht weiß. Also: Was genau wird im Rennen passieren, wenn man eine bestimmte Sache tut? Wo ist dann Pogačar? Wo sind die anderen? Wie reagiert UAE? Wie reagiert die Teamleitung von Ineos, wie das Team Sky inzwischen hieß?

»Es fängt damit an«, so Zeeman, »dass wir die Kernfrage definieren: Wie gewinnt man ein Radrennen? Wie werden Radrennen entschieden? Und wie können wir das beeinflussen? Im Wesentlichen möchte ich, dass wir besser verstehen, was Radsport ist.«

Es blieb nur ein Problem, wie er einräumte: »Darin sind wir noch nicht gut.«

Nando Boers

Amsterdam, Mai 2023

Einleitung

Am Samstag, dem 6. Juli 2019, gewann der Jumbo-Visma-Fahrer Mike Teunissen die Auftaktetappe der 106. Tour de France in Brüssel. Anschließend wurde er auf dem Podium in der belgischen Hauptstadt auch als erster Führender der Gesamtwertung geehrt. Die Radsportlegende Eddy Merckx überreichte Teunissen das Gelbe Trikot.

Mit diesem Sieg beendeten Mike Teunissen und Jumbo-Visma eine 30-jährige Leidenszeit, in der kein niederländischer Fahrer bei der Tour auch nur einen Tag lang das Gelbe Trikot getragen hatte. Die Übernahme des Maillot jaune krönte die Arbeit der Teamleitung um Richard Plugge, Merijn Zeeman und Mathieu Heijboer. 24 Stunden später gewann Jumbo-Visma in den Straßen von Brüssel auch das Mannschaftszeitfahren, den Inbegriff von Teamwork. Dass Mike Teunissen auf der dritten Etappe seine Führung in der Gesamtwertung verlor, war zwar bedauerlich, aber nicht weiter schlimm.

Drei Wochen später bestieg Kapitän Steven Kruijswijk in Paris als Dritter der Gesamtwertung das Podium. Sein Rückstand auf den Gesamtsieger betrug nach mehr als 3.000 Rennkilometern nur 1:31 Minute. Kruijswijk war der erste Fahrer im Team, der den neuen Trainings- und Ernährungsansatz von Jumbo-Visma kompromisslos mittrug. Auf den Champs-Élysées stand er neben dem Gewinner des Gelben Trikots, Egan Bernal von Ineos.

Rund einen Monat später gewann Primož Roglič die Spanien-Rundfahrt, der erste Grand-Tour-Sieg für Jumbo-Visma, eine Leistung, die der Slowene 2020 und 2021 wiederholen konnte. Der frühere Skispringer war Ende 2015 in letzter Minute verpflichtet worden, um den Kader aufzufüllen. Er erwies sich als erstaunlich leistungsstark, und nach intensivem Coaching schaffte es Roglič in den folgenden Jahren in die Weltspitze. 2020 und 2021 war er die Nummer eins auf der Rangliste des internationalen Radsportverbands UCI.

Nach der Tour 2019 fragte mich Richard Plugge, der Direktor von Jumbo-Visma, ob ich Interesse hätte, ein Buch über das Team zu schreiben. Plugge war für mich kein Unbekannter. Von 2007 bis 2012 war er Chefredakteur des Sportmagazins Sportweek/NUsport, wo ich als Reporter gearbeitet hatte. 2013 wurde Plugge Direktor des Radsportteams Blanco Pro Cycling, dem Nachfolger der aufgelösten Rabobank-Mannschaft und Vorläufer des heutigen Teams Jumbo-Visma.

Wir vereinbarten, dass ich das Team drei Jahre lang begleiten würde, um Informationen für ein Buch über das Team und die zehn Jahre zu sammeln, die es bis Ende 2022 im Peloton verbracht haben würde. Ich würde eine Reportage machen, unabhängig vom Team, selbstfinanziert und von meiner eigenen Neugier geleitet. Über welche Themen ich schrieb, blieb mir überlassen.

Jumbo-Visma hatte in letzter Zeit viel gewonnen – 2019 immerhin 49 Rennen –, aber sie wollten noch höher hinaus: Sie wollten die wichtigsten Etappenrennen gewinnen, allen voran die Tour de France.

Ein Spitzenteam so hautnah zu begleiten, war an sich schon etwas Besonderes, aber auch die Jagd auf ein großes Ziel aus dieser Perspektive erleben zu können, war einzigartig. Ende 2019 verpflichtete das Team dann auch noch den besten niederländischen Rundfahrer der letzten 40 Jahre: Tom Dumoulin.

Ich stimmte Plugges Vorschlag zu, weil ich mich für ihre Vergangenheit interessierte. Ich hatte bereits mehrere lange Geschichten über das Team geschrieben – über ihren damaligen Kapitän Robert Gesink und ihre erste Tour im Jahr 2013 –, aber da war noch mehr. Wie hatte sich die Mannschaft vom hässlichen Entlein im Jahr 2015, in dem es als Team LottoNL-Jumbo gerade einmal sechs Siege einfuhr, zu einem der besten Teams der Welt entwickelt? Wie verlief der Weg vom Abgehängten zum Innovator? Welche Ideen steckten dahinter? Aber auch: Wie traten sie auf im Radsportmilieu, wo es gewiss noch Raum für Professionalisierung gab? Teamchef Richard Plugge hatte dazu die nötigen Gedanken und Ideen.

Welche Schritte mussten sie gehen, um zu überleben, und welche, um sich sportlich und wirtschaftlich zu verbessern? Welche Rolle spielte die Armee bei dieser Entwicklung? Welche Regeln legten sie gemeinsam mit allen Mitarbeitern fest, um zu gewährleisten, dass die Organisation weiter wachsen konnte, und warum war dieser Kompass, den sie »Der Blanco-Kurs« nannten, so wichtig?

Darüber hinaus wollte ich erfahren und erleben, wie das Team im Hier und Jetzt funktionierte. Wie versuchten die Teamleitung, die Coachs, Trainer und Fahrer, sich zu verbessern? Welche Eigenschaften hielten sie für ausschlaggebend, damit sich ein talentierter Fahrer zu einem Weltklassesportler entwickeln konnte? In welchen Bereichen schlummerte für Spitzenfahrer das Potenzial, noch ein paar Prozent herauszuholen? Wie war es ihnen gelungen, sich selbst immer weiter zu verbessern? Welche (wissenschaftlichen) Wege haben sie beschritten, um Informationen zu sammeln? Was haben sie getan, um mentale und körperliche Probleme anzugehen und Lösungen zu finden? Für die Fahrer, aber auch für sich selbst? Und was haben sie sich dabei gedacht, als sie versuchten, anderen Teams im Rennen taktisch ihren Willen aufzuzwingen?

In diesem Buch erfahren Sie, welche Pläne Teamchef Richard Plugge und Sportdirektor Merijn Zeeman Ende 2015 schmiedeten, um an die Spitze zu gelangen. Es gab keinen statischen Plan, der ausgearbeitet und dann umgesetzt wurde. Es war vielmehr ein organischer Plan, der allmählich gedieh, immer robuster wurde und in jeder Saison um neue Elemente ergänzt wurde, um auf aktuelle Ereignisse und neue Erkenntnisse zu reagieren. Schritt für Schritt lernten sie hinzu, Schritt für Schritt wurde das Team immer besser.

In den vergangenen drei Jahren war ich bei Rennen und Trainingslagern dabei, ich sah mir Windkanaltests und die Saisonevaluierungen im Hauptquartier an und ich lauschte häufig den Online-Meetings, in denen die Coachs ihre taktischen Pläne schmiedeten, miteinander über ihren Sport philosophierten und versuchten, sich gegenseitig zu verbessern. Es ging um die Bedeutung von Gruppendynamik, das Streben nach einer Optimierung der Ausrüstung und die neu gestaltete Ernährungsstrategie. Es ging um die Art und Weise, wie die Coachs ihre Fahrer ermutigten, anspornten und korrigierten und wie sie die Athleten auf ihr großes Ziel einschworen, das beste Team der Welt zu werden – und es zu bleiben. Sie erzählten mir auch von ihren neuen taktischen Plänen für 2022 und gewährten mir Einblick in ihre Strategiepapiere für ihre bis dahin erfolgreichste Saison.

Ich sah, wie Neuzugang Tom Dumoulin zur Mannschaft stieß, und erlebte aus nächster Nähe, wie er sich nach einer schwierigen Partnerschaft schließlich vorzeitig verabschiedete und seine Karriere im Frühjahr 2022 desillusioniert und des Radsports überdrüssig beendete. Unterdessen machte ein dänisches Talent eine rasante Entwicklung durch. Als Dumoulin für die Tour 2021 ausfiel, war klar, wer seinen Platz einnehmen würde: Jonas Vingegaard.

Ich habe außerdem gesehen, wie sich Jumbo-Visma wieder berappelte, nachdem ihnen am letzten Wochenende der Tour de France im Herbst 2020, im Zeitfahren zur Planche des Belles Filles, das Gelbe Trikot von einem wie entfesselt fahrenden Tadej Pogačar entrissen wurde. Ich beobachtete, wie sich das Team neu ausrichtete, die Philosophie anpasste, den Schlachtplan schärfte und begann, sich eher auf den »Prozess« als auf das »Ergebnis« zu konzentrieren. Dahinter stand die Überzeugung, dass man in der Lage sein musste, Rückschläge in Aktionen umzusetzen, sie in etwas Produktives zu verwandeln, um noch mehr zu erreichen.

Im Juli 2022 fuhr ich mit Jumbo-Visma zum Grand Départ der Tour de France nach Kopenhagen und reiste dann mit dem Team fast vier Wochen lang durch Frankreich. Ich konnte hautnah miterleben, wie all das, was sie sich in den vergangenen Jahren erarbeitet hatten, in die Tat umgesetzt wurde.

Es wurde ein unvergesslicher Monat, in dem das Team aufblühte. Mit Jonas Vingegaard an der Spitze gewann Jumbo-Visma nicht nur das wichtigste Radrennen der Welt, sondern auch sechs Etappen sowie mit Wout van Aert und Vingegaard die Punkte- und die Bergwertung. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Das Team fuhr so offensiv, dass man mit Ehrfurcht darüber sprach. Die Art und Weise, wie Jumbo-Visma 2022 fuhr, das war Radsport, wie er einmal gedacht war, das war Radsport auf höchstem Niveau.

Jumbo-Visma hatte in zehn Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Und nun waren sie das beste Radsportteam der Welt.

Kapitel 1

Blanco und die All Blacks

Auf der Fensterbank im Arbeitszimmer von Richard Plugge standen mehrere gerahmte Bilder. Ein Hochzeitsfoto, Bilder seiner damals noch kleinen Kinder, ein Selfie mit Primož Roglič und ein Bild des jubelnden Wout van Aert. Ganz außen ein Foto seines kürzlich verstorbenen Vaters, der vor einem Fahrrad hockt, an dem er gerade herumschraubt.

An der Wand hinter Plugges Schreibtisch hingen drei gerahmte Trikots. Zwei Rote Trikots von der Vuelta mit der Unterschrift von Roglič und rechts daneben ein Gelbes Trikot von der Tour, signiert von Mike Teunissen. Das waren jedoch nicht seine wichtigsten Souvenirs. Denn an einer anderen Wand hing noch ein weiteres Trikot: ein blau-schwarz-weißes Jersey mit dem Schriftzug »Blanco« quer über der Brust. »Damit fing alles an«, sagte Plugge Ende 2021 hinter seinem Schreibtisch. »Ohne das kein Rotes und kein Gelbes Trikot.«

Blanco war das Frühstadium von Jumbo-Visma, der Neuanfang nach dem unvermeidlichen Ende des Rabobank-Teams. Plugge war erst seit einem Jahr bei Rabobank dabei, als der Hauptsponsor im Oktober 2012 beschloss, sein Engagement im Radsport zu beenden. 2007, nachdem der dänische Kapitän der Mannschaft, Michael Rasmussen, bei der Tour de France nur wenige Tage vor der Ankunft in Paris als Träger des Gelben Trikots aus dem Rennen genommen wurde, weil er während der Rundfahrt als Betrüger entlarvt worden war, hatte die Bank sich noch zum Weitermachen durchgerungen. Der Tropfen, der das Fass dann zum Überlaufen brachte, war die Veröffentlichung des brisanten USADA-Berichts über die Machenschaften von Lance Armstrong und seiner US-Postal-Mannschaft, in dem festgestellt wurde, dass auch der Rabobank-Fahrer Levi Leipheimer alle möglichen verbotenen leistungssteigernden Substanzen genommen hatte. Auf den Trümmern der Rabobank-Ruine entstand im Winter 2012/2013 eine neue Formation: das Blanco Pro Cycling Team.

Zu diesem Zeitpunkt war Plugge seit weniger als einem Jahr als Kommunikationsmanager des Teams tätig. Sein Chef Harold Knebel, der seit fünf Jahren das Rabobank-Team leitete, spielte schon seit einer Weile mit dem Gedanken, ins Bankgeschäft zurückzukehren.

Plugge hatte zuvor in der Medienbranche gearbeitet. Im Herbst 2006 wurde er von der Geschäftsführung von Sanoma Uitgevers zum neuen Chefredakteur von Sportweek ernannt. Die Redaktion bekam in ihm einen eigenwilligen und manchmal sturen Vorgesetzten. Es hieß über ihn, er sei ein Mann, der, metaphorisch gesprochen, keine dunklen Wolken sieht. »Und wenn es anfängt zu regnen«, sagte er, »sehe ich sie trotzdem nicht.« Er sah das als eine Stärke an.

Bei Sportweek wurde Plugge nicht glücklich, aber seine Zeit dort war ein »wichtiger Baustein«. Er habe Einsicht in die Welt des Sports erhalten und bei Sportweek die Lektion gelernt, dass man seinen Vorgänger nach dessen Demission nicht mehr auf seinem Terrain dulden durfte und Querulanten sofort aussortieren und wegschicken musste. »Ich habe es mir selbst schwer gemacht, weil ich diese schwierige Botschaft nicht früh genug übermittelt habe«, sagte er. »Das war eine wichtige Lektion.«

Harold Knebel hatte nach der Entscheidung des Hauptsponsors im Oktober 2012 zwei Tage Zeit, das Team zusammenzuhalten und zu prüfen, ob ein Neuanfang möglich wäre. Das gelang schließlich, weil fast alle Fahrer blieben und Rabobank noch ein weiteres Jahr zahlte. Einen Tag, nachdem die Bank ihre Entscheidung auf einer gut besuchten Pressekonferenz in ihrer Zentrale bekanntgegeben hatte, rief Knebel bei Plugge an. »Was sind deine Ambitionen, wenn ich aufhöre?«

Knebel hatte in Plugge immer seinen Nachfolger gesehen. Er war Amateurradsportler gewesen und kannte sich im Mediengeschäft aus.

Von den vier Männern, die anfangs gemeinsam für Blanco verantwortlich waren – Plugge, Zeeman, Teammanager Nico Verhoeven und der Sportphysiologe und Trainer Louis Delahaije –, war Plugge letztlich derjenige, der die Anteile des Teams von Rabobank kaufte und damit, wie er selbst es formulierte, auch derjenige, der es wagte, »seinen Hals in die Schlinge zu legen«. Er fand die Sache unheimlich spannend, fragte sich aber, ob er es schaffen würde, ein Team zu führen. Schließlich hatte er »null Erfahrung« und »von Tuten und Blasen keine Ahnung«. Für welche Summe er die Anteile gekauft hatte, wollte er nicht verraten.

Obwohl seitens der Wirtschaft anfangs noch ein gewisses Interesse bestand, »Blanco« zu sponsern, geht aus den Protokollen des Aufsichtsrats des Rabobank Cycling Teams hervor, dass Unternehmen wie Pon, Halfords, ein ungenannter »deutscher Akteur« und eine »australische Versicherung« umso zurückhaltender wurden, je näher die Saison rückte. Die potenziellen Geldgeber wurden angesichts einer wahren Flut von Doping-Geständnissen von bekannten und weniger bekannten Fahrern aus dem internationalen Peloton misstrauisch und bekamen kalte Füße. Keiner wollte sich mit dem Radsport die Finger verbrennen.

In den ersten Monaten des Jahres 2013 fragte sich Plugge, wie er »das Runde ins Eckige befördern« sollte. In jenen Tagen hatte er das Gefühl, dass er nichts zu verlieren hatte. Er hatte ohnehin nichts mehr und wenn es ihm nicht gelingen würde, bis Ende des Jahres einen Sponsor zu finden, »hätte er es zumindest versucht«.

Der internationale Radsport hatte mit einem riesigen Imageproblem zu kämpfen. Niemand im Peloton vertraute mehr dem anderen, und die Außenwelt wandte sich vom globalen Radsport ab. Die Frage war also, wie man diese Stimmung – angefangen in den Niederlanden mit ihren drei WorldTour-Teams – so umkehren konnte, dass Unternehmen (weiterhin) einen Profirennstall sponsern wollten, um ihren Bekanntheitsgrad zu steigern. Wer war noch bereit, seinen Namen auf ein Radsporttrikot zu setzen?

Knebel, der offiziell nicht mehr mit im Boot war, die neue Formation aber mit einem weiteren Jahr Sponsorengeld von Rabobank über Wasser hielt, hatte Ideen, wie man die Sache angehen könnte. Ihm schwebte eine Art Versöhnungsausschuss vor, wie er in Südafrika nach dem Ende der Apartheid eingerichtet worden war. Wenn die drei niederländischen Profiteams offen darüber reden würden, was passiert war, ohne dass ihnen Sanktionen drohten, könnte man Vertrauen wiederherstellen und der niederländische Radsport könnte zumindest einen Neuanfang machen. Das war die Idee. Die Aufarbeitung der Vergangenheit und das Bestreben, aus Fehlern zu lernen, waren wichtiger als die Bestrafung der begangenen Vergehen. Wegen Unstimmigkeiten zwischen den drei besagten Teams kam die Initiative jedoch letztlich nicht zustande.

Knebels Ansatz, mit totaler Transparenz Vertrauen zurückzugewinnen, fand bei Blanco großen Anklang. Allen Fahrern und sonstigen Mitarbeitern des Blanco-Teams wurden vier Fragen gestellt. Haben Sie Dopingmittel genommen? Kennen Sie jemanden, der Dopingmittel genommen hat? Kennen Sie jemanden, der damit gehandelt hat? Haben Sie sonstige relevante Informationen? Die Aussagen wurden im Beisein von Plugge und Eelco Wisman gemacht, einem NLP-Trainer, den Plugge bei einem Kurs über Neurolinguistisches Programmieren kennengelernt hatte und der in der Vergangenheit als Ausbilder der niederländischen Armee tätig gewesen war. Die Antworten der Fahrer auf die vier Fragen zum Thema Doping wurden schriftlich festgehalten und in ihrem Beisein unterzeichnet. Als Ergebnis dieser Befragung, so Plugge, hätten sich schließlich »ungefähr vier« Mitarbeiter mit Informationen an die niederländische Dopingbehörde gewandt und er habe erkannt, dass zwei Beschäftigte ihn nach Strich und Faden belogen hätten. Einer von ihnen, Jeroen Blijlevens, wurde später überführt und im Sommer ebenfalls entlassen.

Auf einer Autofahrt im Juli 2020 zum Jumbo-Visma-Trainingslager in Tignes fragte ich Plugge, woran er erkannt habe, dass sie gelogen hatten. Er antwortete, dass er im Rahmen des NLP-Seminars gelernt habe, auf »Augenmuster« zu achten. Anhand spezifischer Augenbewegungen könne man erkennen, ob jemand eine Geschichte erfindet oder nicht. Plugge: »Das ist ein Indiz.«

Eelco Wisman hatte ihn mit Neurolinguistischem Programmieren bekanntgemacht, und 2014 belegte Plugge seinen ersten NLP-Kurs. Er wollte »Werkzeuge in der Hand haben«, um andere besser zu machen, und kam nicht umhin, sich selbst zu hinterfragen. »Aristoteles hat es gesagt: Sich selbst zu kennen, ist der Anfang aller Weisheit. Das ist ein Klischee, ich weiß, aber es hat seine Berechtigung.«

Es sollte schließlich bis Ende Juni 2013 dauern, ehe Plugge einen Hauptsponsor für sein Radsportteam verkünden konnte. Der US-Konzern Belkin, der Zubehör für Mobiltelefone und Laptops herstellt, war als Geldgeber gewonnen worden. Belkin hatte erkannt, dass Plugge sehr erpicht auf eine Zusammenarbeit war (»vielleicht etwas zu erpicht«), und zeichnete sich in der Folge durch eine überaus geschäftsmäßige und »knallharte« Form der Zusammenarbeit aus. Plugge fand, dass sie gut zahlten, aber er erkannte bei den Amerikanern wenig Liebe zum Radsport. Man hatte sich für zweieinhalb Jahre aneinander gebunden. Aber: »Der Belkin-Boss liebte Basketball, die Los Angeles Clippers. Mit dem Radsport hatte er nicht das Geringste am Hut.«

Plugge hatte sein ganzes Leben damit verbracht, Informationen zu sammeln, die ihn zu einem besseren Menschen und Manager machen würden. Als besonders prägend erwies sich eine Reise, die er 1999 nach Neuseeland unternahm, ein Land, dessen Rugby-Nationalmannschaft ihn sehr beeindruckte. Er besuchte ein Spiel der »All Blacks« in Auckland und erlebte acht Jahre später, wie sie nach einigen mageren Jahren bei der WM in Schottland die Gastgeber mit 40:0 entzauberten. Plugge fragte sich, wie es zu diesem Wandel gekommen war, dessen Auswirkungen und Zusammenhänge er 2013 in dem Buch Legacy – Das Geheimnis der All Blacks von James Kerr nachlesen konnte, das die Wiederauferstehung der Mannschaft von innen heraus beschrieb. »Sie hatten sich aus einem tiefen Tal befreit, indem sie sich getraut hatten, zu hinterfragen, wer die All Blacks nun waren. Sie hatten sich von ihrer Kultur und ihrem Erbe entfernt«, so Plugge. »Die All Blacks hatten eine Entwicklung durchgemacht, die wir später auch durchmachen mussten.« Nach der Lektüre von Legacy stellte auch er sich die Fragen: Wer sind wir eigentlich? Wofür stehen unser Radsportteam und die Menschen, die für es arbeiteten? Was ist unsere Identität?

Als er das Buch kurz nach dessen Erscheinen im November 2013 las, erkannte Plugge sein eigenes Team darin. Die All Blacks hatten eine Identitätskrise erlebt, bei der das gemeinsame Ziel verloren gegangen war. Die neuseeländischen Rugbyspieler kehrten schließlich zu ihren Wurzeln zurück, um den Problemen auf den Grund zu gehen und zu sehen, ob es eine Lösung gab. Sie legten den Fokus auf die Verknüpfung von Sport und der Geschichte ihrer Ureinwohner, der Maori, die für diese Verbundenheit standen. Verbundenheit untereinander, mit dem eigenen Erbe, mit der eigenen Geschichte.

Legacy (»Wenn du eine bessere Leistung willst, beginne mit einem höheren Ziel«) befasste sich mit der Kultur als »Motor für das gewünschte Verhalten«. »Kultureller Zusammenhalt«, so die Argumentation, führe zu »Innovation, größerer Selbsterkenntnis und besserem Charakter«. Für die All Blacks sei »Bescheidenheit der Kern von allem« geworden. Es gehe nicht darum, »im Moment selbst zu reagieren«, sondern Herr der Veränderungen zu bleiben. »Indem man seine Aufmerksamkeit kontrolliert, kontrolliert man die Leistung und damit auch das Spiel.«

Plugge: »Auch wir mussten sicherstellen, dass wir als Team füreinander durchs Feuer gehen. Wir mussten sicherstellen, dass niemand das Gefühl hatte, größer als das Team zu sein. Es ist auch eine Weise, sich als Mensch zu bereichern. Deshalb ist dieses Buch so wichtig für uns. Legacy vermittelt Werte, die auch wir versuchen zu propagieren und weiterzugeben. Es geht nicht nur darum, schnell Rad zu fahren, sondern auch darum, wie man es macht, miteinander, als Menschen, nach unseren Werten. Man muss nicht unbedingt miteinander befreundet sein, aber man muss gut zusammenarbeiten können. Die Kultur des Teams, unseres Unternehmens, muss so sein, dass man sich gegenseitig Dinge sagen kann, die man nicht jedem sagen würde, und zwar deshalb, weil die Beziehung untereinander sich so gestaltet, dass man Dinge voneinander annimmt. Ich möchte in einer Atmosphäre arbeiten, in der man sich gegenseitig alles sagen kann.«

Plugge hatte eine Vorgeschichte beim Militär. 1992 war er Feldwebel der niederländischen Armee und führte »zehn Jungs, die alle keine Lust hatten«. Er leitete die Gruppe, die Bunker und Schuppen zu bewachen hatte, in denen »Waffen, Funkgeräte, Decken und Dosenbohnen« gelagert wurden. In der Armee habe er den Schritt »vom Rebellen zum strukturiert denkenden Menschen« gemacht. »Das war sehr prägend«, sagte er. »Zu wissen, wann es besser war, nicht gegen etwas zu sein. Dass man auch mal was schlucken muss.«

Plugge ließ sich in den frühen Jahren des Teams außerdem von Eckhart Tolle und Tony Robbins inspirieren und wurde ein Bewunderer von Napoleon Hill und seinem Buch Denke nach und werde reich, in dem es darum geht, wie man das eigene Denken beeinflussen kann.

»Ich bin selbst jemand, der lieber nach vorne schaut«, so Plugge. »Ich will mich nicht lange mit gescheiterten Dingen aufhalten, ich habe nicht die Muße, Dinge zu bedauern, die nicht geklappt haben. Stattdessen: jeden Tag dazulernen. Und ich habe kein Problem damit, anderen Menschen Verantwortung zu übertragen, denn man kann nicht alles alleine schaffen. Man muss Rückschläge überwinden und Menschen zusammenbringen, ihnen Verantwortung geben, ihnen eine Richtung weisen. Das ist es, was ich in Hills Buch gelernt haben. Sei positiv, sei kritisch und arbeite hart.«

Noch wichtiger für Plugges Entwicklung war die Begegnung mit einer Frau, mit der er in der Zeit nach seinem Militärdienst ins Gespräch kam. Sie lernten sich im Jugendzentrum De Boerderij in seiner damaligen Heimatstadt Zoetermeer kennen. Die Frau litt an MS, aber es ging ihr gut. Ihr Geheimnis: die Kraft der Gedanken. »Das hat etwas in mir ausgelöst«, sagte Plugge. »Seit dieser Begegnung glaube ich an eine machbare Welt und die Kraft der Gedanken. Sie ist so stark, dass man mit ihr alles erreichen kann. Ich weiß, dass diese Vorstellung häufig belächelt wird, aber ich glaube daran. Seitdem denke ich oft: Wenn ich etwas will, ist es machbar, aber man muss es auch tun.«

Plugge weiter: »Beim NLP wird oft die Frage gestellt: Wie lange noch willst du etwas wollen? Wann wirst du es tun? Was muss ich heute tun, um es später zu erreichen? Wen brauche ich, um das Ziel zu erreichen, wer kann mir helfen? Wann wirst du dir Zeit dafür nehmen? Willst du es wirklich? Wenn ja, setze dir eine Frist, dann wird es Träumen mit einer Deadline. Dann wird es tatsächlich geschehen. Und eine rudimentäre Form davon habe ich bereits mit 18 Jahren gesehen, als ich diese Frau kennenlernte.«

Er sagte, man müsse ein Projekt mit »dem Ende im Kopf« beginnen. Genau das bedeute »Träumen mit einer Deadline«, eine Lektion, die er vom Autor Steve Covey gelernt hatte, der seinen Anhängern predigte: Beginne mit dem Ziel vor Augen. Bringe das in den Fokus, lass es in dein Bewusstsein dringen: Willst du es wirklich und welche Auswirkungen hat dieses Ziel? Plugge: »Es geht darum, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Wenn ich später dort stehen will, was werde ich sehen? Was werde ich riechen? Was wird mir fehlen? Wenn du zum Beispiel nach Santiago de Compostela laufen willst, dann musst du Schuhe und eine Regenjacke kaufen und du musst trainieren.«

Als sie sich in den ersten Jahren sagten, dass sie eines Tages die Tour gewinnen wollten, fragten sie sich: Ist das mit dieser Mannschaft in ihrer jetzigen Zusammensetzung möglich? Die Antwort war nein. Plugge: »Aber wenn wir gewinnen wollen, müssen wir uns die Frage stellen: Wie soll das aussehen? Was brauchen wir dafür? Das beginnt mit einer guten Struktur, einer guten Organisation, mit Vertrauen ineinander. Mit Sponsoren, guten Fahrern und Top-Personal. Wenn man sich mit all dem auseinandersetzt, wird sehr viel klarer, was man tun muss und was nicht, um das zu kriegen, was man im Moment nicht hat.«

Es gab nur ein kleines Problem, das es zuerst zu lösen galt: Er musste Sponsoren auftreiben. Ohne Sponsoren kein Plan, ohne Sponsoren kein Profiteam.

Unterdessen gab es noch ein anderes Problem, das sie sofort angehen konnten. Plugge hatte festgestellt, dass es bei Rabobank zwar gute Fahrer gab, die auch Rennen gewannen, dass es aber seiner Meinung nach nie ein strukturiertes und gut durchdachtes Training gegeben hatte. Er zitierte Erik Breukink, den 2012 entlassenen Sportdirektor. »Breukink sagte über das Training seiner Fahrer: ›Die Jungs wissen schon selber, was sie zu tun haben.‹ Es gab keine Vision bei Rabobank, keine Idee.«

Darüber hatte ich bereits im April 2013 während der Katalonien-Rundfahrt mit Robert Gesink gesprochen. Ich war nach Girona gereist, um eine Reportage über Gesink und seinen neuen Coach Merijn Zeeman zu machen. Die Mannschaft fuhr in blau-weiß-schwarzen Trikots mit der Aufschrift »Blanco«.

Als ich Gesink in der Lobby eines Hotels fragte, wie sich das Training unter dem neuen Coach gestaltete, sagte er, dass sie »eine andere Richtung eingeschlagen« hätten und ganz anders zu Werke gingen als in den Rabobank-Jahren. Analog zu dem, was Plugge über das Training gesagt hatte, äußerte sich Gesink über die Renntaktik: »Bei Rabo hieß es nur: Ihr seid alle Profis und wisst sicher, was zu tun ist. Lasst also am Start nicht zu viele Jungs wegfahren, kontrolliert das Rennen, und dann fahren wir für diesen oder jenen.« Gesink war der Meinung, dass die neue, aktive Art des Radfahrens, die sie nun verfolgten, »besser« sei. Es machte einfach mehr Spaß, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, statt auf das zu reagieren, was andere Teams taten.

Die große Nachwuchshoffnung Gesink war seit 2009 mit stets hohen Erwartungen als Kapitän von Rabobank bei der Tour de France an den Start gegangen, aber man hatte nie den Eindruck, dass es ihm sonderlich viel Spaß machte. Er fühlte sich von den Journalisten verfolgt, von denen viele in ihm einen zukünftigen Tour-Sieger sahen. Gesink flüchtete schließlich nach Girona, wo er die Anonymität fand, die er suchte. Über seine Rabobank-Jahre sagte Gesink später, dass er sich damals »mehr Gedanken über die Gefahren als über die Chancen« gemacht habe, die ihm im Rennen bevorstanden.

In der Lobby des katalanischen Berghotels, in dem das Team 2013 wohnte, sagte Gesink, dass er manchmal immer noch unter dem Rabo-Reflex leide und im Rennen zu spät die Initiative ergreife, weil man ihm eingehämmert habe, dass er nur attackieren solle, wenn er sich wirklich gut fühle. Aber wann weiß man schon, ob man sich wirklich gut fühlt? Gesink wollte deshalb seinen Stil verändern, passend zur neuen Ausrichtung des Teams. »Mir ist endlich ein Licht aufgegangen«, sagte er damals im Hotel.

Mit dem Schriftzug »Belkin« auf Brust und Hose fuhr das Team 2013 eine gute Tour de France. Die Mannschaft brachte mit Bauke Mollema (6.) und Laurens ten Dam (13.), die beide auch schon bei Rabobank unter Vertrag gestanden hatten, zwei Mann in die Top 15 und fuhr sich so in die Herzen der niederländischen Radsportfans. Die 13. Etappe von Tours nach Saint-Amand-Montrond gab dem Selbstvertrauen des Teams einen großen Schub. Belkin ergriff an diesem Tag die Initiative und verabschiedete sich von der defensiven Fahrweise, die Rabobank ausgezeichnet hatte.

Merijn Zeeman und Mathieu Heijboer hatten im Frühjahr 2013 das Nötige gepackt (Zeemans alten Michelin-Reiseführer, Ausdrucke von Google Maps, dazu das Roadbook der Tour de France) und waren Monate vor der Rundfahrt in die Etappenregion gefahren. Zeeman war inzwischen erfahren genug, um zu wissen, dass sich das Blatt bei der Tour an jeder Ecke wenden kann. Als ich den Tag mit ihm rekonstruierte, sagte er: »Auf den ersten Blick war die 13. Etappe ein Ruhetag für die Klassementfahrer, aber ich sah es als unsere Aufgabe an, zu wissen, wo die Gefahren lauern.«

Also gaben sie alle Ortschaften in den Routenplaner ein und verglichen die Daten mit den mitgebrachten Google-Maps-Ausdrucken. Sie erkannten, dass es auf der Strecke, günstige Windbedingungen vorausgesetzt, durchaus Möglichkeiten für das Team gab, in geschlossener Formation anzugreifen. Mit Blick auf diese Etappe wurden schließlich große, kräftige Fahrer wie Lars Boom, Sep Vanmarcke, Maarten Wynants und Bram Tankink nominiert. Kapitän Bauke Mollema hatte keine Angst und wagte es, seine gute Platzierung im Gesamtklassement aufs Spiel zu setzen.

Der Plan ging auf. Mit Hilfe von zwei anderen Teams gelang es Belkin, das Peloton im Seitenwind in Stücke zu reißen und einige Konkurrenten abzuhängen. Mollema und Ten Dam kletterten in der Gesamtwertung vorläufig auf die Plätze zwei und drei. »Bau & Lau« sorgten für Begeisterung bei den niederländischen Radsportfans, die in den zurückliegenden Jahren nicht viel Grund zur Freude gehabt hatten.

Dank gestärkter Moral ging es im folgenden Jahr mit viel Optimismus in die Tour. Das neue Selbstvertrauen im Team zeigte sich insbesondere auf der verregneten Kopfsteinpflaster-Etappe nach Arenberg, wo die Mannschaft sich angriffslustig präsentierte und mit Lars Boom den Tagessieger stellte. Ten Dam (9.) und Mollema (10.) fuhren beide im Schlussklassement in die Top Ten.

Einziger Wermutstropfen war das Zeitfahren, das Mollema aufgrund von technischen Problemen mit seiner neuen Zeitfahrmaschine gehörig in den Sand setzte. Er kam als 140. mit einem Rückstand von mehr als neun Minuten ins Ziel. »Wir hatten das Rad am Tag vorher getestet«, sagte Mathieu Heijboer, »aber aufgrund der Kräfte, die auf die Kurbel wirkten, hat sich der Rahmen verzogen. Eine ziemlich elementare Sache, ja. Wir hätten dieses Zeitfahren wirklich professioneller angehen müssen.«

Mollema fiel an diesem Nachmittag in der Gesamtwertung vom siebten auf den zehnten Platz zurück. Nach der Saison verließ er das Team und unterschrieb im Sommer bei Trek-Segafredo. Ten Dam blieb noch ein Jahr, bevor er zu Giant-Alpecin (später Sunweb) wechselte, wo er 2016 Teamkollege von Tom Dumoulin wurde und 2017 mit ihm den Giro d’Italia gewann.

Das Jahr 2015 war für das Team ein Desaster. Es fiel auf Platz 14 der UCI-Weltrangliste zurück (nach Platz elf im Jahr 2013). Die Saison gilt in der Mannschaft als »der Tiefpunkt«. Plugge führt mehrere Gründe für die Misere an: geringes Budget, schwache Leistung und schlechte Atmosphäre, negative Einstellung, schlechte Kommunikation und fehlende Transparenz. Es herrschte viel Unruhe in der Mannschaft und eine »vergiftete Atmosphäre« (Zeeman), wo vorher noch »füreinander durchs Feuer gegangen« (Heijboer) wurde.

Besorgniserregender und vor allem bedenklicher als die amateurhaften Fehler, die damals passierten, und als die schlechte Stimmung im Team war die Entscheidung des Sponsors Belkin, Ende 2014 als Geldgeber auszusteigen – und damit ein Jahr früher als geplant. Auch weil Belkin ihm die Chance zu einem Neustart gegeben hatte, bemühte sich Plugge, dennoch gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Er sprach von einer »lehrreichen Erfahrung«, auf die er mit »Freude« zurückblicke. Letztendlich aber setzten die Amerikaner ihm im April schlichtweg das Messer an die Kehle. Sie hatten, was sie wollten: Bekanntheit durch zwei Tour-de-France-Starts innerhalb von 13 Monaten. Plugge konnte sich gegen die Ausstiegsklausel im Vertrag nicht wehren.

Plugge räumte ein, dass er sich ein bisschen »verschaukelt« fühlte. Aber »benutzt«? Nein. »Ich dachte nur: cool, dass es überhaupt geklappt hat, und cool, dass ich immer noch hier bin. Natürlich dachte ich auch: Was soll der Scheiß! Und ich hätte es anfechten können, aber dann würde ich mich bis heute damit herumschlagen und hätte mir teure Anwälte in Los Angeles nehmen müssen. Ich habe mich umgedreht, die Sache abgehakt und ihren Ausstieg umgehend verkündet, damit mir noch etwas Zeit blieb, einen neuen Sponsor zu finden.«

Dass sich im Team etwas grundlegend ändern musste, war den Verantwortlichen ohnehin klar. Die Unzufriedenheit war auf allen Ebenen spürbar, und es herrschte eine misstrauische, unsichere Atmosphäre. Die Frage war: Was war eigentlich ihr Kompass? An welchen Werten – welchen Grundprinzipien – orientierten sie sich? Wer waren sie?

Kapitel 2

Der Blanco-Kurs und die Armee

»Die ersten drei Jahre des Teams«, sagte Plugge hinter seinem Schreibtisch, »waren viel weniger strukturiert, weil mein Fokus darauf lag, so schnell wie möglich Sponsoren zu finden.«

Nachdem Plugge einen Ersatz für Belkin gefunden hatte und fortan die staatliche Lotterie LottoNL das Trikot zierte, reifte zusehends die Erkenntnis, dass ein grundlegender Plan hermusste. Und zugleich entstand auch der Raum, um damit zu beginnen, diese neuen Ideen auszuarbeiten. Die Notwendigkeit für Veränderungen wurde durch die durchwachsenen Darbietungen der Mannschaft unterstrichen. Es dauerte bis Anfang Mai, bis der erste von sechs mageren Siegen in der Saison 2015 gefeiert werden konnte.

»Wir waren die Lachnummer im Peloton«, sagte Plugge. »Wir konnten nicht mit den großen Jungs mithalten, waren nur Füllmaterial im Feld und wurden in De Telegraaf verrissen. Und eine Vision gab es auch nicht. Das hatten Merijn und ich Rabobank immer angelastet. Wir haben in dem Jahr nur sechs Rennen gewonnen. Wir hatten Ambitionen, die Nummer eins der Welt zu werden, aber wir hatten das zweitkleinste Budget und lange Zeit herrschte enorme Ungewissheit. Würde es uns demnächst überhaupt noch geben?«

Als die Katastrophensaison endlich vorbei war, trafen sich Zeeman und Plugge eines Nachmittags in Plugges Haus. Die beiden schlossen sich im Kinderzimmer ein und hatten die Idee, »eine Art redaktionelles Leitbild« zu entwickeln, wie Plugge es aus seiner Zeit beim Sanoma-Verlag kannte. Sie wollten die DNA des Teams sezieren und dann herausfinden, welche Elemente fehlten. Wie könnten sie etwas erschaffen, das »ihre Kultur gut widerspiegelte«, eine Kultur, wie sie ihnen vorschwebte?

Unterdessen hatte das Team neben Legacy eine weitere wichtige Inspirationsquelle aufgetan, und mit den damit gewonnenen Erkenntnissen konnten sie ihre Pläne noch spezifischer und gezielter entwickeln. Plugge hatte in seinem Jahr bei Rabobank die Erfahrung gemacht, dass im Team zu viel auf »Glück« und zu wenig auf »Skills«, also auf Können, gesetzt wurde. Er kannte diese Begriffe von Jac Orie, dem erfolgreichen Eisschnelllauftrainer, mit dem sich das Radsportteam ab 2015 den Sponsor Jumbo teilte und mit dem sie zu dieser Zeit begannen, enger zusammenzuarbeiten. Orie hatte dieses Wissen seinerseits aus The Success Equation – Untangling skill and luck in business, sports and investing, einem provokanten Buch des amerikanischen Investmentstrategen Michael J. Mauboussin. Der Fokus auf Glück und Skills war für Plugge und Zeeman der Ausgangspunkt, um ihre Ideen zu konkretisieren.

Orie war ein gefeierter Eisschnelllauftrainer und die von ihm betreuten Athleten hatten zahllose Weltmeistertitel und Goldmedaillen bei Olympischen Spielen gewonnen.

»Probleme«, so Plugge, »werden groß, wenn man verliert, und bleiben klein, wenn man gewinnt. Diese Einsicht, die Orie mir vermittelt hat, war sehr wichtig für mich. Er hat uns mit der Erzählung über Skills und Glück die Richtung gewiesen, und Merijn und ich haben uns angesehen, wie wir das im Radsport anwenden können. Ich habe eine Menge daraus gelernt.«

»Wenn man nicht verlieren und kein Pech haben will, muss man versuchen, das ›Glück‹ so weit wie möglich aus der Gleichung zu nehmen«, führte Plugge aus. »Und das tut man, indem man ›Skills‹ in seine Organisation einbringt. Je mehr Skills in deiner Organisation vorhanden sind, desto geringer die Rolle, die das Glück spielt. Was auch entscheidend ist: In einer Organisation neigt sich alles dem Mittelwert zu. Je höher also deine Untergrenze, desto höher auch die Obergrenze. Auf diese Weise steigerst du das Niveau. Wenn du wachsen willst, musst du demnach die schwächsten Fahrer ziehen lassen und sie durch bessere ersetzen.«

Diese Einsicht galt nicht nur für Coachs und Athleten, sondern für die gesamte Organisation. Plugge verstand, dass sie mehr Geld einnehmen würden, wenn sie diese Prinzipien auch auf die Marketingabteilung und auf das Team als wirtschaftliches Unternehmen anwendeten. »Mit diesem Geld kann man wiederum mehr investieren, und das Schwungrad kommt in Gang. Der ökonomische Motor ist das Sponsoring, und die Leidenschaft ist der Radsport. Die Leidenschaft wird durch das Sponsoring gestärkt, und die Talente treiben den ökonomischen Motor an, was es uns ermöglicht, noch bessere Talente an uns zu binden, und dann werden wir auch entsprechend Siege einfahren. Um diesen Kreislauf in Gang zu bringen, braucht man eine Menge Kompetenzen in seiner Organisation.«

Im Kinderzimmer von Plugges Haus setzten Plugge und Zeeman ihre Beratungen im Winter 2015/2016 fort. Sie sprachen unter anderem über die Regeln, die der Fußballclub PSV Eindhoven eingeführt hatte, als Toon Gerbrands dort sein Amt als Geschäftsführer antrat, und sie sahen sich auch das Dokument »Unsere Kultur und Werte« des schwedischen Möbelmultis IKEA an, für den Zeemans Frau damals arbeitete. Sie übernahmen das Konzept von IKEA, die Idee, dass es ein Dokument geben sollte, »in dem man alles nachlesen kann« und auf das sich jeder berufen kann: ein Dokument mit den zentralen Werten, in dem die Identität des Teams verankert ist. Es wurde zum Kompass der Organisation, und sie betonten, dass es »schön wäre, wenn sich alle Mitarbeiter darin wiederfinden könnten«.

»Merijn machte sich an die Arbeit«, so Plugge. »Ich bin der Mann für die Vision, und Merijn ist gut im Prozess. Er ist sehr stark, wenn es um die Frage geht: Wie kommen wir ans Ziel?«

Eine wichtige Quelle und Inspiration für die Ausarbeitung des Dokuments war die Armee. Gerard Rietjens, einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Teams, unterhielt enge Kontakte zu den niederländischen Streitkräften, und als Plugge 2015 während einer Radtour im Rahmen der Feierlichkeiten zum 200-jährigen Bestehen des Königreichs Niederlande den Generalleutnant der niederländischen Armee kennenlernte, Mart de Kruif, sprachen sie über die Bedeutung von Vertrauen. De Kruif war gewissermaßen der »Anstoß«.

Auf Einladung von Plugge hielt De Kruif einen speziell für das Radteam vorbereiteten Vortrag mit dem Thema: Wie baut man ein Team auf und wie groß ist die Bedeutung von Vertrauen? Plugge: »Weil die Dinge für uns nicht gut liefen, fragten Merijn und ich uns: Wie stellen wir uns das Team vor und wie können wir es verändern? De Kruif sagte uns, dass es sehr wichtig sei, dass alle im Team die gleichen Normen und Werte teilten – nicht nur die Fahrer, sondern sämtliche Mitarbeiter.«

Als Merijn Zeeman sich 2016 daranmachte, die im Kinderzimmer entwickelten Ideen umzusetzen, bezog er sämtliche Mitarbeiter in den Prozess ein und stellte Fragen wie: Wie wollt ihr behandelt werden? Was ist euch wichtig? Dieser Prozess dauerte ein Jahr. Daraus entstanden schließlich zehn Regeln, die zusammen das Dokument »Der Blanco-Kurs« bildeten, das im Februar 2017 vorgestellt wurde. Mathieu Heijboer nannte es ein »inspirierendes Manifest«, und ihm zufolge bestand die übergreifende Idee darin, dass sie versuchten, sich gegenseitig jeden Tag besser zu machen.

»Dieses Dokument wird nicht von oben herab von der Geschäftsleitung erlassen«, stellte Heijboer klar. »Dieses Manifest gehört allen, jeder kann sich im Austausch mit jedem anderen darauf berufen. Es gibt Orientierung, wenn Spannungen auftreten.«

Das Dokument bestand aus zehn Regeln:

1.Wir trauen uns!

2.Vertrautheit und Freundschaft sind uns wichtig.

3.Wir sind ein kluges und fortschrittliches Team.

4.Wir holen jeden Tag das Beste aus uns selbst und aus den anderen heraus!

5.Wir sind offen nach innen und wir sind offen nach außen, aber mit geschlossenen Reihen.

6.Wir wollen eingebunden sein und wir wollen eingebunden werden.

7.Eine Abmachung ist bei uns eine Abmachung.

8.Wir sind direkt, aber nicht unhöflich!

9.Wir sind stolz auf unser Team und auf unseren niederländischen Charakter.

10.Dies gehört uns. Dies sind unsere Vereinbarungen.

Nachdem »Der Blanco-Kurs« schwarz auf weiß zu Papier gebracht war, stellte sich die nächste Frage: Was genau wollten sie erreichen? Plugge und Zeeman baten den Commercial Director des Teams, Sander Kruis, eine Präsentation zu halten, um den Fahrern und Mitarbeitern den immer konkreter werdenden Plan vorzustellen. Ein wichtiger Platz in dieser Geschichte war für ein Foto reserviert, ein mit Photoshop bearbeitetes Bild, das zum Nachdenken anregen sollte. Sie zeigten das Bild ihren damaligen Klassementfahrern: Gesink, Kruijswijk und dem jungen Wilco Kelderman. Zu sehen war das Podium der Tour de France 2016, aber den Kopf des Fahrers auf der dritten Stufe hatten sie durch das Konterfei von Steven Kruijswijk ersetzt. »Da«, sagte Plugge, »wollten wir hin.« Nach einer kurzen Pause: »Aber das war zu diesem Zeitpunkt völlig unrealistisch.«

Kapitel 3

Die Ankunft von Primož Roglič

Bevor Richard Plugge und Merijn Zeeman ihr Brainstorming im Kinderzimmer begannen, hatten sie bereits zwei Fahrer ausfindig gemacht, die das Zeug dazu zu haben schienen, den eingeschlagenen Weg in herausragende Leistungen auf der Straße zu verwandeln: Der Sprinter Dylan Groenewegen kam von Roompot, und in Slowenien hatten sie im Herbst 2015 den unbekannten Primož Roglič entdeckt.

Der Mann, auf den sie zuerst setzten, war Groenewegen. Zeeman hatte Erfahrung im Aufbau eines so genannten »Sprintzugs«. Er wusste, dass dies die schnellste Methode war, um im Radsport Rennen zu gewinnen, und er kannte die taktischen und technischen Aspekte, auf die es beim Anfahren eines Massensprints im Finale eines Rennens ankam. Er wusste aus Erfahrung, wie man den schnellsten Fahrer kurz vor dem Ziel in der günstigsten Position »absetzte«, so dass er seine Konkurrenten mit einer allerletzten High-Speed-Beschleunigung schlagen konnte. Diese Erfahrungen hatte Zeeman von 2009 bis 2012 bei Skil-Shimano mit Kenny van Hummel gesammelt und später mit John Degenkolb und Marcel Kittel perfektioniert, die inzwischen beide zu Weltklasse-Sprintern gereift waren.

Bei der Teamvorstellung im Januar 2016 erklärte Zeeman beim niederländischen Fernsehsender NOS, dass es 2016 nicht nur darum gehe, »sehr hart« zu arbeiten, um die Flaute des schwarzen Jahres 2015 hinter sich zu lassen, sondern dass es auch einen Plan gebe, den sie mit Überzeugung umsetzen mussten. Er verwies auf seine Erfahrungen mit Kittel und Degenkolb und darauf, dass er sich einen ähnlichen Verlauf wieder vorstellen könne. »Wir wissen, wo wir hinwollen: 2018 wollen wir Weltspitze sein und eine Tour-Etappe gewinnen. Um das zu erreichen, müssen wir besser, schlauer und innovativer sein als unsere Konkurrenz. Aber im Moment stehen wir noch am Anfang dieses Prozesses.«

Sechs Monate später, am Vorabend des Starts der Tour 2016, bei der Dylan Groenewegen sein Debüt in Frankreich geben würde, erklärte Zeeman, wiederum bei NOS, dass es das große Ziel gewesen sei, Groenewegen »schneller zu machen«, damit er auf den letzten 200 Metern seine »Explosion zünden« könne. Zeeman erklärte, dass sie vor allem Krafttraining und spezifisches Sprinttraining auf dem Rad gemacht hätten. Groenewegen habe außerdem, im Windschatten seines Vaters auf dem Motorroller vor ihm, häufig lange, sehr intensive Tempoeinheiten absolviert, bis er kotzen musste. Bei der Tour 2016 erreichte er auf der Etappe nach Limoges hinter den Sprintern Marcel Kittel, Bryan Coquard und Peter Sagan den vierten Platz. Zwölf Monate später gewann er den wichtigsten Sprint des Jahres, auf der Schlussetappe der Tour auf den Champs-Élysées. Mit Groenewegen hatte der niederländische Radsport wieder einen Fahrer, auf den er stolz sein konnte. Im Jahr 2018 gewann er 14 Rennen, darunter zwei Tour-de-France-Etappen. Er war Weltklasse.

Um die langfristigen Auswirkungen der Ankunft von Primož Roglič in der Mannschaft zu verstehen, ist es gut, an den Anfang zurückzukehren, als die Coachs des damaligen Teams LottoNL-Jumbo ihn im Herbst 2015 kennenlernten. Damals wurden sie vor allem auf die athletischen Fähigkeiten des Slowenen aufmerksam und konnten noch nicht ahnen, welch großen Einfluss er auf die Entwicklung der Siegermentalität ihres im Aufbau befindlichen Teams haben würde. Zunächst waren sie vor allem von seinen physischen Qualitäten beeindruckt. Das ist an sich nicht überraschend, wenn man bedenkt, wie sie ihn entdeckt hatten.

Roglič tauchte auf ihrem Radar auf, als Teammanager Frans Maassen von einem Bekannten auf einen 22-jährigen Fahrer von Adria Mobil aufmerksam gemacht wurde, der erst seit ein paar Jahren Radrennen fuhr. Er hatte 2015 die Slowenien-Rundfahrt gewonnen, war Zweiter bei der Kroatien-Rundfahrt geworden und hatte in China bei der Tour of Qinghai Lake nach 13 anspruchsvollen Etappen auf der Himalaya-Hochebene den vierten Platz belegt.

Zunächst war man bei LottoNL-Jumbo noch zurückhaltend, wurde dann aber doch aktiv, als Laurens ten Dam ankündigte, dass er zu Giant-Alpecin (später Sunweb), dem damaligen Team von Tom Dumoulin, wechseln würde. Sie brauchten plötzlich noch einen Fahrer. Aber wer war so spät im Jahr noch zu haben? Und wer wollte zu einem Team kommen, das 2015 nur sechs Rennen gewonnen hatte? »Es ist spät im Jahr«, sagte Maassen der Teamleitung. »Und wir haben wenig Geld. Also schlage ich vor, diesem Jungen eine Chance zu geben.«

Sie bekamen seine Kontaktdaten heraus und riefen ihn an. Wie sich herausstellte, lag er in Griechenland am Strand. »Ich war im Urlaub«, erzählte Roglič später.

Das Team buchte ihm einen Flug nach Schiphol, holte ihn am Flughafen ab und fuhr ihn zum Olympiaplein in Amsterdam, wo sie ihn einen Drei-Minuten-Leistungstest auf einem Ergometer absolvieren ließen. Roglič sagte zu Mathieu Heijboer, dass er seit zwei Wochen nicht mehr auf dem Rad gesessen hatte. Als der Test beendet war, sah sich Heijboer die Zahlen an. Umgerechnet 6,5 W/kg. »Für sich genommen ein außergewöhnliches Ergebnis«, sagte Heijboer, »aber in der Vergangenheit hatten schon viele Jungs bei solchen Tests gewaltige Dinge gezeigt.« Als er vom Rad stieg, hatte Roglič nur einen Wunsch: Sollten sie sich einig werden, würde er gern die Slowenien-Rundfahrt fahren.

Als Richard Plugge in einem seiner vielen Notizbücher seinen Eintrag von diesem Tag fand, stand dort zu lesen: Primož Roglič. 6/10/2015. Star. Idol. Weiß sehr genau, was er will, will alles wissen.

Sechs Tage später, am Montag, dem 12. Oktober 2015, gab das Team bekannt, dass es einen slowenischen Fahrer verpflichtet hatte. Am nächsten Abend entwickelte sich im niederländischen Radio ein witziges Gespräch, als der Moderator der Sportsendung Langs de Lijn mit Zeeman telefonierte. Der Moderator staunte über die Verpflichtung eines Fahrers mit Skisprung-Vergangenheit und sprach seinen Namen, weil er sich nicht ganz sicher war, versuchsweise