Der Poet mit dem gebrochenen Flügel - Gabrielle C. J. Couillez - E-Book

Der Poet mit dem gebrochenen Flügel E-Book

Gabrielle C. J. Couillez

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Beschreibung

Er ist ein französischer Pilot. Ein Held der Lüfte, der in seinem einmotorigen Doppeldecker um 1930 als einer der ersten Postflieger für die Briefe und Botschaften der Menschen sein Leben aufs Spiel setzt. In der Einsamkeit während seiner Flüge durch Nächte und über Wüsten hinweg, im Kampf mit den Elementen und im Krieg stellt sich Antoine de Saint-Exupéry immer wieder die Fragen des Menschseins: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist wahre Liebe? Die feurige Latina Consuelo gewinnt schließlich sein Herz und wird die Gefährtin an seiner Seite. Doch ihr gemeinsames Leben ist voller Stürme, Bruchlandungen und Abenteuer. Durch sie findet Antoine Antworten auf seine Fragen, die er für die Welt in poetische Worte fasst. Dabei ist er stets ein verträumtes Kind mit einer empfindsamen Seele geblieben Ein Liebesroman über das Leben des Kleinen Prinzen, philosophisch und fesselnd zugleich.

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Loslassen

bedeutet nicht,

aus dem Herzen zu reißen,

zu vergessen,

nicht mehr zu lieben.

Loslassen

heißt,

nicht besitzen zu wollen,

im Herzen schützend zu bewahren,

zu wissen, dass es keine Trennung gibt.

Loslassen

heißt, wahrhaft zu lieben.

G. C. J. Couillez

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Rose

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sterne

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zitadelle

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Nacht

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Flügel

Epilog

Prolog

Nichts kann ihn mehr begeistern, als in einem Flugzeug zu sitzen! Auch wenn die Umstände und der Anlass wahrhaft betrüblich sind. Seine Fähigkeit, die Maschine nach seinem Willen zu steuern, besonders diese P-38 mit ihren zahllosen Armaturen, Schaltern, Knöpfen und Hebeln vor ihm und um ihn herum, macht ihn stolz und gibt ihm das Gefühl von Macht und etwas Herausragendes leisten zu können. Sein anderes Talent – das des Schriftstellers – findet ja kaum Anerkennung in der Welt oder gar seinem eigenen Volk. So hat General de Gaulle bei seiner Ansprache in Algier eine Reihe anderer Intellektueller und Autoren lobend für ihren militärischen Einsatz erwähnt, ihn jedoch übergangen. Selbst in Frankreich müsste man inzwischen von seinem in den Vereinigten Staaten veröffentlichten Märchen gehört haben, das sich seit einem Jahr zu einem Bestseller entwickelt. Aber es ist eben nur eine reizende Kindergeschichte über Freundschaft und Menschlichkeit, die in der Realität dieses Krieges nicht zählt. Schon seit er vor vielen Jahren in der Einsamkeit der Sahara mit dem Schreiben seines ersten Romans begann, hat er sich dazu berufen gefühlt, den Menschen an sein wahres Wesen zu erinnern, an die Essenz, aus der er besteht – an die Liebe. Doch die Welt liest nur sein Märchen, obwohl er auch für einen seiner Romane einen renommierten Preis bekommen hat. Zu viel Intellekt wird im Allgemeinen nicht verstanden. Nur die einfache Sprache erreicht ihr Ziel, sowohl die einer populären Kindergeschichte wie auch die der politischen Agitatoren, die zum Krieg aufrufen. Aber sein schriftstellerisches Können einzig auf diese kleine außerirdische Märchenfigur zu reduzieren, ist, als ob man ihm seine Flügel nehmen würde …

Antoine stöhnt. Wieder reißt dieser Schmerz in seinem Leib an seinen Eingeweiden, der ihn neben anderen Zipperlein bereits seit Jahren quält und wegen dem er immer wieder zum Opium greifen muss, um das Leben zu ertragen. Er ist zu alt, um noch Soldat zu spielen. Zu verletzt, um zu kämpfen. Zu sehr Humanist, um sich an Schlachten zu beteiligen. Doch sein Volk, seine Familie und seine französischen Freunde und Bekannten würden sein Ausharren im Exil bis zum Ende nicht verstehen. Seine aristokratische Erziehung würde es ebenfalls nicht erlauben. Da hilft ihm selbst sein von vielen Flugzeugabstürzen geschundener Körper nicht. Und schließlich ist auch er ein Patriot.

Antoine neigt seinen Kopf ein wenig zur Seite und sieht über seine linke Schulter hinweg durch das gewölbte Glasdach seiner Pilotenkabine am Flügel und rotierenden Propeller vorbei nach unten. Nichts als Blau um ihn herum, seit er in Korsika gestartet ist. Blauer Himmel und zehntausend Meter unter ihm das Meer. Eine Wüste aus Gasen, die einen als Luft, die anderen verschmolzen zu Wasser. Wüsten haben schon immer eine ungeheure Anziehungskraft auf ihn ausgeübt, weil sie die Sinne nicht ablenken und den Blick nach innen auf das Wesentliche richten. Es wird Zeit für ihn, seinen Frieden mit der uneinsichtigen Welt zu machen, die ihren Sinn vergessen hat und nur noch Hass und Zerstörungswut kennt. Mit seinen Aufklärungsflügen hat er einen Weg gefunden, sich wenigstens nicht direkt am Töten zu beteiligen, ohne sich seiner Pflicht gegenüber seinem Vaterland zu entziehen. Anstelle der Bordgeschütze hat er Fotoapparate installiert, die er mit dem Druck auf das Knöpfchen auslöst, um die Stellungen der Deutschen und ihre Materiallager zu fotografieren. Auf diese Weise kann vielleicht das Blutvergießen minimiert werden.

Das altgewohnte Pfeifen in seinen Ohren schwillt wieder an und übertönt jetzt sogar das gleichmäßige Motorengeräusch seines Flugzeugs. Es verursacht ihm stets Kopfschmerzen, wenn es auftritt. Antoine beginnt, in seine Sauerstoffmaske hinein Edith Piaf zu imitieren und »Un coin tout bleu« zu singen. Er hofft, sich damit zu entspannen. Die ganze letzte Nacht hindurch hat er kein Auge zugemacht. Die Schmerzen waren zu heftig und er will von diesem Opium weg, das ihm sowieso nicht mehr richtig hilft. Also hat er sich am gestrigen Sonntagabend von ein paar amerikanischen Soldaten, mit denen er den Nachmittag in einem Café in Bastia verbracht hatte, nach Miomo fahren lassen und sich dann von den Kameraden verabschiedet. Er wollte allein sein, seinen Gedanken nachhängen und im Meer baden. Später beabsichtigte er ein Mädchen zu treffen, das er seit Kurzem kennt. Sie versüßte ihm die letzten Wochen und stillte seine Sehnsucht nach Zuwendung und Zärtlichkeit. Sie kam jedoch nicht zum vereinbarten Treffpunkt und so hat er dann schließlich im Restaurant »Sablette« auch allein an einem Tisch zu Nacht gegessen.

Um nicht in neugierige Gespräche verwickelt zu werden oder das Mitleid der anderen Gäste zu erregen, die den einsamen französischen Kommandanten in Fliegeruniform bedauerten, der jeden Tag dem Tod ins Auge blicken muss, unterhielt er seine Tischnachbarn mit seinen Taschenspielertricks und kleinen Zauberkünsten. Die belustigte Stimmung, die er damit im Restaurant hervorrief, bewahrte ihn obendrein vor den Fragen über die Lage der militärischen Operationen und den Hassreden auf die Deutschen. Er spürt selbst genügend Wut auf den Feind, die er gemäß seinen Grundsätzen, welche er mit seiner Schriftstellerei verbreiten möchte, eigentlich gar nicht haben dürfte – denn sind nicht alle Menschen gleich und Kinder Gottes? Oder sind manche göttlicher als andere? – Antoine weiß, dass sich auf beiden Seiten die Charaktere entsprechen und ein jeder sich für besser als der andere hält. Wann wird die Welt endlich aus diesem Wahnsinn erwachen?

Antoine lenkt sich mit dem Kontrollieren seiner Bordinstrumente ab, um sich von seiner Enttäuschung über die Menschen nicht niederdrücken zu lassen. Geschwindigkeit, Flughöhe, Öldruck … Die P-38 ist ein fantastisches Flugzeug und er hätte nie gedacht, dass sich die Technik in so kurzer Zeit derart weit entwickeln würde. Ist er zu Beginn seiner Pilotenlaufbahn noch klapprige Kisten mit bei jedem Wetter offener Flugzeugkanzel ohne Radar, nur mithilfe von Höhenmesser, Kompassnadel, Karten und dem Chronometer an seinem Arm geflogen, so verfügt er jetzt über jeden Luxus, samt einer beheizten Spezialkombination, von dem er je beim Fliegen geträumt hat. Und erst die Höhe und Geschwindigkeit, die man mit der Lockheed Lightning erreicht! Dennoch ist für ihn das gemächliche Dahinziehen am Himmel in einer offenen Einmotorigen, möglichst einem Doppeldecker, die einzig wahre Flugkunst, weil sie dem Piloten mehr Mut und Wissen um die Elemente abverlangt. – Weil es vom Fluidum des Pioniergeistes umgeben ist, den auch er einst verspürt hat …

Beim Blick auf seinen Höhenmesser beschließt Antoine tiefer zu gehen. Er drückt seine Handflächen gegen das Steuer, bis er auf einer Höhe von dreitausend Fuß ist. Hier, unweit von Korsika ist die Gefahr eines Feindkontaktes gering, und es ist ihm außerdem lieber, wenn er das Blau des Meeres vom Blau des Himmels besser unterscheiden kann. Nicht, dass er am Ende die Orientierung verliert und die ganze Zeit kopfüber fliegt. Antoine lacht laut auf bei dieser irrwitzigen Vorstellung. Schließlich hat er seinem Hauptmann Gavoille versprochen, das Flugzeug wieder heil zurückzubringen.

»Et quand mon coeur est malheureux. Il va tout seul dans ce coin bleu. Tu as caché dans tes grands yeux. Un ciel d'amour! Un ciel tout bleu! – Und wenn mein Herz unglücklich ist, zieht es ganz allein in diese blaue Ecke. In deinen großen Augen hast du ihn versteckt: einen Himmel der Liebe! Einen Himmel, so blau!«, singt Antoine voller Inbrunst mit einem Vibrato in der Stimme, das der Piaf alle Ehre machen würde. Ein Schmunzeln zieht über sein Gesicht und bringt die spitzbübischen Grübchen in seinen Wangen zum Vorschein. Er muss an seine geheime Geliebte denken, die er bereits vor seiner Ehefrau Consuelo kannte und der er als einzigem Menschen in seinen Briefen noch immer seine tiefsten Ängste und größten Nöte offenbart. Nellys Augen sind blau …

Als ob er auch hier im Cockpit seines Aufklärungsfliegers seine Gedanken, die sich auf seiner Miene widerspiegeln, vor der Welt verbergen müsste, wendet Antoine sein Gesicht zur Seite und blickt auf die sich drehenden Rotorblätter des Flugzeugmotors an jeder der beiden Tragflächen. Über dem Meeresspiegel tief unter sich sieht er Gelbschnabel-Sturmtaucher fliegen, die in den Klippen und Felsspalten Korsikas ihre Nester haben. Ihre graubraunen Körper zeichnen sich dunkel von der gekräuselten Meeresoberfläche ab, deren Wellenkämme in der noch nicht im Zenit stehenden Morgensonne silbrig schillern. Antoine überprüft seinen Kurs. In wenigen Minuten müsste die französische Mittelmeerküste vor ihm am Horizont auftauchen. Dann wird er seinen Auftrag ausführen und seinen Kurs auf die Region östlich von Lyon ausrichten. Sein Treibstoff reicht noch für etwa fünf Stunden. Er hat also mehr als genügend Zeit und kann vielleicht sogar noch eine Runde über dem Ort seiner Kindheit drehen. An das Château seiner inzwischen schon lange verstorbenen Urgroßtante mütterlicherseits Gabrielle de Lestrange, Comtesse de Tricaud, bei dem Dorf Saint-Maurice-de-Rémens binden ihn wunderschöne Kindheitserinnerungen. An diesem ländlichen Ort wuchs er mit seinen Geschwistern relativ frei und unbeschwert auf, als sein Vater viel zu früh verstarb und der jungen Ehefrau und Mutter von fünf kleinen Kindern kaum etwas hinterließ. Leider lebt seine Maman, zu der er seine enge Beziehung selbst durch seine Ehe mit Consuelo nie verloren hat, dort inzwischen nicht mehr. Der Unterhalt des Schlosses wurde zu teuer und sie musste es an die Stadt Lyon verkaufen …

Antoine reckt seinen Rücken. Für ihn ist diese Flugzeugkabine einfach viel zu eng und unbequem. Die meisten Piloten sind kleiner als er und die Fabrikation wurde wohl so Material sparend wie möglich auf deren Bedürfnisse ausgerichtet. Hinzu kommt, dass seine Knochen durch die Unfälle nicht mehr beweglich genug sind, es ob seiner tollpatschigen Physiognomie eigentlich ohnehin nie waren. Schon alleine das Einkleiden vor dem Fliegen ist für ihn, der mit seinen gerade vierundvierzig Jahren noch nicht einmal mehr selbst die Reißverschlüsse an seinen Wadenbeinen schließen, geschweige denn in seine mit Pelz gefütterten Pilotenstiefel schlüpfen kann, eine qualvolle und vor seinen Kameraden erniedrigende Prozedur, bei der er sich alt und nutzlos fühlt. Den umgeschnallten Fallschirm, auf dem er sitzt, könnte er sich sowieso sparen. Im Ernstfall wäre er niemals fähig, abzuspringen und lebend zu landen. Sein angebrochener Rückenwirbel – und wer weiß was sonst noch – würde ihm etwas husten. Da nützt ihm auch die neuartige Konstruktion dieses Flugzeugs nichts, das mit seinem geteilten Heck und Leitwerk einem Piloten in Bedrängnis einen relativ sicheren Absprung garantiert, ohne dass er in Gefahr gerät, durch die höher liegenden Seitenruder verletzt zu werden. Dies ist sicherlich mit ein Grund, weshalb Gavoille, sein Gruppenkommandant, ihn liebend gerne am Boden halten möchte. Für seine beiden Kollegen, die wie er in der Villa von Erbalunga nächtigen, war es beschlossene Sache, dass einer von ihnen diesen Auftrag für ihn heute übernehmen würde, als sie sein Bett unberührt vorfanden und er sich sogar zum morgendlichen Kaffee verspätete. Briaud, der Spaßvogel, hatte ihn über die ganze Zeit ihres gemeinsamen Frühstücks hinweg mit seinem übernächtigten Aussehen und dem Bargestank aus seinen Kleidern aufgezogen, bis alle Mann im Speiseraum der Villa in höhnisches Gelächter ausbrachen. Gavoille dagegen fand es gar nicht lustig und fürchtete sowohl um ihn als auch um diese Mission. Mehrmals fragte ihn der junge Offizier, ob heute angesichts seiner offensichtlichen Übernächtigung nicht lieber ein anderer für ihn einspringen soll. Keiner kann verstehen, dass er sich trotz seines lädierten Körpers nirgendwo wohler und glücklicher fühlt als in einem Flugzeug hoch in der Luft. Was soll er den ganzen Tag am Boden, wenn ihn hier das Abenteuer lockt und im Rausch der Höhe dieses unbeschreibliche Gefühl der Freiheit beglückt! Auf der Erde ist er ein ungelenker Tölpel. Am Himmel ein sportlicher Akrobat, genau wie diese Vögel über der Meeresoberfläche unter ihm. Hier kann er trotz seiner Schwere fliegen. Und das ob seiner Erfahrung besser als die meisten anderen. Beim Fliegen wird alles leicht, sogar das Leben und die Angst vor dem Versagen, die Angst vor dem Ungeliebtsein. In diesem materiefreien Raum spürt er die Unendlichkeit. Beim Fliegen ist er Gott nahe – und sich selbst.

Er weiß natürlich, dass viele um ihn bangen, wenn er mit dem Flugzeug aufsteigt. Ganz besonders seine Maman und natürlich Consuelo, seine Ehefrau – die kleine, zartbesaitete Pimpernelle. Es ist gut, dass sie sein Flugzeug nicht sehen können. Die P-38 gleicht einem fliegenden Sarg aus starrem Metall, zusammengehalten von unzähligen Nieten und Schrauben. Und es ist bei ihrem Anblick undenkbar, dass sie sich in die Lüfte erheben und oben bleiben kann. Consuelo würde ihn eher erschlagen, als mit ihm in dieses Flugzeug mit dem abgeblätterten Lack zu steigen!

Wieder lacht Antoine laut auf, während er das Steuer seiner P-38 hält und die wärmenden Strahlen der Sonne allmählich über seine rechte Schulter in sein Genick wandern. Vor seinem inneren Auge erwachen die Bilder des ersten gemeinsamen Ausflugs mit Consuelo, als er sie, wie schon viele Frauen vor ihr, auf einen Flug in seiner einmotorigen Maschine, einer Laté 28, mitnahm. Antoine schmunzelt. Natürlich wollte er der schönen, temperamentvollen Lateinamerikanerin imponieren und ihr beweisen, dass er, wenn auch als Tänzer schwerfällig, kein langweiliger Europäer ohne Feuer ist. Deshalb zeigte er ihr sein fliegerisches Können, indem er über den Lichtern der aufgrund einer gerade tobenden Revolution teilweise brennenden Stadt Buenos Aires einige Loopings und jähe Sinkflüge vollführte. Consuelo schrie und quietsche an seiner Seite und es gefiel ihm, dass sie sich in ihrer Panik an ihn klammerte. Sie hatte wahre Todesangst! Ihre Hände waren schweißig und ihre schwarzbestrumpften Knie, die unter den herabhängenden Perlenfransen ihres Abendkleides zum Vorschein kamen, bebten. Er weiß, dass es wenig galant ist, eine Situation wie jene schamlos auszunutzen. Allerdings wollen die meisten Frauen im Sturm erobert werden. Zu langes Anschmachten und Hofieren hat ihm selten Erfolg gebracht … Als er ihre schönen Knie und den Ansatz ihrer Schenkel von der Seite her erblickte, legte er ihr wie zur Beruhigung seine Hand auf ein Knie und streichelte über die dünne schwarze Seide ihrer Strümpfe. Sie wehrte sich zuerst nicht dagegen, sondern gab den Anschein, es in ihrer Furcht nicht zu bemerken. Nachdem er erneut zum Sinkflug ansetzte, schlug sie ihm auf die Finger, schrie und weinte, er möge seine Hände am Steuer lassen und unverzüglich landen.

Antoine grinst bei der Erinnerung an diesen Moment verwegen in sich hinein, dass seine braunen Augen zu glänzen beginnen. – Er legte daraufhin zwar beide Hände ans Steuer, beendete den Sinkflug allerdings nicht. Stattdessen erpresste er die wimmernde Schönheit an seiner Seite, sie erst dann wieder heil auf den festen Erdboden zurückzubringen, wenn sie versprechen würde, ihn zu heiraten.

»Sí! Sí!«, presste Consuelo mit weit aufgerissenen Augen, die den immer näher kommenden Erdboden anstarrten, hervor.

Daraufhin zog er das Steuer wieder langsam zu sich heran, bis sich das Flugzeug in waagrechter Lage zum Horizont befand.

»Ich glaube Ihnen erst, wenn Sie mich auch küssen«, bedrängte er sie und wendete ihr seine gespitzten Lippen zu.

Natürlich drückte sie ihm einzig einen flüchtigen Kuss auf seine Wange, nur damit er endlich Ruhe geben solle. Aber so leicht lässt sich ein Franzose nicht abspeisen! Er brachte das Flugzeug zwar mit einer sanften Landung zurück auf die Erde. Bevor er den Motor drosselte, löste er jedoch mit einer raschen Handbewegung ihren Gurt, umfing ihre schmale Taille und schloss sie in seine Arme, wobei er sie leidenschaftlich küsste. Er spürte, wie Consuelo begann unter seinem Verlangen dahinzuschmelzen. Doch dann riss sie sich jäh von ihm los, öffnete die Tür und stürzte nach draußen. Sie war nie wieder in ein Flugzeug gestiegen. Zumindest nicht mit ihm …

Aber ebenso, wie sie das Fliegen mit ihm hasst, widerstrebt ihm das Reisen per Schiff. Dabei bestimmte das Schicksal, dass er Consuelo auf der anderen Seite des großen Teiches kennenlernen sollte, den er damals als zukünftiger Direktor der Aeroposta Argentina bis zum Aufbau seiner Filiale für die Luftpostverbindung der französischen Compagnie Aéropostale mit dem Schiff überqueren musste. Drei Wochen dauerte die Überfahrt, auf der er sich ebenso langweilte und unwohl fühlte wie während der ersten Wochen in Buenos Aires. Nie hätte er vermutet, ausgerechnet dort seinen lang gehegten Wunsch nach einer Frau fürs Leben erfüllen zu können.

Es war bei einem offiziellen Abend der Alliançe Française für den Literaturkritiker Benjamin Crémieux in Buenos Aires im September vor vierzehn Jahren, als er für seine französische Fluggesellschaft schon mehr als ein Jahr in Argentinien war. Argentinien hatte ihn gelangweilt. Wenn er darüber hinwegflog, sah er nur eine öde Landschaft ohne Höhen und Tiefen, ohne Farben und Schattierungen. Eine Wüste, ohne deren Reiz und Einfluss auf die Seele. Die Gesellschaft dort empfand Antoine ebenso. Also ging er zu diesem literarischen Abend mit Empfang, weil er Crémieux, der ihn als Gast eingeladen hatte, als einen Mitarbeiter seines Verlegers persönlich kannte und weil er Ablenkung vom Alltag suchte ...

Rose

1930

Eins

Er trifft als einer der Letzten ein, weil er sich zuerst nicht dazu aufraffen konnte, der Einladung überhaupt zu folgen. Diese Möchtegern-Literaten, die nur der Beachtung wegen und dann noch nach dem allgemeinen Gusto schreiben, damit sie auch die Aufmerksamkeit bekommen, nach der sie suchen, gehen ihm gegen den Strich. Bei ihren leeren Texten rollen sich ihm die Fußnägel hoch. Sie missbrauchen die Worte, bis sie derart abgedroschen sind, dass sie nichts mehr bedeuten. Dabei sollte das Wort dazu dienen, den Menschen etwas zu geben, ihre Seele zu berühren und sie miteinander zu verbinden. – Aber er mag den Mann, für den dies alles veranstaltet wird. Als ihm die Tür zu dem Raum voll mit Leuten aus der Welt der Literatur und solchen, die sich damit brüsten wollen, um sich gebildet zu geben, geöffnet wird, sieht er als Erstes diese kleine, zarte Frau. Sie wirkt verloren in diesem Pulk aus schnatternden Menschen. Ihre schwarzen Augen gleiten suchend umher. Die leere Schaumweinschale in ihrer Hand stellt sie letztendlich kurzentschlossen auf einem kleinen Tisch ab, als sich der Kellner um Antoines Mantel kümmert, anstatt weiter für volle Gläser der Gäste zu sorgen.

»Ich freue mich sehr, dass Sie doch noch gekommen sind«, begrüßt ihn Crémieux, ein untersetzter Mann mit dunklem, glattem Haar, das von einem Mittelscheitel gebändigt wird, und wildem Vollbart unter einer langen Nase, kurzum – der Erscheinung eines jüdischen Gelehrten. Sie schütteln einander die Hände, während Antoine kaum seinen Blick von der adretten, wenn auch nach seinem Geschmack viel zu schmächtigen Frau abwenden kann.

»Sie haben mir nicht gesagt, dass so hübsche Frauen unter Ihren Gästen sind«, entgegnet Antoine dem Gastgeber mit dem stets gütigen Lächeln. »Allerdings ist an dieser Lateinamerikanerin hier ein bisschen zu wenig dran, wenn Sie verstehen, was ich meine«, setzt er mit einem gewissen Unterton hinzu, der in Männerunterhaltungen üblich ist.

Er ahnt ja nicht, dass die junge Dame unweit von ihm des Französischen sehr wohl mächtig ist und sich nun beleidigt fühlt. Crémieux hat indes vergeblich versucht, Antoine durch Zupfen an dessen Zweireiher zum Schweigen zu bringen. Nun kommt die betreffende Lateinamerikanerin entschlossen mit über den Arm gehängtem Mantel auf die beiden an der Tür stehenden Männer zu.

»Vielen Dank für die Einladung, Monsieur Crémieux«, sagt sie ohne eine Gefühlsregung auf ihrem Gesicht auf Französisch mit einem starken spanischen Akzent und streckt Crémieux ihre schlanke Hand zum Abschied entgegen.

»Ich habe zu danken für die Ehre Ihres Besuches, Madame«, erwidert der Mann neben Antoine der jungen Latina und deutet eine Verbeugung an.

Antoine wird indessen von einer starken Reue über seine Worte gepackt und kann es nicht ertragen, durch seinen Fauxpas bei der Bekannten Crémieuxs in Misskredit geraten zu sein.

»Sie gehen und ich komme gerade erst. Es tut mir unendlich leid, dass wir uns nun nicht näher kennenlernen und ich meine Unverschämtheit nicht wiedergutmachen kann«, spricht er mit hochrotem Gesicht die Frau an, die er um eine ganze Kopflänge überragt und die darum zu ihm aufblicken muss, was sie mit einem leicht verärgerten, aber auch überraschten Gesichtsausdruck tut.

»Darf ich vorstellen? Madame Consuelo Suncin Sandoval, Witwe des Literaten Enrique Gómez Carrillo – der Comte Antoine de Saint-Exupéry, ein vorzüglicher Autor und Pilot«, beeilt sich Crémieux, seiner Pflicht als Gastgeber nachzukommen.

»Sie dürfen jetzt nicht schon gehen!«, bittet Antoine geradezu verzweifelt, wobei er ihre Hand nimmt und einen Handkuss andeutet. Noch vorgebeugt blickt er ihr über ihren Handrücken hinweg in die Augen und betont: »Ich flehe Sie an: Bleiben Sie doch noch und entschuldigen Sie mein schlechtes Benehmen! Ich bin ein großer, tapsiger Bär, der nur darauf hofft, bald gezähmt zu werden«, ergießt er weiter einen Redeschwall der Unsicherheit über sie. »Ich schwöre Ihnen, ich habe seit einer Woche mit niemandem mehr in meiner Muttersprache reden können und nichts würde mir besser anstehen als ein ernsthaftes Gespräch mit Ihnen!«

Zweifelnd zögert Consuelo mit einer Antwort. Antoine ergreift daraufhin die Initiative und schiebt sie, ihre Hand noch immer in der seinen, rückwärts zu einer freien Sitzgruppe im Salon. Ohne darauf zu achten, dass ihre Beine bereits an einen der Sessel stoßen müssten, drängt er sie noch weiter zurück, sodass sie etwas ungeschickt auf die Sitzfläche plumpst.

»Oh, pardon!«, entschuldigt sich Antoine sogleich mit schamhaft geröteten Wangen und dem gesenkten Blick eines schüchternen Knaben, weshalb Consuelo, die zuvor noch Unwillen in sich aufsteigen fühlte, ihm gar nicht mehr böse sein kann.

Antoine winkt dem Kellner, erleichtert Consuelo galant von ihrem Mantel und Hut, um diese dem Bediensteten in die Hand zu drücken und bestellt zwei French 75. Crémieux wird inzwischen von anderen Gästen in Beschlag genommen, weshalb Antoine sicher sein kann, die Aufmerksamkeit der grazilen Latina jetzt ganz für sich alleine zu haben.

»Woher wollen Sie wissen, dass dies ein Cocktail nach meinem Geschmack ist?«, wehrt sich Consuelo gegen die Bevormundung durch den riesigen Franzosen ihr gegenüber, den sie nie im Leben für einen Piloten gehalten hätte. Sie öffnet den Verschluss ihrer Handtasche und holt ein vergoldetes Zigarettenetui heraus, dem sie eine Zigarette entnimmt. Antoine beeilt sich, sein Feuerzeug aus seiner Hosentasche zu nesteln und Madame Suncin Sandoval die kleine aufleuchtende Flamme zum Anzünden ihrer Zigarette anzubieten. Er selbst zieht es vor, jetzt nicht zu rauchen.

»Ich sah Sie mit einem leeren Champagnerglas in der Hand, als ich zur Tür hereinkam. Also denke ich, der wird Ihnen zusagen«, kontert Antoine mit einem charmanten Lächeln, sodass sich seine Grübchen in die Wangen eingraben. Aus Erfahrung weiß er, wie unwiderstehlich er mit diesem Blick auf die Damenwelt wirkt, die dann in der Regel völlig von ihm hingerissen ist. »Sie sprechen sehr gut Französisch. Waren Sie schon in Frankreich?«

»Sí, ich habe sogar eine Wohnung in Paris und eine Villa bei Nizza«, nutzt Consuelo die Gelegenheit, um gegenüber dem französischen Adligen durchblicken zu lassen, dass sie kein armes Menschenkind ist, welches er einfach so verschlingen könnte, sondern dass sie sich auf Augenhöhe mit ihm befindet und er sich das Hofieren um sie etwas kosten lassen muss.

Es entsteht auch prompt eine kurze Gesprächspause, während der der Kellner ihre Drinks bringt, sie einander zuprosten und einen ersten Schluck nehmen. Consuelo fischt die aufgespießte Cocktailkirsche aus ihrem Champagnerglas, steckt sie zwischen ihre rot geschminkten Lippen und wartet auf den nächsten Schritt des Franzosen. Er muss etwa in ihrem Alter sein, auch wenn sein Haar bereits recht schütter ist. Natürlich ist sie ebenfalls interessiert und hat einige Fragen an ihn, die sie gerne stellen möchte. Aber sie darf es ihm nicht zu leicht machen, wenn er richtig bei ihr anbeißen soll. Und dies ist für sie schließlich stets der größte Reiz: Wenn sie beobachten kann, wie sehr sie den Männern den Kopf verdreht.

»Meine Schwester wohnt mit ihrem Mann auch dort in der Nähe. Wie kommt es, dass Sie als Lateinamerikanerin in Frankreich wohnen?«

Rauch strömt aus ihren wie zu einem Kuss verführerisch geformten Lippen hervor, nachdem sie an ihrer auf eine Verlängerung gesteckten Zigarette gezogen hat. »Mein Mann war Korrespondent und Diplomat für Argentinien«, antwortet sie knapp und lässt ihren Blick über die Umstehenden schweifen, die, in Grüppchen zusammenstehend, Unterhaltungen führen. Sie will ihrem Gegenüber nicht zu oft in die Augen sehen. Der Franzose sucht offensichtlich ihren Blick, wobei er wahrhaft herzerwärmend lächelt. Der Mann beginnt, sie nervös zu machen, und ihr Asthma zwingt sie zu husten.

»Sie sind noch recht jung für eine Witwe«, bemerkt ihr etwas unbeholfen scheinender Gesprächspartner in seiner allzu persönlich werdenden Neugierde.

»Ich bin sogar bereits zum zweiten Mal Witwe geworden«, gibt Consuelo zu und ärgert sich sogleich über ihre viel zu große Offenheit, die sie nur noch mit Sarkasmus abschwächen kann. »Vielleicht liegt es an mir und ich bringe die Männer zu früh ins Grab.«

Antoine schüttelt mitleidig den Kopf: »Mais non! – Aber nicht doch! Das kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie daran Schuld tragen könnten«, versucht er sie zu trösten.

»Sí, ich hoffe!« Consuelo lächelt nonchalant. »Zu meiner Entlastung kann ich vorbringen, dass Enrique nicht mehr der Jüngste und ich bereits seine dritte Ehefrau war. – Und Sie? Sind Sie verheiratet?« – Wenn sie schon bei dem Thema sind, kann sie ihn auch direkt fragen, obwohl es sie bei vielversprechenden Aussichten wenig stören würde …

Antoine wird ernst, nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas und sagt mit feuchten Augen: »Es hat sich noch nicht ergeben. Ich bin zu hässlich, als dass eine Frau mich zum lebenslangen Begleiter wollte.«

Er versucht seine aufsteigende Traurigkeit vor ihr zu verbergen, indem er sein Glas leert. In diesem Moment erlöst ihn Crémieux, der vor sein Publikum im Salon der Alliance Française tritt und seine angekündigte Rede hält, weshalb jetzt alle Anwesenden höflicherweise ihre Gesichter dem Ehrengast zuwenden und einträchtig lauschen.

Der kleine Ausflug in seinem Flugzeug direkt nach dem Empfang seines Bekannten kam bei der Latina nicht so gut an, wie Antoine dies von seinen bisherigen französischen Eroberungen gewohnt war. Dennoch gibt er die Hoffnung nicht auf. Sein Kuss hatte bei ihr seine Wirkung gezeigt. Das konnte er ganz genau spüren, bevor sie die Flucht ergriff. Es hatte schon kurz vor seiner Landung zu regnen begonnen und inzwischen ist daraus ein heftiger Platzregen geworden, der die junge Witwe, die vor ihm über das Flugfeld dem Automobil zu hastet, sicherlich schon bis auf die Haut durchnässt hat. Sie hält sich ihre kleine Lederhandtasche über den Kopf, der außerdem von ihrem Filz-Glockenhut beschützt wird, weshalb Antoine diese Maßnahme der Frau einfach nur lächerlich und unnötig findet. Er lacht laut, als er sie endlich kurz vor der verschlossenen Wagentür des Ford erreicht. Galant öffnet er ihr den Wagenschlag und verschließt ihn wieder, nachdem sie in seinem Automobil Platz genommen hat. Selbst bereits völlig durchnässt, steigt er auf der Fahrerseite ein und startet den Motor.

»Warum lachen Sie über mich?«, zischt sie unwirsch, wobei sie sich fahrig ihr Gesicht mit einem Spitzentaschentuch trockentupft. »Meine Schuhe sind ruiniert, mein Hut vielleicht ebenso und mir ist übel von Ihrer Fliegerei!«

»Ich lache, weil ich glücklich bin, Sie getroffen zu haben«, versucht Antoine sie zu beschwichtigen und biegt mit dem Auto in die Straße ein, die vom Flugplatz fort und zurück in die Stadtmitte führt. »Nehmen Sie meinen Mantel«, schlägt er ihr vor, während er nach hinten zum Rücksitz greift und das wollene Kleidungsstück nach vorne holt, »der ist warm und trocken.« Er legt ihn ihr auf den Schoß und streift dabei wie zufällig ihre Schulter.

»Behalten Sie Ihre beiden Hände am Steuer!«, faucht sie, dieweil sie sich unter seinem großen Mantel verkriecht. »Und fahren Sie mich jetzt zu meinem Hotel, ins Majestetic!«

»Das passt sehr gut, denn dort wohne ich auch«, behauptet er, obwohl er eine eigene Wohnung in der Nähe des Hafens hat. Aber sollte sie willig sein, würde er für diese Nacht dort ein Zimmer mieten …

»Und vermeiden Sie das Regierungsviertel, in dem die Revolutionäre alles angezündet haben. Für heute hatte ich genügend Aufregung!«, unterbricht sie, noch immer mürrisch, seinen Gedankengang.

Ein ihm unbekanntes Glücksgefühl beginnt ihn indessen von innen heraus zu erwärmen. Ihm gefällt diese kleine, zarte Frau an seiner Seite immer besser. Sie ist unbestritten eine Wildkatze, aber sie kann auch sanft und zärtlich sein. Dessen ist er sich sicher. Die Erinnerung an diesen ersten Kuss lässt die Hitze in seinem Körper erneut anschwellen und er muss sich beherrschen, nicht schwer zu atmen. Weitere Fragen, um ein belangloses Gespräch bis zur Ankunft beim Hotel zu führen, fallen ihm nicht ein. Außerdem begegnen sie immer wieder Gruppen von Studenten und bewaffneten Revolutionären, die mitten auf der Fahrbahn laufen, ihre Banner oder Gewehre schwingen und politische Forderungen skandieren. Er ist froh und erleichtert, als er das Majestetic schnell und ohne Zwischenfall erreicht hat. Er parkt vor dem Eingang, springt aus dem Wagen, öffnet ihr die Tür und ergreift ihre Hand, um ihr aus dem Wagen zu helfen.

»Bitte«, fleht er sie an und sieht ihr tief in ihre schwarzen Augen, wozu er sich beinahe vor ihr niederknien muss. »Darf ich Sie morgen zum Abendessen einladen und hier um acht abholen?«

»Das muss ich mir noch überlegen«, versucht Consuelo den aufdringlichen, riesenhaften Mann abzuwimmeln, entzieht ihm ihre Hand und nimmt eilig die Stufen hinein in das Hotel, wo der Portier ihr gerade mit einem aufgespannten Schirm entgegenkommt.

»Ich werde um acht in der Lobby sein und auf Sie warten!«, ruft Antoine ihr nach.

»Bin ich Ihnen auch zu hässlich, als dass Sie mit mir ausgehen möchten?«

Consuelo fühlt, dass die Verzweiflung im Gesicht ihres Gegenübers echt ist. Dieser Mann, groß und breitschultrig wie ein Schrank, der sie um fast einen Viertelmeter überragt und der die Fähigkeit besitzt, wundervolle Worte für die Beschreibung von Situationen zu finden und Poesie aus Gefühlen zu schaffen, ist in seinem Innern ein verletzliches Kind geblieben. Seine Offenheit berührt sie. Sie kann nicht anders, als ihn zu trösten.

»Sie sind nicht hässlich«, flüstert sie und streichelt seinen Arm, bevor sie zu ihm nach draußen auf den Teppich im langgezogenen Flur tritt und die Hotelzimmertür hinter sich schließt.

Er strahlt, als Consuelo sich ihm zuwendet, und streckt ihr auf seiner Handfläche eine kleine selbstgeschnitzte Bärenfigur entgegen. »Vielleicht möchten Sie diesen Bären gerne zähmen und sich vertraut machen«, sagt er und legt die Figur in ihre Hand, nachdem sie ein verdutztes Nicken angedeutet hat. »Sehen Sie, er passt genau in Ihre zarte Hand. Halten Sie ihn fest. – Kommen Sie!«, fordert er sie dann fröhlich auf und führt sie bedachtsam durch eine Berührung ihres Ellenbogens zum Aufzug. »Crémieux und Ihr Bekannter Ricardo Viñes, dieser katalanische Pianist mit dem mächtigen Schnurrbart, warten schon beinahe so lange wie ich unten in der Lobbyauf Sie!«

Das Restaurant, zu dem sie alle zusammen ein Taxi genommen haben, steht an einer belebten Straßenkreuzung, in die das Jugendstil-Gebäude mit seinen filigranen, schmiedeeisernen Geländern an Balkonen und bodentiefen Fenstern mit einer gerundeten Hausecke hineinmündet. Dort, an der schmalsten Seite des Hauses, in die es sich zur spitzwinkligen Gehsteigecke hin verjüngt, befindet sich auch der Eingang in den großzügigen, romantischen Speiseraum. Durch die zur Seite gerafften Gardinen fällt das Licht der glitzernden Kristallleuchter hinaus in den bereits nachtschwarzen Abend, der über der Stadt liegt.

Crémieux und Viñes plaudern schon die ganze Zeit über angeregt mit Consuelo, die mit ihnen aus dem Fond des Wagens aussteigt. Antoine hält der kleinen Gesellschaft die Tür zum Restaurant auf, wodurch die Geräusche von klapperndem Geschirr, klirrenden Gläsern und fröhlichem Stimmengewirr der Gäste, welche von draußen nur gedämpft zu hören waren, anschwellen. Würziger Geruch von garenden Speisen weht ihnen auf dem Weg zu ihrem Tisch entgegen, wohin sie ein Kellner geleitet. Das Restaurant ist beinahe voll besetzt. Gerade in Krisenzeiten wie während der momentanen Revolution im Land, bei der die Regierung wieder einmal gestürzt werden soll, sucht die Bevölkerung Zerstreuung in jedwedem Vergnügen, folgert Antoine. Er philosophiert mit Crémieux über das Wesen des Menschen, nachdem sie auf den gedrechselten Holzstühlen Platz genommen haben. Dabei beobachtet er insgeheim hin und wieder Viñes, der die junge Lateinamerikanerin vollständig in Beschlag nimmt. Genau wie Crémieux hatte Viñes sie vor ein paar Wochen auf dem Schiff nach Buenos Aires kennengelernte. Die Eifersucht nagt an Antoine und er würde dem Musiker mit den hochgezwirbelten Schnurrbartenden am liebsten den Hals umdrehen.

»Der Mensch ist Geist und Verstand in einem Körper. Der Geist ist der Odem Gottes, der Verstand bildet das Individuum und der Körper die Spielfigur, mit der wir hier ein Leben in dieser materiellen Welt führen«, betont Antoine schließlich und schiebt seinen Suppenteller vor sich zurecht, welcher gerade zusammen mit anderen vom Kellner als Vorspeise für ihren Tisch gebracht wurde. Er stopft nachlässig die Serviette wie einen Latz in seinen Hemdkragen, während sich Consuelo neben ihm die ihre elegant auf ihrem Schoß platziert. Auf ihren etwas rügenden Blick hin begründet Antoine schmunzelnd seine stillose Art die Serviette zu tragen, mit dem weiten Weg, welchen der Löffel bei ihm wegen seiner Größe vom Teller bis zum Mund zurücklegen müsse. Darum könne es bei Turbulenzen durchaus geschehen, dass dann etwas danebengehe. Er wolle doch besonders an diesem Abend, da er mit einer eleganten Dame ausgehe, nicht Anzug, Hemd oder Krawatte beschmutzen, sagt er mit seinem charmanten Lächeln zu Consuelo hin und deutet im Sitzen mit seiner Serviette im Hemdkragen eine Verbeugung an, sodass deren Zipfel beinahe in der Suppe landet.

Daraufhin lachen die anderen beiden Männer am Tisch amüsiert auf und Crémieux, der von Antoines zuweilen unkonzentrierter Art weiß, bemerkt an die ebenfalls erheiterte Lateinamerikanerin gewandt: »Ein Ästhet war unser Graf noch nie. Sie glauben gar nicht, wie oft ich ihm schon die Krawatte zurechtrücken musste!«

Antoine stimmt in das Gelächter mit ein, wünscht sich insgeheim jedoch, Crémieux für seine Herabsetzung vor seiner Angebeteten, besonders da dieser galante Viñes noch mit am Tisch sitzt, nicht ungeschoren davonkommen zu lassen. Er hält sich fortan mit dem Redeschwingen zurück, achtet auf geräuschloses und unfallfreies Suppeschlürfen und heftet seine Augen während des nun folgenden unbeschwerten Tischgesprächs immer wieder auf den langen, krausen Vollbart seines Freundes und literarischen Beraters. Nach einer Weile wird der unruhig und flüstert seinem Tischnachbarn fragend zu, ob in seinem Gesicht etwas ungehörig sei, was dieser verneint. Da realisiert Antoine, dass Viñes zwar ein von den Frauen umschwärmter Charmeur, allerdings keine Konkurrenz in der Werbung um die junge Witwe ist. Nun bereitet ihm der Streich, den er Crémieux spielen will, noch mehr Spaß und er lässt nicht nach, dessen Bart mit leicht erstauntem Ausdruck zu fixieren.

Letztendlich verlangt sein Gegenüber verunsichert: »Mein lieber Kollege, nun sagen Sie mir doch, warum starren Sie mich ständig an?«

Antoine sieht seine Revanche gekommen und antwortet scheinbar besorgt: »Ich warte darauf, dass es aufwacht und wegläuft.«

»Was, um Himmelswillen?«, ruft Crémieux, der ein unappetitliches Insekt in seinem Essen oder Gesicht befürchtet, erschrocken aus und lässt seinen Löffel geräuschvoll in den Teller fallen, sodass sogar ein paar argentinische Restaurantgäste in ihrer Umgebung auf sie aufmerksam werden.

»Das Fellbüschel an Ihrem Kinn«, betont Antoine sodann mit einem gespielt verwunderten Gesicht, was ihm mit seinen großen Augen und den Augenbrauen, die stets voller Erstaunen erhoben wirken, besonders leichtfällt. Damit hat er die Lacher am Tisch auf seiner Seite. Für einen Moment ist Crémieux jedoch ein wenig pikiert.

Antoine besänftigt ihn, indem er ehrlich zugibt: »Wie schaffen Sie es nur, dass Ihr Bart beim Essen unbefleckt bleibt, während ich noch nicht einmal glattrasiert Suppe essen kann?«

»Das ist das Geheimnis eines echten, erfahrenen Grandseigneurs«, erwidert der dann mit einem schalkhaften Lächeln in seinen milden braunen Augen, »das werden Sie auch noch lernen.«

Somit ist die Stimmung in ihrer kleinen Runde auf einem gelösten Höhepunkt und sie prosten einander mit ihren gefüllten Weingläsern heiter zu.

Im weiteren Verlauf des Abends konzentriert Antoine seine Aufmerksamkeit auf die Frau, die er gerne erobern und darum ergründen möchte. Mit heimlichen Blicken versucht er im Gesicht von Madame Suncin Sandoval zu lesen. Die Miene der jungen Witwe ist nach einer Weile wieder zu einer unnahbaren Strenge zurückgekehrt, ihr dunkelrot geschminkter Mund verleiht ihr jedoch eine sinnliche Eleganz. Ihre Augen sind feurig schwarz, aber zuweilen auch weich, voller Mitgefühl und einem tiefen Verständnis, wenn auch für seinen Geschmack mit zu viel Farbe betont. Ihr schwarzes Haar trägt sie modisch kurz und es umschmiegt ihr Gesicht in großen, weichen Wellen. Ihre Haut, die sich an Hals und Armen zeigt, ist leicht durch ein samtiges Braun getönt und nicht derart blass, wie die der Französinnen. Ihr Dekolleté ist unter den Spitzen am Halsausschnitt ihres Kleides verborgen, so, wie es beim letzten Mal, als er sie sah, vom Perlenbesatz bedeckt war.

Sie mag zwar sehr zart und zerbrechlich sein, so dass er fürchten müsste, sie bei einer Umarmung zu erdrücken, aber sie ist nicht wehrlos und schwach. Ihre Widerborstigkeit, die sie ihm gezeigt hat, reizt ihn ebenso wie ihre scheinbare Andersartigkeit, die aus ihrer Herkunft und Kultur resultiert. Sich mit dieser Frau vertraut zu machen, verspricht ihm die Eroberung eines neuen, unbekannten Landes, das Kennenlernen des Fremden. Genau dies könnte seine unstete Suche befrieden. Hier könnte er möglicherweise finden, was ihm nach der Kindheit verloren ging …

»Aber Monsieur Saint-Exupéry ist ein hervorragender Autor und ich hoffe, dass er bald ein neues Buch an den Verlag gibt«, hört Antoine Crémieux loben. »Sie haben doch sicherlich schon etwas in Arbeit?«

»Wer einmal angefangen hat zu schreiben, kann nicht mehr damit aufhören«, lacht Antoine. »Ich darf Ihre Hoffnung also bestärken. Ich arbeite an einem neuen Buch. Der Hintergrund des Romans werden die Gefahren und die Einsamkeit des Piloten während eines Nachtfluges sein.«

Crémieux nickt und brummt zustimmend mit vor Bewunderung hochgezogenen Augenbrauen vor sich hin, da er mit vollem Mund gerade nicht sprechen kann. Auch Antoine beginnt das Steak in seinem Teller zu zerteilen.

»Warum schreiben Sie?«, spricht ihn die Frau, die er gerne erobern möchte, endlich an, sodass er ihr offen in die Augen blicken kann. »Schreiben Sie, um sich zu profilieren?«, fordert sie ihn heraus. »Schließlich gilt die Kunst des Schreibens gesellschaftlich als etwas sehr Nobles, das von großer Intelligenz zeugt.«

»Aber nein, Madame Suncin Sandoval«, verteidigt ihn Crémieux zwischen zwei Bissen sofort, indes Antoine noch darüber nachsinnt, ob er seine gedanklichen Ergüsse tatsächlich aus Geltungsbedürfnis veröffentlichen lässt. »Das hat unser Graf gar nicht nötig! Er ist bereits ein Held und wurde dafür zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.«

Von dieser kleinen Rüge lässt sie sich nicht im Geringsten einschüchtern und schießt ihre nächste Frage an Antoine gerichtet gleich hinterher: »Also schreiben Sie, um zu unterhalten, sí?«

Antoine schüttelt den Kopf und antwortet mit einem gedehnten, abwägenden »Nein.« Und dann, nach einem Schluck Wein aus seinem Glas fügt er an: »Ich will die Menschen wachrütteln, damit sie sich wieder auf ihr Menschsein besinnen und lieben. Und damit meine ich nicht die geschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau, die sich nur auf die Körper bezieht. Diese hat nämlich, wie mir scheint, am wenigsten mit wahrer Liebe zu tun, auch wenn dies seit ewigen Zeiten unter Liebe verstanden wird. Ich möchte die Menschen berühren, um sie zu bewegen. Denn nur wer die Seelen bewegt, bringt etwas in Bewegung.«

Diese Antwort überrascht Consuelo positiv, was sich auch in ihrer Miene zeigt, die Antoine gegenüber Anerkennung ausdrückt. Sie hat mit dem Essen innegehalten und ihr Besteck beiseitegelegt, um nach ihrem Weinglas zu greifen. Nachdem sie einen Schluck genommen hat, taxiert sie ihn über den Rand ihres Glases hinweg. Mit sehr viel mehr Milde und wachsendem Interesse erkundigt sie sich dann: »Und wie möchten Sie dies mit dem Schreiben erreichen? Sie schreiben doch über das Fliegen, oder?«

»Ja, aber das Offensichtliche ist nicht immer das Wesentliche«, lächelt er sie gewinnend an, sodass seine Grübchen in den Wangen wieder sichtbar werden, die ihm etwas Unschuldiges, wenn auch Lausbubenhaftes verleihen.

»Ich versuche Antworten zu finden auf die Fragen, die sich jeder Mensch stellt. – Wer bin ich und warum bin ich hier in diesem Leben? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es ein Leben nach diesem Leben und wie ist dieses? Gibt es einen Gott und wie ist er? Wo ist er und warum hört er mich nicht? Warum fühle ich mich allein und verlassen ...«

»Bueno, aber Sie sind doch kein Theologe oder haben die Reife eines erfahrenen Philosophen! Wie können Sie sich anmaßen, Antworten auf Fragen geben zu können, die noch keiner befriedigend beantworten konnte?«

»Ich maße mir nicht an, diese Antworten zu finden. Aber es ist wichtig, dass die Menschen spüren, dass ihr Glück im Erkennen eines tieferen Lebenssinns und nicht im Jagen nach Irdischem liegt. Außerdem findet vielleicht einer meiner Leser eine Antwort für sich, wenn ich den Anstoß dazu gebe und – viele Antworten sind da, nur sieht sie keiner.«

»Und was ist der Sinn des Lebens?«, hakt Consuelo nach und ihre Augen scheinen in ihrer Ernsthaftigkeit noch dunkler zu werden.

Antoines Stimme wird leiser und er senkt, möglicherweise aus Scham oder auch aus Schüchternheit, seinen Blick. »Zu lieben und sich des Lebens zu freuen.«

»Und was ist Liebe?«, will sie selbstbewusst von ihm wissen.

Antoine strafft seinen Rücken und hält ihren Blick mit seinen Augen fest, wobei er ihre Hand, in der sie ihr Speisemesser hält, mit beiden Händen umfasst, ihr sanft das Messer abnimmt und zur Seite legt, um dann ihre Hand zu seinen Lippen zu führen. Ebenso sicher und überzeugt antwortet er: »Liebe ist Dankbarkeit!«

Völlig entwaffnet lässt Consuelo ihn gewähren und Antoine vergisst die Welt um sich herum.

»Nun aber genug philosophiert und geschäkert! Wir sind auch noch hier«, unterbricht Ricardo Viñes die beiden, nachdem er und Crémieux einander heimlich amüsierte Blicke zugeworfen haben.

Zwei

Das Gebäude der Aeroposta, in dem er als Betriebsdirektor sein Büro hat, ist ein moderner, halbrunder Betonbau mit viel Glas. Auf dem breiten Gehsteig steht seitlich vor dem Eingangsbereich ein kleiner Kiosk in Form eines Türmchens mit Spitzdach, das ihn an den Taubenschlag im Schlosspark seiner Urgroßtante in Saint-Maurice-deRémens erinnert, in dem sie als Kinder gespielt haben. Bevor er ins Büro geht, kauft Antoine an diesem Kiosk bei einem freundlichen, untersetzten Argentinier mit dickem Schnauzbart stets eine französische Zeitung, Streichhölzer und oft auch etwas Schokolade. Wenn ihm sein Freund Mermoz seine Lieblingszigarettenmarke Craven nicht aus Europa mitbringen konnte, versorgt er sich hier ebenfalls mit Zigaretten.

Auf seinem Schreibtisch türmen sich die Berichte der ihm unterstellten Piloten für das Flugtagebuch, Anforderungen von Ersatzteilen für die Flugzeuge, Flugpläne der Linien über den Kontinent für die aktuelle und die nächste Woche, Landkarten, Aufzeichnungen der täglichen Wetterberichte über die letzten Jahre für seine eigenen Prognosen sowie Fotografien der Landschaften zwischen Buenos Aires und der Magellanstraße, die er selbst auf seinen Erkundungsflügen geschossen hat. Er trägt die Verantwortung für das gesamte Netz der südamerikanischen Luftpost mit seinen dreitausendachthundert Kilometern. Die Konzentration, die diese Arbeit mit sich bringt, kostet Antoine viel Kraft. Da ist es ihm gleichgültig, dass er damit eine wahre Unsumme an Geld verdient, welche auszugeben ihm kaum möglich ist. Seine größte Freude und sein Trost ist es, wenn er seinen Schreibtisch verlassen muss, um zum Hangar auf dem weitläufigen Gelände hinter dem Verwaltungs- und Postgebäude zu gehen, weil er Inspektionen und Versuchsflüge durchzuführen hat. Der Geruch von Maschinenöl und Treibstoff, der ihn dort empfängt, gibt ihm irrsinnigerweise trotz der Gefahren des Fliegens ein Gefühl von Geborgenheit. Kraft tanken heißt für ihn, selbst zu fliegen.

Da dem Postnetz noch eine Verbindung von Buenos Aires bis an die Südspitze des Kontinents fehlt, ist es seine Hauptaufgabe, diese persönlich mit dem Flugzeug ausfindig zu machen und nicht nur am Schreibtisch zu planen, was auch der einzige Grund war, weshalb er diesen Job überhaupt angenommen hat. Es gilt, die beste und wetterbeständigste Route sowie Stationen für die Zwischenlandungen mit guten landschaftlichen Bedingungen zu finden. Vor einigen Wochen ist Antoine ein Flug von zweitausendfünfhundert Kilometern gelungen, was bei dem oft starken Gegenwind über dem endlos flachen Land der Pampa keine Selbstverständlichkeit ist. Mitunter sind die Böen derart heftig, dass ein Pilot in diesem Teil der Welt befürchten muss, mitten im Flug auf den Kopf gestellt zu werden. Ein Umkippen der Flugzeuge am Boden bei der Landung, Achsenbrüche der Räder beim Aufsetzen auf dem Flugfeld oder das Darüberhinausschießen, wenn der Wind im Rücken zu stark ist, sind keine Seltenheit.

Darum bangt Antoine auch oft um seine Freunde, welche ihm als Piloten unterstehen. Dennoch muss er als Betriebsleiter das Letzte aus ihnen herausholen, damit die Post schneller und sicherer als mit Schiff oder Bahn ankommt. Ansonsten wäre seine Tätigkeit zur Einrichtung einer kommerziellen Fluglinie für den Transport der Post nutzlos. Henri Guillaumet fliegt zweimal die Woche die Route von Buenos Aires über Mendoza bis Santiago de Chile mit einer offenen Potez 25, die sich am besten dazu eignet die Höhen der Anden zu überwinden, und ihr gemeinsamer Freund Jean Mermoz die Gewaltstrecke über den Atlantik von Toulouse bis Natal in Brasilien. Dort übernimmt ein anderer Pilot die Postsäcke bis Rio, bevor wieder ein anderer diese ab da bis Buenos Aires transportiert. Nachtflüge, bei schlechtem Wetter bisweilen blind und ohne Funkkontakt, sind für die Piloten in ihrer Latécoère 28 wie eine Selbstverständlichkeit zu absolvieren. Antoine kennt das Gefühl der Furcht bei solchen Flügen aus eigener Erfahrung. Dann beginnt der Pilot auf die Maschine und die Motoren einzureden wie auf ein Lasttier, in der verzweifelten Hoffnung, dass ihm mit dem Zuspruch diese im Grunde leblosen Geräte willig folgen und nicht den Dienst verweigern. Einzig unter Aufwendung aller Kräfte der Männer lässt sich ihr Arbeitsplatz erhalten. Nur so ist es möglich, dass Post aus Frankreich in vier Tagen die Pazifikküste erreicht, indes der Transport mit dem Schiff über den Atlantik schon mindestens fünf Tage in Anspruch nimmt.

Antoine drückt seine Zigarette im kristallenen Aschenbecher auf seinem Schreibtisch aus und nimmt die Flugpläne zur Hand, ohne sie bewusst zu lesen. Seine Gedanken sind bei der kleinen, brünetten Frau mit den schwarzen Augen, die ihn kühl und doch voller Feuer anblickten. Er will sie festhalten und nicht mehr loslassen. Endlich hat er ein weibliches Wesen gefunden, das ihm nicht abgeneigt ist, wenn sie sich auch einen desinteressierten Anschein gibt. Darum muss er sie zuerst endgültig erobern. Sie auf ihn prägen wie ein junges Tier, ihr Vertrauen gewinnen, damit sie ihm nicht wieder abhandenkommt, wenn er sie aufgrund seines Berufes längere Zeit allein lassen muss. Nach all seinen schlechten Erfahrungen und Enttäuschungen mit den Frauen möchte er endlich eine Partnerin an seiner Seite, die ihm ergeben überallhin folgt und bei ihm bleibt, was immer auch geschehen mag. Eine Gefährtin, die ihm ein Heim gibt, in dem er Geborgenheit und Sicherheit findet, wann immer er dorthin zurückkehrt. Sie muss zu ihm stehen und ihn in seinen Plänen und Sorgen unterstützen, so, wie er auch zu ihr stehen wird. Sie müssen beide in die gleiche Richtung blicken, das gleiche Lebensziel verfolgen, dieselben Interessen und Ansichten teilen. Und der Sinn einer Beziehung, sich in ihrer Liebe gegenseitig zu halten und wachsen zu helfen, muss für sie als ein Paar selbstverständlich sein.

Er wird es nicht mehr wie bei seiner ersten Liebe und Verlobten Louise akzeptieren, als Beweis seiner Liebe das Opfer erbringen zu müssen, seinen Lebensinhalt – das Fliegen – aufzugeben und stattdessen im Büro einer Ziegelei zu arbeiten oder als Handlungsreisender Lastkraftwagen zu verkaufen. All dies tat er wie ein folgsamer Junge, nur um Louise heiraten zu dürfen, und doch verließ sie ihn. Viele andere folgten – oft nur für eine Nacht. Keine hätte er je heiraten wollen oder können. Außerdem macht er sich nichts vor. Er hat kein männliches Gesicht wie seine beiden Freunde Mermoz und Guillaumet, aus dem auch noch eine natürliche Freude und Offenheit dem Betrachter entgegenspringt. Sein Gesicht ähnelt eher einer Harlekinmaske, seit er sein Haupthaar zum Großteil eingebüßt hat. Seine Augen sind zu groß, sein Mund ist zu klein, die Augenbrauen, wie Dreiecke geformt, ragen viel zu hoch in seine Stirn hinein und für seine lange Himmelfahrtsnase mit den großen Nasenlöchern hatte er bereits in der Internatszeit den Spitznamen Mondgucker ertragen müssen.

Antoine zündet sich verärgert über sich selbst eine neue Zigarette an, wirft das abgebrannte Streichholz in hohem Bogen in den Aschenbecher und schnaubt in Gedanken versunken unwillig vor sich hin. Ein Klopfen an den weißen Türrahmen seiner offenstehenden Bürotür lässt ihn aufschrecken.

»Was ist los, mein Alter?« Guillaumet lehnt an der von Milchglasscheiben durchbrochenen Holzwand, die das Büro des Betriebsleiters vom Großraumbüro, in dem sich die Postschalter für die Kunden der Luftpost befinden, die Telegrafen mit Nachrichten der Wetterstationen tickern und die Funksprüche der Piloten eingehen, abtrennt. »Was murrst du so?«. lacht sein Freund, dem dabei ein paar vereinzelte, blasse Sommersprossen um die sonnengebräunte Nase tanzen. Während der obere Teil des Gesichts, der gewöhnlich unter der Pilotenbrille verborgen und vor dem Wetter in seiner offenen Flugkabine geschützt ist, hingegen weiß wie ein Säuglingspopo strahlt. Schon alleine dieses Aussehen gibt seinem Freund das Flair eines Abenteurers und Helden. Die Lachfältchen um Guillaumets fröhliche braune Augen machen ihn nur noch sympathischer. »Gibt es wieder schlechte Wetterprognosen?«

Und als Antoine ihm, noch immer in sich gekehrt, keine Antwort gibt, sondern ihn nur stumm anblickt und an seiner Zigarette zieht, setzt Guillaumet mit einer weiteren Erkundigung nach: »Noëlle lässt fragen, ob du heute Abend mit uns in den Lunapark gehst? Es gibt einen Boxkampf.«

Mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand nimmt Antoine die Zigarette aus seinem Mund, um den Rauch über das Durcheinander auf seinem Schreibtisch zu blasen. »Im Ernst, Guillaumet! Falle ich deiner Frau und dir nicht allmählich auf die Nerven?«

»Doch, manchmal schon! Aber ich glaube nicht, dass dich das stört«, nickt der lachend, indes Antoine niedergedrückt hinzufügt: »Wer kann einen so hässlichen Vogel wie mich schon lieben?«

»Jetzt hör aber auf!«, entgegnet Guillaumet mit gespielt übertriebenem Unmut und gestikuliert dabei mit beiden Armen. »Du warst seit einer Woche nicht mehr bei uns, um uns mit deinem Weltschmerz die Ohren vollzujammern. Inzwischen machen wir uns bereits Sorgen! Wo warst du die ganzen Abende? Hast du wieder die Bars und Nachtclubs der Stadt unsicher gemacht ...« Guillaumet zwinkert jetzt mit zweideutigem Grinsen und vollführt Tanzbewegungen mit Hüfte und Armen. »…und ein paar hübsche Tänzerinnen abgeschleppt? Eh? Mann, wie schaffst du das nur immer? Dabei kannst du doch gar nicht tanzen!«

»Nein!«, betont Antoine gedehnt und rollt, nun doch über seinen Freund schmunzelnd, die Augen. Dann deutet er geheimnisvoll an: »Es gibt da eine Frau, die ich kennengelernt habe, und ich hoffe, dass sie meine Zukünftige wird. Deshalb kann ich auch heute Abend nicht mit euch kommen. Ich muss das Vögelchen ins Nest bringen …«

»Na, dann viel Erfolg!«, lacht Antoines Freund und wendet sich zum Gehen. »Noëlle wird Augen machen, wenn ich ihr das erzähle. Ich hoffe, dass du uns deine Zukünftige bald vorstellst. – Kennen wir sie?« Er dreht sich nochmals um und blickt interessiert zu Antoine am Schreibtisch.

»Nein, sie ist eine junge Witwe aus El Salvador, die mit ihrem Mann, einem Schriftsteller und Regierungsbeamten Argentiniens, in Frankreich gelebt hat«, steht Antoine Rede und Antwort, was ihm sichtlich etwas unangenehm ist. Er kann sich schon denken, dass seine Wahl – eine Ausländerin, noch dazu aus der neuen Welt – unter seinen französischen Kollegen eher Missbilligung als Begeisterungsstürme auslösen wird.

»Oh, das klingt aber nicht vielversprechend«, kommentiert Guillaumet auch prompt, jedoch mit mildem Lächeln. »Entweder ist sie alt und hässlich oder hinter deinem Geld her.«

»Weder noch!«, kontert Antoine und setzt eine siegessichere Miene auf, woraufhin Guillaumet sich augenzwinkernd mit einem angedeuteten Winken verabschiedet.

Innerlich ist Antoine dennoch verunsichert, da er selbst nicht davon überzeugt ist, auf Frauen aufgrund seines Wesens oder gar Aussehens besonders anziehend zu wirken. Ist es möglicherweise doch nur Hoffnung auf einen materiellen Gewinn durch seinen Titel und nicht Liebe, was die junge Witwe für ihn zugänglich macht? – Antoine lässt die Momente ihrer Blickkontakte, in denen sie sein Lächeln erwiderte oder verlegen die Lider niederschlug, vor seinem inneren Auge Revue passieren. – Nein, es muss Liebe sein!, beruhigt er sich selbst.

Crémieux wird in ein paar Tagen wieder nach Frankreich abreisen. Dennoch ist es Antoine gelungen, an diesem Abend alleine mit der Señora Consuelo Suncin Sandoval auszugehen. Ricardo Viñes hat noch ein paar Klavierkonzerte zu geben und bleibt darum vorläufig in Argentinien, weshalb Antoine weiterhin mit seiner Gesellschaft rechnen muss, die etwas von einer Anstandsdame hat. Aber heute haben sie ein richtiges Rendezvous. Auch wenn das der jungen Witwe nicht bewusst sein sollte.

Er ist mit dem Wagen der Fluggesellschaft gekommen, um sie abzuholen, den er vor dem Hotel parkt, bevor er die Lobby betritt und in den Aufzug hinauf zu ihrem Zimmer steigt. Er plant, sie hinterher mit zu sich nach Hause zu nehmen, was auf diese Weise leichter sein dürfte, als lange und für die Dame kompromittierende Diskussionen in einem Taxi zu führen. Seine Hände sind schweißnass und der Weg durch den Flur mit dem Teppich zieht sich ungewohnt in die Länge, bis er endlich vor ihrer Hotelzimmertür steht. Antoine ist so nervös, wie er es bisher bei noch keinem ihrer Treffen war – wie er es seit Jahren nicht mehr war, wenn er sich mit einer Frau verabredet hatte. Er wischt sich die Hände an seinem Zweireiher ab, zupft sich noch einmal Krawatte und Hemdkragen zurecht, wirft einen Blick auf den kleinen Vogel in dem filigranen Käfig, den er in seiner Hand trägt, und klopft an die Tür.

Als sie die Tür öffnet, kann er für die Dauer eines Wimpernschlags ein unsicheres Lächeln in ihrem Gesicht wahrnehmen, das sich dann in ein sichtlich erfreutes wandelt. Sie begrüßen sich mit den obligatorischen zwei Wangenküsschen, die üblicherweise mehr gehaucht werden und zu Antoines heimlichem Bedauern eine Berührung der Haut mit den Lippen nicht zulassen. Sie trägt ein verführerisch dunkelrotes Kleid mit schwarzer Spitze und Stickerei, das allerdings züchtig Dekolleté und Knie bedeckt. Außerdem ist sie etwas dezenter geschminkt, Lippen und Fingernägel leuchten jedoch im gleichen kräftigen Rot wie ihr Kleid. Ihren schlanken Hals schmückt eine goldene Kette mit Rubinen, ebenso hängen von ihren Ohren zwei kleine, in zarte Goldornamente gefasste rote Edelsteine.

Schüchtern und etwas in Sorge, ob ihr sein Geschenk gefallen wird, überreicht er ihr den kleinen Vogel, den er mitgebracht hat.

»Er kann das Pfeifen einer Lokomotive nachahmen und als ich ihn hörte, musste ich ihn für Sie kaufen, weil ich hoffe, dass ich niemals Abschied von Ihnen nehmen muss und Sie für immer bei mir bleiben«, erklärt er ihr die Bedeutung seines Geschenkes verlegen, aber dennoch mit einer melancholischen Überzeugung, dass ihr die Ernsthaftigkeit seiner Absicht nicht verborgen bleibt.

Mit einem höflichen »Der ist aber niedlich« und einem milden Lächeln würdigt sie kurz sein Geschenk, um den kleinen Käfig sodann auf dem Tisch in der Nähe des Fensters abzustellen. Sie wird unten in der Halle diskret den Portier bitten müssen, sich darum zu kümmern. Ihr ist nicht daran gelegen, demnächst erneut eine Leiche in ihrem Zimmer zu haben. Davon hatte sie die letzten Jahre genug. Auch wenn es auch nur ein kleiner Vogel ist, beschließt Consuelo insgeheim und greift sich ihre zierliche Etui-Handtasche.

Antoine hilft ihr in den Mantel mit Pelzkragen und sie setzt sich einen der Kopfform angepassten Hut mit einer schmalen, nach unten abstehenden Krempe auf und zieht sich ihre Handschuhe an. Währenddessen unterhalten sie sich über ihre Pläne für diesen gemeinsamen Abend. Antoine macht ihr den Vorschlag, vor dem Essen ins Kino zu gehen und einen Film mit Charlie Chaplin zu sehen, dem Consuelo begeistert zustimmt. Er liebt diesen Künstler, der im Gegensatz zu ihm selbst so gänzlich ohne Worte arbeitet und dennoch tiefgründig ist. Vor seiner Begleiterin lobt er besonders die Botschaft, die stets in den Filmen Chaplins steckt, selbst wenn es eine Komödie ist.

An der Kinokasse gibt es eine kurze Warteschlange. Als Antoine mit Consuelo an seiner Seite an der Reihe ist, kauft er von dem älteren Mann hinter der Glasscheibe zwei Karten für den Film The Circus. Der Platzanweiser bringt sie zu ihrem Platz hinten bei den Sperrsitzen, die weich gepolstert sind und den besten Blick auf die Leinwand bieten. Außerdem sind sie dort ungestörter, folgert Antoine insgeheim. Ein Pianist im Parkett verleiht dem Stummfilm auf der Leinwand je nach Thema der Szene, ob dramatisch oder verträumt, fröhlich oder traurig, die passende Melodie. Dabei hält der Musiker seinen Blick starr nach oben auf die Leinwand gerichtet, während er in die Tasten greift.

Für Antoine ist es unbedeutend, dass die wenigen eingeblendeten Kommentartexte auf Spanisch sind. Er hat sein Augenmerk ohnehin auf seine Begleiterin fixiert, um ihre Gefühle während der Filmvorführung zu beobachten und somit ihr Wesen zu ergründen. Consuelo ist von sehr mitfühlender Natur, wie er feststellen darf. Sie lacht wie er aus vollem Herzen, sobald einem Akteur ein drolliges Missgeschick widerfährt und bekommt feuchte Augen, wenn die Hauptdarstellerin, eine junge Trapezkünstlerin, vom Zirkusdirektor geschlagen wird oder Charlie Chaplin vor Liebeskummer vergeht.

Überglücklich ist Antoine dann, sobald er diese Gelegenheiten nutzen kann, um die feingliedrige Hand seiner Begleiterin zu halten und sie zu trösten. Nach einer Weile entzieht sie ihm diese zwar stets, doch im Laufe der Kinovorstellung gelingt es Antoine, seinen Arm um ihre Schultern zu legen, ohne dass sie ihm ausgewichen wäre. Und letztendlich darf er ihre Hand in der seinen behalten und lässt sie auch auf dem Weg vom Kino bis in ein Restaurant in der Nähe des Hafens nicht mehr los.

Während des Speisens sprudelt Consuelo über vor Esprit und spannenden Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend in El Salvador. Gefesselt von ihren Erzählungen über speiende Vulkane, bebenden Erdboden, ein Haus im alten spanischen Baustil umgeben von betörend duftenden Blumen, kleinen bienenähnlichen Vögeln und singenden Kaffeepflückern mit Gesichtern, die von ihrer Maya-Abkunft zeugen, hängt Antoine an ihren Lippen, ohne selbst viel von sich preiszugeben. Stattdessen fordert er sie begeistert auf, immer noch mehr zu erzählen, sodass sie beide kaum bemerken, wie die Stunden vergehen. Consuelos Stimme hat einen besonders melodischen Klang und ihr spanischer Akzent verleiht ihr zusätzlich eine temperamentvolle Erotik, die in ihm den Willen bestärkt, sie zu seiner Frau zu machen. Es drängt ihn, in ihr zu versinken und ganz und gar mit ihr zu verschmelzen. Irgendwann sind keine anderen Gäste mehr an den Tischen und die Blicke des Kellners fordern sie auf, ebenfalls den Heimweg anzutreten.

Wohlweislich, dass sein Appartement nicht weit entfernt ist, schlägt Antoine seiner Begleiterin vor, noch ein wenig am Hafen spazieren zu gehen. Consuelo stimmt zu, ist aber dann, während sie an der Uferpromenade entlangschlendern, sichtlich zurückhaltender. Schweigsam gehen sie nebeneinander her. Der Wind bläst ziemlich kräftig und zerrt an ihren Mänteln, was Antoine wiederum zum Anlass nimmt, seinen Arm um Consuelo zu legen. Ganz allmählich drückt er sie immer fester an sich. Schließlich legt auch sie ihren Arm auf seinen Rücken. Er bebt vor Erregung, indes sie vor Kälte zittert. Ihre Hand in der seinen ist kalt und Antoine öffnet seinen Mantel, damit er sie ein Stück weit damit einhüllen und sie ihren Arm darunter um seine Körpermitte legen kann. Sie blicken über das Meer, das sich tintenschwarz mit einem noch schwärzeren Himmel am Horizont verbindet. Unter einer Gaslaterne bleibt Antoine stehen, zieht ihren schlanken Körper an sich, wobei er sich zu ihr herunterbeugt und sie küsst. Consuelo erwidert seinen Kuss, der immer leidenschaftlicher wird. Wenn sie voneinander ablassen, sehen sie einander tief in die Augen. Sie schweigen noch immer, doch sie lächeln glücklich. Ihre Küsse schmecken nach Wein, aber sie sind jetzt völlig ernüchtert. Das Blut sprudelt wie Champagner in ihren Adern und sie spüren den kalten Nachtwind, der ihnen vom Meer her ins Gesicht bläst, nicht mehr.

»Antoine…«, ächzt sie von seiner Leidenschaft angesteckt.

»Nenn mich Tonio«, flüstert er in ihr Ohr, das durch den inzwischen zur Seite gerutschten Hut ungeschützt ist. »So nennen mich alle, die mich lieben.«

»Tonnio…«, haucht sie mit geschlossenen Augen und ihrem spanischen Akzent.