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"Ich habe dir vertraut, Caity... wie konntest du mich verraten?" Vor zwei Jahren half Caitlyn dem FBI, ihren Bruder Joshua einer Mordserie in Washington D.C. zu überführen. Der "Capital Killer" kam lebenslang hinter Gitter. Aber jetzt beginnen erneut Morde, die seine Handschrift tragen. Schnell wird klar: Er hat es auf Caitlyn abgesehen! Kann der attraktive FBI-Agent Reid Novak den Fall aufklären und sie beschützen? Die Zeit drängt. Caitlyns Bruder bietet an mit seinem Wissen bei den Ermittlungen zu helfen. Bevor sie es jedoch bemerken, hat Joshua sie in ein grausames Psychospiel verwickelt, in dessen Zentrum Caitlyn steht ...
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Seitenzahl: 505
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Leslie Tentler
Der Preis des Verrats
Roman
Aus dem Amerikanischen von Annekatrin Heuer
MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH Deutsche Erstveröffentlichung
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Midnight Fear Copyright © 2011 by Leslie Tentler erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l
Konzeption / Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Thorben Buttke Titelabbildung: Corbis Images, Düsseldorf Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz Satz: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-86278-932-0
www.mira-taschenbuch.de
In Erinnerung an meinen Vater. Er sagte mir, ich solle mich „reinhängen“.
Das habe ich getan, Dad.
PROLOG
Southwest Washington, D. C.
Der dumpfe Schrei wies darauf hin, dass die Frau noch lebte. Reid Novak umklammerte den Griff seiner Glock, die er vor sich im Anschlag hielt, fester und bewegte sich vorsichtig weiter. Suchend blickte er sich im Dunkel der verlassenen Fabrik um. Über ihm drang blasses Mondlicht durch die schmutzbedeckten Fenster in der zerfallenden Ziegelmauer.
Noch ein verzerrter Schluchzer. Sie waren ganz in der Nähe. Adrenalin schoss durch seinen Körper, sein Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Er spürte die Anwesenheit seines Partners mehr, als dass er ihn hörte. Obwohl FBI-Agent Mitch Tierney aussah wie ein Defensive End der Washington Redskins, bewegte er sich mit unerwarteter Geschmeidigkeit. Er erschien in Reids Blickfeld, der Lauf seiner schweren Waffe lenkte seine Schritte.
„Blutspritzer“, flüsterte Mitch rau. Er wies mit dem Kopf nach unten auf die Spur, die die Tropfen bildeten. „Sieht aus, als hätte die Party schon angefangen.“
Gemeinsam schoben sie sich vorsichtig auf den dunklen Eingang zu, wohl wissend, wie verrottet die Holzdielen unter ihren Füßen waren. Dunkelheit umhüllte sie. Reid warf seinem Partner einen Blick zu, ein stummes Zwiegespräch entspann sich zwischen ihnen. Dann zog Reid seine linke Hand von der Glock, streckte drei Finger in die Luft und fing an zu zählen.
Eins. Zwei. Drei.
Er bog um die Ecke. Mitch hinter ihm gab ihm Deckung, als er in den Raum stürzte.
„FBI!“ Reid schwang seine Waffe herum und spähte angestrengt um sich, auf der Suche nach menschlichen Umrissen. Sein Atem bildete in der beißenden Kälte kleine Wolken. In der riesigen Fabrikhalle hing der rostige Geruch nach Schimmel und Moder.
„Großer Gott. Da“, brummte Mitch.
Schwaches Licht von einem Fenster weiter hinten beleuchtete das Opfer spärlich. Der Mund der Frau war mit Klebeband verschlossen worden, ihre Hände waren wie zum Gebet zusammengebunden. Das große Messer, das an ihre Kehle gedrückt wurde, funkelte silbern. Die weiße Bluse der Frau war bereits zerrissen und blutüberströmt. Joshua Edward Cahill stand hinter ihr, sein Gesicht war im Dunkeln nicht zu erkennen. Er hielt die Frau fest an seine Brust gedrückt.
„Lass das Messer fallen, Joshua.“ Reid sprach ruhig auf ihn ein und bewegte sich weiter vor.
„Ich schneid ihr den Hals durch!“
Ein Wimmern entwich der Frau, als er das Messer fester an ihre Kehle drückte. Ihre Augen weiteten sich in Panik, die Pupillen rollten zurück. Eine dünne rote Linie erschien auf ihrem blassen Hals. Trotz der eisigen Luft spürte Reid einen Schweißtropfen seinen Rücken hinunterlaufen.
„Verdammt“, rief Mitch und machte einen Satz nach vorne. Reid hielt ihn zurück.
„Sieh mich an, Joshua.“
„Hauen Sie ab!“
„Du weißt, das kann ich nicht. Tritt zurück und lass sie gehen.“
„Damit Sie mich ins Gefängnis stecken können? Da hat Ihnen jemand was Falsches erzählt, Agent Novak. Ich bin ein paranoider Schizophrener mit schwach entwickelter Impulskontrolle …“ Sein höhnischer Tonfall klang, als ob er aus den Aufzeichnungen eines Psychiaters zitierte. „… kein Idiot.“
„Niemand muss hier sterben.“
„Genau.“ Joshuas Stimme überschlug sich. Er trat einen Schritt auf das große, deckenhohe Fenster zu, seine Gefangene zerrte er hinter sich her. Die Frau wehrte sich, bis ein weiterer Schnitt mit dem Messer sie erstarren ließ. Reid wusste, dass drei Stockwerke unter ihnen der eisige Potomac lag, sich durch die Landschaft wand, wie ein von Schneewehen gesäumtes schwarzes Band. Er stand jetzt nur noch ungefähr zehn Meter entfernt, seine Waffe noch immer auf den Schatten gerichtet, der der Sohn eines US-Senators war.
„Wir können dich zu Dr. Lauderbach bringen.“ Er begann zu verhandeln. „Du vertraust ihm doch, richtig?“
„Lauderbach ist ein Arschloch.“
Als Joshua seinen Kopf ins Mondlicht tauchte, erschienen seine dunklen Augen unter dem dichten ebenholzschwarzen Haar. Er starrte Reid an und verstärkte seinen Griff um die Geisel. Die Frau war Anfang dreißig, blond. Ihre Beine steckten in dunklen Strümpfen unter einem karierten Rock. Irgendwo in diesem Albtraum hatte sie einen Schuh verloren. Sie keuchte. Hinter dem metallgrauen Klebeband, das die untere Hälfte ihres Gesichts verbarg, zogen sich ihre Wangen zusammen und dehnten sich wieder. Reid blickte in ihre tränenfeuchten Augen. Und vermied es, sie noch einmal anzuschauen. Es würde ihn seine Objektivität kosten, und das konnte er sich nicht leisten.
„Also, was willst du, Joshua?“
„Ich will meine Schwester sehen! Ich will Caitlyn sehen!“
„Wir holen sie dir her, Mann“, bot Mitch ihm an. Die Holzdielen unter ihm bogen sich und knarrten dabei. Reid fürchtete, sein Partner könnte durchbrechen und ein Stockwerk tiefer fallen.
„Ihr lügt …“
Mitch kam einen Schritt näher. „Wir schicken eine Einheit los, um sie zu holen. In fünfzehn Minuten haben wir sie hier. Aber du musst uns etwas dafür geben. Überlass uns die Frau …“
Joshua wurde lauter, seine Stimme war voller Panik. „Treten Sie zurück! Ich schneid ihr die gottverdammte Kehle durch!“
Mitch tat, wie ihm geheißen – kein leichtes Unterfangen für ihn, wie Reid feststellte. Sein Partner war bis aufs Äußerste angespannt, seine breiten Schultern krümmten sich unter der marineblauen FBI-Jacke wie eine Katze, die zum Sprung auf ihre Beute ansetzt.
„Caitlyn hat mein Tagebuch an sich genommen, nicht wahr?“ Joshua schoss Reid einen Blick zu. In seinen glühenden Augen spiegelte sich der Verrat. „Sie hat es Ihnen gegeben.“
„Das spielt keine Rolle …“
„Für mich schon!“
Reid straffte sich. Joshua zog seine Gefangene näher ans Fenster und blieb erst stehen, als er mit dem Rücken an die dreckige Scheibe stieß. Wo waren die Scharfschützen? Inzwischen sollte längst ein Helikopter über ihren Köpfen schweben. Blut sickerte durch den Blusenkragen der Frau. Reid bekam einen trockenen Mund. Joshuas Feindseligkeit wuchs. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.
„Caitlyn hat mir das Tagebuch gegeben“, bekannte er. „Du bist ihr sehr wichtig. Sie will, dass du Hilfe bekommst.“
Sobald Joshua das hörte, verzog sich sein Gesicht. Er schluchzte auf und rieb sich mit einer Hand über die Augen. Doch ohne die andere zurückzuziehen, mit der er das Messer an die Kehle der Frau drückte. Reids Zeigefinger verharrte schussbereit am Abzug der Glock. Konnte er einen sicheren Schuss abgeben? Die Frau bildete einen wirksamen Schutzschild. Wenn seine Kugel ihr Ziel auch nur um zwei Zentimeter verfehlte …
Joshua murmelte etwas vor sich hin, Obszönitäten und gewalttätige Drohungen ergossen sich aus seinem Mund. Aus dem Augenwinkel bemerkte Reid, wie Mitch wieder näher rückte. Sein Partner spürte offenbar ebenso wie er die wachsende Spannung in der Luft, ein Hinweis auf das heraufziehende Verhängnis.
„Sie haben gesagt, niemand müsse sterben.“ Joshuas dunkle Augen glitzerten.
„Nein, niemand …“
„Was, wenn ich es will?“ Ein schriller Schluchzer entwich ihm. „Was, wenn ich das alles hier beenden will, und zwar jetzt gleich?“
„Joshua … hör mir zu. Tu das nicht.“
Das Krachen verrottender Holzdielen drang durch den Raum.
„Scheiße!“
Reid sah, wie Mitch einbrach, seine Beine verschwanden in dem Loch, das sich im Boden aufgetan hatte. Während Mitch mit den Armen ruderte, um an den verbliebenen Holzdielen Halt zu finden, schlitterte seine Waffe von ihm fort.
Joshua nutzte den Moment. Das kalte Metall des Messers blitzte in einer wütenden Bewegung über dem blassen Hals auf. Den Bruchteil einer Sekunde später entlud sich Reids Waffe. Kaum nahm er den Rückstoß der Waffe wahr, der schmerzhaft in sein Handgelenk schoss. In die Schulter getroffen, fiel Joshua rückwärts ins Fenster, krachte in einer Explosion zerberstenden Glases durch die Scheibe.
Wie eine zerbrochene Puppe fiel die Frau zu Boden. Blut strömte aus der Schnittwunde an ihrem Hals. Reid landete neben ihr auf den Knien, er wusste bereits, es war zu spät. Ihr Körper krümmte sich, als er sich über sie beugte und versuchte, mit den Händen Druck auf die Wunde auszuüben. Helles Blut spritzte auf seine Jacke. Hinter ihm hatte sich Mitch aus den zersplitterten Holzdielen herausgezogen. Jetzt hing er halb aus dem Fenster und sah hinunter auf den Potomac, in dem Cahill verschwunden war. Durch das Funkgerät bellte er Befehle an das Team unten vor dem Gebäude.
„Findet ihn! Findet diesen miesen kleinen Scheißkerl!“
Reids Versuche, die Blutung unter Kontrolle zu bringen, waren nutzlos. Er schaute der Frau in die Augen, jegliches Bedürfnis nach Objektivität war verschwunden. Ihre Furcht schwand, sobald ihr Blick starr wurde und die Pupillen sich weiteten. Ein letztes mattes Röcheln entwich ihrem Körper. Er fühlte, wie ihr flatternder Puls versiegte. „Nein. Nein!“
Mitch legte Reid eine Hand auf die Schulter. Er schüttelte sie ab, Wut und Hilflosigkeit raubten ihm den Atem. Wiederbelebungsversuche waren vollkommen sinnlos. Seine Kehle brannte. Die Luft um ihn herum roch nach Schießpulver und Blut.
„Die Halsschlagader wurde durchtrennt – sie ist tot“, erklärte Mitch mit matter Stimme. „Lass gut sein.“
Reid setzte sich auf. Seine Handflächen waren schmierig vom Blut. Über ihnen donnerte ein Helikopter über das Gebäude, seine Scheinwerfer suchten den Fluss ab. Das gähnende Loch in der Mauer, wo das Fenster gewesen war, hatte den eisigen Januarwind hineingelassen. Reid schauderte, die eiskalte Luft sickerte in seine Brust und erschwerte das Atmen. Aus dem alten Fahrstuhlschacht tönte bereits das mechanische Kurbeln und Rattern, das ihm die Ankunft der Sanitäter ankündigte. Aber es gab nun keine Eile. Noch immer hielt er die gefesselte leblose Hand der Frau.
Zwei Wochen lang war Joshua Cahill ein Verdächtiger in der Mordserie gewesen, die die Presse in großen Lettern als „Capital-Killer-Fall“ betitelt hatte. Cahills Vater hatte alles getan, was möglich war, um die gemeinsamen Ermittlungen von Polizei und FBI von seinem Sohn fernzuhalten. Aber am Ende hatte Reid mit seinem Verdacht recht behalten. Ob sich Senator Braden Cahill um seinen Ruf sorgte oder einfach nur die Augen vor Joshuas Geisteskrankheit verschloss, darüber konnte nur spekuliert werden.
„Ich war verdammt nah daran, einen Stock tiefer zu fallen.“ Mitch war zum Fenster zurückgekehrt, um einen Blick über das schwarze Wasser zu werfen. „Glaubst du, dass er tot ist?“
„Vielleicht“, antwortete Reid leise. „Ich weiß es nicht.“
Er schloss die Augen vor der Szenerie, die sich ihm bot. Schmerz machte sich in seinem Kopf breit, der Beginn einer weiteren Migräneattacke. Um alles in der Welt hatte er Cahills Mordserie bei fünf Opfern beenden wollen. Aber heute Abend war eine weitere Frau auf der schaurigen, sinnlosen Liste gelandet. Hätte er seine Chance nutzen sollen? Hätte er in dem Moment schießen sollen, kurz bevor der Boden nachgab? Bevor Joshua seine Entscheidung traf?
Er stand auf und wappnete sich für den Ansturm von Fragen, der über ihm niedergehen würde. Fragen, die bei seinem Chef, Special Agent in Charge Johnston, anfingen und ohne Zweifel den ganzen Weg vom Capitol Hill herunterkommen würden.
1. KAPITEL
Zwei Jahre späterIn der Nähe von Middleburg, Virginia
Ich habe dir vertraut, Caity.
Caitlyn Cahill wurde ruckartig wach, ihr Herz raste. Sie brauchte eine Sekunde, bis ihr klar wurde, dass sie nur wieder geträumt hatte. Trotzdem war das Gesicht ihres Bruders – seine Stimme – so deutlich gewesen, als ob er neben ihrem Bett gestanden hätte. In ihrem Traum ergriff Joshua ein großes Küchenmesser und seine Augen waren schwarz vor Hass.
Sie hatte diesen Albtraum mindestens einmal in der Woche.
Langsam seufzend setzte sie sich auf und schaute zur Uhr auf dem Nachttisch. Draußen vor ihrem Schlafzimmerfenster hörte sie nur die vertrauten morgendlichen Geräusche. Obwohl es noch nicht ganz hell war, zwitscherte schon eine Lerche von einem Ast der stattlichen Eiche mit den orangefarbenen Blättern, und vom Stall her drang Pferdegewieher zu ihr herüber. Caitlyn hatte in dem hügeligen Pferdeland im Norden Virginias Zuflucht gefunden. Ihr Treuhandfonds hatte das Geld für das weitläufige zweistöckige Farmhaus mit dem Stall und dem Ackerland ringsum bereitgestellt.
Sie hatte weggehen müssen.
Nach Joshuas Festnahme und dem tödlichen Schlaganfall ihres Vaters war wenig geblieben, was sie in Washington gehalten hätte. Der Lebensstil der feinen Gesellschaft, in dem man sie erzogen hatte, war von einem Tag zum anderen beendet gewesen. Geächtet war die zutreffendere Beschreibung dafür, wie sie behandelt worden war. Manchmal gestand sie sich im Stillen ein, dass sie sich gewünscht hätte, Joshua wäre an seiner Schusswunde gestorben oder wäre nach seinem Sturz in den Potomac ertrunken und nicht von der Polizei aus den eisigen Tiefen des Flusses gezogen worden. Aber dann überkamen sie Schuldgefühle und dann wieder neue Gewissensbisse, weil sie an ihren Bruder dachte, statt an die sechs unschuldigen Opfer, denen er das Leben genommen hatte.
Er war krank. Aber war das eine Entschuldigung?
Nichts konnte jemals erklären, was er getan hatte.
Als Joshuas Prozess vorbei war – ein dreiwöchiges Trauerspiel mit forensischer Beweisführung und psychologischem Gutachten –, hatte Caitlyn leise und unauffällig ihre Sachen gepackt und war, ohne ein Wort zu den einstigen Unterstützern und Freunden ihrer Familie, abgereist. Sie verstand, dass jeder mit dem Nachnamen Cahill jetzt als Paria galt und dass es für andere das Beste war, sich von der Familie zu distanzieren, aus Furcht, auf den Cahills würde ein Rest der Schande lasten.
Ihr Vater, Senator Braden Cahill, hatte das Gewicht von Joshuas Sünden nicht zu ertragen vermocht. Er war während einer Pressekonferenz zusammengebrochen, die seinen Rücktritt ankündigte, und starb eine Woche später. Dann hatte ihre Mutter, Caroline, auch noch den Rest ihres Verstands verloren.
Die Rambling-Rose-Farm hatte Caitlyn die Ablenkung geboten, die sie brauchte. Auf einmal hatte sie eine Aufgabe, durch die sie weiterleben konnte, trotz ihres schlechten Rufs und ihrer Scham. Sie hatte den Hof in ein Zentrum für therapeutisches Reiten verwandelt. Behinderte und benachteiligte Kinder durften hier Pferde striegeln, sie versorgen und reiten. Caitlyn hatte Zeit, Energie und Geldmittel eingesetzt, um das tiergestützte Therapieprogramm zu entwickeln. Ihrer Meinung nach war ihre Arbeit auf der Rambling-Rose-Farm ein Weg, das Böse, das ihr Bruder in die Welt getragen hatte, irgendwie wiedergutzumachen.
Es war jetzt Ende Oktober, und die frische Luft des frühen Morgens drang durch das alte Haus. Caitlyn zog einen weiten Strickpulli mit Zopfmuster über ihren Pyjama, dann tappte sie die Treppe hinunter, um Kaffee zu kochen und sich auf den Tag vorzubereiten. Ein Bus mit behinderten Kindern aus D. C. wurde in einigen Stunden erwartet, und sie musste noch bei einem der malerischen Restaurants im nahen Middleburg Lunch-Pakete bestellen – Truthahn-Sandwiches, Joghurt, Äpfel und Haferflocken-Rosinen-Plätzchen. Außerdem wollte Caitlyn das Nachmittagsprogramm selbst anleiten und die fortgeschritteneren Kinder zu einem Ritt auf dem Waldpfad mitnehmen. Doch damit nicht genug. Eli Burton, einer der Großtierärzte der Gegend, kam auch hinaus auf die Farm, um sich ein Fohlen anzusehen, das sie vor Kurzem von der Mutter getrennt hatten.
Die Kaffeemaschine hatte gerade angefangen, dampfenden Kaffee in die Kanne zu tröpfeln, da läutete das Telefon. Caitlyn nahm den Hörer zur Hand und klemmte ihn sich zwischen rechte Schulter und Ohr, während sie im Edelstahlkühlschrank nach dem letzten Karotten-Muffin stöberte.
„Ms Cahill?“
„Ja?“
„Hier spricht Hal Feingold.“
Sie schloss die Kühlschranktür. Der Name des Reporters versetzte ihren Magen in Aufruhr.
„Ich möchte mich entschuldigen, dass ich Sie so früh am Morgen anrufe. Sie erinnern sich vielleicht an mich. Ich habe für die Washington Post über die Ermittlungen im Capital-Killer-Fall berichtet, aber jetzt bin ich von da fort und arbeite auf eigene Faust.“
„Ich weiß, wer Sie sind, Mr Feingold“, sagte sie.
„Ich wollte Ihnen erzählen, dass ich an einem Buch arbeite.“
„Über meinen Bruder?“
„Über Ihre Familie, genau genommen. Über ihre Rolle in der Mordermittlung.“
Caitlyn hasste das schwache Zittern in ihrer Stimme. „Ich werde Ihnen keine Genehmigung dazu geben.“
„Die brauche ich nicht, Ms Cahill“, antwortete Feingold in ruhigem Ton. „Alle Akten und Unterlagen sind öffentlich zugänglich. Ganz abgesehen davon, dass Ihr Vater eine Person des öffentlichen Lebens war. Man könnte behaupten, Sie wären ebenso eine. Bei der Festnahme Ihres Bruders haben Sie eine Schlüsselrolle gespielt. Sie haben sein Tagebuch dem FBI übergeben, nachdem der Richter – ein Freund von Senator Cahill – sich geweigert hatte, den Befehl zur Durchsuchung und Beschlagnahme für das Anwesen am Logan Circle zu unterzeichnen. Eine sehr mutige Entscheidung. Ich weiß, was das in Ihrer Familie ausgelöst hat …“
Caitlyns Antwort kam schneidend. „Auf Wiedersehen, Mr Feingold.“
„Das Buch wird mit oder ohne Ihre Mitarbeit entstehen. Ich biete Ihnen jetzt die Gelegenheit an, Ihre Version der Geschichte darzustellen. Sie sollten darüber nachdenken.“
Caitlyn starrte durch das Fenster über der tiefen Spüle. Wie in einem Spiegel betrachtete sie ihr Gesicht in der Scheibe und fuhr mit einer Hand durch ihr vom Schlaf zerzaustes, honigblondes Haar. Sie wollte nicht, dass das Buch gedruckt wurde, dass es jetzt, zwei Jahre nach den Vorfällen, neues Interesse weckte. Sie konnte das alles nicht noch einmal durchstehen.
„Ms Cahill? Ich würde gerne zu Ihnen hinauskommen und mit Ihnen persönlich darüber sprechen. Vielleicht können wir vereinbaren, dass Sie ein Vorwort schreiben …“
„Bitte, tun Sie das nicht“, flüsterte sie und hängte auf. Eigentlich überraschte es sie nicht, dass jemand die Geschichte ihrer Familie niederschreiben wollte; sie hatte alles, was es zu einem Bestseller brauchte. Zwei Pflegekinder, die in eine liebevolle, prominente Familie gesteckt worden waren und dort alles bekamen, was sie brauchten, um im Leben erfolgreich zu sein. Nur dass eines der Kinder sich seiner inneren Dämonen nicht erwehren konnte und so selbst zum Dämon wurde. Caitlyn war als Säugling adoptiert worden, aber Joshua war einige Jahre älter gewesen, als man ihn seiner gewalttätigen, drogenabhängigen Mutter wegnahm. Nach Aussage der Psychologen war der Schaden jedoch bereits entstanden. Aber es hatte Jahre gebraucht, bis das Böse hervorbrach. Und nur weil es in D. C. keine Todesstrafe gab, war Joshua vor der Todeszelle bewahrt worden.
Wenn sie über ihn nachdachte, kroch eine Mischung aus Wut und Bitterkeit in ihr hoch. Er war nicht ihr biologischer Bruder, aber sie hatten eine enge Beziehung zueinander gehabt, bis Joshuas Schizophrenie mit Anfang zwanzig schlimmer wurde. Sie wollte sich an ihn erinnern, wie er in ihrer Kindheit gewesen war – schüchtern, unglaublich intelligent, trotzdem auch sehr verschlossen –, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Alles, was sie sah, war das Gesicht eines Killers. Caitlyn ließ den Muffin auf der abgenutzten hölzernen Küchentheke zurück, auch den Kaffee hatte sie vergessen. Sie hatte die Küche noch nicht verlassen, da läutete das Telefon erneut. Schon erwartete sie wieder den aufdringlichen Journalisten. Ihre Reaktion war kurz und bündig.
„Mr Feingold …“
„Caitlyn, hier ist Manny Ruiz.“
„Manny“, sagte sie und seufzte. Erleichterung machte sich in ihr breit. Der große, knochige Vorarbeiter kümmerte sich um die alltäglichen Arbeitsabläufe auf der Farm und dem Reiterhof. „Es tut mir leid, ich dachte, Sie wären jemand anders.“
„Ich habe schlechte Nachrichten.“ Seine Stimme klang rau vor Trauer. „Es geht um Aggie. Einer der Stallburschen hat sie heute Morgen gefunden. Sie lag ungefähr fünfzig Meter vom Waldweg entfernt … sie ist tot.“
Seine Worte versetzten ihr einen Schock. Prompt schnürte sich ihr die Kehle zusammen. Aggie war eine sanfte, fünfzehn Jahre alte gescheckte Stute und Caitlyns besonderer Liebling. Sie wurde seit einigen Tagen im Stall von Rambling Rose vermisst. Alle wussten, dass Aggie gelegentlich Ausflüge unternahm, um nach süßem Klee zu suchen, und Caitlyn hatte mit einem anderen Pferd die Suche nach ihr aufgenommen, aber ohne Erfolg. „Was ist passiert?“
Ein langes Schweigen folgte. „Irgendjemand hat sie getötet, Caitlyn. Ihre, äh … ihre Kehle ist durchgeschnitten … unter anderem. Es ist eine ziemlich große Sauerei. Ich denke, es ist vor ein paar Tagen passiert.“
Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Sobald sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, sagte sie: „Ich bin gleich da.“
„Vielleicht sollten Sie das nicht tun – ich bin nicht sicher, ob Sie das sehen wollen.“
„Ich komme gleich zum Stall herunter“, wiederholte sie. „Haben Sie die Polizei gerufen?“
„Sie meinten, sie schauen nachher vorbei.“
Nachdem sie sich verabschiedet und den Hörer wieder aufgehängt hatte, stand Caitlyn einfach da, unfähig, sich zu bewegen. Der Schock durchströmte sie immer noch. Sie schlang ihre Arme um ihre schlanke Gestalt und schüttelte langsam und ungläubig den Kopf. Sie hatte Aggie geliebt. Ihr Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, dass jemand ein solch schönes, lebendiges Wesen töten konnte. Und wozu? Die Sinnlosigkeit dieser Tat wühlte sie auf und machte ihr deutlich, dass Gewalt weit über Stadtgebiete hinausgreifen konnte.
Sogar hier draußen war nichts sicher.
2. KAPITEL
Das Mobiltelefon weckte ihn. Ein Justin-Timberlake-Song, den eine seiner Nichten zum Spaß als Klingelton heruntergeladen haben musste, tönte durchs Zimmer. Reid Novak blinzelte gegen das Morgenlicht an, das sich durch die Fensterläden stahl. Er lag auf der Couch in seinem Apartment in Adams Morgan, der Fernseher war angeschaltet. Es lief CNN. Reid fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und griff nach dem Telefon. Dieses Geheule musste er unbedingt abstellen.
„Novak“, murmelte er.
„Agent Novak, hier ist Special Agent in Charge Johnston …“
Reid setzte sich auf, der tiefe Bariton seines Chefs erwischte ihn unvorbereitet. Er hatte ihn seit Monaten nicht mehr gehört, zumindest nicht in offizieller Eigenschaft.
„Tut mir leid, dass ich so früh anrufe. Mir ist klar, dass Sie noch für drei Wochen krankgeschrieben sind. Wie geht es Ihnen, Agent?“
Reid rieb sich die Nasenwurzel. „Mir geht es gut.“
„Schön. Wir haben uns beim Bureau wegen Ihrer Genesung auf dem Laufenden gehalten. Wenn Sie sich dem schon gewachsen fühlen, da gibt es etwas, das ich gerne mit Ihnen besprechen möchte. Ich brauche Ihre professionelle Beurteilung.“
Reid nahm seine Armbanduhr zur Hand, die auf einem Stapel Sports Illustrated-Magazinen lag. Er schaute auf das Ziffernblatt – sieben Uhr zweiunddreißig. „Worum geht es?“
„Eine Mordermittlung. Die District Police hat die Untersuchung an uns weitergeleitet. Die Agenten Tierney und Morehouse sind gerade am Tatort“, sagte Johnston und meinte damit Reids Partner Mitch und den Neuling, die während Reids Abwesenheit zusammenarbeiteten.
„Warum haben sie den Fall übergeben?“
Johnston verfiel in ein kurzes Schweigen, bevor er weitersprach: „Es gibt da ein paar auffallende Ähnlichkeiten zu den Cahill-Morden. Ich dachte, Sie sollten sich die Sache einmal ansehen.“
Reid spürte, wie seine Schultern sich anspannten. Der Capital-Killer-Fall war von besonders großem öffentlichen Interesse gewesen, darum war auch die Violent Crimes Unit, die Abteilung für Gewaltverbrechen beim FBI, hinzugezogen worden. „Wie ähnlich?“
„Ich möchte, dass Sie dort hinfahren.“
Auf dem Couchtisch fand Reid einen Stift und einen Notizblock. Während er Johnstons Ausführungen zuhörte, schrieb er sich rasch die Adresse in Columbia Heights auf, wo die Leiche gefunden worden war.
„Sie sind noch nicht wieder zum Dienst zugelassen“, erinnerte ihn Johnston. „Ich erlaube Ihnen, sich zum Tatort zu begeben und den Grad der Bedrohung zu bestimmen. Schauen Sie mal, was Ihnen auffällt. Ich bin sicher, Agent Tierney wird die Unterstützung zu schätzen wissen.“
„Ja, Sir.“ Der Special Agent in Charge musste das nicht näher ausführen. Er wollte wissen, ob die Auffälligkeiten am Tatort nur zufällig waren oder ob sie tatsächlich darauf hindeuteten, dass jemand es darauf abgesehen hatte, Cahills Taten nachzuahmen. Joshua Cahill selbst war es ganz sicher nicht gewesen – er saß eine lebenslange Freiheitsstrafe ab, ohne Möglichkeit, auf Bewährung entlassen zu werden. Erst nachdem es eine Reihe hochbezahlter Anwälte nicht geschafft hatten, ihn für prozessunfähig erklären zu lassen, hatte ihn dieses Los getroffen. Reids eigene Aussage vor Gericht hatte dafür gesorgt. Cahill war psychotisch, ja – aber er war auch hochintelligent und ein nach Plan handelnder, methodischer Killer, alles andere als verwirrt und geisteskrank. Deshalb konnte er auch für seine Verbrechen bestraft werden.
„Noch drei Wochen Krankschreibung, die sind schnell vorbei“, bemerkte Johnston. „Waren Sie auf dem Schießstand?“
„Noch nicht“, gab Reid zu. „Bald.“
„Sehen Sie zu, dass Sie da hinkommen. Sie werden Ihre Waffentauglichkeit noch einmal bestätigen lassen müssen, genauso wie die Erlaubnis für die Anwendung tödlicher Gewalt. Keine Sehstörungen mehr, hoffe ich?“
Reid spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. „Nein.“
„Das sind exzellente Neuigkeiten. Sie sind einer unserer besten Profiler.“ Johnston klang aufrichtig. „Wir vermissen Sie bei der VCU.“
Nachdem das Gespräch zu Ende war, fuhr sich Reid mit einer Hand durchs dunkle Haar. Es war wieder so voll und dicht wie vor der Operation, die mittlerweile sechs Monate zurücklag, bei der man ihm einen gutartigen, aber schwer erreichbaren Hirntumor entfernt hatte. Wann letzte Nacht war er aus dem Schlafzimmer gewankt und auf der Couch geendet? Er nahm die Schlaftabletten, die ihm Dr. Isrelsen verschrieben hatte, nicht sehr oft, aber letzte Nacht war er besonders unruhig gewesen.
Mir geht es gut. Der Tumor war weg und damit auch die Kopfschmerzen und das Doppeltsehen, die ersten Anzeichen seiner Krankheit. Er trainierte regelmäßig im Fitnessstudio und fühlte sich wieder ganz wie der Alte. Seine letzten zwei Kernspin-Untersuchungen waren einwandfrei gewesen. Reid wusste, dass er zu den Glücklichen gehörte, die davongekommen waren. Aber die Sorge um seine Gesundheit hatte ihn verändert. Zum ersten Mal, seit er vor neun Jahren seine Ausbildung in Quantico als Klassenbester beendet hatte und anfing, beim FBI zu arbeiten, hatte sich sein Leben einmal nicht um kriminelle Gewalt gedreht. Stattdessen hatte er mit mehr persönlichen Problemen fertigwerden müssen, war mit der sehr realen Möglichkeit, zu sterben oder zumindest berufsunfähig zu werden, konfrontiert gewesen. Reid empfand es wie die Ironie des Schicksals, dass es, bei all den Gefahren, die sein Job mit sich brachte, kein mörderischer Verrückter, sondern sein rebellierender Körper gewesen war, der ihn beinahe umgebracht hätte.
Ohne Vorwarnung kam ihm die Frau aus der verlassenen Fabrik in den Sinn – Cahills letztes Opfer –, ihr Bild blitzte gestochen scharf vor seinem inneren Auge auf. Er sah ihren entsetzten Blick und das funkelnde Messer, das Cahill an ihre Kehle hielt. Dann den hellen Blutstrahl, die biedere weiße Bluse, die sich rot färbte, und ihren Körper, wie er zitterte, als die Frau unter Reids Händen verblutete. Seine Kugel war eine halbe Sekunde zu spät gekommen, sein Zögern hatte Julianne Hunter das Leben gekostet. Sie war die Frau eines aufstrebenden Staatsanwalts am Bundesgericht gewesen und hatte zwei kleine Kinder, die nun ohne Mutter aufwachsen mussten. Sein Versagen, seine Unfähigkeit, ihren Tod zu verhindern, hatten ihn zutiefst getroffen.
Er strich mit der Hand über den Lederbezug des Sofas, während er die brutalen Erinnerungen abschüttelte. Nur sich selbst gegenüber gestand Reid ein, dass ihm die Krankheit auch einen kleinen Vorteil gebracht hatte. Die Auszeit hatte ihm Distanz von seiner Arbeit geschenkt – von den Gesichtern der Opfer, die ihn bis heute verfolgten, den entsetzlichen Grausamkeiten, die er miterlebt hatte, seinen Selbstvorwürfen, weil er den Wahnsinn nicht eher hatte aufhalten können.
Manchmal war er sich nicht ganz sicher, ob er zurückkehren wollte.
Die Mietwohnungen in der erst vor Kurzem stadtplanerisch aufgewerteten Gegend von Columbia Heights wurden langsam, aber sicher in Eigentum umgewandelt. Das Viertel lag nur wenige Meilen vom White House entfernt und genoss wegen der Gangkriminalität und der vielen Drogendelikte einen eher schlechten Ruf. Doch auch hier machte sich langsam die Gentrifizierung bemerkbar, wie vereinzelte teure Coffeeshops und Restaurants bewiesen.
Reid parkte seinen Ford Explorer neben dem Halbkreis aus Streifenwagen, der das Ende der Straße abriegelte. Genau wie Radfahren, dachte er und seufzte leicht, während er die Tür öffnete und aus dem Geländewagen kletterte. Er zog seine Dienstmarke aus seiner Lederjacke und hielt sie den Polizisten hin, die sich vor dem letzten Haus in der Straßenreihe versammelt hatten. Dann tauchte er unter dem kreuz und quer gespannten Absperrband hindurch, stieg die kleine Treppe hinauf, die zum Eingang führte, und betrat das Gebäude.
Im Inneren des Hauses fiel sein Blick zuerst auf die ramponierten Holzdielen und auf die Gang Tags, die auf die schmutzigen Wände gesprüht worden waren. Eine wacklige Treppe, bei der ein paar Teile vom Geländer fehlten, wand sich hinauf zum ersten Stock. Mitten in der Eingangstür stand ein stämmiger Cop Wache. Der Mann hatte silbernes Haar und schaute wie ein Wachhund um sich.
„Was sagt man dazu, ein FBI-ler in Jeans“, sinnierte er, während er Reids Dienstmarke musterte. „Ich dachte, ihr Jungs hättet eure Kleidervorschriften.“
„Tut mir leid, dass ich Sie enttäusche.“
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Dieser Mord hier kriegt ’ne Menge Aufmerksamkeit vom FBI. Zwei von eurer Sorte sind schon hinten im Haus.“
„Waren Sie der Erste am Tatort?“
Der Cop knurrte zur Bestätigung. „Heute früh kamen die Tischler her, um mit dem Ausbau anzufangen – dies ist das einzige Gebäude, das noch nicht verkauft wurde. Sie haben die Leiche gefunden und die Polizei gerufen.“
„Haben Sie ihre Aussagen aufgenommen?“
„Hab’s versucht. Ebenso die Detectives vom ersten Bezirk. Die Arbeiter sind Hispanos – große Überraschung – ’spreche keine Englisch?“, sagte er und äffte den Akzent nach. „Sie sind immer noch in der Küche, wenn Sie es mal probieren wollen.“
Er musterte Reid von Kopf bis Fuß und schaute dabei skeptisch drein. Dann hob er die buschigen Augenbrauen ein wenig. „Sie haben damals vor ein paar Jahren die Ermittlungen in diesem Serienmörder-Fall geleitet, stimmt’s? Der Capital Killer? Der Senator-Sohn, der zu Ted Bundy wurde? Ich habe Sie im Fernsehen gesehen.“
Reid antwortete nicht, sondern ging den trostlosen dunklen Flur hinunter. Als er sich dem hinteren Zimmer näherte, vernahm er Mitch Tierneys dröhnende Stimme.
„Hey, Reid. Johnston sagte, er würde dich hier rausschicken.“
Sein Partner stand, wo einstmals ein Esszimmer gewesen zu sein schien, und gab einem forensischen Fotografen Anweisungen, wie ein blutiger Fußabdruck am Boden abgelichtet werden sollte. Mitch trug einen marineblauen Anzug, der einen deutlichen Kontrast zu seinem struppigen dunkelblonden Haar bildete. Er machte einen Schritt nach vorne und schlug Reid mit einer großen, latexbehandschuhten Hand auf den Rücken.
„Du hättest ihm sagen sollen, dass du noch Urlaub hast.“
„Ich bin krankgeschrieben.“
„Wie auch immer.“ Mitch grinste herausfordernd. „Willst du deinen Ersatz kennenlernen?“
„Vorübergehender Ersatz“, betonte Agent Jimmy Morehouse und schüttelte Reid die Hand. Ein blonder Jüngling, der aussah, als ob er direkt von der FBI-Akademie kam. „Special Agent in Charge Johnston sagt, ich werde jemand anderem zugeteilt, sobald Sie wieder diensttauglich sind. Sie können Ihren alten Partner zurückhaben.“
„Sie wollen ihn nicht?“
„Als ob du mich gehen lassen würdest“, witzelte Mitch. „Novak und ich sind wie Batman und Robin. Mich zu verlassen, würde für ihn bedeuten, seine Superkräfte zu verlieren.“
Er stellte Reid die zwei Detectives der Mordkommission von D. C. vor, die ebenfalls am Tatort standen. Dann schickte er Morehouse los, um das Tatortprotokoll zu suchen, und brummte Reid leise zu: „Mal im Ernst. Denkt Johnston etwa, ich kann das hier nicht allein erledigen? Ich habe im Cahill-Fall direkt an deiner Seite gearbeitet.“
„Das weiß ich“, stimmte Reid zu.
„Er vergisst das, weil die Kameras dein hübsches Gesicht lieber mögen als meine irische Fresse.“
„Ich denke, er will mich einfach nur ganz vorsichtig wieder in den Job hineinmanövrieren.“
„Oder vielleicht glaubt er, ich kann nicht zur selben Zeit gehen und Kaugummi kauen.“ Mitch stieß einen Seufzer aus. Dann ließ er eine Hand im Kragen verschwinden und fing an, sich den muskulösen Nacken zu reiben. „Weißt du, was? Vergiss es. Abgesehen von meinen Egoproblemen freue ich mich, dich zu sehen, Reid. Ich bin es langsam leid, dem Frischling ständig den Arsch abzuwischen. Morehouse kann kaum seine Waffe ins Holster schieben. Ich drohe ständig damit, ihm das Magazin wegzunehmen.“
Er boxte Reid gegen den Arm. „Du siehst gut aus. Verdammt viel besser als vor sechs Monaten, im Krankenhaus. Und Johnston hat in einer Sache recht. Ich werde die Unterstützung eines Erwachsenen brauchen. Zumal wenn das zutrifft, was ich befürchte.“
Vor Schreck zogen sich Reid die Eingeweide zusammen. „Wo ist die Leiche?“
„Im Keller. Der Anblick wird dir nicht gefallen.“
Schweigend und in sich gekehrt wartete Reid, bis die Kriminaltechniker ihre Arbeit beendet hatten. Die Hände der Leiche hatten sie sorgfältig eingepackt. Auf dem Weg in die Gerichtsmedizin sollten keine Spuren vernichtet werden, die sich möglicherweise unter den Fingernägeln oder in den aufgrund der Totenstarre verkrampften Händen des Opfers befanden. Der Keller war der sekundäre Tatort; die Leichenflecken und die verhältnismäßig geringe Blutmenge wiesen darauf hin, dass die Leiche erst nach Eintritt des Todes hier abgelegt worden war. Leichengestank durchzog den Raum, was dazu führte, dass sich Morehouse prompt entschuldigte und zurück die Treppe hinaufflüchtete.
„Die Gerichtsmediziner schätzen, dass sie bereits vierundzwanzig bis achtundzwanzig Stunden tot ist.“ Mitch verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Betonwand. „Also, was denkst du? Du bist doch der große Profiler – Johnston wünscht deine Meinung. Haben wir einen Nachahmungstäter am Hals?“
Reid betrachtete das Opfer erneut. Quetschungen an Hand- und Fußgelenken waren sichtbar. Die Frau war während der Folter, die ihr nackter Körper offenbar erlitten hatte, gefesselt gewesen. Die Würgemale um ihren Hals deuteten auf eine Strangulation hin, auf den Brüsten, dem Bauch und den Oberschenkeln waren Messerschnitte zu sehen.
„Es gibt Ähnlichkeiten“, bekannte er leise. „Fixierungen wurden verwendet, und wir haben erkennbare Verstümmelungsmuster.“
„Ist mir zu allgemein. Das ist keine Antwort.“
Reid sah Mitch an. „Ich denke, der Bauer ist deine Antwort.“
Die hölzerne Staunton-Schachfigur, ein Bauer, der jetzt in einer Beweismitteltüte aus Zellophan lag, hatte im Mund der Leiche gesteckt. Du bist am Zug, schien die Figur zu Reid zu sagen, und schon ihre bloße Anwesenheit gab ihm das Gefühl, als ob ein Rasiermesser über seine Nerven geglitten wäre. Joshua Cahill war ein anerkannter Schachmeister gewesen.
„Hat jemand mal in Springdale nach Cahill gesehen?“, fragte er.
„Ich habe da angerufen, vor einer Stunde. Sitzt warm und gemütlich in einer Hochsicherheitszelle.“
Reid kniete sich neben die Leiche und untersuchte die kleinen runden Male auf der bleichen Haut am rechten Unterarm. Joshua Cahill hatte in seiner Aussage behauptet, seine leibliche Mutter hätte ihn als Kind mit Zigaretten verbrannt, bis er schließlich in eine Pflegefamilie gebracht worden war. Er hatte diesen Akt bei seinen Opfern wiederholt. „Sexuelle Penetration?“
„Die vorläufigen Ergebnisse der Gerichtsmediziner legen das nahe. Nach der Obduktion werden wir es wissen. Vielleicht gibt es DNA-Spuren.“
„Kein Kondom? Das würde nicht zu Cahills Vorgehensweise passen.“
„Nein“, räumte Mitch ein.
Reid betrachtete das Gesicht der Frau. Sie war attraktiv gewesen, das konnte er trotz der Spuren, die der Tod an ihr hinterlassen hatte, noch erkennen. Ihr langes Haar war blond und gut gepflegt. Sie war vielleicht Anfang bis Mitte dreißig gewesen. Und ihre nackten Füße schienen erst vor Kurzem eine Pediküre erhalten zu haben, denn die Fußnägel waren mit einem geschmackvollen neutralen Lack bemalt. Sie gehört zu jemandem, dachte Reid, und eine Mischung aus Wut und Hilflosigkeit schnürte ihm die Kehle zu. Das taten sie immer. Irgendwo wartete ein Mitbewohner, ein Ehemann, eine Mutter, Kinder – zu denen sie nicht heimgekommen war. Er schluckte seine Gefühle herunter.
„Wie hat der Täter den Leichnam hier hereinbekommen?“
„Es gibt an der Rückseite einen Dienstboteneingang“, sagte Mitch. „Der Verlauf der Fußspuren zeigt, dass er dort ins Haus gekommen ist. Der Täter hat die Leiche wahrscheinlich in den Keller getragen oder gezogen. Die verschmierten Blutspuren auf dem Fußboden deuten auf Letzteres hin.“
„Und niemand hat etwas gesehen?“
„Im Moment gehen Polizisten von Tür zu Tür und befragen die Leute, aber bis jetzt haben wir nichts. Dieses Stadthaus hier am Ende der Reihe steht seit Monaten leer.“
Ein Mitarbeiter der Gerichtsmedizin – er fiel auf, weil er Dreadlocks trug – unterbrach sie. Er wollte wissen, ob sein Team die Leiche fortbringen konnte. Reid überließ es Mitch, die Angelegenheit zu regeln, und stieg die Treppe hinauf. Er brauchte dringend Tageslicht und frische Luft.
Rechts der Treppe hatten frühere Bewohner einen Wintergarten eingerichtet. Die Fenster waren jedoch zugenagelt worden, um Obdachlose abzuhalten. Reid ging zur hinteren Ecke des Raums, das alte Linoleum knarrte unter seinen Füßen. Durch eine Ritze in den Sperrholzleisten vor den Fenstern sickerte kühle Herbstluft. Als Reid sich dem fünf Zentimeter langen Spalt näherte, erhaschte er einen Blick auf eine Farbexplosion in hellem Gelb, ein Ahornbaum, der im seitlichen Teil des Gartens wuchs. Die Morgensonne bahnte sich ihren Weg durch die Ritze und brachte etwas auf dem verschlissenen Fußboden zum Funkeln. Reid beugte sich hinunter, um es aufzuheben.
„Was ist das?“, fragte Mitch, der in diesem Augenblick in den Wintergarten kam.
„Ein Hufeisen.“
„Was?“
„Ein Anhänger.“ Mit seiner behandschuhten Rechten fasste Reid das u-förmige Schmuckstück an den Enden. Das Hufeisen war aus Weißgold oder Platin gefertigt, in seinem Bogen saß ein kleiner Diamant. Auf der Rückseite war in winzigen Buchstaben Tiffany & Co. eingraviert.
„Trug das Opfer irgendeinen Schmuck? Ein Armband mit kleinen Anhängern vielleicht?“
Mitch schüttelte den Kopf. „Der Täter hat das Opfer vermutlich auf dem Weg in den Keller hier durch den Wintergarten gezogen. Am Ende hat er sich etwas als Souvenir mitgenommen, und der Anhänger wurde dabei abgerissen. Entweder so, oder die Mexikaner haben sich den Schmuck in die eigene Tasche gesteckt, bevor sie die Polizei angerufen haben.“
Er holte eine Beweismitteltüte aus seinem Jackett und öffnete sie, sodass Reid den Gegenstand hineinfallen lassen konnte. Dann untersuchte Mitch den Anhänger genauer. „Tiffany, was? Und so ein schicker Pferdekram noch dazu. Auch Cahill mochte Frauen mit Geld.“
Reid antwortete nicht, er war in Gedanken versunken. Aber es war nicht der Tatort, worüber er nachdachte, und auch nicht das Opfer. Eine andere hübsche blonde Frau tauchte vor seinem inneren Auge auf. Eine, die eine direkte Verbindung zu Joshua Cahill hatte und ebenfalls Pferde mochte.
Das letzte Mal, dass er Caitlyn Cahill gesehen hatte, brach gerade die Welt um sie herum zusammen. In vielerlei Hinsicht, das wusste Reid, trug er die Schuld daran. Er hatte auf sie eingewirkt – sie unter Druck gesetzt –, und, hin- und hergerissen zwischen der Loyalität ihrer Familie gegenüber und dem Wunsch, das Richtige zu tun, hatte Caitlyn nachgegeben. Sie hatte geliefert, was Reid brauchte, um den Verdacht gegen Joshua Cahill zu erhärten und ihn schließlich hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Und dann war er aus ihrem Leben verschwunden. Reid hatte die Verhaltensregeln des FBI über alle Gefühle gestellt, die er vielleicht für sie empfand oder die sie, wie er ahnte, für ihn empfinden mochte. Er hatte die Professionalität aufrechterhalten, die sein Job erforderte, aber er hatte Caitlyn nicht vergessen. Genau genommen hatte er ständig an sie gedacht, als er in dem sterilen Krankenhauszimmer eingesperrt lag und darauf wartete, dass die Ärzte ihm sagten, ob der Tumor, der auf seinen Sehnerv drückte, operabel war.
Das Team der Gerichtsmedizin schob sich an ihm vorbei. Die Männer trugen den schwarzen Leichensack hinaus. Reid schaute fort und versuchte, die düsteren Vorgänge um ihn herum aus seinen Gedanken zu verscheuchen. Aber er konnte das starke, beunruhigende Gefühl nicht loswerden, dass er gerade ein Déjà-vu erlebt hatte.
Es schien, als ob es Joshua Cahill irgendwie gelungen war, erneut zuzuschlagen.
3. KAPITEL
Caitlyn beobachtete, wie der Baggerfahrer das Loch am Waldhang zuschüttete, wo Aggies sterbliche Überreste zur Ruhe gebettet worden waren. Ihr war das Herz schwer, und sie fröstelte, die Nachmittagssonne wärmte sie nicht. Als die Arbeit schließlich vollendet war, kletterte sie auf den Rotbraunen mit den weißen Fesseln und ritt zurück zur Farm, unfähig, ihre Gedanken von dem grauenvollen Tod des Pferdes abzuwenden. Der Anblick und der Gestank des verwesenden Kadavers, wie er von Fliegen umschwirrt dalag, hatten sich für immer in ihr Gedächtnis gebrannt.
Als sie den Pfad verließ und die Lichtung in der Nähe des Reitplatzes erreichte, entdeckte sie Manny draußen auf dem Hof. Er sprach noch immer mit Ed Malcolm, dem Polizeichef von Middleburg. Ein dritter Mann hatte sich zu ihnen gesellt. Hochgewachsen und breitschultrig, mit dunklem Haar. Er trug Jeans und eine Lederjacke. Erst als Caitlyn vom Pferd kletterte, erkannte sie ihn wieder.
Reid Novak sah sie aus kühlen grauen Augen an.
Dann nickte er ihr knapp zu. Caitlyn stand da wie gelähmt. Einer der Stallknechte nahm ihr die Zügel des Pferdes aus der Hand und führte den Rotbraunen in den Stall. Als sich Reid näherte, maß sie ihn mit prüfendem Blick. Er sah dünner aus, anders irgendwie, aber er war immer noch genauso attraktiv, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie versuchte, das Gefühlschaos, das sie gerade überkam, zu sortieren.
„Caitlyn“, sagte er zur Begrüßung. Seine Stimme klang spröde.
Sie nahm die Hand, die er ihr reichte, und merkte, wie kalt ihre Finger waren, trotz des Ritts vor wenigen Minuten. Kinderlachen klang aus der Sattelkammer zu ihnen herüber. Caitlyn hatte ihre kleinen Besucher nicht enttäuschen wollen, und so hatte das Therapieprogramm wie geplant stattgefunden, ohne Rücksicht darauf, dass sie gerade Aggies Leichnam entdeckt hatten.
„Agent Novak.“
„Reid“, berichtigte er. „Ich dachte, wir wären über diese Formalitäten hinaus, Caitlyn.“
„Ich habe Sie seit dem Prozess nicht mehr gesehen.“ Sie hob ihr Kinn, ihre Worte klangen abweisend. „Warum sind Sie hier?“
Wenn ihre brüske Art ihn störte, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Stattdessen spähte er mit zusammengekniffenen Augen zu der Gebirgskette in der Ferne. Die Blue Ridge Mountains lagen in dichten Dunst gehüllt da. Sie konnte förmlich sehen, wie sein Verstand arbeitete, und fragte sich, was er ihr erzählen wollte. Es gab einen zwingenden Grund für seinen Besuch, Reid war nicht zum Vergnügen hier, das wusste und beunruhigte sie. Kurz kam ihr in den Sinn, ob irgendetwas mit Joshua im Gefängnis geschehen sein könnte und Reid gekommen war, um es ihr persönlich zu sagen.
„Der Chief hat erzählt, auf Ihrem Anwesen wurde ein Pferd verstümmelt?“
„Manny hat sie heute Morgen gefunden“, antwortete Caitlyn ernst. „Chief Malcolm denkt, es waren ein paar Teenager aus der Gegend. Es gibt schon seit einer Weile Gerüchte, dass sie zu einer Sekte von Satanisten gehören.“
„Glauben Sie das?“
Beklommenheit machte sich in ihr breit. „Ich weiß wirklich nicht, was ich glauben soll. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass jemand – insbesondere Teenager – so etwas tun kann.“
Aber sie hatte darüber nachgedacht. Wenn Chief Malcolm mit seiner Vermutung richtiglag, fragte sich Caitlyn, war dann ihre Farm zufällig ausgewählt worden, oder hatte man es wegen Joshuas trauriger Berühmtheit auf sie abgesehen? Bei dem Gedanken, ein Haufen Teenager wäre in einer Art bizarrer Hommage an ihren Bruder über Aggie hergefallen, drehte sich ihr der Magen um. Caitlyn fuhr sich mit den Händen über die Schenkel und fegte dabei eine dünne Staubschicht, die von ihrem Ausritt zurückgeblieben war, hinunter. Aus Stolz gab sie sich ungerührt. „Sicherlich sind Sie nicht wegen eines toten Pferdes den ganzen Weg hier herausgekommen, Agent. Oder versucht sich die Violent Crimes Unit des FBI jetzt auch in landwirtschaftlichen Angelegenheiten?“
Er antwortete nicht, aber der Ernst, den sie in seinen Augen sah, erzeugte ein Kribbeln auf ihrer Haut. Eine Vorahnung beschlich sie.
„Können wir irgendwo ungestört reden?“
„In meinem Büro“, sagte sie und ging zielstrebig in Richtung Stall. Ein wenig genierte sie sich, weil ihr Pferdeschwanz, den sie sich am Morgen in aller Eile gebunden hatte, so unordentlich war. Caitlyn drehte sich nicht um, hörte nur den dumpfen Aufschlag von Reids Wanderstiefeln auf dem festgestampften Lehmboden, als er ihr nach drinnen folgte. Sobald sie in dem schlichten Büro Platz genommen hatten – ein kleiner, spärlich möblierter Raum mit der Aufschrift Rambling Rose Equine Therapy, Rambling-Rose-Reittherapie auf der Tür –, trafen sich ihre Blicke aufs Neue.
„Sie leisten hier draußen eine wertvolle Arbeit, Caitlyn.“
„Kennen Sie das Programm?“
„Ich habe letztes Frühjahr den Artikel darüber in der Washington post gelesen.“
Unerklärlicherweise freute sich Caitlyn, dass er sich über sie auf dem Laufenden gehalten hatte. Sie war stolz auf ihre Erfolge in der Reittherapie, sie hatte ihr ganzes Herzblut sowie ihr gesamtes Vermögen in die Farm und den Reiterhof gesteckt. „Ich habe jetzt vier Therapeuten, alle in Teilzeit, aber sie sind staatlich geprüft. Im letzten Sommer habe ich meine eigene Ausbildung in Reittherapie abgeschlossen, ich unterrichte also einige Kurse selbst.“
„Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie Erfahrungen in der Sozialarbeit?“
Caitlyn nickte. Sie hatte diese Studienrichtung gewählt, um dem System, das – zumindest in ihrem Fall – funktioniert hatte, etwas zurückzugeben. Ihre leibliche Mutter hatte sie verlassen, als sie erst einige Wochen alt gewesen war. Danach hatte Caitlyn in der Obhut einer Pflegefamilie gelebt, bis sie von Braden und Caroline Cahill adoptiert wurde. Außerdem hatte sie vor Joshuas Festnahme ein Zentrum für benachteiligte Kinder in Washington geleitet und war in den Vorständen verschiedener Wohlfahrtsorganisationen gewesen, alles Positionen mit Prestige, die man ihr angeboten hatte, weil sie Senator Cahills Tochter war. Mit dem Reittherapieprogramm konnte sie ihre Arbeit fortsetzen, ohne sich dem Rampenlicht von D. C. aussetzen zu müssen.
„Wie geht es Ihrer Mutter?“, fragte Reid und riss sie aus ihren Gedanken.
„Ich musste sie in eine Vollzeitpflegeeinrichtung geben. Das Haus in Georgetown biete ich gerade zum Verkauf an.“
„Das tut mir leid.“ Er klang ehrlich.
In einer der weiter innen gelegenen Boxen wieherte ein Pferd, was Caitlyn daran erinnerte, warum sie in ihr Büro gegangen waren. Steif setzte sie sich auf und ordnete die Papiere auf ihrem Schreibtisch. „Sie wollten ungestört mit mir sprechen, Agent Novak?“
Er ging auf ihre fortgesetzte Förmlichkeit nicht weiter ein. „Haben Sie in letzter Zeit mit Joshua geredet?“
„Nein, ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir haben nicht mehr miteinander gesprochen seit kurz vor dem Prozess.“
„Hat er versucht, Sie zu kontaktieren?“
„Joshua glaubt, ich hätte ihn verraten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich bei mir meldet, und das möchte ich auch gar nicht.“
„Ich verstehe.“
„Tun Sie das?“, fragte sie leise. Auf einmal verspürte sie einen Anflug von Verbitterung, auch wenn das irrational war.
„Ich weiß, was Sie Ihre Rolle in den Ermittlungen gekostet hat, Caitlyn“, sagte er. „Und ganz gleich, was Joshua getan hat, ich verstehe das, er ist immer noch Ihr Bruder.“
„Er ist ein Mörder“, flüsterte sie. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an. „Was er getan hat …“
„War nicht Ihre Schuld.“ Reid streckte die Hand über den Schreibtisch und legte sie über ihre Finger, eine unerwartete, tröstende Geste. Caitlyn sah ihn nicht an, aus Angst, ein Blick von ihr würde die Einsamkeit und den Schmerz verraten, den sie seit der Auflösung ihrer Familie empfand. Reid war ein Spezialist für Verhaltenspsychologie mit Universitätsabschluss – bestimmt konnte er solche Dinge spüren. Als er seine Hand nach einem kurzen Augenblick zurückzog, seufzte sie und wiederholte die Frage, die sie ihm schon einmal gestellt hatte.
„Warum sind Sie hier?“
„Ich war heute Morgen am Tatort eines Mordes. Ein weibliches Opfer. Der Modus Operandi ähnelte dem Joshuas.“ Kurz entstand eine angespannte Stille zwischen ihnen. „Wir halten es für möglich, dass es einen Nachahmungstäter gibt.“
In Caitlyns Magengrube saß plötzlich etwas, das sich anfühlte wie ein kalter Stein. „Sie glauben, jemand kopiert Joshua? Warum?“
„Es gibt da mehrere Theorien.“ Reid legte auf dem Schreibtisch die Fingerspitzen aneinander, während er sprach. „Man nimmt an, dass Nachahmungstäter dieselben Impulse haben wie normale Killer, aber es mangelt ihnen an der Originalität, ihren eigenen Weg zu gehen, also ahmen sie den Stil von jemandem nach, den sie bewundern. Vielleicht ist es für sie auch ein Ritual, durch das sie sich mit dem ursprünglichen Killer verbinden.“
„Sie sagten normale Killer. Ich halte das für einen Widerspruch in sich.“
Er nickte leicht. „Das ist wahr.“
„Inwiefern ähnelte der Mord den …“ Caitlyns Stimme verstummte, aber sie zwang sich, den Satz zu beenden. „Denen, die Joshua begangen hat?“
„Die äußere Beschreibung des Opfers entspricht den Frauen, die sich Joshua ausgesucht hat – Mitte zwanzig bis Mitte dreißig, blond, attraktiv. Es gibt auch bei den Verletzungen an der Leiche ein ähnliches Muster. Todesursache …“ Plötzlich merkte er offenbar, wie er in den Jargon eines Ermittlers verfiel, und formulierte neu. „Die Frau wurde offenbar erwürgt.“
„Was ist mit den Zigarettenverbrennungen?“
„Auch die waren vorhanden.“
Caitlyn schluckte und dachte an die Tatortdetails, die während Joshuas Prozess ans Licht gekommen waren. „Aber diese Dinge könnten rein zufällig sein, oder? Das reicht doch nicht, um sich sicher zu sein.“
„Da ist noch etwas. Eine Schachfigur, ein Bauer, wurde in den Mund der Leiche gesteckt.“
Sie fröstelte. Joshuas Meisterschaft in diesem Spiel war in den Presseberichten rund um seine Festnahme und den Prozess ausführlich besprochen worden, denn sie zeigte seinen überragenden Intellekt und stand für die Privilegien und die kultivierte Lebensart, in der er aufgewachsen war. Ein Journalist hatte das Spiel sogar als Metapher gebraucht, um Senator Cahills Strategie zu beschreiben, mit der er die FBI-Ermittlungen gegen seinen Sohn behindert hatte. Ihr Vater war drauf und dran gewesen, dieses Spiel zu gewinnen, bis Reid Novak an Caitlyn herantrat, sie davon überzeugte, dass Joshua für die Morde verantwortlich war, und sie um ihre Hilfe bat.
Caitlyn verschränkte die Arme über dem weißen Rollkragenpullover, stand auf und ging das kurze Stück durch das Büro zum Fenster. Sie sah auf den Reitplatz hinaus. Sarah, die neue Therapeutin, lief über den Platz und führte einen braunen Wallach am Zügel. Im Sattel saß ein Junge von ungefähr zehn Jahren. Auf seinem Gesicht, das wie sein Körper die typischen Merkmale des Down-Syndroms trug, zeichnete sich pure Begeisterung ab. Über den beiden leuchtete der Himmel in hellem Blau, nur ein paar zarte Wolken waren zu sehen.
Caitlyn spürte Reids Anwesenheit hinter ihr. Sie drehte sich langsam um und legte den Kopf in den Nacken, sodass sie ihm ins Gesicht schauen konnte. Sie hatte recht gehabt. Er war viel magerer als früher, sein dunkles Haar war kürzer und ließ die markanten, klaren Gesichtszüge noch deutlicher hervortreten.
„Ich wollte, dass Sie das alles erfahren. Wenn es weitere Morde gibt, könnten die Medien wieder Interesse an Ihrem Bruder bekommen.“
Sie spürte einen Kloß im Hals. „Sie denken also, es könnte … noch mehr geben?“
„Ich hoffe nicht. Aber der Täter wollte offenbar sicherstellen, dass wir einen solchen Zusammenhang herstellen. Die Schachfigur deutet das zumindest an. Es ist kein gutes Zeichen. Seien Sie einfach auf alles vorbereitet, Caitlyn.“
Sie tat ihr Bestes, ruhig und ungezwungen zu klingen. „Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen …“
„Ich möchte auch, dass Sie sehr wachsam sind.“
Sie blinzelte erstaunt. „Warum?“
„Ein Anhänger wurde am Tatort gefunden. Höchstwahrscheinlich fiel er von einem Armband ab, das das Opfer getragen hat. Ein Firmenzeichen von Tiffany ist darin eingraviert, also überprüft das FBI gerade die Verkaufsbücher der Firma, um zu sehen, ob sie den Eigentümer ausfindig machen können. Dann können sie das Opfer identifizieren.“ Als er ihre verwirrte Miene bemerkte, fügte er hinzu: „Der Anhänger war ein Hufeisen.“
Sie begriff, worauf er hinauswollte. „Virginia ist ein Pferdeland. Das bedeutet gar nichts.“
„Vielleicht nicht. Zumindest habe ich mir das immer wieder gesagt, bis ich hier herauskam und von Ihrem verstümmelten Pferd erfuhr. Was, wenn es kein Zufall ist?“
Ein Bild von Aggies aufgeblähtem Leichnam drängte sich in ihre Gedanken. „Was wollen Sie damit sagen? Dass ich die Frau kannte? Oder dass ich ein mögliches Ziel bin?“
Er seufzte müde, rieb sich die Stirn mit zwei Fingern der rechten Hand. „Ich weiß nicht, was ich damit sagen will. Ich hatte einfach nur das Bedürfnis, hier herauszukommen und Sie zu sehen, das ist alles.“
Einige Sekunden lang starrten sie einander an, ein bedeutsames Schweigen füllte den Raum. Dann fragte sie: „Haben Sie irgendetwas von dem Ganzen Chief Malcolm gegenüber erwähnt?“
„Er sieht auch keinen Zusammenhang zwischen dem Mord in D. C. und Ihrem Pferd. ‚Sie sind auf dem Holzweg, mein Sohn‘, so hat er es ausgedrückt. Ich hoffe, er hat recht.“
Caitlyn schaute in seine kieselgrauen Augen und fragte sich, wie ein Mann ein solch starkes körperliches Verlangen und zugleich einen so unglaublichen Schmerz in ihr wachrufen konnte. Sie dachte daran, wie es zwischen ihnen ständig gefunkt hatte, selbst als Reid sie dazu drängte, nach Dingen zu suchen, die Joshuas Schuld beweisen konnten. Im Nachhinein überlegte sie jedoch, ob sie sich die magnetische Anziehungskraft zwischen ihnen nur eingebildet hatte oder ob Reid sie einfach mit seinem Charme verzaubert hatte, um seinen Fall abzuschließen. Um zu bekommen, was er haben wollte.
„Ich habe einen Polaroid-Schnappschuss vom Tatort mitgebracht.“ Reid klang zögerlich. „Ich weiß, es ist weit hergeholt, aber wären Sie bereit, einen Blick darauf zu werfen? Nur um sicherzugehen, dass Sie das Opfer nicht kennen?“
Sie holte kurz Luft und wappnete sich. Dann nickte sie. Reid zog das Foto aus seiner Jeanstasche und reichte es ihr. Caitlyn spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Die Haut des Opfers wirkte blaustichig und wächsern, die eingesunkenen Augen blickten leer. Die Frau sah unwirklich aus.
„Nein“, sagte sie mit leiser Stimme und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht ganz sicher, aber … nein.“
Er nahm das Foto wieder an sich. „Danke, dass Sie es sich angeschaut haben.“
Sie nickte stumm.
„Es tut mir wirklich leid, was Sie durchgemacht haben. Was mit Ihrem Leben passiert ist.“ Reids Stimme klang leise und rau. „Ich hätte Ihnen das schon früher sagen sollen.“
Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber stattdessen wandte er den Blick von ihr ab. Er ging zu ihrem Schreibtisch, nahm einen Stift zur Hand und schrieb etwas auf den kleinen Notizblock, den sie dort aufbewahrte.
„Das ist meine Handynummer. Wenn irgendetwas Ungewöhnliches passiert, zögern Sie nicht, sondern rufen Sie mich an.“
„Ich habe noch Ihre Karte von früher …“
„Dies ist meine private Nummer. Zurzeit bin von der VCU beurlaubt.“
Die Nachricht überraschte sie. Sie hielt Reid nicht für jemanden, der sich Zeit für einen ausgiebigen Urlaub nahm. „Aber Sie haben gesagt, Sie wären am Tatort gewesen …“
„Nur als Berater, wegen der Ähnlichkeiten mit den früheren Morden.“ Er gab ihr keine weitere Erklärung, sondern nahm seine Lederjacke, die er über die Lehne seines Stuhls gelegt hatte, und zog sie an. Caitlyn bemerkte das weiche, abgenutzte Leder. Plötzlich stellte sie fest, dass sie ihn bislang immer nur in Anzug und Krawatte gesehen hatte, wie es seine Arbeit beim FBI erforderte. Die legere Kleidung – die verwaschene Jeans und die Wanderstiefel, das langärmelige T-Shirt – machte ihn irgendwie noch anziehender.
„Passen Sie auf sich auf, Caitlyn.“
Vom Fenster ihres Büros aus beobachtete sie, wie Reid zu seinem Wagen ging. Einige Augenblicke später wirbelte der Explorer eine Staubwolke auf, als er die Schotterstraße hinunterfuhr und aus ihrem Blick verschwand.
4. KAPITEL
Caitlyn stand in der Küche und wusch ihren Teller unter dem Wasserstrahl in der Spüle ab, während sie mit Sophie Treadwell telefonierte. Sophie und ihr Ehemann, Rob, waren die nächsten Nachbarn von Rambling Rose, was auf dem Land in Northern Virginia immer noch gut drei Meilen entfernt war. Offenbar hatte sich die Nachricht vom Pferdemord auf ihrer Farm rasch in der ländlichen Gemeinde verbreitet.
„Wer tut so etwas Schreckliches, und dann so weit draußen?“, sorgte sich Sophie. „Der Kopf des armen Dings war beinahe abgetrennt. Ganz ehrlich, wir haben D. C. verlassen, um von dieser Kriminalität wegzukommen.“ Sie hielt inne, dann fügte sie betreten hinzu: „Es tut mir leid, Caitlyn. Ich meinte damit nicht …“
„Ist schon okay“, versicherte Caitlyn. Seit ihrer Ankunft vor ungefähr achtzehn Monaten war ihre Nachbarin so etwas wie eine Freundin für sie. Sophie war fast zehn Jahre älter als Caitlyn. Sie und ihr Mann hatten keine Kinder und waren eng eingebunden in der hiesigen Reitergemeinde. Rob war ein erfolgreicher Architekt, arbeitete meist von dem großen Landsitz aus, den die beiden besaßen, und Sophie schrieb Kinderbücher. Das Paar wusste von Joshua, natürlich, und hatte Fragen gestellt. Doch die unglückliche Geschichte der Cahills hatte die beiden nicht davon abgehalten, Caitlyn in ihrem Haus und in ihrem großen Bekanntenkreis willkommen zu heißen. Caitlyn war dankbar für ihre Aufnahme.
„Bist du sicher, dass du heute Nacht ganz allein da draußen sein willst? Ed Malcolm denkt, es war eine Art Sekte …“
„Eine Sekte, die aus Teenagern besteht“, betonte Caitlyn. Sie wollte nicht, dass sich die Gerüchte, die bereits im Umlauf waren, noch weiter auswuchsen. Trotzdem blieb es bei der Tatsache, dass irgendjemand diesen brutalen Akt begangen hatte.
„Teenager oder nicht, allein die Vorstellung von so einer Tat ist furchterregend. Rob möchte dich da wegholen. Er besteht sogar darauf. Du kannst in einem der Gästezimmer wohnen.“
Caitlyn trocknete sich die Hände mit einem Küchenhandtuch und lehnte das Angebot höflich ab, aber erst nachdem sie zugesagt hatte, sich mit dem Paar am nächsten Abend in Middleburg zum Dinner zu treffen. Sobald sie sich verabschiedet hatte, hängte sie den Hörer auf und rieb sich die Arme, um die abendliche Kühle zu vertreiben. Auch wenn die Heizkörper aufgedreht waren, das Farmhaus war alt und nicht mit einer dicken Wärmedämmung gesegnet, wie man sie in moderneren Häusern einbaute. Ein Feuer in dem gemauerten Kamin wäre schön, aber Caitlyn hatte weder Energie noch Lust, Kaminholz von der Veranda hinter dem Haus hereinzuholen. Stattdessen goss sie sich ein Glas Merlot ein, ging in das große Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an.
Aber das Wiedersehen mit Reid Novak wollte ihr nicht aus dem Sinn gehen.
Vor zwei Jahren, als er das erste Mal zu ihr gekommen war, um sie um Unterstützung zu bitten, damit er die Beteiligung ihres Bruders an den Morden beweisen konnte, war Caitlyn wütend gewesen. Aber ein Teil von ihr hatte auch befürchtet, er hätte recht mit seinem Verdacht.
„Joshua steckt hinter dem Ganzen, Caitlyn“, hatte Reid gewarnt, und die Eindringlichkeit, mit der er seine Überzeugung vertrat, hatte ihr zugesetzt. „Wir haben ihn mit zwei der fünf opfer in Verbindung bringen können. Das ist kein Zufall, ganz gleich, wie sehr Ihre Familie es gerne so hätte.“
Caitlyn zupfte an der Quaste des Zierkissens auf ihrem Schoß herum. Die Erinnerungen hüllten sie ein wie ein kalter Nebel. Joshuas Verbindung zu den zwei Frauen war lose – eine hatte denselben Collegekurs besucht wie er, die andere war im selben Fitnessclub wie er gewesen, ein großes Studio mit Hunderten von Mitgliedern. Dennoch, angesichts seiner psychischen Vorgeschichte waren diese Enthüllungen beunruhigend. Das FBI hatte ihn befragt, das Gespräch drehte sich um etwas, durch das Joshua in ihr Blickfeld geraten war. Aber sie hatten wenig mehr, um weiterzumachen, und nicht genug für einen Haftbefehl.
Helfen Sie mir, gegen ihn zu ermitteln, Caitlyn. Bevor noch jemand stirbt.
Am Ende war Reid zu ihr durchgedrungen. Sie hatte den Schlüssel genommen, den Joshua ihr gegeben hatte, und war, zu einer Zeit, wo sie wusste, dass er nicht zu Hause sein würde, in sein Loft-Apartment am Logan Circle geschlüpft. Ihre groß angelegte Suche war abrupt beendet gewesen, als sie unter dem Kleiderhaufen im Schlafzimmerschrank auf das Notizbuch stieß.
Was sie in dem Notizbuch las, stieß sie ab und versetzte sie in Angst und Schrecken. Ihr war schlecht geworden von Joshuas handgeschriebenem Tagebuch, in dem er in allen Einzelheiten seine dunklen Geheimnisse preisgab, auch Namen von einigen der toten Frauen. Die derben Zeichnungen neben den Textstellen waren noch schlimmer. Sie zeigten nackte Frauenfiguren, sie waren gefesselt und geknebelt, wurden erniedrigt und gefoltert. Verstümmelt. Sie war, mit Magenkrämpfen und tauben Knochen, ins Bad gewankt und hatte sich übergeben müssen. Verstört hatte Caitlyn das Beweisstück an sich genommen. Nachdem sie eine Stunde lang ziellos durch die Stadt gefahren war, hatte sie sich mit Reid in der FBI-Zentrale getroffen und ihm das Notizbuch überreicht.
Sie habe das Richtige getan, hatte Reid ihr versichert. Er hatte sie in einen abgelegenen Konferenzraum geleitet, wo sie sich dann an seiner Schulter ausweinte. Sie kannten einander kaum, und trotzdem war diese Verbindung, das Band zwischen ihnen sofort da. Später an jenem Abend, als eine weitere Frau verschwand, richtete Caitlyn unter Reids Anleitung im Fernsehen einen Appell an Joshua und drängte ihn, sich zu stellen.
Am Ende jedoch forderte Joshua noch ein letztes Opfer, bis das FBI ihn endlich aufhalten konnte.
Caitlyn hatte schon immer von Joshuas Krankheit gewusst – von der Schizophrenie und der Borderline-Störung, die man bei ihm diagnostiziert hatte, von den ganzen Antipsychotika –, aber niemals hatte sie geglaubt, er könnte zum Killer werden. Mit achtundzwanzig hatte er sein Studium immer noch nicht abgeschlossen, war stattdessen ständig in irgendwelchen psychiatrischen Kliniken. Damals konnte es passieren, dass Joshua wochenlang vollkommen normal erschien, und dann plötzlich, von einem Tag zum anderen, wurde er verschlossen und mürrisch. In diesen Phasen war seine drei Jahre ältere Schwester Caitlyn oft der einzige Mensch, mit dem er sprach.