Der Prinz aus dem Paradies - Hera Lind - E-Book

Der Prinz aus dem Paradies E-Book

Hera Lind

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Rosemarie bekommt eine Reise nach Sri Lanka geschenkt. Da die fast Fünfzigjährige nicht an Zufälle glaubt, überwindet sie ihre Ängste vor dem Ungewissen. Dort lernt sie ihre große Liebe kennen: Kasun, einen Singhalesen, sehr viel jünger, ganz anders als sie. Doch Rosemarie lässt nur ihr Herz sprechen und heiratet Kasun ein Jahr später in seinem exotischen Land, von buddhistischen Mönchen gesegnet. Sie nimmt ihren Ehemann mit nach Deutschland, sendet viel Geld an seine Familie, doch nach sechs Monaten verschwindet er unter geheimnisvollen Umständen. Wird sie je die Gründe erfahren?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 466

Veröffentlichungsjahr: 2017

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Roman

Eigentlich wollte Rosemarie ans Mittelmeer, aber nun findet sie sich in Sri Lanka wieder! Fasziniert von der buddhistischen Philosophie und der einfachen Lebensweise der zufriedenen Menschen verliebt sie sich in einen bildschönen jungen Mann. Kasun fleht sie an, ihn mit nach Deutschland zu nehmen, wo er Arbeit finden will. Gegen die Mühlen der Bürokratie scheint die Liebe nicht anzukommen, und so heiratet Rosemarie den viel jüngeren Singhalesen. Nach der Traumhochzeit unter Palmen im Hause seiner Familie und mit dem Segen buddhistischer Mönche steht dem gemeinsamen glücklichen Leben in Deutschland nichts mehr im Wege. Doch Kasun verschwindet über Nacht. Stattdessen taucht eine andere Frau auf, die ebenfalls Anspruch auf ihn erhebt. Jahre später glaubt Rosemarie, ihren Ehemann im Fernsehen in den Trümmern, die der Tsunami hinterlassen hat, zu erkennen. Sie folgt ihrem Herzen und macht sich noch einmal auf die Reise. Wird sie ihn wiedersehen? Und wird er das Geheimnis seines Verschwindens preisgeben?

Die Autorin

Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit ihren zahlreichen Romanen von Die Champagner-Diät und Verwechseljahre bis Eine Handvoll Heldinnen sensationellen Erfolg hatte. Auch mit ihren Tatsachenromanen Kuckucksnest, Die Frau, die zu sehr liebte und Mein Mann, seine Frauen und ich eroberte sie die SPIEGEL-Bestsellerliste. Hera Lind lebt mit ihrer Familie in Salzburg.

HERA

LIND

Der Prinz

aus dem

Paradies

Roman nach einer wahren Geschichte

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2017 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München Umschlagmotive: © Cultura/Philip Lee Harvey/GettyImages; shutterstock_Galyna Andrushko; shutterstock_veronicka Satz: Leingärtner, Nabburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-20310-8V003
www.diana-verlag.de Besuchen Sie uns auch auf www.herzenszeilen.de

1

DÜSSELDORF, AUGUST 1995

Nebenan saß ein junges Pärchen, eng aneinander gekuschelt auf den schmalen Flugzeugsitzen. Er las Siddhartha von Hermann Hesse, und sie blätterte in einem Reiseführer, Sri Lanka – Insel der Träume. Die junge Frau hatte ihren Wuschelkopf an seine Schulter gelehnt.

Na toll. Die hatten sich. Und ich? Nicht ohne Neid schielte ich zu ihnen hinüber. Ich hatte niemanden. Ich war eine geschiedene Frau mittleren Alters.

Verzweifelt atmete ich schwer gegen eine Panikattacke an. Sri Lanka. Zehn Stunden Nachtflug. Mein Sohn war doch verrückt, mir so eine weite Reise zu schenken!

Was lag denn da alles auf meinem Sitz? Ich zog eingeschweißte Decken, Kissen und Kopfhörer unter meinem Allerwertesten hervor. Wohin jetzt damit? Auch mein Handgepäck konnte unmöglich so vor meinen Füßen stehen bleiben.

Mühsam stemmte ich mich noch mal hoch, hielt tapfer dem Strom der nach mir hereindrängenden Passagiere stand und wuchtete meine prall gefüllte Tasche ins Gepäckfach. Eine hübsche Stewardess eilte herbei. »Darf ich Ihnen behilflich sein?«

»Ja bitte, ich glaub, mir wird schwindelig.« Eine Hitzewallung überkam mich, sodass ich mich schwer zusammenreißen musste, den Flieger nicht wieder fluchtartig zu verlassen.

Ruhig, Rosemarie!, beschwor ich mich. Ganz ruhig. Wir atmen tief in den Bauch, denken an etwas Schönes und entspannen uns.

»Vielen Dank.« Uff. Plumps. Wieder saß ich auf meinem Sitz.

Ich tupfte mir mit einem Erfrischungstuch die Schweißtropfen von Stirn und Oberlippe. »Schrecklich eng hier, was?«, sagte ich zu dem Pärchen. »Waren Sie schon mal in Sri Lanka?«

»Nein.« Die beiden schauten mich fragend an. »Und Sie?«

»Nein«, gestand ich. »Bis vorgestern wusste ich noch nicht mal, wo das überhaupt liegt!«

»Und wie kommt es dann, dass …?« Das junge Glück wechselte erstaunte Blicke.

»Weil mein Sohn mir die Reise zum Geburtstag geschenkt hat. Der ist zwar erst im November, aber Mario, also mein Sohn, hat gemeint, die Preise wären gerade besonders günstig gewesen.«

Schwer atmend versuchte ich, den Sicherheitsgurt um meine weiblichen Rundungen zu zurren. Die zwei waren so schlank, dass ein Sicherheitsgurt für beide gereicht hätte.

»Er muss es ja wissen, er arbeitet in einem Reisebüro.«

Unter den prüfenden Blicken der Stewardess, die bestimmt überlegte, ob sie mir ein Verlängerungsteil oder ein Beruhigungsmittel bringen sollte, sprudelte es nur so aus mir heraus:

»Junge, hab ich gesagt, ich bin reif für die Insel. Du sitzt doch an der Quelle. Schau doch mal nach einem günstigen Angebot, Last Minute, nach einem schönen Ort, an dem deine alte Mutter mal zwei Wochen entspannen kann, bis es im Job wieder rundgeht.«

»Na, so alt sind Sie doch auch noch nicht …«

»Was arbeiten Sie denn?«

»Bald neunundvierzig«, gab ich freimütig zu. »Als Psychologin leite ich Entspannungskurse für Erwachsene und Kinder. Mitte September geht es wieder los mit autogenem Training, Hypnose und Stressbewältigung, aber jetzt muss ich selber mal runterkommen.« Ich wich einem dicken Bauch aus, der sich in mein Gesichtsfeld schob. »Aber doch nicht so!« Jemand versuchte, sein Gepäck in das Fach über mir zu quetschen. Dabei sprang ein Hemdknopf ab, und ein haariger Bauchnabel stach mir ins Auge.

Ich drehte den Kopf, um dieses Grauen nicht sehen zu müssen. Lieber wandte ich mich wieder den appetitlichen jungen Leuten zu.

»Und dann ruft mich Mario gerade mal vor zwei Tagen an und sagt: ›Mutter, du fliegst dahin, wo der Pfeffer wächst‹. Darauf ich: ›Wo wächst denn der Pfeffer?‹ und er: ›An der Südspitze Indiens – in Sri Lanka.‹ – ›Junge!‹, brause ich auf, ›bist du verrückt‹? Da will ich doch nicht hin! Das ist doch in der Dritten Welt! Ich brauche Ruhe und Erholung und keinen Ärger mit Salmonellenvergiftung, Kriminalität und so …«

Die jungen Leute machten große Augen.

»Und er sagt: ›Tja Mutter, ich dachte du wolltest so billig wie möglich so weit weg wie möglich! Also Sri Lanka!‹ – Darauf ich: ›Und was ist, wenn ich krank werde und in ein Buschkrankenhaus muss, wo mich keiner versteht und wo ich wegen der unsauberen Verhältnisse erst recht krank werde? Die haben da bestimmt nur ein Klo für alle.‹«

Die zwei lauschten mit offenem Mund. Kann sein, dass das Mädchen ein bisschen blass wurde.

»Menschenskind, ich kann ja noch nicht mal Englisch! Und auf das scharfe Essen da hab ich auch keine Lust! Davon krieg ich bestimmt Durchfall!« Endlich war der Dicke mit dem aufgeplatzten Hemd verschwunden. »Lieber Gott …« Ich wischte mir erneut den Angstschweiß von der Stirn. Ich wollte ans Mittelmeer! Nach Italien, Spanien, meinetwegen auch nach Griechenland! Aber was macht Mario? Bucht mir dieses ›Superschnäppchen‹ am Ende der Welt! Hotelresort Hikkaduwa Namaste – ich deklamierte sorgfältig dieses exotische Zauberwort.

Um meine Panik in den Griff zu bekommen, redete ich immer weiter, ohne Punkt und Komma.

»Da hätte ich auch zu Hause bleiben können!« Ich tupfte mir den Schweiß von der Oberlippe. »Am Bodensee ist es jetzt im August doch auch schön! Aber ich habe einen neunzigjährigen Vater und einen behinderten Bruder, deshalb wollte ich wirklich mal weit weg von Baden-Württemberg!«

Ich versuchte ein tapferes Grinsen. »Aber was soll’s, für irgendwas ist es bestimmt gut. Es gibt keine Zufälle im Leben! Zufall ist, was uns zufällt auf unserem Lebensweg!«, gab ich einen meiner Lehrsätze zum Besten. »Man muss einfach Vertrauen haben. Dem Schicksal voll und ganz vertrauen. Dann wird alles gut.«

In dem Moment ließ sich der Dicke mit dem Hemd auf den Sitz vor mir fallen und stellte seine Rückenlehne beim Anschnallen so weit zurück, dass sie mir fast an die Stirn knallte.

O Gott. Das Ganze hier war eine einzige Heimsuchung. Trotzdem zitierte ich weiter aus meinem Psychologie-Repertoire. »Alles hat einen Sinn. Auch Menschen, die Prüfungen für einen sind. Man kann aus jeder Situation etwas lernen.« Ich stemmte meine Knie gegen die Vorderlehne und bohrte sie dem Dicken in den Rücken. »Das Einzige, was wirklich Zufall ist, ist, wenn man die Garagentür zuhaut und gleichzeitig fällt in der Küche die Uhr von der Wand.«

Die beiden lauschten mit offenem Mund. Inzwischen verließ der Riesenflieger bereits seine Position und rollte unerbittlich in Richtung Startbahn. Ich krallte mich in meine Armlehnen. Wie sollte ich die nächsten zehn Stunden in dieser Enge überleben, ohne durchzudrehen? Ohne einen Menschen, der mir liebevoll die Hand hielt?

O Gott, der Pilot gab Gas. Ich wurde von einer enormen Kraft in den Sitz gedrückt, und wir gingen in den Steigflug. Mit gefalteten Händen saß ich da und betete: »Lieber Gott, lass diese Reise zu etwas Gutem führen.« Vor lauter Aufregung kamen mir die Tränen. Es war wie Lachen und Weinen zugleich. Juhu! Wir flogen! Wie aufregend war das denn!

Mit zunehmender Höhe wurde ich ruhiger. Vielleicht weil ich mir einbildete, dem lieben Gott jetzt näher zu sein?

Endlich gingen die Anschnallzeichen aus, und die Maschine hatte ihre endgültige Flughöhe erreicht.

»Uff.« Mir entfuhr ein Stöhnen. »Das Schlimmste hätten wir schon mal geschafft.«

Erleichtert ließ ich meinen Gurt aufschnappen, als der Dicke vor mir seinen Sitz nach hinten fuhr. Jetzt hatte ich seine Halbglatze fast im Gesicht.

Rosemarie, liebe deinen Nächsten!, dachte ich stoisch. Das gilt auch für deinen Vordermann.

Schon wehten köstliche Düfte durch die Gänge, und die Stewardessen warfen uns zur Steigerung der Vorfreude schon mal einen heißen nassen Lappen in den Schoß.

Eifriges Geklapper von Seiten der jungen Damen in den hübschen Uniformen ließ mich erfreut den Kopf heben.

»Was darf es für Sie zum Trinken sein?«

»Och, ich genehmige mir zur Feier des Tages mal ein Sektchen.«

Den hatte ich mir jetzt verdient. Ich prostete dem reizenden Pärchen neben mir zu, und innerlich auch mir selbst. Rosemarie, du schaffst das!

Der Sekt beruhigte meine Nerven, und die Nüsschen, die man gratis dazu bekam, würden den schlimmsten Hunger lindern. Schließlich hatte ich erst mal den Zug nehmen und über Stuttgart zum Flughafen Düsseldorf fahren müssen. Ich war also schon eine ganze Weile unterwegs. Heißhungrig riss ich das Tütchen auf und stopfte mir die Nüsschen in den Mund. Ich kam mir vor wie der berühmte Pawlowsche Hund, mir lief das Wasser im Munde zusammen. So, Rosemarie. Ab jetzt entspannst du dich und genießt den Flug!

Das junge Glück hatte sich Kopfhörer aufgesetzt. Bestimmt hatten die beiden fürs Erste genug von meinem privaten Bordentertainment. Auch gut. So konnte ich endlich meinen Gedanken nachhängen.

Ich döste ein, als mich jemand behutsam antippte.

»Was möchten Sie essen? Pasta oder Rind?«

»Wie? Oh?! Ist es schon so weit?«

Seit einer Stunde hatte ich die Menükarte auf dem Schoß und noch keinen Blick hineingeworfen!

»Pasta bitte.«

Ganz heiß lag sie auf meinem Teller, dazu gab es Brötchen, Butter, einen Salat mit pikantem Dressing und zum Nachtisch Weinschaumcreme. O Gott, wie wundervoll.

»Danke!« Ich strahlte die Stewardess an, als hätte sie mir das alles persönlich gekocht. Begeistert machte ich mich über das köstliche Essen her. So königlich bedient zu werden, und das in zehntausend Metern Höhe!

Ich hätte nie so gelangweilt im Flieger hocken können wie manch anderer, der diesen Flug nur als notwendiges Übel ansah, das Essen gar nicht genießen konnte und auch die Freundlichkeit der Stewardessen nicht zu schätzen wusste.

Ich war dankbar für alles, was mir auf diesem Flug geboten wurde. Dankbarkeit ist die beste positive Energie, die man nur haben kann! Sie ist Voraussetzung für ein glückliches, erfülltes Leben. Ach, aber wem sagte ich das? Keinem. Nur mir selbst.

Nach einem zweiten Sekt war alle Panik verflogen, und ich schaffte es sogar, das Kopfhörerende in die richtige Buchse zu stecken! Genüsslich sah ich mir den Film Green Card an, mit der entzückenden Andy McDowell und dem damals noch schlanken attraktiven Gérard Depardieu. Gott, waren die süß! Ja, Liebe musste schön sein.

Ich wusste kaum noch, wie man das Wort schreibt. Hatte ich je geliebt? War ich je geliebt worden? Nein, in meiner Ehe, als die Kinder noch klein waren, hatte ich wohl eher funktioniert. Und war gebraucht worden. Nach der Scheidung vor zwölf Jahren war ich vollauf damit beschäftigt gewesen, beruflich Fuß zu fassen. Aber jetzt war ich frei. Wofür? Für ein neues Kapitel in meinem Leben? Schließlich war die zweite Halbzeit angebrochen. Kam da noch was?

Auf dem Monitor war zu sehen, wie unser Flieger über karge felsige Wüstenlandschaft kroch, und ich zwang mich, mir nicht vorzustellen, wie es wäre, hier notlanden zu müssen. Nicht schön.

Beim Gang zur Toilette riskierte ich einen kurzen Blick aus dem Bullauge neben dem Notausgang. Unter uns nichts als schwarze Ödnis.

In dem Moment kam die markante Stimme des Piloten durch den Lautsprecher: »Meine Damen und Herren, wir überfliegen soeben den Äquator. Wenn Sie bitte mal schauen wollen, links von uns ist er deutlich zu sehen.«

Auf einmal kam Leben in die verschlafene Bude. Alle rieben sich die Augen und starrten hinaus. Als hätten sie Angst, etwas zu verpassen. Manche rissen sogar den Fotoapparat heraus und knipsten in die Dunkelheit, was mit Blitzlicht gegen die Scheibe bestimmt kein gelungenes Foto ergeben würde. Dabei war wirklich nichts zu sehen! Ich musste grinsen, als ich da in meinen roten Frotteesocken aus dem Fliegertäschchen vor der Toilettentüre stand. Die Stewardessen kicherten und warfen sich verschwörerische Blicke zu.

Das war wohl mehr so ein Insiderscherz. Aber nun waren alle wieder wach.

Jetzt fielen mir auch die vielen dunkelhäutigen Passagiere auf, die ich in meiner Aufregung vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Viele Familien mit entzückenden Kindern. Diese Inder – oder waren es Singhalesen? – strahlten eine ganz besondere Gelassenheit aus. Während ich unauffällig ein paar Lockerungsübungen machte, ließ ich meinen Blick schweifen: Es waren auch einige gemischte Paare an Bord. Die Frauen waren meist älter und hatten eine weiße Hautfarbe, die Männer dunkelhäutig und jünger. Ach. Da schienen sich ja einige gefunden zu haben. Hatten die Damen sich ein exotisches Souvenir aus dem letzten Urlaub mitgebracht? Und reisten sie nun gemeinsam wieder hin, um seine Verwandten zu besuchen? Mit meinem psychologisch geschulten Blick nahm ich allerdings sofort zur Kenntnis, dass diese Paare sich offensichtlich nichts mehr zu sagen hatten. Die große Liebe schien das bei denen nicht zu sein. Sie wirkten nicht besonders glücklich, ja, noch nicht einmal zufrieden! Weder unterhielten sie sich angeregt, noch lachten sie schallend vor Freude, geschweige denn waren sie ineinander verkeilt wie das Liebespaar in meiner Sitzreihe. Bei näherer Betrachtung fiel mir auch auf, dass keine dieser älteren Frauen auch nur annähernd gut aussah. Hatten die jungen schlanken Männer diese Damen tatsächlich aus Liebe geheiratet? Oder eher aus Berechnung, um mit ihnen nach Deutschland kommen und Geld verdienen zu können? Wie anfangs in Green Card, wo Gérard Depardieu und Andie McDowell ja auch nur geheiratet hatten, damit er eine Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis bekam? Allerdings hatten sie sich dann doch noch ineinander verliebt. Und wie! Die waren ja auch beide hübsch und jung und hinreißend. Aber diese älteren Damen hier, die alle doppelt so alt waren wie ihre zierlichen, samthäutigen und mandeläugigen Begleiter, die ließen sich doch bestimmt ausnehmen wie eine Weihnachtsgans, oder?

Ach, Rosemarie!, dachte ich, das geht dich doch gar nichts an.

Endlich stolperte jemand aus der Bordtoilette, der sich da drin wohl ausgiebig für die Nacht zurechtgemacht hatte, und ich durfte rein.

Wieder an meinem Platz stellte ich fest, dass an Schlafen nicht zu denken war. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen! Unser Flieger auf dem Monitor schwebte seit Stunden auf der Stelle, über Orten wie Ahmedabad und Hyderabad, und selbst wenn sich das »Bad« irgendwie einladend anhörte, hatte es sicherlich keinerlei Ähnlichkeit mit einem netten Seebad, in das ich ja eigentlich wollte!

Auf meiner Armbanduhr war es halb drei Uhr nachts, und allmählich bekam ich dicke Füße. Böse Ahnungen von Thrombose und Lungenembolie stahlen sich in mein sonst so positives Denken, und ich musste mir schöne Traumbilder von weißen Stränden, Palmen, blauem Himmel und einem kühlen Drink vergegenwärtigen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Bloß keine Panik, Rosemarie! Du lustwandelst gerade barfuß durch erquickende Wellen des Indischen Ozeans, und der ist so klar und türkisfarben, dass du die bunten Fische darin siehst. Du spürst den warmen, weichen Sand zwischen den Zehen. Ein wunderschöner, junger dunkelhäutiger Mann folgt dir. Er reitet auf einem Elefanten. Er sieht dich mit seinen geheimnisvollen Augen sehnsüchtig an und fragt, ob er dich ein Stück mitnehmen kann. Du würdest ja gern, kommst aber nicht auf den Elefanten. Er springt leichtfüßig in den Sand und hebt dich mit seinen starken Armen auf das dickhäutige Tier …

Plötzlich ging das Licht im Flugzeug an.

»Wie? Sind wir schon da?«

»In Sri Lanka ist es jetzt halb acht Uhr morgens«, erklärte mir die Stewardess lächelnd und reichte mir ein feuchtheißes Handtuch.

Überall gingen die Fensterrollos hoch, und die Sonne wärmte mein Gesicht.

Halleluja! Es war fast geschafft! Ich fuhr mir mit dem Tuch übers Gesicht und fühlte mich auf Anhieb erquickt. Jetzt kam auch das Cremedöschen aus meiner Bauchtasche zum Einsatz. Lustvoll verteilte ich die duftende Lotion auf Gesicht und Händen. So, Rosemarie, duftend und strahlend wirst du sri-lankischen Boden betreten, und nicht bleich und verschlafen. Man muss sich doch nicht gehen lassen!

Dankbar genoss ich das Rührei, ein paar Stückchen Obstsalat und ein Marmeladenbrötchen, schlürfte zwei Tassen Kaffee mit Milchpulver aus dem Plastikbecher und trippelte noch einmal zum Zähneputzen.

Durch das Bullauge sah ich aufs tiefblaue Meer hinaus! Und was war das? Ein weißes winziges Schiff, das wie ein Spielzeugboot durch die Wellen pflügte! Bestimmt eine Privatjacht von einem indischen Prinzen. Gebannt starrte ich hinunter, erkannte sogar schon die Schaumkronen vor einem palmenumsäumten Traumstrand, und erst als die Stewardess mich energisch aufforderte, mich wieder hinzusetzen und zur Landung anzuschnallen, erfasste mich nicht nur Vorfreude, sondern auch Aufregung. Der Druck auf meine Ohren wuchs. Schlucken, Rosemarie, schlucken! Kinder weinten, Mütter suchten nach Schnullern und Trinkflaschen. Oh! Meine reizende Stewardess verteilte Bonbons! Jeder bekam eines, wie aufmerksam! Also diese Mädels hatten ja wohl einen Riesenapplaus verdient.

Wir überflogen einen dichten Palmenwald, ich erkannte ein mit Stacheldraht abgesperrtes Gelände aus staubigem Schotter, und dann senkte sich die Schnauze unseres Riesenvogels Richtung Landebahn. Die Luft sirrte und flirrte, als er aufsetzte und noch ein paarmal auf und ab hüpfte wie ein Seeelefant, der schnaubend ans Ufer gleitet. Der Pilot hatte es geschafft, dieses tonnenschwere Metallmonster sicher auf sri-lankischen Boden zu bringen! Frenetischer Beifall füllte die Kabine.

Vor lauter Neugierde und Tatendrang konnte ich es kaum erwarten, endlich aufzustehen und meine Tasche an mich zu raffen! Ich musste mich mühsam beherrschen, nicht zu drängeln. Ich bedankte mich noch einmal bei den Stewardessen, die sich an der inzwischen geöffneten Tür verabschiedeten.

Dann kniff ich geblendet von der sengenden Sonne die Augen zusammen. Der heiße Wind Sri Lankas haute mich fast um. War das hier immer so? Wie sollte ich das nur zwei Wochen lang aushalten?

Ich straffte die Schultern und schritt tapfer die eisernen Stufen hinunter.

2

COLOMBO, SRI LANKA, AUGUST 1995

Im tumultartigen Chaos der Ankunftshalle stand ich erst mal schweißgebadet da und wünschte mir, mir die Klamotten vom Leib reißen zu können. Tausende von dunkelhäutigen Abholern hielten ihre Schilder hoch und schrien durcheinander.

In der Flughafentoilette hatte ich mir zwar einiges ausgezogen, aber offensichtlich nicht genug. Ein kleines hutzeliges Weiblein im Sari hatte das Waschbecken geputzt, und ich hatte ihr einen Dollarschein geben wollen, aber sie hatte abgewehrt: »Mark please, Mark!«

Na, das fing ja schon mal gut an. Dollars wollte sie nicht, aber Mark? Schon bei meiner ersten Begegnung mit einer Einheimischen schien ich etwas falsch gemacht zu haben.

So. Was nun? Die verschnörkelte Schrift auf den Anzeigetafeln konnte ich nicht lesen. Das Englische auch nicht. Ich fächelte mir mit meinem Pass Luft zu.

»Taxi! Madam, Taxi!« Schon wollten eifrige Hände nach meinem Koffer greifen und mich irgendwohin zerren.

»Nein, nein, nicht doch!«, wehrte ich freundlich ab. Mario hatte ja ein All-Inclusive-Paket für mich gebucht! Da war ein Hotelbus mit drin! An meinem Koffer klebte der entsprechende Aufkleber.

Da kam auch schon ein dünner Mann im knielangen Oberhemd über Pumphosen barfuß angerannt und nahm meinen Koffer.

»Halt! Der Koffer ist schwer … Den kann man ziehen, das ist ein Rollkoffer …«

Unbeirrt schleppte der Mann das sperrige Teil bis zu einem kleinen Hotelbus, der wartend am Seitenausgang stand. Darin verstaute er ihn tapfer und grinste mich fast zahnlos an.

»Mark please.«

»Ich hab nur kleine Dollarscheine!«

Das hatte Mario mir extra geraten: viele kleine Dollarscheine mitzunehmen.

»No, Mark please!«

»Tut mir leid. Hab ich nicht. Mein kleinster Markschein ist ein Zwanziger, und Sie hätten den Koffer ja ziehen können.«

Kopfschüttelnd stieg ich in den kleinen Bus. Die Hitze war wirklich unerträglich.

Neben mir saß ein deutsches Ehepaar, das sich ebenfalls völlig schachmatt Luft zufächelte. Sie war auch etwas mollig, was ich auf Anhieb sympathisch fand, und er groß und stark. Das fand ich noch viel sympathischer. Wir alle passten kaum in die schmale Sitzreihe, die eher für hiesige Körpermaße gedacht zu sein schien.

»Hallo, ich bin Rosemarie Sommer, reisen Sie auch ins Hotel Hikkaduwa Namaste?«

Auf ihrem Handgepäck prangte derselbe Aufkleber.

Endlich hatte ich Gesellschaft gefunden! Erleichterung machte sich breit.

»Wir sind die Neumanns aus Unna. Am Kamener Kreuz rechts ab!«, ertönte der mächtige Bass des Mannes.

»Bärbel und Eberhard.«

Endlich tuckerte der Busfahrer los, und eine Art Klimaanlage ging an. Kochend heiße Luft kam aus der kleinen Luke über meinem Kopf und föhnte mir die schweißnassen Haare.

Ups, hier herrschte ja Linksverkehr! Daran musste ich mich erst mal gewöhnen.

Der Ausblick aus dem Busfenster war herrlich! Üppige orangefarbene, lila und blutrote Blütenpracht überall, grüne Palmen, die sich im Wind wiegten, hübsche Häuser und auffallend schöne Menschen. Bildschöne, zierliche Frauen schritten anmutig in ihren bunten Saris über die Straße, die leider von Abfällen und Plastikmüll nur so übersät war.

Fasziniert starrte ich aus dem Fenster und verrenkte mir den Hals. Quietschgelbe Tuktuks knatterten hupend durch staubige Schlaglöcher, darin bis zu vier schlanke Menschen, die mich mit blitzend weißen Zähnen anstrahlten. Ich winkte, und sie winkten freundlich zurück.

»Gucken Sie mal, Eberhard und Bärbel, ein Elefant!« Ich konnte kaum fassen, was auf dieser Straße alles unterwegs war.

Je mehr wir uns von der schillernden Großstadt Colombo entfernten desto ländlicher wurde die Gegend. Von einfachen Bretterbuden aus verkauften Händler Berge von rohem Fleisch, das von schwarzen Schmeißfliegen umschwirrt wurde. Bei dieser Hitze!

Wer wollte denn so was essen? Mir wurde fast übel.

Auch Bärbel und Eberhard sparten nicht mit Kommentaren. »Das ist ja so was von unhygienisch! Da hätte unser Metzger in Unna aber sofort das Gewerbeaufsichtsamt am Hals!«

Trotz der herrlich exotischen Pflanzenwelt ließen sich die einfachen, ja ärmlichen, von Müll umgebenen Hütten leider nicht übersehen. Dazwischen winzige Geschäfte mit wenigen Waren, meist Früchte, Gemüse, Haushaltswaren, Plastikzeug und Autoersatzteile.

Es wirkte nicht sehr ansprechend, aber die Menschen schienen sich daran nicht zu stören.

»Hier müsste mal ordentlich aufgeräumt werden«, fand Eberhard. »Warum greift denn hier niemand mal zum Kärcher?«

»Und ich würde einfach mal die Müllabfuhr hier durchschicken«, meinte Bärbel konstruktiv.

»Andere Länder, andere Sitten«, sagte ich begütigend.

Müdigkeit übermannte mich, aber ich hatte Angst zu schnarchen und wollte es mir mit Bärbel und Eberhard schließlich nicht gleich verderben.

Die unruhige Busfahrt von Colombo in unser Resort dauerte ganze vier Stunden. Längst waren die beiden neben mir eingenickt, und Eberhard schnarchte laut. Endlich steuerte der Busfahrer unser Hotel an.

Namaste Hikkaduwa, stand in geschwungener Schrift über der blumenumrankten Einfahrt. Zwei bezaubernde mandeläugige Schönheiten standen grüßend vor der Tür und legten der zerzausten Bärbel und meiner erschöpften Wenigkeit weiße Blütenkränze um den Hals, während der schwitzende Eberhard und der schmächtige Busfahrer die Koffer aus der Gepäckluke zerrten. Wir bekamen einen exotischen Drink, der nach Ananas, Mango und Zitrone schmeckte. Dankbar stürzten wir ihn hinunter. Köstlich!

»Na, dann auf einen schönen Urlaub!«

Bärbel und Eberhard prosteten mir zu.

Staunend betraten wir die kühle, elegante Eingangshalle. Mehrere Ventilatoren surrten an der Holzdecke, die mit kunstvoll geschnitzten Ornamenten verziert war. Auf niedrigen Holztischchen standen Vasen mit schnabelförmigen orangefarbenen Blüten, und hinter der Rezeption flatterten zwei zierliche Damen herum wie Schmetterlinge.

Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!, schoss es mir durch den Kopf.

»Oh, da hinten ist der Pool!«, rief Bärbel.

»Und dahinter Palmen und Meer – endlich!«

Ich konnte es kaum erwarten, meinen müden verschwitzten Körper in die kühlen Fluten zu tauchen.

»Na dann bis später, wir sehen uns!«

Bärbel und Eberhard zogen ab, und ich folgte einem Halbgewicht in Uniform zum Aufzug. Mein Zimmer lag im zweiten Stock. Es war spartanisch eingerichtet: ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank und ein Ventilator.

»Danke.« Als ich dem Hotelangestellten einen Dollar geben wollte, murmelte er wie aufgezogen: »Mark, please, Mark!«

Na meinetwegen. Jetzt musste der Zwanziger dran glauben. Die Dienste dieses Mannes würde ich noch länger in Anspruch nehmen. Irgendwann würde ich auch herausfinden, warum die einheimische Bevölkerung keine Dollars haben wollte.

Nach einer halbwegs erfrischenden Dusche nahm ich den geblümten Badeanzug aus dem Koffer, zog ein Strandkleid drüber, schlüpfte in die Badelatschen und machte mich auf zum Strand.

Oje, was für eine Enttäuschung. Alles voller Korallenbänke! Der dunkelbraune Sand war voller spitzer Steine. Barfuß konnte man hier gar nicht laufen, auch nicht ins Wasser gehen! Und das milchig-warme Wasser war so flach, dass man kilometerweit reinstiefeln hätte müssen, um endlich schwimmen zu können. Nein, das war hier überhaupt nicht zum Baden gedacht.

Toll gemacht, Mario. Vielen herzlichen Dank. Soviel zum Traum vom Sandstrand unter Palmen und einem türkisblauen Meer.

Zurück am Pool, der schmucklos in der prallen Sonne lag, hielt ich meine große Zehe hinein. Pipiwarm!

»Och nee, Mario, also wirklich!«

Dafür war ich jetzt so weit gereist? Vierundzwanzig Stunden war ich jetzt unterwegs?! Von meinem Dorf nach Stuttgart, von dort mit dem Zug nach Düsseldorf, dann der lange Flug und anschließend noch vier Stunden Busfahrt!

Ich zwang mich, nicht an das gepflegte Strandbad zu Hause mit seinen weißroten Sonnenschirmen, den schattenspendenden Kastanien und bequemen Liegestühlen zu denken. Ganz zu schweigen von dem netten Kiosk, an dem es Würstchen, Bier und Zeitschriften gab! Ganze fünfzehn Minuten Fußweg von meinem Zuhause entfernt!

Ein Leguan kroch unter einem vertrockneten Busch hervor und beäugte mich schadenfroh. »Das hättest du am Bodensee billiger haben können!«, schien er mich zu verspotten. »Da sind es jetzt angenehme fünfundzwanzig Grad, und die Leute sprechen deutsch, und die Laubbäume spenden luftigen Schatten.«

Enttäuscht ließ ich mich auf einen kaputten Liegestuhl sinken, und meine vor Müdigkeit brennenden Augen füllten sich mit Tränen.

»Hier bleibe ich höchstens eine Woche«, murmelte ich leise vor mich hin. Nun hatte sich auch noch die Sonne verzogen. Es war zwei Uhr mittags, und ich starrte in dumpfes Grau.

»Dann muss ich mich wenigstens nicht eincremen«, waren meine letzten Gedanken, bevor ich in einen totenähnlichen Tiefschlaf fiel.

Als ich mich abends in meiner düsteren Kemenate auszog, stellte ich fest, dass ich mir einen schrecklichen Sonnenbrand zugezogen hatte. Ich war feuerrot.

»Aber es war doch gar keine Sonne? Autsch!«

Schon wieder kamen mir die Tränen. Selbst das kühle Wasser aus der tröpfelnden Dusche brannte wie flüssige Lava auf meiner Haut! Mein Gesicht leuchtete wie eine reife Tomate, bis auf zwei weiße Flecken um die Augen. Ich war wohl mit Sonnenbrille eingeschlafen. Ich sah aus wie ein Kürbis an Halloween!

»Wo krieg ich denn jetzt eine After Sun Lotion her?« Mir wurde schlecht, und meine Zähne schlugen aufeinander. Mühsam schleppte ich mich zum Bett, doch das Laken marterte meine empfindliche Haut.

Diese Nacht würde ich nicht durchstehen! Mein Jetlag und mein Sonnenbrand brachten mich schier um den Verstand. Noch mehr quälte mich Heimweh.

Es klopfte.

»Ja?!«

Der milchbraune Kofferboy von heute Mittag schob sich schüchtern herein.

Auf Englisch fragte er mit sanfter Stimme, ob alles okay sei. Das Wort okay verstand ich zum Glück und schüttelte vehement den Kopf. »No! Nix is okay! Gucken Sie mal, was mir heute passiert ist!« Ich hielt ihm mein brennendes Gesicht hin und zupfte am Ausschnitt meines Nachthemds.

Dem armen Jungen fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Sunburn«, sagte er sanft. »Wait, Madam, I’ll help.«

Ja bitte. Bring einen rollenden Kühlschrank, der von innen mit Magerquark ausgeschlagen ist und fahr mich damit zum Flughafen. Ich will sofort nach Hause, dachte ich. Mir war so schlecht, heiß und kalt, ich zitterte und hatte Durst und wollte nur noch sterben.

Nach kurzer Zeit kam der Hotelboy wieder und brachte ein Blatt von einer Aloe Vera-Pflanze.

Wollte er mir jetzt die ganze Nacht damit Luft zufächeln? Mein Zwanzigmarkschein schien ihn echt beeindruckt zu haben! Er schnitt das Blatt jedoch vorsichtig durch und schälte das glibbrige Fleisch mit dem Messer heraus. Aha!, dachte ich angewidert. Wenn ich das essen soll, kann er gleich wieder gehen.

Doch zu meinem Erstaunen kniete sich der junge Mann vor mein Bett und strich mir behutsam das Gesicht damit ein. So schnell, dass ich nicht mehr zurückweichen konnte. Es war mir unangenehm, diese intime Berührung durch einen fremden Mann. Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht gerade liebreizend aussah mit der grünen Pampe im Gesicht, und mein kurzes Nachthemd meine knallroten Schenkel auch nicht gerade verdeckte.

Und das Zeug stank! »Lassen Sie das, ich möchte das nicht …«, stieß ich hervor.

»Relax«, murmelte der junge Hotelboy. »It’s good for you!«

Ja. Wahrscheinlich. Was hatte ich schon zu verlieren? Meine Würde jedenfalls nicht mehr.

Ich versuchte mich zu entspannen. Wollte er etwa weiter unterhalb … Nein das würde ich nicht zulassen.

»NUR die Nase!«, sagte ich streng.

»Relax!«

Oh, war das wohltuend! Der erste Mensch in diesem Land, der sich meiner fürsorglich annahm! Aber wohin sollte das führen? Ich sah wieder die ungleichen Paare aus dem Flugzeug vor mir. Hatte das bei denen auch so angefangen?

»Können Sie mir nicht eine Kollegin schicken?«

»Relax.« Na ja, viel mehr Vokabular hatte der auch nicht im Repertoire.

»Turn around.«

»Wie jetzt?«

Ich sollte mich umdrehen? Offensichtlich. Er machte eine entsprechende Geste. Nein. Wirklich nicht.

»Das ist mir unangenehm«, sagte ich freundlich, aber bestimmt. »Wir kennen uns ja gar nicht.« Vehement schüttelte ich den Kopf. »No. Go away.« Mehr Englisch konnte ich leider nicht.

Der Angestellte zuckte bedauernd die Schultern und trollte sich.

Ich öffnete das Schiebefenster, um erst mal kühle Luft reinzulassen. Ach, was hatte ich mich auf die lauen Nächte gefreut! Meeresrauschen, Mondschein, Sternenhimmel!

Wegen meiner Erschöpfung schlief ich trotz Sonnenbrand ein und merkte nicht, wie sich die Mücken auf mich stürzten. Der Duft nach Aloe Vera und Menschenschweiß muss für sie ähnlich verführerisch gewesen sein wie der nach gebrannten Mandeln oder einer warmen Zimtschnecke.

Am nächsten Morgen war ich zusätzlich zum Sonnenbrand völlig zerstochen. Zu allem Überfluss saßen die vollgesogenen Biester jetzt überall an den Wänden und freuten sich auf die nächste Nacht.

»Verdammt!« Ich schleppte mich zur Tür und rief nach dem Hotelboy. »Gucken Sie sich das an!« Vorwurfsvoll zeigte ich auf die Ansammlung von Moskitos.

»You must shut window!« Kopfschüttelnd schloss er das Fenster.

»Ja, aber dann krieg ich Zustände …« Ich machte ihm vor, wie sich so eine Hitzewallung anfühlt. In Verbindung mit Sonnenbrand.

»Nur Höllenfeuer ist schlimmer!«

Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln und zeigte mit dem Kinn auf den Ventilator.

»Air condition!«

Sein indischer Akzent war hinreißend, aber was nützte mir das jetzt? Immerhin war mein Gesicht nicht mehr rot, wie ich beim Blick in den Spiegel feststellte. Das Glibberzeug aus den Blättern hatte geholfen! Hätte der junge Mann mir auch noch den restlichen Körper damit eingerieben, wäre ich jetzt schön braun!

Aber ich hatte verständlicherweise Berührungsängste. Seit zehn Jahren hatte mich kein Mann mehr angefasst. Und schon gar nicht zärtlich oder fürsorglich. Das kannte ich gar nicht.

In den nächsten Tagen hielt ich mich nur im Schatten auf und starrte auf die Leguane, die hier in Scharen zu Hause waren. Und die Leguane starrten zurück. Sie hatten hier ältere Rechte, und es interessierte sie nicht, dass ich von weit her angereist war, um diese schäbige Pracht mit ihnen zu teilen.

Am Abend brachte mir der fürsorgliche Boy ein schlangenförmiges grünes Etwas.

»Was ist das?« Misstrauisch beäugte ich das Ding. »Lebt das?!«

»No, it’s against the moskitos.«

Er zündete das eine Ende an, und sofort roch es intensiv nach Räucherstäbchen.

»It will burn the whole night.«

Was hatte er gesagt? Ich verstand kein Wort.

»Moskitos go away«, erklärte er.

Tatsächlich schlief ich in dieser Nacht tief und fest. Ich träumte, dass ich wieder jung war und mit einem wunderschönen bronzehäutigen Mann am Lagerfeuer lag. Ich hatte meinen Kopf in seinen Schoß gebettet, während er mir etwas zur Gitarre vorsang.

3

HIKKADUWA, SRI LANKA, AUGUST 1995

Tagelang konnte ich mich an die Hitze nicht gewöhnen. Ich schwitzte furchtbar, das T-Shirt klebte mir am Körper, der sich jetzt schälte. Für die jungen Männer, die hier arbeiteten, war ich bestimmt keine Augenweide. Der Pool kam mir vor wie eine heiße Badewanne, und so hockte ich weiterhin leidend im Schatten. Zwei öde Wochen lagen noch vor mir!

Ich durfte nicht darüber nachdenken. Stattdessen besann ich mich auf meine vielgepredigten Tugenden: Geduld, Dankbarkeit, positives Denken und fröhliche Neugierde auf alles, was da kommen mochte.

Zu den Mahlzeiten machte ich mich halbwegs fein und gesellte mich zu Eberhard und Bärbel an den Tisch. Morgens am Frühstücksbüfett gab es herrliche Früchte, die ich noch nie gesehen hatte, und Säfte in jeder Farbe, die göttlich schmeckten und bestimmt sehr gesund waren. Das tröstete mich über so manches hinweg. Der Speisesaal lag unterhalb des Pools mit Blick auf den Strand. Es war immer schön, dort zu sitzen, denn ein kühler Wind strich durch das palmblattgedeckte Lokal. Bunte kleine Vögel flogen ein und aus und machten sich auf den bereits verlassenen Nachbartischen über Essensreste her, bis jemand vom Personal sie klatschend verscheuchte. Dass sie zehn Sekunden später wieder da saßen, schien niemanden zu stören. Auch wir wurden freundlich-distanziert betrachtet, wie seltene Vögel. Aber wenn wir etwas brauchten, waren sie sofort zur Stelle.

»Warum steht hier soviel Personal herum? Ich fühle mich irgendwie beobachtet.« Ich löffelte das gelbe Fruchtfleisch aus einer Papaya. »Die schauen mir beim Essen zu, und das stört mich.«

»Das ist Security«, meinte Eberhard kauend. »Das ist in diesem Land leider nötig.«

»Deshalb auch der hohe Stacheldrahtzaun rings um das Hotel? Man kommt sich ja vor wie im Gefängnis!« Ich nahm mir eine reife Kiwi. »Habt ihr gesehen? Wenn einer rein oder raus will, öffnen sie eine gesonderte Schranke. Einheimische dürfen gar nicht erst herein!«

»Wahrscheinlich hat das was mit dem Bürgerkrieg im Norden des Landes zu tun.« Eberhard vertilgte sein drittes Rührei. »Da sind jetzt Unruhen, und die wollen keine Touristen verlieren.«

»Aber hier im Süden des Landes ist doch alles friedlich. Wer will uns denn hier was tun?«

»Das ist schon ziemlich unheimlich«, fand Bärbel und rührte Süßstoff in ihren Kaffee. »Dass hier überall bewaffnete Sicherheitskräfte rumlaufen.«

»Dabei würde ich mich so gern mal außerhalb des Resorts umsehen.« Genüsslich nahm ich einen Schluck von meinem Ananas-Mango-Papaya-Drink. »Die Leute interessieren mich: wie die hier leben, und dann das Umland! Ich möchte so gern mal in den Dschungel und auf einem Elefanten reiten, wo ich schon mal hier bin. Auf dem Hinflug hab ich nämlich davon geträumt.«

»Das ist wohl nicht vorgesehen«, unterbrach mich Bärbel, die inzwischen einen Joghurt löffelte. »Aber sie bieten einen organisierten Ausflug ins Landesinnere an. Eberhard und ich überlegen, ob wir den buchen sollen.«

»Der geht über drei Tage«, schnaufte Eberhard und wischte sich mit der Serviette über die Stirn. »Aber bevor wir uns hier langweilen, werden wir das wohl machen.«

»Finished, Madam?« Eine bronzefarbene Hand zog meinen Teller weg und der dazugehörige junge Mann entfernte sich diskret.

»Die sind hier alle so aufmerksam, findet ihr nicht?« Ich sah mich unter den hübschen Kellnern um.

»Ja klar, aber die spekulieren auch auf ein sattes Trinkgeld.« Eberhard zündete sich eine Zigarette an.

»Nur einer nicht!« Ich zeigte unauffällig mit dem Kinn auf einen besonders Schönen, der sich immer im Hintergrund hielt. »Habt ihr den gesehen? Den finde ich hinreißend.«

Die beiden grinsten. »Rosemarie hält nach einem jungen Prinzen Ausschau.«

»Ach Quatsch!« Wurde ich etwa rot? »Der Mann ist doch mindestens zwanzig Jahre jünger als ich!« Ich verschwieg den beiden, dass mein letzter Sex etwa genauso lange her war.

Mein Lieblingskellner, den ich heimlich »Der Schöne« nannte, äugte wie ein scheues Reh hinter einer Säule hervor.

»Der drängt sich wenigstens nicht auf. Den finde ich sehr sympathisch.«

»Schüchtern wie ein Schuljunge«, flachste Eberhard. »Das gefällt Rosemarie.«

»Blödsinn«, verteidigte ich mich sofort. »Ich hab eine schwierige Ehe hinter mir. Ich bin so scheidungsgeschädigt, dass ich keinem Mann mehr traue.«

Deshalb kam mein heimliches Interesse für diesen Schönling für mich selbst überraschend. Aber das sagte ich den beiden natürlich nicht. »Ich habe seit Jahren mit der Männerwelt abgeschlossen und komme hervorragend allein zurecht«, beteuerte ich beiden. »Meine Kinder sind längst erwachsen, und ich habe so viele Interessen, auch beruflicher Art, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, wieder mit einem Mann zusammenzuleben. Der würde bloß alles durcheinanderbringen.«

»Bis jetzt hast du uns nur von deinem Sohn Mario erzählt!«

»Ich habe auch noch eine Tochter, Stephanie. Sie ist verheiratet und hat schon eine kleine Tochter«, schwärmte ich den beiden vor. Währenddessen fing ich den Blick des scheuen Schönen auf, der hinter der Theke Gläser putzte.

Es traf mich wie ein Blitz. Schnell schaute ich weg. War das eine Hitzewallung, die mich da durchzuckte oder die Spätfolge meines Sonnenbrandes? Mein Herz setzte einen Schlag aus. War ich etwa verknallt?

»Ähm, ich muss dann jetzt gehen«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich muss zur Bank, Geld tauschen.« So galant wie möglich schälte ich mich aus meinem Sitz und strich mir den Rock glatt, der an meinen Schenkeln klebte.

»Pass bloß auf dich auf, Rosemarie«, riefen die zwei noch hinter mir her. »Verlauf dich nicht und lass dich nicht von fremden Männern anquatschen!«

Todesmutig verließ ich das sichere Hotel und bestieg ein gelbes Tuktuk.

»Bank, please.«

Der Fahrer rumpelte los und hielt nach einiger Zeit tatsächlich vor einem niedrigen, schlecht verputzten Bankgebäude. Na bitte. Ging doch!

»I go with you.« Der Fahrer lief einfach neben mir her.

»Was? Wieso?«

»For defense.«

»Wie? Ich kann allein gehen«, wehrte ich energisch ab, aber er begleitete mich bis zum Bankschalter, wo er stoisch mit mir in der Schlange stand. Erst als ich ihm einen bösen Blick zuwarf, wich er zwei Meter zurück.

»Du glaubst doch nicht, dass ich dich hier bei meinen Geldangelegenheiten zugucken lasse«, murmelte ich. »Change hundred Marks in Rupies please!«, wies ich den Bankangestellten an. Dabei sah ich mich nach dem Taxifahrer um. Er war rausgegangen. Na bitte.

Als ich mit dem Bargeld im Brustbeutel das Bankgebäude wieder verließ, sprang er jedoch sofort herbei.

»Back to hotel«, sagte ich forsch. Dabei hätte ich so gerne etwas von der Umgebung hier gesehen! Ob ich ihm trauen konnte?

»Glasbottomboat?« Der Fahrer schien meinen sehnsüchtigen Blick bemerkt zu haben. »It’s safe here.«

»Nee, für so was habe ich jetzt keinen Sinn!« Ich wollte so schnell wie möglich meine Beute in Sicherheit bringen!

»Glasbottomboat«, drängte der Taxifahrer mit heller Stimme.

»I escort you!« Er zeigte aufs Meer.

Na meinetwegen! Jetzt, wo ich schon mal hier war! Scheiß drauf!, dachte ich mutig. Ich will endlich was erleben! Fahr ich eben eine Runde mit dem Glasbodenboot. Warum soll ich dem Mann nicht vertrauen? Er tut mir doch nichts.

Der Fahrer winkte eines der Boote heran und half mir eifrig beim Einsteigen.

»Oje, das schaukelt!«, quietschte ich, um mein Gleichgewicht ringend. Amüsiert ließ ich mich auf die Holzbank fallen, woraufhin das Boot sofort ziemliche Schlagseite bekam.

Der Tuktukfahrer lachte. Mit dem Bootsmann wechselte er einige aufgeregte Worte, und der warf die Leinen los.

O Gott, Rosemarie, was machst du da? Mich befiel ein eigenartiges Kribbeln, das ich zuletzt gespürt hatte, als ich als Achtzehnjährige mal per Anhalter gefahren war.

»I wait! Don’t worry!«

Na meinetwegen. Hatte ich also einen Beschützer. Oder lauerte der nur auf mein Geld?

Neugierig schaute ich durch den Glasboden, aber während der nächsten halben Stunde erspähte ich nur einige kleine Fische.

Als ich wieder zum Strand kam und die Fahrt bezahlen wollte, sagte der Tuktukfahrer, der ganz entspannt im Sand gehockt hatte: »Twenty Marks, Madam.«

»Wie? Zwanzig Mark? Seid ihr verrückt?«

»Twenty Marks, Madam.«

»Na, das ist ja wohl reichlich dreist …« Umständlich kramte ich in meinem Brustbeutel. »Zwanzig Mark habe ich nicht, aber einen Fünfer.«

Jetzt kam auch noch ein einbeiniger alter Mann auf Krücken angehumpelt und streckte bittend seine Hand aus. Dem hätte ich glatt was gegeben, aber der Tuktukfahrer und der Bootsmann jagten ihn davon.

Die beiden bestanden auf den zwanzig Mark! Frechheit.

»I have not!«, patzte ich sie wütend an. »Too much!«

Da erdreistete sich der Tuktukfahrer doch tatsächlich, die Hand nach meinem Brustbeutel auszustrecken: »Yes! I see you have!«

Hilfesuchend sah ich mich um. War denn hier weit und breit kein Tourist, der diese unverschämte Belästigung mit ansah? Nein. Niemand. Ich war allein mit den Einheimischen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als dem Tuktukfahrer den Zwanziger auszuhändigen.

Wütend stapfte ich davon. »Das passiert dir nicht noch einmal, Rosemarie«, schimpfte ich laut mit mir selber. »Das war ja wohl ein ganz abgekartetes Spiel! Und Eberhard hat noch gesagt, ich soll mich nicht von fremden Männern …«

»Madam! Come to see!« Ein neuer Einheimischer verstellte mir freundlich lächelnd den Weg. »Fabrik! Batik factory!Nice clothes!«

»Nee, nix da. I go Hotel.« Ich versuchte ihn wegzuscheuchen. Energisch stapfte ich durch den Sand an ihm vorbei.

Doch der junge Mann ließ sich durch nichts vertreiben. Gestikulierend lief er neben mir her. Da es sowieso mein Weg war, konnte ich ihn auch nicht daran hindern.

»Look! Factory!«

»Leute, lasst mich in Ruhe«, wehrte ich ab. »Ihr wollt ja alle nur das Eine!«

Doch plötzlich packte mich doch die Neugier. Willst du jetzt tagelang im Resort rumsitzen, oder willst du was erleben, Rosemarie? Die paar Meter kannst du jetzt auch noch mitgehen! Du hast sowieso nichts anderes vor!

Der Einheimische geleitete mich über verrostete Bahnschienen, und plötzlich befanden wir uns in dichtem Dschungel. In den Bäumen kreischten Affen und spielten Fangen.

»Ups«, lachte ich verlegen und zog den Kopf ein. »Dangerous?«

»No dangerous«, lachte mein neuer Reiseführer. »Harmless monkeys, just playing!«

Jaja, das sagen alle, dachte ich. Die beißen nicht, die wollen nur spielen.

Ich bewunderte mich für meinen Mut. »Da! Bananas!«, rief ich ganz aufgeregt. Ganze Stauden quollen unter den Palmen hervor. Die Affen hangelten sich blitzschnell zu ihnen herunter und mopsten sich welche.

Wow!, dachte ich. Wenn ich das Eberhard und Bärbel erzähle! Der Wahnsinn! Ich bin im Dschungel!

Aus den umliegenden kleinen Hütten kamen nun magere Kinder mit pechschwarzen Haaren hervor und bettelten um Bonbons.

»Kinder, ich hab keine.« Bedauernd hob ich die Hände. Meinen Brustbeutel hatte ich wohlweislich unter dem T-Shirt verstaut.

»You give money, I bring sweets!« Mein findiger Begleiter streckte fordernd die Hand aus.

Ach, diesen bittenden Kinderaugen konnte ich wirklich nicht widerstehen!

»Aber nur ausnahmsweise!« Schon ließ ich mich erweichen und rückte einen Tausendrupienschein heraus.

Wie lehrte ich doch immer in meinen Kursen zu Hause an der Volkshochschule? Vertrauen ist immer hundertprozentig, nicht 51 Prozent oder 70 Prozent, auch nicht 98 Prozent. Immer hundert. Sonst ist es nämlich kein Vertrauen.

Ich konzentrierte mich ganz auf meine positive Energie. Der Glaube versetzt Berge, Rosemarie! Wenn ich geglaubt hätte, der Mann käme vielleicht nicht wieder, dann wäre er vielleicht auch nicht wiedergekommen. Aber er KAM wieder! Bewaffnet mit einer großen Tüte Bonbons!

»He, super! Gib her!« Ich lachte erleichtert.

»No, Madam. Let me give.«

Warum denn das? ICH war doch die edle Spenderin! Aber dann sah ich, dass er jedem Kind nur ein Bonbon gab, und das reichte am Ende immer noch nicht. Ich hätte bestimmt mit vollen Händen Süßigkeiten verteilt und am Schluss gar keine mehr gehabt.

Dann wären die Kinder enttäuscht abgezogen. So aber bedeuteten sie mir, ihnen in ihre Hütten zu folgen. Mütter standen lächelnd im Türrahmen und boten mir Tee an.

Oh, wie süß ist das denn!, freute ich mich insgeheim. »Danke nein«, wehrte ich freundlich ab. »Wir wollen ja zur Batikfabrik.«

Inzwischen waren wir aber schon weit in den Dschungel hineingegangen, und noch immer war keine Batikfabrik in Sicht.

»I show you my house«, bot mein Dschungelführer plötzlich an. »My family is waiting for you.«

Wie? Also keine Batikfabrik? Hatte der Schlawiner mich nur in den Dschungel gelotst, weil er wusste, dass ich die Tasche voller Rupien hatte?

Wären die vielen netten Kinder nicht gewesen, hätte mich nackte Panik gepackt.

Aber meine innere Stimme sagte: »Hallo? Rosemarie? Vertrauen ist hundertprozentig!«, und so ging ich beherzt mit.

Wir kamen an dem einzigen Brunnen vorbei, der die ganze Gegend mit Wasser versorgte. Entsetzt starrte ich hinein: Das war ja einfach nur ein Loch im Boden! Mitten auf dem Weg, mit ungefähr eineinhalb Meter Durchmesser!

Damit man nicht hineinfiel, hatten sie Holzstöcke darum herum gesteckt.

An einem davon hing ein Eimer. Eilfertig zeigte mir mein Führer, wie man ihn herunterließ.

»Da kann doch Dreck reinfallen, eine Maus, sonstiges Getier oder Schlimmeres!«

Erschrocken schaute ich ihn an, aber er lachte mit blendend weißen Zähnen, als ob er das beste Zahnputzwasser aller Zeiten hervorgezaubert hätte.

»Drink!« Er hielt mir eine blecherne Kelle vor die Nase.

Na, das konnte ich mir gerade noch verkneifen! Entsetzt winkte ich ab.

»Wieso ist hier nicht schon längst einer auf die Idee gekommen, einen Brunnen zu bauen? Für uns Touristen wäre das doch finanziell ein Klacks.« Der Einheimische nickte froh und trank die ganze Kelle leer.

Auch die Kinder labten sich erfreut an der Drecksbrühe. »Here we are! Welcome!« Der junge Mann wies mir stolz den Weg durchs Gestrüpp, und schon standen wir vor der ärmlichen Hütte seiner Familie.

Die Frau lächelte scheu und winkte mich hinein.

Sie hatte nur noch ein paar Zähne, obwohl sie bestimmt erst Mitte dreißig war. Die dazugehörigen Kinder tobten um mich herum.

Im Eingang zur Hütte lag ein alter Mann am Boden.

»Ist der tot?«, fragte ich entsetzt.

»No, he is just sleeping!« Der junge Mann reichte mir die Hand, und ich stieg über den knochigen Opa. In der fast fensterlosen Behausung roch es nach Feuerholz und Moder, und ich musste mich erst an die Dunkelheit gewöhnen.

»Habt ihr keine Möbel?« Ratlos sah ich mich um. Nur eine Feuerstelle, ein paar verrostete Kessel, ein Plastikeimer mit brackigem Wasser – ein wackeliger Plastikstuhl. Die Mutter wies lächelnd darauf, ich möge mich setzen. Das traute ich mich allerdings nicht. Nicht dass ich denen noch ihr einziges Sitzmöbel kaputt machte!

»Kein Bett, kein Schrank, was ist hier los?«

»Please, take a seat.«

»Wo schlaft ihr?« Ich machte eine entsprechende Geste.

Er deutete auf ein paar alte Reisstrohmatten. Entsetzt schlug ich die Hände über dem Kopf zusammen. »So würde ich keine einzige Nacht überstehen!«

»Kitchen! Look kitchen!« Der winzige Anbau mit der rußgeschwärzten Feuerstelle sollte die Küche sein! Darin konnte man ja nicht mal aufrecht stehen. Entsetzen, Mitleid und schlechtes Gewissen überrollten mich.

Ich hatte wohl das, was man einen Kulturschock nennt. Warum zeigten die mir das alles? Damit ich sehen sollte, wie sie hier lebten? Damit ich es allen erzählte? Damit ich jetzt mein ganzes Geld daließ?

Oh, Rosemarie, was hast du hier gesehen!, schoss es mir durch den Kopf. Jetzt kannst du nicht mehr wegschauen! Wie kann eine Regierung so was zulassen?! Dass die Leute nicht mal das Nötigste haben? In Colombo habe ich doch riesige Bankgebäude gesehen! Sollen die Kinder hier hausen wie die Tiere, obwohl sie doch die Zukunft des Landes sind? Und wir verwöhnten Touristen stopfen uns dreimal täglich am Büfett voll, schlafen in weichen Betten, umsurrt von einem Ventilator? Sind deshalb so viele Security-Leute im Resort? Damit die Einheimischen nicht sehen sollen, was wir Touristen alles haben?

Vor lauter Verlegenheit und Scham stammelte ich einige Abschiedsfloskeln. Dann stolperte ich ins Freie. Die grelle Sonne hatte mich wieder.

4

»Du warst WO?« Bärbel und Eberhard musterten mich entsetzt, als ich vier Stunden später das Restaurant betrat.

»Bei den Einheimischen im Dschungel und später in einer Batikfabrik.«

»Was hast du denn da an?«

»Einen Sari. Wie steht er mir?« Strahlend drehte ich mich um die eigene Achse. Täuschte ich mich, oder spähte der schöne Schüchterne hinter seiner Theke hervor?

Ich fühlte mich wie eine Einheimische, würdevoll und wunderschön, ja leicht und frei wie ein Schmetterling.

»Du bist ja völlig verrückt!«

»Wir haben dich schon überall gesucht!«

Die beiden waren ehrlich besorgt gewesen. »Nachdem du zur Bank wolltest und stundenlang nicht wiederkamst, haben wir schon an der Rezeption Bescheid gesagt.«

»Ach Ihr Lieben, ich hatte so einen traumhaften Nachmittag. Mit einer Touristengruppe hätte ich das nie erlebt!«

Mit heißen Wangen vor Aufregung ließ ich mich auf meinen Stuhl plumpsen und griff nach Messer und Gabel. Ein uniformierter Angestellter näherte sich geräuschlos von hinten und legte mir sanft eine Serviette auf den Schoß.

»Das war saugefährlich«, schimpfte Eberhard mit vollen Backen. »Mit voller Geldtasche mit einem Fremden in den Dschungel zu gehen! Rosemarie, das war mehr als übermütig und naiv!«

»Es ist ja noch mal gut gegangen«, beschwichtigte ich meine neuen Freunde.

Dann erzählte ich detailliert, was ich erlebt hatte.

Kopfschüttelnd starrten meine beiden Reisegefährten mich an.

»Die Batikherstellung ist eine sehr interessante, aber unheimlich aufwändige Arbeit!«, berichtete ich über der Vorspeise, bestehend aus pikanten Fleischbällchen in scharfer Sauce. »Die Stoffe werden in Bottiche mit Farbe getaucht, nachdem vorher mit Wachs Ornamente aufgemalt wurden. – Hm, das schmeckt köstlich, kann ich noch so was haben?«, fragte ich den Kellner, der bereits mein Schälchen abräumte. Dabei fing ich einen bewundernden Blick vom scheuen Schönen auf. Tja, mein Lieber!, dachte ich stolz. Nicht jede Alleinreisende traut sich raus in die Fremde und kommt abends mit einem Sari zurück. Da staunst du! Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und wandte mich erneut meinen deutschen Freunden zu. »Dann kocht man das Wachs wieder aus und kann mit einer anderen Farbe weiterarbeiten. – Oh, danke!« Ich strahlte den Kellner an. »Das raucht und stinkt, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Die armen Frauen, die das den ganzen Tag machen müssen!« Ich zog das neue Fleischbällchen vom Spieß. »Da sieht man schon von Weitem, wie gesundheitsgefährdend das ist!«

»Und wo hast du dann den Sari gekauft?« Bärbel stocherte in ihrem mit Blüten angerichteten Bambussprossensalat herum.

»Nach der Besichtigung haben sie mich in den Verkaufsraum geführt.«

»Klare Masche«, brummte Eberhard und kippte sein zweites Bier. »Das machen sie in der Türkei auch. Weißt du noch Bärbel, wie sie uns den Teppich aufgeschwatzt haben?«

»Eberhard, jetzt lass sie doch mal erzählen!«

»Leute, ich war überwältigt, wie schön die Stoffe sind! Zwei zierliche Damen haben mich im wahrsten Sinne des Wortes eingewickelt! Aber in diesen schönen Sari. Eine Umkleidekabine gab es nicht, aber das war mir egal. Ja, und als ich das hier anhatte, wollte ich es natürlich nicht mehr ausziehen!« Ich lachte verschämt. »Sie haben gesagt, das sei ein besonders schöner Festtags-Sari, vielleicht ziehe ich ihn zu Hause mal im Fasching an!«

Der Schöne starrte mich an. Ich streifte ihn mit einem kurzen Blick und schaute dann schnell wieder weg. Gott, was hatte es mich erwischt! Der sah aus wie ein junger Gott! Wäre ich dreißig Jahre jünger gewesen, hätte ich gesagt, ich bin schockverliebt!

»Auf dem Rückweg habe ich noch eine schicke Villa gesehen«, zwang ich mich, meine Aufmerksamkeit wieder Eberhard und Bärbel zu schenken. »Mitten in diesem tropischen Dschungel stand ein großes Haus mit Holzveranda und Schaukelstuhl, wie aus einem Film. Und auf dem Dach war eine fette Satellitenschüssel. Mein Dschungelführer hat mir erzählt, dass es einem Deutschen gehört, der hier lebt.«

»Hier überwintern viele Europäer«, wusste Eberhard zu berichten. »Man kann hier für einen Appel und ein Ei leben.«

»Für uns wär dat nix.« Bärbel legte die Hand auf Eberhards Arm. »Wir brauchen unsere Ruhe und Ordnung zu Hause in Unna, und unseren Schrebergarten, woll? Und der Eberhard muss immer wat zu kärchern haben!«

»Am Ende hat er mir noch das Waisenhaus gezeigt«, beendete ich meinen Abenteuerbericht. »Eine Nonne kam raus, und ich hab ihr all mein Geld gegeben …«

»Du hast was?«

»Bist du verrückt?«

»Ich konnte nicht anders«, gab ich zu. »Nach dem, was ich heute hier gesehen habe, konnte ich das Geld einfach nicht behalten. Ich habe Vertrauen gehabt, und das Vertrauen ist nicht missbraucht worden. Heute war mein erster wirklich schöner Urlaubstag.«

Entwaffnend lächelte ich die beiden an. Zum ersten Mal hatte ich mich nicht nach Hause zurückgesehnt. Mein Blick huschte wieder zu dem schönen Kellner hinüber.

Und der sah mich immer noch an.

Drei Tage später machte ich mit Eberhard und Bärbel die Tour ins Landesinnere. Nun hatte ich Feuer gefangen. Alles interessierte mich hier.

Während wir im Bus über die unebenen Straßen schaukelten, konnte ich nicht aufhören, an den scheuen Schönen zu denken. Hatte ich mich tatsächlich auf meine alten Tage verknallt? Wir hatten noch kein Wort miteinander gesprochen, sondern uns nur angeschaut. Aber mit was für intensiven Blicken! Das bildete ich mir doch nicht ein?

»Rosemarie, kommst du? Wir steigen aus!«

»Oh. Natürlich. Ich war in Gedanken.«

»Wir sind in Pinnawela, hier ist das Elefanten-Waisenhaus.«

Tatsächlich! Wir durften miterleben, wie Elefanten in allen Größen zum Oya-Fluss hinuntergetrieben wurden. Prustend und trompetend weideten sich die behäbigen Dickhäuter am schlammigen Gewässer und traten begeistert von einem dicken Bein aufs andere. Die Wärter, die barfuß auf ihren spindeldürren Beinen im Wasser standen, sahen daneben wie Spielzeugfiguren aus! Eberhard zückte sofort seine Videokamera, und Bärbel fotografierte. »Schaut nur, der da hinten legt sich hin! Jetzt wälzt er sich in der braunen Brühe!«

»Oh, jetzt werden sie von ihren Pflegern abgeschrubbt!« Eberhard kommentierte seinen Film. »Das bereitet denen sichtlich Vergnügen!«

»Wellness für Elefanten!« Bärbel lachte verzückt. »Sie schnauben vor Wonne! Eberhard, hast du das?«

»Das Waisenhaus dient der Aufzucht von Elefanten, die ihre Mütter oder ihre Herde verloren haben«, erklärte uns der deutschsprachige Reiseleiter. »Elefanten verehrt man hier als Symbol für Weisheit und Kraft. In der Wildnis leben noch ungefähr dreitausend Elefanten. Etwa fünfhundert Arbeitselefanten sind zum Holztransport und im Straßenbau eingesetzt.«

Wir nickten und schwitzten und zwängten uns wieder in den Bus. Dann ging es weiter zum Botanischen Garten Peradeniya.

»Der Park gilt als der schönste Botanische Garten der Welt«, sprach der Reiseleiter mit seinem weichen Akzent ins Busmikrofon, und berechtigter Stolz schwang in seiner Stimme mit.

Staunend stapften wir durch die exotische Blütenpracht.

»Das duftet so herrlich, dass man den ganzen Tag hier verbringen will«, schwärmte ich begeistert.

»Aber nur mit Sonnenschirm und Wasserschlauch«, ächzte der filmende Eberhard. Hier war es noch feuchtschwüler als bei uns im Resort.

»Schaut mal, die Flughunde!« Dutzende von dunklen Fledermäusen hingen mit dem Kopf nach unten in den Bäumen.

»Die sehen aus wie Pflanzenfrüchte!«, fand Bärbel.

»Nachts flattern die euch um die Ohren, das sag ich euch!« Eberhard zoomte eine pennende Fledermaus heran.

»Stell dich mal davor, Rosemarie, ich mach mal eins mit deinem Apparat …«

»Hier musst du drücken, aber nicht wackeln …« Ich warf mich in Positur und zog den Bauch ein. – »Lächeln!«

In dem Moment strömten Scharen von Schulkindern in blitzsauberen Schuluniformen in den Garten. Die Jungen trugen kurze blaue Hosen und weiße Hemden, die Mädchen blaue Röcke zu weißen Blusen. Alle hatten rote Krawatten, weiße Kniestrümpfe und weiße Schuhe. Ich unterdrückte ein Jubeln. »Sind die nicht alle entzückend?«

»Sehr adrett«, fand auch Bärbel.

»Ob die armen Mütter wohl Waschmaschinen haben?« Ich dachte an das Brackwasser im Eimer.

Unauffällig machte ich ein paar Schnappschüsse von ihnen.

In Kandy, einer Großstadt mit hundertvierzigtausend Einwohnern, besichtigten wir das religiöse Zentrum und Heiligtum von Sri Lanka, den Sri Dalada Maligawa Zahntempel.

»Dieser Tempel beherbergt die kostbarste Reliquie der Buddhisten«, erklärte uns Nirmal, der deutschsprachige Reiseleiter. »Den Eckzahn Buddhas. Dieser Zahn ist fünf Zentimeter lang und ruht auf einem goldenen Lotussockel.«

Andächtig schritten wir barfuß an dem reich verzierten Schrein vorbei. Mönche in orangefarbenen Gewändern beweihräucherten ihn und achteten darauf, dass niemand von uns sich ungebührlich verhielt. Wir Frauen hatten uns Tücher auf Kopf und Schultern legen müssen, Eberhard dagegen musste sich eines um seine kurze Hose wickeln.

»Wo ist denn der Zahn?«, fragte Eberhard, die Videokamera auf das kleine Guckloch gerichtet.

»Er ist von sieben vergoldeten Umhüllungen verborgen«, erklärte Nirmal ehrfürchtig. »Die passen ineinander wie diese russischen Puppen.«

»Na, da kann ja jeder behaupten, dass da Buddhas Eckzahn drin ist …«

»Eberhard, sei nicht ungerecht. Bei uns im Kölner Dom liegen angeblich die Knochen der Heiligen Drei Könige«, wandte Bärbel ein. »Und? Kannst du’s beweisen?«

»Hauptsache, die Leute glauben dran«, brummte Eberhard.