6,99 €
Dies sind die Geschichten aus der Welt des Seevolks, das den großen Friedlichen Ozean mit seinen mächtigen Schiffen durchsegelt.Märchen, wie das vom bösen Zauberer Hazin, der schließlich doch gut wurde, vom Tanzenden Narren oder der Feuerschlange Inka-Ji, von Wolfsmännern, Schwanenmädchen und den Lele Mo’e, den Fliegenden Träumern. … und natürlich auch die Geschichte vom Prinz und dem Schlüssel.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Inhaltsverzeichnis
Der Zauberer und der Dschinn
Der Steingötze und das Momo’e
Der Prinz und der Schlüssel
Die Wolfmänner und die Schwanenmädchen
Der Falke und die Nachtigall
Paku-Paku und der Manulele’telé
Der Junge und die Nacht
Inka-Ji und Toa-Toa
Drei Brüder und die Große Schlange
Die Lele Mo’e und das Ho’oponopono
Der Hengst und der Apfelbaum
Der Zauberer und der Vogel Roc
Ein SCHREIBSTARK Buch
Copyright © 2019 by David J. Greening
2. Auflage 2020
Titelbild: Kostas Nikellis. kosv01.deviantart.com
Illustrationen: Thanos Tsilis. thanostsilis.com
Umschlaggestaltung: Patrick Toalster & Martin Henze
SCHREIBSTARK
An imprint of
Schreibstark Verlag der Debus und Dr. Kuhnecke GbR
Saalburgstraße 30
61267 Neu-Anspach
ISBN 9783946922599
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Θ
David J. Greening
Der Prinz
und der Schlüssel
Fabeln, Rätsel & Geschichten
Θ
Θ
Für Inka Jessica Sabine
Mein Meer aus Sternen
Θ
Danksagung
Ich möchte mich bei den folgenden Personen für ihre Hilfe und Inspiration beim Schreiben dieses Buches bedanken: allen voran Elmar Köhler und Inka Scheunert, Charlotte Knöll und Nina Merget; Kostas Nikellis für das Titelbild, Thanos Tsilis für die Illustrationen sowie bei meinem Kollegen Martin Henze und meinem Bruder Patrick Toalster.
Θ
David J. Greening
Der Prinz
und der Schlüssel
Θ
TEIL EINS
Gut und Böse
Es kommt nicht darauf an darüber zu reden,
was einen guten Mann ausmacht,
sondern ein solcher zu sein.
Marc Aurel
Selbstbetrachtungen, Buch X, Kapitel 16
Es war einmal ein böser Zauberer. Er lebte in einem Dorf namens P’tol in der Mitte der Welt, weit im Osten des Grünen Landes, aber genauso weit entfernt vom Lautan Tedau, dem Friedlichen Meer im Westen, und so wurde das Land ‚Reiche der Mitte‘ genannt. Jedes von ihnen wurde von einem König oder einer Königin regiert, die sich manches Mal im Frieden, manches Mal im Krieg gegeneinander befanden. Obwohl er zutiefst böse war, hatte der Zauberer keine wirkliche Macht andere zu unterwerfen oder ihnen etwa seinen Willen aufzuzwingen. Zumindest bis er eines Tages eine Lampe auf dem Basar seiner Heimatstadt kaufte.
Sie war aus Messing, schmucklos und billig, da er arm war, keine Macht besaß und lediglich Liebestränke, Amulette und anderen Tand verkaufen konnte. Er nahm die Lampe mit nach Hause und begann sie zu polieren, da er sogar zu arm war, um sich einen Diener leisten zu können. Als er jedoch an dem Metall rieb, geschah etwas Seltsames: Zu seiner Überraschung begann ein Dschinn aus dem Reich der Geister wie Rauch aus dem Ausguss der Lampe zu strömen! Voller Furcht ließ der Zauberer die Lampe fallen und kroch auf allen Vieren rückwärts davon, bis er mit dem Hinterkopf gegen die Rückwand seiner jämmerlichen Hütte stieß.
„Wer hat es gewagt mich zu wecken?“, dröhnte die Kreatur, die inzwischen begonnen hatte, den Raum in seiner Gesamtheit zu füllen, in einer Stimme, die so tief und laut wie eine Glocke war. „Deinen Namen, nenne ihn mir sofort!“, forderte sie.
„Ha-Hazin“, stotterte der Zauberer.
„Hahazin, du hast mich geweckt! Nenne mir deinen Grund dafür!“, dröhnte daraufhin die Antwort des Dschinns.
„Äh, eigentlich heiße ich nur Hazin.“, antwortete der Zauberer zurückhaltend und hielt seine Hände über dem Kopf in Erwartung einer drastischen Form der Rüge, die allerdings nicht kam.
„Dann eben Hazin. Oh Hazin, so höre mich an!“, sagte der Dschinn. „Ich habe hundertmal hundert Jahre in dieser Lampe geschlafen. Die ersten fünftausend Jahre schwor ich dem Mann, der mich befreit, jeden Wunsch zu erfüllen, aber während der zweiten fünftausend Jahre war ich mit Zorn erfüllt von meiner Gefangenschaft, und so habe ich geschworen, den Mann zu vernichten, der mich befreit! So mache dich nun bereit zu sterben, Hazin!“
Zitternd schloss der Zauberer fest die Augen und hielt furchterfüllt seine Hände hoch, in der Hoffnung, den mächtigen Dschinn irgendwie daran zu hindern, seine abscheuliche Tat auszuführen. Aber zu seiner eigenen Überraschung geschah nichts und der Dschinn hatte plötzlich innegehalten. Langsam öffnete der Zauberer zuerst ein Auge, dann das andere. Und er sah, dass der Dschinn, dessen Form sich durch den dicken Rauch, der aus der Lampe gequollen war, verfestigt hatte, sich hingehockt hatte und mit seinem Körper das kleine Haus fast vollständig ausfüllte.
„Wenn ihr mich töten wollt, dann tut es schnell!“, sagte der Zauberer schließlich, aber zu seiner völligen Überraschung verbeugte sich nun stattdessen der Dschinn, bis seine Stirn den gestampften Lehmboden berührte. Hazin schüttelte ungläubig den Kopf und sagte: „Ich dachte, ihr wolltet mich töten? Warum habt ihr innegehalten?“
„Meine aufrichtige Entschuldigung, oh Meister der Zauberei!“, antwortete der Dschinn. „Ich sah euer Amulett und wusste, dass ihr ein Mann seid, der sich mit der Weisheit der Magie auskennt. Ich wünsche nicht einen so mächtigen Zauberer herauszufordern.“
Verblüfft blickte der Zauberer auf seine Hände: Und tatsächlich hing an seinem linken Handgelenk ein Liebesamulett, das er Anfang der Woche angefertigt, aber nicht hatte verkaufen können, da die meisten Menschen in der Stadt inzwischen gehört hatten, dass seine Zaubersprüche und Objekte nichts anderes waren als Tand, um die Leichtgläubigen zu täuschen.
„Ich bin ein Zauberer!“, rief Hazin daraufhin aus und schwenkte das aus Glas- und Silberperlen, Federn und Pelzstückchen gefertigte Armband herum. „Der Mächtigste!“
„Ich bitte um Entschuldigung, Meister!“, antwortete der Dschinn und verbeugte sich noch tiefer. „Dein Wille soll meiner sein, mein Arm gehört dir, dein Wunsch ist der Meinige.“
„Ich kann dir befehlen?“
„Das könnt ihr, Meister.“, antwortete der Dschinn.
Der Zauberer rieb sich das Kinn. Das war alles zu einfach gewesen, dachte er bei sich. Dieser Dschinn war in der Tat ein mächtiger Geist und hätte ihn vor wenigen Augenblicken fast getötet. Er musste ihn an sich binden, damit nur er alleine über seine Kräfte verfügen konnte! Schnell wich seine anfängliche Angst seiner üblichen Bosheit, und so sagte Hazin: „Ich befehle dir, mir hundert Jahre lang zu gehorchen, bis mir weitere Dinge einfallen, die ich von dir fordern werde!“
„Ich höre und gehorche, Meister.“, antwortete der Dschinn mit gedämpfter Stimme und verbeugte sich noch einmal tief.
Und so erfüllte der Dschinn alle Wünsche des Zauberers. Innerhalb kurzer Zeit erlangte Hazin die Kontrolle über P’tol und unterjochte alle Bürger, um sie seine finsteren Pläne ausführen zu lassen. Mit Hilfe des Dschinns unterwarf er sodann in nur wenigen Jahren alle Städte von Padjis, dem Teil der mittleren Königreiche, in dem er lebte. Und so regierte Hazin seine Untertanen mit eiserner Faust und duldete keinen Ungehorsam und keine Infragestellung seiner Autorität. Dank des Dschinns blieb er im Alter gesund und rüstig, ohne dass sein Körper oder sein Wille nachließen. Doch dann, bevor Hazin es bemerkte, war die Spanne von hundert Jahren vorbei und der Dschinn sprach bei seinem Herrn vor.
„Seit hundert Jahren diene ich euch nun, mein Meister, nicht einen Tag mehr, nicht einen Tag weniger. Und jetzt sage ich Lebewohl und verabschiede mich von euch.“, sagte er und verneigte sich tief.
„Lebewohl?“, lachte Hazin, der sich inzwischen nicht mehr nur als Zauberer, sondern als ‚eure Majestät‘ oder ‚Herr‘ oder mit ähnlichen Titeln ansprechen ließ, hämisch. „Ich werde dich nicht gehen lassen, Dschinn! Ganz im Gegenteil! Ich habe immer noch Pläne, und du wirst mir damit helfen!“, und er lachte freudlos über den Ausdruck von Enttäuschung und Verzweiflung auf dem Gesicht des Dschinns.
„Ich werde ehrlich zu euch sein, Meister: Ich habe zehn Mal zehn Jahre lang jede eurer Launen umgesetzt. Aber ein Dschinn muss umherstreifen, sonst verliert er seine Kräfte. Und welchen Nutzen hätte ich wohl ohne sie für euch?“
Während er sich über Ersteres nicht sicher war, war Letzteres nur allzu wahr, dachte sich Hazin und strich sich zerstreut über das Kinn. Was wäre er ohne den mächtigen Dschinn? Zurück in seiner Hütte, wo er dann wahrscheinlich wieder Schmuck und Liebestränke verkaufen müsste, wurde ihm klar. Er brauchte schnell mehr Macht, und bald, bevor der Dschinn ihn verließ!
„Nun gut, ich werde zustimmen, dich gehen zu lassen.“, begann er und was den Dschinn lächeln ließ. „Unter einer Bedingung!“, fügte er hinzu, woraufhin das Lächeln genauso schnell verflog, wie es erschienen war. „Ich brauche einen neuen Untergebenen, der mir dient. Wenn du einen findest, dann sollst du frei sein!“
Zu seiner Überraschung lächelte der Dschinn als er sich daraufhin tief verbeugte, nur um sich dann wiederaufzurichten und eine Feder vor sich in der Hand zu halten. Sie war so lang wie der Arm des Zauberers, und er war beeindruckt beim Gedanken an das Tier, von dem sie wohl stammte, aber er schaffte es schnell, jeden Anschein von Besorgnis zu überwinden.
„Eine Feder?“, fragte der Zauberer. „Was soll ich mit so etwas machen?“
„Dies ist nicht irgendeine Feder, Meister“, antwortete der Dschinn, „so groß sie auch erscheinen mag, so ist sie nur eine der kleinsten Federn vom Flügel des mächtigen Roc.“
„Der Roc?“, kam die Antwort, „Ich dachte, der Vogel sei nur ein Märchen!“
„Nein, Meister, der Vogel ist so echt und lebendig wie ich selbst.“, antwortete der Dschinn mit leisem Spott, der aber zu seinem Glück vom Zauberer unbemerkt blieb. „Der Roc verliert jedes Jahr nur eine einzige Feder. Mit den richtigen Zaubersprüchen, die sich in meinem Besitz befinden, kann derjenige, der sie findet, Macht über die magischen Fähigkeiten des Vogels erlangen.“
„Gib sie mir, sofort!“, befahl Hazin und streckte seine krallenartige Hand nach ihr aus.
„Obwohl ich dies natürlich tun könnte, kann der Zauber, der notwendig ist, um den Roc eurem Willen zu beugen, nur aus freien Stücken und freien Willens übergeben werden, den ich natürlich nicht mehr habe.“, fügte er hinzu und verbeugte sich tief, um das breite Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, zu verbergen.
Hazin blickte seinen Diener finster an und nickte allmählich, als er die List hinter dem Plan des Dschinns erkannte. Er gab dem Unausweichlichen nach und sagte: „So sei es, Sklave. Ich werde dich freilassen, wenn du mir den Zauber gibst, um den Roc zu bändigen.“
„Ich würde euch darum bitten, dies zu schwören, damit ihr euer Versprechen nicht zufällig wieder vergesst.“, antwortete der Dschinn.
„Ein böser Geist bist du, oh Dschinn!“, antwortete der Zauberer. „So sei es also, bei allen Geistern des Landes, des Meeres und des Himmels, ich schwöre, dich freizulassen, um den Preis, dass ich den Roc befehligen mag! Und jetzt gib mir die Feder und den Zauber!“, forderte er.
„Ich danke euch dafür, dass ihr mich endlich befreit habt.“, begann der Dschinn, wobei auf einmal jeglicher Respekt aus seiner Stimme wich. „Jetzt werde ich meinen Teil der Abmachung einhalten.“, fuhr er fort und überreichte Hazin in einer eleganten Geste, wie es einem Wesen aus Rauch gebührte, die Feder. „Um den mächtigen Roc eurem Willen zu unterwerfen, müsst ihr die Feder in einem Feuer aus Bernstein verbrennen und die folgenden Worte sagen: Unterwerfe dich mir, oh Roc, und sei mein auf hundert Mal hundert Jahre!“
„Nur hundert mal hundert Jahre?“, wiederholte der Zauberer.
„Oder weniger. Früher oder später wird auch die Kraft des Rocs verbraucht sein, obwohl sie viel größer ist als die meine. Aber ich bin sicher, dass ihr mit der Zeit einen neuen Diener finden werdet.“
Und ohne ein weiteres Wort lachte der Dschinn über seine neu gewonnene Freiheit und verflüchtigte sich vor Hazins Augen, bis er sich buchstäblich in Rauch aufgelöst hatte. Der Zauberer spielte mit der riesigen Feder, machte eine wegwerfende Geste in Richtung seines einstigen Dieners und fragte sich, was genau Bernstein sein mochte und wo er ihn wohl herbekommen könne.
Es war einmal ein Mädchen mit dem Namen Kura-Kura. Ihr Volk, die Schardana, was in unserer Sprache ‚Das Seevolk‘ bedeutet, lebte als Fischer und Händler auf dem Friedlichen Ozean, weit im Osten der Welt. Nachdem sie ihre Eltern durch einen Sturm verloren hatte, war sie von Tawhito und Tua adoptiert worden, einem alten Paar, das keine eigenen Kinder hatte. Manchmal, wenn Kura-Kura nachts nicht schlafen konnte, bat sie ihren Vater, ihr eine Geschichte zu erzählen.
„Kannst du nicht schlafen, Tamaiti?“, sagte Tawhito dann manchmal zu ihr, und Tamaiti bedeutet ‚Kind‘ in unserer Sprache.
„Nein, Ayah“, antwortete sie, und ‚Ayah‘ bedeutet natürlich ‚Vater‘. „Erzählst du mir eine Geschichte?“
Ihr Vater seufzte dann und tat so, als sei er beschäftigt oder müde oder beides. Aber dann setzte er sich immer neben sie und erzählte ihr eine Geschichte.
„Welche Geschichte möchtest du hören, Tamaiti? Vielleicht die Geschichte vom Korua Raksasa?“, fragte er und lächelte, denn er wusste, dass dies ihre Lieblingsgeschichte war.
„Nein, eine andere.“, antwortete sie. „Ich habe mich gefragt: Woher kennen die Schamanen das Momo’e?“
Die Schamanen waren gelehrte Männer und Frauen an Bord der mächtigen Schiffe des Seevolkes, die alles wussten, was es zu wissen gab, oder zumindest alles, was die Schardana wussten. Aber das Momo’e, das war eine Macht, die nur wenige von ihnen besaßen, nämlich die Macht die Geisterwelt zu betreten. Tawhito kratzte sich bei dieser Bitte am Kopf, denn die Geschichte vom Ursprung des Momo’e war alt und fast vergessen, selbst von ihm. Aber nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, nickte er und sagte:
„Es gab einmal einen Daimon, einen Geist namens Kohatu. Er gehörte zur Familie der Geister des Trockenlandes, die nicht direkt Mutter Ozean oder Vater Himmel unterworfen sind, sondern sich selbst regieren.“
Kura-Kura nickte, sie hatte natürlich von den Geistern des Landes, den Wairua Whenua, gehört, aber als Volk des Meeres hatten ihre Leute nicht viel mit ihnen zu tun.
„Nun, dieser Kohatu war ein schlechter Kerl.“, fuhr ihr Vater fort. „Er liebte es, den Männern und Frauen im Trockenland Streiche zu spielen, ihre Milch sauer werden zu lassen, ihnen die Ernte zu verhageln und manchmal sogar Freunde gegeneinander aufzuwiegeln, alles nur aus Gemeinheit und Liebe zur Boshaftigkeit.“
„Das ist schlecht.“, sagte Kura-Kura ernst.
„Das ist es in der Tat, Tamaiti.“, erwiderte ihr Vater und nickte. „Aber während wir Schardana einfach weitersegeln können, wenn wir entdecken, dass sich ein Teil des Meeres unter dem Einfluss eines bösen Geistes befindet, so können die Männer und Frauen auf dem Trockenland das natürlich nicht. Sie müssen bleiben und sich um ihre Felder, Obstgärten und Tiere kümmern. Nach einem besonders bösen Streich, bei dem der Kohatu so viele Ernten verhagelt hatte, dass die Menschen auf dem Trockenland ein Jahr lang hungern mussten, beschlossen die anderen Geister des Festlandes, ihn zu bestrafen.“
„Kann man einen Geist bestrafen?“, fragte Kura-Kura überrascht.
„Oh ja, Tamaiti.“, antwortete ihr Vater. „Während wir Wesen der stofflichen Welt sind, sind die Geister natürlich Wesen der nicht-stofflichen Welt. Was glaubst du, wäre wohl die schlimmste Strafe für einen von ihnen?“, fragte er seine Tochter.
„Hm… vielleicht ihn stofflich zu machen?“, sagte sie, und ihr Vater nickte, erfreut darüber, dass er eine so kluge Tochter hatte.
„In der Tat; und so wurde es entschieden und so wurde es gemacht. Die anderen Wairua Whenua versammelten sich und setzen den bösen Kohatu mit einem Zauber in einen riesigen Steingötzen gefangen, den sie dann in ein abgelegenes Tal in einem abgelegenen Teil vom Trockenland brachten. Und so schlief er in seinem Stein.“
„Und der Kohatu, der war da ganz allein?“, fragte Kura-Kura.
„Ja, das war er, und zwar mehrere Menschenleben lang, so wie wir Schardana solche Dinge messen. Aber dann, eines Tages, wurde das Tal von einem Stamm von Pirumbi entdeckt.“, so heißen die dunkelhäutigen Menschen auf dem Trockenland, die Verwandten der Schardana. „Die Pflanzen gediehen üppig und es gab viele Tiere, die man jagen oder zähmen konnte, und so ließen sie sich dort nieder.“
„Aber was war mit dem Kohatu im Steingötzen?“, wollte seine Tochter wissen.
„Oh, er war noch da. Und als die Pirumbi den Ort zu ihrer Heimat gemacht hatten und ihre Pflanzen und Tiere gediehen, erwachte der Kohatu vom Lärm um ihn herum. Er fing an, ihre Gedanken von der steinernen Statue aus zu beeinflussen, die er ja nun bewohnte, und spielte den Männern und Frauen erneut seine bösen Streiche, auch wenn er natürlich viel weniger Macht besaß, als bevor man ihn im Stein gefangengesetzt hatte.“
„Hat er denn viel Schaden angerichtet?“, fragte Kura-Kura.
„So viel er konnte.“, zuckte Tawhito mit den Achseln. „Er war so lange im Stein gefangen, dass er nur daran dachte, böse Taten zu vollbringen.“
„Das ist traurig. Der Kohatu tut mir leid.“, sagte seine Tochter.
„Es war eine traurige Zeit.“, sagte ihr Vater und streichelte ihr liebevoll über das Haar. „Seit einiger Zeit liefen die Dinge im Dorf nicht mehr gut, und es war den Männern und Frauen allmählich klar geworden, dass dies etwas mit dem Steingötzen zu tun haben musste. Aber wie ich schon sagte, die Menschen auf dem Trockenland können nicht einfach weggehen…“
„Wegen ihrer Felder und Tiere.“, vervollständigte seine Tochter den Gedanken.
„Genau.“, stimmte ihr Tawhito zu. „Und der Steingötze war riesig, so groß wie mehrere Männer, wenn nicht sogar größer. Und da sie weder weggehen noch die steinerne Statue bewegen konnten, versuchten sie diese mit Geschenken und Opfern zu besänftigen.“
„Hat das geholfen?“, wollte Kura-Kura wissen.
„Leider nein. Es machte den Kohatu nur noch mächtiger. Und er nutzte seine Kräfte sofort, um noch mehr Unheil und Böses anzurichten. Aber dann kam der Tanzende Narr.“
„Der Tanzende Narr?“, sagte Kura-Kura und lächelte über einen derart seltsamen Namen.
„Genau, der Tanzende Narr. Niemand weiß, ob er ein Kersang, ein Pirumbi oder sogar ein Schardana war.“, sagte Tawhito. „Einige behaupten dies, wieder andere jenes, aber niemand weiß es wirklich. Was man jedoch weiß ist, dass er die ganze Zeit über tanzte, wenn er nicht gegessen oder geschlafen hat.“
„Wie ein Narr?“, fragte seine Tochter grinsend.
„Wie ein Besessener.“, erwiderte Tawhito und grinste zurück. „Das Interessante ist aber, dass der Tanzende Narr, wenn er tanzte, die stoffliche Welt verlassen…“
„Und die nicht-stoffliche betreten konnte.“, vervollständigte Kura-Kura den Satz.
„Ja.“, stimmte ihr Vater ihr nickend zu. „So kam der Tanzende Narr ins Dorf getanzt, sehr zur Überraschung und Verwunderung der Einwohner. Und dann beschloss einer der dort lebenden Männer oder Frauen, ihn zum Steingötzen zu führen, in der Hoffnung… nun, in der Hoffnung, die steinerne Statue zu besänftigen, nehme ich an.“
„Hat sich der böse Geist im Stein zum Besseren verändert?“, fragte seine Tochter.
„Nein, es ist sogar genau das Gegenteil passiert. Der Kohatu wurde wütend und eifersüchtig auf die Fähigkeit des Tanzenden Narren, das Geisterreich zu betreten, das ihm verschlossen war. Und so beschwor er die ganze Macht, die er aus den Opfern und Gaben der Dorfbewohner gewonnen hatte, verließ den steinernen Götzen, in dem er gefangen war, und besetzte den Körper des Narren.“
Kura-Kuras Augen wurden bei dieser Beschreibung groß: Ein Mann, dessen Körper von einem Geist übernommen worden war, und von einem bösen noch dazu!
„Das war schlecht.“, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
„Das war es in der Tat“, stimmte ihr Vater ihr ernsthaft zu, nur um dann zu lächeln, „aber nicht für den Tanzenden Narren!