8,99 €
Nachdem seine Familie durch die Hand seines eigenen Bruders ermordet wurde, muss Prinz Bryzos aus der Heimat fliehen. Aber kaum in Kleinasien gestrandet findet sich der heimatlose Prinz mitten im Krieg wieder, denn die Armee Spartas erhebt die Waffen gegen das mächtige Perserreich. Und so muss aus dem für Ruhm kämpfenden Krieger das werden, was er am meisten hasst: Ein Söldner...Ein Söldner Spartas.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Inhaltsverzeichnis
Prolog: Sestos
Wellenbrecher
Ephesos
Polykritos
Kyreier
Ionien
Mania
Grinser
Kebren
Gergis
Zenia
Phrygien
Ukanas
Bithynien
Überfall
Epilog: Winter
Nachwort
Dramatis Personae
Glossar
Ein SCHREIBSTARK Buch
Copyright © 2017 by David J. Greening
2. Auflage 2020
Titelbild: Kostas Nikellis. kosv01.deviantart.com
Umschlag- und Kartengestaltung: David Toalster, Patrick Toalster & Martin Henze
Aus dem Englischen übertragen von Charlotte Knöll und David Toalster
SCHREIBSTARK
An imprint of
Schreibstark Verlag der Debus und Dr. Kuhnecke GbR
Saalburgstraße 30
61267 Neu-Ansbach
ISBN 9783946922476
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Θ
Thrax: Buch Zwei
Söldner von Sparta
David J. Greening
Θ
David J. Greening wurde im Jahr 1969 n.Chr. in Karachi geboren, ging kurz auf Malta in den Kindergarten und wuchs in Deutschland auf. Nach Tätigkeiten als Tellerwäscher, Bauarbeiter und Küchenhilfe, sowie einer Reihe von anderen Jobs, erlernte er den Beruf des Landschaftsgärtners, bevor er Alte Geschichte in Frankfurt am Main studierte. Nachdem er sein Studium 2004 mit dem Magister abgeschlossen hatte, legte er 2007 eine Dissertation nach. Er arbeitet als Lehrkraft an einer Schule und ist zusätzlich Lehrbeauftragter für Alte und Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt. Er wohnt in einem kleinen Dorf in Mittelhessen in einem im Jahr 1615 erbauten Haus, zusammen mit seiner Ehefrau, seinen zwei Söhnen und der einen oder anderen gelegentlichen Gastkatze
Θ
Für Elmar.
Mein Freund der Baum
Θ
Danksagung
Wieder einmal bin ich einer Anzahl von Leuten zu Dank verpflichtet, die mich beim Schreiben dieses Romans unterstützt haben. Zuerst möchte ich mich bei meiner Agentin Nadia Micheilis dafür bedanken, dass ich wieder einmal ihre Nerven arg strapazieren durfte. Außerdem bei Elmar Köhler, Dr. Frank ‚Billy‘ Billek, Martin Vogel und Katha Plum für das Lesen und hilfreiche Kommentare zu früheren Versionen des Manuskripts, ein herzliches toda raba an meinen Kollegen Yosi Moss für seine Hilfe bei den Dialogen der Phöniker, Nina Merget, Charlotte Knöll, Amélie Smith und Nadja Ortmann (jetzt Link) für ihre Hilfe bei der Manuskriptkorrektur, meinem griechischen Freund Kostas Nikellis für sein großartiges Titelbild, meinem Kollegen Martin Henze für seine Hilfe bei der Erstellung der Karte und meinem Bruder Patrick Toalster, der wieder einmal dafür gesorgt hat, dass alles irgendwie rechtzeitig zusammengekommen ist.
Alle Fehler, welcher Art auch immer, sind allein meine.
Kleinasien
Θ
David J. Greening
Söldner von Sparta
Θ
Bryzos war die ganze Nacht geritten und hatte die gesamte Chersonnesos-Halbinsel überquert. Als er schließlich in Sichtweite von Sestos kam, war er zu müde, um darüber nachzusinnen, dass sein Bruder seine ganze Familie ermordet, sich zum König gemacht und ihn gezwungen hatte zwischen Exil oder Tod zu wählen. Als er in die Stadt ritt, kam er am Laden eines Korbwebers vorbei und hielt an, um nach dem Weg zu fragen. Er stieg ab und näherte sich dem Mann dort.
„Ich wünsche einen guten Tag!“, sagte er auf Thrakisch, „Könntet ihr mir den Weg zum Hafen weisen?“
Der Mann, der unter einer Markise saß, welche die Vorderseite seines Geschäftes beschattete, hielt bei seiner Weberei inne, lächelte aber nur, zuckte mit den Schultern und blickte ihn verständnislos an.
„Der Hafen? Wo?“, versuchte es Bryzos noch einmal, aber wieder mit dem gleichen Ergebnis, bis auf die Tatsache, dass der Mann diesmal immerhin antwortete.
„Ich nicht Thrax sprechen.“
„See-Boot Platz, wo haben? Ich suchen Zygostratos Sohn Xenostratos.“, sagte der Prinz in holprigem Griechisch.
So hieß der Mann, den Gaidrus, nun ebenso ein Opfer seines mörderischen Bruders, ihm aufgetragen hatte aufzusuchen. Der Weber lächelte breit, amüsiert von Bryzos erbärmlichem Versuch seine Zunge dazu zu zwingen, die für ihn fremdartigen Laute zu formen.
„Ah, der Elfenbeinhändler. Folg einfach diesem Weg.“, erwiderte er langsam und sorgfältig und deutete nach links. Bryzos fand seinen griechischen Akzent kaum verständlich und musste sich zudem zwingen die herablassende Art des Mannes und seine laute Stimme zu ignorieren, ganz so, als ob der Prinz schwerhörig wäre. „Dann kommst du zum Hafen. Zygostratos hat ein großes Lager an den Süddocks. Du reitest einfach den Kai entlang, Thraker, und fragst am Ende nach dem Weg.“
Bryzos nickte und stieg wieder auf sein Pferd. Ein Stück weiter die Straße entlang wurde der Geruch des Meeres schnell stärker und die Geschäftigkeit auf den Straßen nahm zu. Das Hafenbecken war voll mit Schiffen, die an den Docks angelegt hatten, viele von einer Größe, die der Prinz so noch nie gesehen hatte. Sie wurden von einer ganzen Armee von Arbeitern beladen und entladen, wobei alle irgendwie gleichzeitig ihren unergründlichen Aufgaben nachgingen.
Schließlich kam er zu einem einstöckigen Gebäude. Im Schatten stand ein Mann in einer lila Tunika und mit einem breitkrempigen Strohhut auf dem Kopf und sprach mit einem anderen Mann, der irgendeine Art Register in der Hand hielt. Bryzos stieg von seinem Pferd, nahm das Tier beim Zügel und ging auf die beiden zu. Der lila Mann blickte von seiner Arbeit auf und nahm diesen unbekannten thrakischen Neuankömmling genauer in Augenschein. Das musste dann wohl Zygostratos sein. Er war der fetteste Mann, den der Prinz je gesehen hatte, mit einem prächtigen Bart, der bis auf seine Brust reichte. Für einen Griechen war er mit Schmuck und Zierrat praktisch behängt: Keiner seiner Finger schien ohne Ring zu sein und eine ganze Reihe von Spangen und Armreifen schmückte beide Handgelenke und Arme.
„Nun, was kann ich für euch tun, junger Mann?“, fragte er auf Thrakisch und entließ seinen Assistenten mit einer knappen Handbewegung.
„Meister Zygostratos“, platzte es aus dem Prinzen heraus, der erleichtert bemerkte, dass dieser Mann seine eigene Sprache sprach, „ich muss auf einem eurer Schiffe mitfahren.“
Unbeeindruckt von der Tatsache, dass dieser wildfremde junge Mann seinen Namen kannte, antwortete der Händler: „Und, verzeiht wenn ich frage, warum genau sollte ich euch dies gewähren? Dürfte ich fragen, wer ihr seid?“, fügte er freundlich hinzu.
„Verzeihung“, räumte der Fürst schnell ein, „mein Name ist Bryzos und ich bin der Sohn von Ozrykes, König der Dolonker.“
„Es tut mir leid es euch zu sagen, Prinz Bryzos, aber dies ist unmöglich. Wenn ihr auf das Dock blickt, so werdet ihr sehen, dass heute nur noch eines unserer Schiffe ausläuft und es ist jetzt schon voll beladen. Es gibt einfach keinen Platz, um einen Passagier aufzunehmen, besonders wenn er ein Mann von Stand ist.“, woraufhin er angesichts von Bryzos zerschlissenem Erscheinungsbild lächelte und sich umdrehte, um zu gehen.
„Bitte, ich muss Sestos verlassen. Ich soll euch sagen, dass ihr Gaidrus noch einen Gefallen schuldet!“, sagte Bryzos in einem dringlichen Tonfall.
Hierauf drehte sich der Trader sofort wieder um, sein Interesse nun sichtbar geweckt, und fragte: „Du kennst Gaidrus?“
„Er w… ist ein Freund.“, sagte der Prinz, wobei er die Wahrheit bewusst ausschmückte und sich dafür entschied, die Tatsache nicht zu erwähnen, dass dieser ‚Freund‘ einen vorzeitigen, gewaltsamen Tod gefunden hatte. „Er war es, der mich hierhergeschickt hat.“
„Nun, das könnte die Dinge ein wenig ändern.“, antwortete der Händler und streichelte seinen Bart. „Seht ihr das Schiff dort?“, fragte er und zeigte auf das Dock, wo ein Segelschiff zum Ablegen fertig gemacht wurde. „Das ist die ‚Kymatothraustes‘, das heißt ‚Wellenbrecher‘ in eurer Sprache. Sie wird nach Ephesos aufbrechen, sobald sie voll beladen ist. Wart ihr schon einmal in Ephesos, Prinz?“, fragte der Händler gutmütig, aber Bryzos konnte nur den Kopf schütteln. Zygostratos lächelte lediglich angesichts solcher Unwissenheit. „Sie wird in zwei oder drei Tagen in Ephesos sein.“ Er fühlte eine gewisse Sympathie für den seltsamen, etwas verstört wirkenden jungen Thraker in sich aufkeimen und fragte: „Was werdet ihr dort tun, Prinz? Gibt es einen Ort, wo ihr hinkönnt?“
„Nein, Meister Zygostratos, ich kenne niemanden dort.“, antwortete Bryzos mutlos. „Ich hatte nur gehofft, diesen Ort zu verlassen, wo immer euer Schiff mich hin mitnehmen mag.“
„Und was ist mit eurem Pferd, junger Mann? Leider muss ich euch sagen, dass ihr es nicht mitnehmen könnt.“
„Vielleicht könntet ihr es als Vergütung für die Überfahrt akzeptieren.“, sagte er, wohlwissend, dass das Pferd viel mehr wert war als eine Fahrt auf einem Frachter.
„Ein schönes Tier, ein echter Thraker; ich werde zusehen, dass man sich gut um das Tier kümmert, Prinz.“ Und dann, aus einer spontanen Laune heraus und ohne darüber nachzudenken, zog er einen Ring von seinem Finger und sagte: „Wenn ihr in Ephesos ankommt, so sucht Meister Shadbarot, meinen phoinikischen Geschäftspartner, dort auf und gebt ihm diesen Ring hier. Sagt ihm, dass ich euch geschickt habe, und er wird euch Gastfreundschaft gewähren, zumindest für eine Nacht.“
Der Händler winkte nach einem Diener, damit dieser sich um das Pferd kümmerte, woraufhin ein Junge herbeigelaufen kam und das Tier wegführte.
„Ich wünsche euch viel Glück, Prinz. Ihr werdet es sicherlich brauchen. Und wenn ich ihr wärt, so würde ich darauf verzichten eure königliche Abstammung zu erwähnen, da mir scheint, dass ihr vor euren Standesgenossen auf der Flucht seid. Lebt wohl, und möge euer Reiter euch sicher wieder an Land geleiten.“, und er drehte sich um.
Zygostratos rief einen Diener und zeigte in Richtung des Schiffes. Der Junge nickte, ging zurück zu Bryzos und bedeutete ihm, ihn zu begleiten. Gemeinsam gingen die beiden auf den Kapitän zu.
„Meister Hypsikles, es ist Meister Zygostratos, Herr. Ich soll euch sagen, dass ihr einen Passagier habt und…“
„Verdammte Scheiße!“, unterbrach ihn der Mann. „Wer ist es? Der da?“, fragte er und wandte sich zu Bryzos um.
„Ja. Name von mir Bryzos und ich…“, begann er in seinem gebrochenen Griechisch.
„Ich kann diesen barbarischen Scheißdreck nicht aussprechen.“, unterbrach ihn der Kapitän und nahm sich einen Moment Zeit, um sich seinen neuen und offensichtlich unerwünschten Passagier genauer anzusehen. „Sonst noch was?“, fragte Hypsikles schroff und wandte sich wieder dem Diener zu, der nur den Kopf schüttelte. „Ausgezeichnet.“, antwortete er mit einer Stimme, die vor Sarkasmus förmlich tropfte, und entließ den Jungen, der sich schnell aus dem Staub machte. „Also, Thraker, wir setzen in einer Stunde die Segel.“
Daraufhin drehte sich der Mann um und ließ Bryzos einfach stehen.
Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt wie zu diesem Zeitpunkt. Er straffte seine Schultern und ging ohne zurückzuschauen in Richtung des Schiffes.
Θ
Thraker waren nicht dafür bestimmt zur See zu fahren, dachte Bryzos und dies nicht zum ersten Mal. Eine Welle brach über die Seite des Schiffes und überschüttete ihn mit einem Schwall Salzwasser, obwohl er durch den Regen schon nass bis auf die Haut war. Dies, so wurde ihm klar, musste das Ende sein. Als die scheinbar endlos tosenden Wassermassen einen Augenblick lang Ruhe gaben, lehnte er sich über die Seite des Schiffes und übergab sich ausgiebig. Er hatte längst jegliche feste Nahrung erbrochen, die er in den Gewässern der Ägäis zu sich genommen hatte, und der Geschmack von Galle war bitter in seinem Mund.
Die Wellen türmten sich um den Rumpf auf und drohten, sie alle mit in die Tiefe zu nehmen. Wenigstens wäre dann alles vorbei, dachte Bryzos, oder hoffte es zumindest. Er setzte sich auf, um über die Reling zu schauen, nur um sich wieder instinktiv zu ducken, als ein Donnerschlag in der Nähe der ‚Wellenbrecher‘ ertönte, dicht gefolgt von einem Blitz. Die Matrosen hatten längst aufgehört etwas anderes zu tun, als sich einfach nur verzweifelt irgendwo festzuhalten. Die meisten von ihnen hatten sich irgendwo am Schiff angebunden, nachdem sie das einzelne quadratische Segel eingeholt hatten, damit es nicht durch den Wind zerrissen wurde.
Überall um sie herum tobte der Sturm. Bryzos war noch nie zur See gewesen und hatte noch nicht einmal beginnen können sich vorzustellen, dass es so viel Wasser auf der Welt gab. Wellen so groß wie Häuser versuchten ihr Schiff zu Kleinholz zu verarbeiten. Aber irgendwie gelang es dem Steuermann dem Schlimmsten der Dünung zu entgehen und sie auf Kurs zu halten. Er hatte keine Ahnung, wo sie gerade waren oder wohin die ‚Wellenbrecher‘ eigentlich hinfuhr, und er fragte sich, ob überhaupt irgendeiner der Männer an Bord es wusste. Als der Prinz, oder besser ehemalige Prinz, am Morgen in Sestos das Handelsschiff bestiegen hatte, war das Wetter heiter gewesen.
Bryzos schüttelte den Kopf. Er, ein Prinz! Die ganze Vorstellung war jetzt nicht mehr als ein Scherz: Während der Hass, den er für seinen Halbbruder Tarbos empfand, gegenseitig war, hätte er sich nie vorstellen können… Wie konnte ein Mann nur so viel Hass für seine eigene Familie empfinden? Sein Vater König Ozrykes, seine Mutter, seine Brüder und Schwestern, alle waren jetzt tot, ermordet durch die Hand einer der ihren. Sein Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen und er lehnte sich wieder über die Seite. Aber bevor er sich erneut ins Meer übergeben konnte, brach erneut eine Welle über die Reling.
Einer der Matrosen hatte sich nicht richtig festgezurrt. Während Bryzos zusah, wurde der schreiende Mann von einer Welle von den Füßen gerissen und gegen einen Pfosten am Heck geschleudert. Selbst wenn er in diesem Augenblick nicht schon tot war, zog ihn das Wasser einfach über Bord und besiegelte damit sein Schicksal.
„Der da, der Thraker!“, rief einer der Seeleute laut genug, um sich über dem Lärm des Sturms, der um sie herum wütete, Gehör zu verschaffen. „Der ist an allem schuld!“
Bryzos erhob sich, um der Anklage etwas entgegenzusetzen, aber bevor er in der Lage war auch nur seinen Mund zu öffnen, zwang ihn ein weiterer Donnerschlag direkt über ihnen sich wieder ängstlich hinzukauern. Nur einen Herzschlag später schlug ein Blitz in den Mast ein. Seine Ohren klingelten und während er noch vom Blitz geblendet war, explodierte der Holzmast förmlich. Er blickte hoch und das Nachbild des Lichtblitzes ließ Sterne vor seinen Augen erscheinen. Er konnte gerade noch sehen, wie ein großes Stück von dem, was vom Mast übriggeblieben war, auf ihn zustürzte, bevor er bewusstlos wurde.
***
Als Bryzos erwachte, lag er auf einer Wiese in einer Lichtung inmitten eines Waldes. Die Sonne schien sanft über ihm und die Luft roch nach Frühling. Erst vor wenigen Augenblicken war er auf einem Schiff gewesen, das dem Sturm hilflos ausgeliefert war. Aber nun war Erde unter ihm, unbeweglich und still, und für einen Augenblick lag er einfach nur da und genoss die Ruhe um ihn herum. Er wusste, wo er war: Dies waren die Felder des Derzelas. Und er war tot.
Nach einer Weile setzte er sich ohne Hast auf; schließlich kannte die Toten keine Eile mehr. Nein, ihre Seelen warteten nur hier, um wiedergeboren zu werden, um weiterzuwandern, niemand, nicht einmal die Toten selbst wussten es wirklich. Er hatte alles verloren und nun auch sein Leben. Dennoch fühlte sich Bryzos seltsam friedlich, denn das würde wenigstens bedeuten, dass seine Flucht vorbei war.
Es war später Morgen, ein schöner Tag, aber alle Tage auf den Feldern waren schließlich schön. Die Bäume über ihm waren grün und die grasbewachsene Wiese, auf der er saß, war mit Blumen übersät. Bryzos atmete tief ein und genoss den Geruch des frischen Grüns und nickte vor sich hin. Es war Zeit herauszufinden, warum er hier war.
Während die Bäume des Waldes um ihn herum vertraut aussahen, waren sie in der Tat fremd. Die Farbe der Blätter war ein klein wenig zu dunkel, um richtig zu sein, und er erkannte keine der Blumen um ihn herum. Am Rande der Lichtung sah er eine einzelne Gestalt im Schatten der Bäume stehen. Bryzos wusste instinktiv, dass sie auf ihn wartete. Also stand er auf und näherte sich ihr. Er ging auf die schattenhafte Gestalt zu, die ihm entgegennickte. Als er näherkam, erkannte er die Person: Es war sein Bruder Brentas, der nach dem Tod ihres Vaters König hätte werden sollen.
„Willkommen auf den Feldern des Derzelas, Prinz.“, sagte Brentas und nickte.
Sie umarmten einander nicht, sondern Bryzos nickte lediglich. Sie hatten sich im Leben nicht nahegestanden und so fühlte nun auch keiner von beiden die Notwendigkeit dies plötzlich im Tode nachzuholen.
„Hat Tarbos dich und Vater getötet?“, fragte er. „Ich habe gehört, dass ihr beide bei einem ‚Jagdunfall‘ gestorben wärt.“
Bei dieser Frage grinste Brentas in einer Demonstration von Humor, die Bryzos so niemals erlebt hatte als sein Bruder noch am Leben gewesen war.
„Nein, Tarbos hat weder Vater noch mich getötet. Er hat die Söldner unseres Vaters bestochen, damit sie ihm die Arbeit abnehmen.“
Bryzos nickte. Das war schließlich genau das, was Tarbos tun würde.
„Und unsere Familie? Unsere Mutter, Vaters andere Ehefrauen? Eptarys und Saldas?“, fügte er hinzu, dies waren die Namen seiner beiden Lieblingsschwestern.
„Ich habe sie hier nicht gesehen. Mehr kann ich dir nicht erzählen.“
Bryzos nickte. Das konnte alles oder nichts bedeuten. Für einen Augenblick standen die beiden einfach still da. Dann grinste er und fragte schließlich:
„Warum bin ich hier? Bin ich tot?“
„Nein.“, antwortete sein Bruder. „Nein, du bist hier, um zu lernen. Obwohl das nie wirklich eine deiner Stärken war.“, fügte er hinzu.
Bryzos zuckte mit den Achseln. Es war ja schließlich auch nur wahr, er hatte niemals wirklich ernsthaft anderen zugehört und hatte sein Handeln meist lieber von seinen Begierden leiten lassen.
„Du, mein Bruder, musst lernen, wie man kämpft.“
Das war jetzt aber einfach nur lächerlich, dachte Bryzos. Vor nur einem Jahr hatte er an seiner ersten Schlacht teilgenommen, seinen ersten Mann getötet und war einer der Männer gewesen, die bei der Belagerung von Keirpara gekämpft und die Armee der Apsinther besiegt hatten.
„Ich weiß wie man kämpft.“, antwortete er knapp, und viel besser als du es jemals konntest, fügte er innerlich hinzu.
„Oh, ein Krieger bist du, daran besteht kein Zweifel.“, nickte Brentas. „Aber es gibt noch mehr.“
„Was gibt es beim Krieg mehr als ein Krieger zu sein?“, spottete Bryzos.
„Viel mehr, wie du sehen wirst. Ein Krieger kämpft um Ehre und für sich selbst, einige“, hier nickte er in Richtung seines Bruders, „kämpfen auch für ihre Familie. Und es ist das Herz, das einem Krieger die Kraft gibt. Aber nicht dem Soldaten, Prinz. Ein Soldat folgt Befehlen; er kämpft, weil es ihm befohlen wird. Er dient.“
„Ich bin ein Krieger und ein Prinz aus dem Haus des Akamas.“, schnappte Bryzos zurück. „Ich befolge niemandes Befehle und ich werde mit Sicherheit auch keinem dienen.“
„Gut“, antwortete sein Bruder, und seine Stimme troff förmlich vor Sarkasmus, „dann weißt du nun auch schon, was deine erste Lektion sein wird. Denn niemand wird den Befehlen eines Mannes folgen, der selbst nicht bereit ist zu dienen. Denk daran.“, fügte er hinzu und lächelte dünn.
Verärgert durch den Tonfall, öffnete Bryzos sofort den Mund, um mit einer scharfen Bemerkung zu antworten. Aber dann blieb er stehen. Es musste mehr zu lernen geben, auch von jemandem, der schon tot war. Was würde passieren, wenn er wieder aufwachte? Er ballte seine Fäuste, atmete tief durch und schloss die Augen während er nach einer Antwort suchte. Einen Augenblick später wusste er, was er sagen wollte. Er öffnete wieder die Augen und…
Mit einem Schlag erwachte Bryzos plötzlich. Durchnässt, sah er einen Seemann mit einem leeren Eimer in der Hand vor sich stehen.
„So, unser ‚geschätzter Gast‘ ist also endlich wach.“, sagte der griechische Kapitän mit dem Namen Hypsikles, wobei sein Tonfall klar machte, dass Bryzos weder das eine noch das andere war.
Der Prinz war durch das raue Erwachen vollkommen verwirrt. Einen Moment lang stand der Kapitän einfach nur da und blickte hinunter, dann schüttelte er den Kopf und stapfte davon. Der Seemann mit dem Eimer nutzte den Augenblick des Unbeobachtetseins, machte eine Geste mit den Händen in Richtung von Bryzos und setzte nach, indem er zwischen die Beine des ehemaligen Prinzen spuckte.
Er war wieder zurück im Land der Lebenden.
Bryzos schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Er sah sich um. Alle Männer, oder besser diejenigen, die noch da waren, fügte er innerlich hinzu, als er sich daran erinnerte, dass er gesehen hatte wie ein Mann über Bord gegangen war, machten wieder die unverständlichen Dinge, die Leute auf einem Schiff so zu tun pflegten. Sie knüpften Seile fest und banden sie anderswo wieder an, schichteten die Sachen an Deck um und… standen herum und sahen ihn an. Sobald er sie ansah, fanden die Männer, die vorher nur herumgestanden hatten, schnell irgendein Seil mit dem sie sich beschäftigten, so dass Bryzos sich plötzlich sehr unwohl in seiner Haut fühlte. Die Stimmung an Bord des Schiffes hatte sich verschoben, oder zumindest schien es so. Erst jetzt bemerkte er, dass die See ruhig dalag. Die ‚Wellenbrecher‘ segelte ruhig dahin und hatte irgendwoher einen neuen Mast bekommen.
„Die Männer, sie Angst vor dir, Thraka.“, sagte Miren der Bootsmann in seinem seltsamen karischen Akzent, blickte zu Bryzos hinunter und riss ihn aus seinen Gedanken.
Nickend hockte der Mann sich hin und reichte ihm eine Flasche mit stark gewässertem Wein, die er dankbar nahm. Der Mann machte eine auffällige Figur: Er war ein Hüne, viel größer als jeder andere an Bord des Schiffes, einschließlich des Kapitäns, der beileibe kein kleiner Mann war. Er ging auf dem Schiff umher, lediglich in einen Wickelrock gehüllt, der ihm bis zu den Knien reichte. An der Taille wurde dieser durch einen breiten, leuchtend roten Ledergürtel zusammengehalten, in dem die Scheiden von zwei Messern steckten, einer langen und einer kurzen Klinge. Beide seiner Ohren waren mit Löchern versehen, von denen schwere goldene Ringen baumelten und seine Handgelenke waren ebenfalls mit einer Vielzahl goldener Armreifen geschmückt. Er trug sowohl sein schwarzes Haar als auch seinen Bart lang, die Haare auf dem Kopf waren zu einem komplizierten Knoten zusammengebunden und mit einer goldenen Spange befestigt. Und seine sonnengegerbte Haut war dunkler als alles, was Bryzos je gesehen hatte.
„Sein dein rotes Haar, Thraka. Sie glauben, du machen Sturm. Wir haben noch nie Thraka auf unser Schiff, bringen Unglück einige Männer sagen.“, sagte der Bootsmann, während Bryzos sich den Mund ausspülte und die Reste über Bord spuckte.
Er nahm einen vorsichtigen Schluck, schüttelte dann den Kopf und gab Miren die Flasche zurück. Die ganze Idee war lächerlich! Schließlich würde das ja bedeuten, dass er die Götter irgendwie verärgert hatte, die Götter des Meeres! Und er war noch nie zuvor auf See gewesen!
Angesichts der Bemerkung musste sich Bryzos zwingen ein höhnisches Lachen zu unterdrücken, aber er dankte Miren stattdessen. Inzwischen schien es so viele Leute zu geben, die ihn tot sehen wollten, dass eine Handvoll abergläubischer Seeleute auch keinen großen Unterschied mehr machte.
Miren verschloss die Flasche, schlug ihm auf die Schulter und sagte leise: „Wir verlieren halben Tag durch Sturm, aber wir heute Abend ankern und morgen in Ephesos. Dann du wieder Land unter den Füßen. Ihr Thraka gut an Land, gut auf Pferd, vielleicht sogar gut auf Frau“, fügte er hinzu, grinste und schüttelte den Kopf, „aber auf Schiff – du nutzlos. Du aufpassen.“, warnte er und stand in einer flüssigen Bewegung auf, die bei einem Mann seiner Größe entschieden fehl am Platz wirkte.
Er ging zurück zum Heck, um nach dem Steuermann zu sehen, ohne sich durch die Bewegung des Schiffes in der Dünung aus dem Tritt bringen zu lassen. Der Anblick vom weggehenden Miren, der scheinbar in der sanften Bewegung des Meeres unter ihnen hin und her über das Deck wackelte, beschwor einen weiteren schweren Anfall von Seekrankheit herauf. Noch einmal anderthalb Tage in dieser verdammten Nussschale!
Halb aufgerichtet erbrach Bryzos den Wein, den er nur einen Moment vorher getrunken hatte, in das Wasser unter ihm. In diesem Augenblick schwor er sich noch einmal elend, dass nicht einmal Kotys, die Königin des Todes selbst, jemals in der Lage sein würde, ihn wieder an Bord eines verdammten Schiffes zu schleppen.
***
„Du! Du hast die Götter gegen uns aufgebracht!“, sagte der Seemann laut und weckte Bryzos aus dem Schlaf der Erschöpfung, in den er gefallen war.
Hinter dem Mann sah Bryzos tatsächlich einige der anderen Matrosen nicken.
„Wir wussten alle, dass es eine schlechte Idee war einen Thraker an Bord zu nehmen! Und jetzt ist mein Bruder tot!“
Bryzos teilte das erste Gefühl ganz und gar. Und zumindest bis jetzt hatte die Reise auf der ‚Wellenbrecher‘ ihm auch wirklich keinerlei Glück gebracht.
„Er nicht richtig anbinden.“, erwiderte er vorsichtig in gebrochenem Griechisch und bemerkte plötzlich, dass sein eigener Körper noch immer an die Reling gebunden war. „Ich nichts haben mit…“
„Du bringst uns Unglück, Thraker! Und ich werde auf jeden Fall nicht tatenlos mitansehen wie du uns den nächsten Sturm bescherst.“, fügte der Mann hinzu und wich einen Schritt zurück.
Bryzos sah sich um und hoffte, dass der Seemann wieder weggehen und ihn in Ruhe lassen würde, nur um zu sehen, dass ihnen inzwischen alle zusahen. Alle, außer Miren und dem Kapitän, die laut zu streiten schienen. Langsam zog der Mann ein Messer aus dem Gürtel, eine Sichelklinge etwa halb so lang wie Bryzos Unterarm.
„Steh auf und kämpfe. Ich will dich runter von diesem Schiff haben, genauso wie du meinen Bruder in die Tiefe geschickt hast!“
Bryzos konnte angesichts dieser lächerlichen Anschuldigung lediglich völlig verwirrt den Kopf schütteln. Doch das gezogene Messer und die Haltung des Seemanns machten es nur zu deutlich, dass das Ganze keineswegs ein Spaß war. Ohne die Augen von dem Mann zu nehmen entknotete er das Seil, das ihn an die Reling gebunden hatte und stand auf. Der Seemann war extrem kräftig gebaut und besaß die Arme eines Mannes, der harte Arbeit gewohnt war. Aber seine Körperhaltung verriet Bryzos, dass er kein Kämpfer war. Einen Augenblick lang spielte Bryzos mit der Idee, sein eigenes Messer zu ziehen, aber dann entschied er sich dagegen. Sollte die ganze Sache schlecht ausgehen, so würde er es benutzen müssen, wahrscheinlich den Mann töten und…
Wie aus dem Nichts sprang ihn der Seemann völlig überraschend an. Mehr aus Instinkt als durch irgendetwas anderes duckte sich Bryzos nach rechts. Er wich einer Faust aus, die ihn wohl mit Leichtigkeit bewusstlos geschlagen hätte, wenn sie seinen Unterkiefer erwischt hätte, aber der Mann war schon wieder mit seinem Sichelmesser in der Rechten zur Stelle. Bryzos nickte. Der Mann war definitiv kein Kämpfer. Seine Hüften waren an der falschen Stelle und seine Arme schwangen umher, als ob er versuchte davonzufliegen. Er unterdrückte ein Grinsen und nahm eine Angriffsstellung ein, um den Angreifer aufs Deck zu schicken, nur um zu spüren, wie das Deck unter ihm sich plötzlich durch eine Welle erhob.
Nur indem er sich auf den Rücken fallen ließ, konnte Bryzos vermeiden das Messer in die Seite zu bekommen. Auf allen Vieren bewegte er sich hastig rückwärts und versuchte wieder auf die Beine zu kommen, aber das Schiff tat ihm nicht den Gefallen unter ihm ruhig zu bleiben. Statt in Kampfstellung auf die Beine zu kommen rutschte sein linker Fuß unter ihm weg. Das war wahrscheinlich sogar sein Glück, denn es bedeutete, dass der zweite Schlag des Seemanns in Bryzos rechte Schulter anstatt in sein Gesicht hämmerte.
Wieder auf den Rücken geworfen versuchte er diesmal nicht einmal, seine Würde zu retten, sondern rollte stattdessen einfach nach rechts, um unter der Klinge wegzutauchen.
„Kämpfe, du verdammter Feigling!“, rief der Seemann und richtete sich zu seiner vollen Höhe auf, unbeeindruckt von der Bewegung des Schiffes unter ihm.
Bryzos hörte einige der anderen Seeleute Ähnliches von sich geben und leckte sich nervös die Lippen. Er versuchte, das Schlingern und Rollen des Schiffes unter ihm einzuschätzen und er schaffte es diesmal tatsächlich gerade aufzustehen, während die übrigen Matrosen inzwischen begonnen hatten das Deck zu überqueren, um zuzusehen.
„Keiner will dich hier, Thraker.“, sagte sein Angreifer und ging einen weiteren Schritt auf ihn zu, diesmal mit dem Messer voran.
Bryzos trat automatisch einen Schritt zurück, um Platz zum Kämpfen zu bekommen, nur um mit der Ferse gegen den Achtersteven hinter ihm zu stoßen. Irritiert vom plötzlichen Hindernis blickte er hinunter, worauf der Seemann sich auf ihn stürzte. Die Faust des Mannes kam in einem Halbkreis auf ihn zu und schmetterte in Bryzos rechten Ellbogen, den er gerade noch rechtzeitig hochziehen konnte. Bevor er Zeit hatte, auf den betäubend harten Schlag zu reagieren, ging der Angreifer mit allem Schwung aus der Drehung mit der Klinge in der rechten Hand auf ihn los. Aus dem Gleichgewicht gebracht und mit seinem rechten Unterarm nun schlaff und betäubt, stolperte Bryzos rückwärts und schaffte es gerade so noch die rechte Hand des Seemanns mit seiner eigenen linken zu packen.
Er zog den überraschten Mann mit sich hinunter und rollte sich auf den Rücken. Bryzos verzog die Miene angesichts des totalen Erstaunens auf dem Gesicht des Mannes, als er ihm seinen rechten Ellbogen in die Schläfe schmetterte und ihn bewusstlos schlug. Der ehemalige Prinz schob den schlaffen Körper des bewusstlosen Mannes von sich und hob das Sichelmesser mit der linken Hand auf, da seine Rechte immer noch gefühllos war. Er hielt die Klinge gegen die Kehle des Mannes und drehte sich um, um mit den Umstehenden zu sprechen.
Aber was auch immer er in diesem Moment hatte sagen wollen, wurde jäh durch den kalten Stahl einer Klinge, die er daraufhin an seinem eigenen Hals spürte, unterbrochen.
„Fallenlassen! Sofort!“, hörte er jetzt die harte Stimme des Kapitäns in seinem Ohr.
„Und? Dann mich umbringen, wenn ich mache?“, spuckte Bryzos zurück.
Er konnte den Mann hinter sich nicht sehen, aber die Augen des Restes der Mannschaft waren nun auf ihn gerichtet.
„Ich bringe dich um, wann immer ich es will, Thraker. Und wenn ich will, dass du jetzt tot bist, wirst du sterben. Glaub nicht, dass ich auch nur einen beschissenen Moment zögern werde.“, fügte Hypsikles hinzu und bewegte das Messer so, dass sich die Spitze jetzt schmerzhaft in die Unterseite von Bryzos Kinn bohrte.
„Der Mann mich angreifen. Ich verteidigt und…“
„Darauf gebe ich einen Scheiß. Ich weiß nicht, warum in aller Welt Zygostratos mir befohlen hat, dich an Bord zu nehmen, und ganz ehrlich gesagt ist mir auch vollkommen scheißegal wer du bist. Allerdings gehört ihm das verdammte Schiff und ich befolge seine Befehle. Und jetzt habe ich einen Mann verloren, einen guten Seemann. Wir konnten gerade eben noch das Segel mit einem zusätzlichen Holm hissen, aber die ‚Wellenbrecher‘ benötigt in Ephesos ernsthafte Reparaturen. Und ich will verdammt sein, wenn ein verschissener Thraker mich ein weiteres gutes Paar Hände kostet, das die Arbeit machen könnte.“
Die Klingenspitze durchbrach Bryzos Haut und er spürte ein Rinnsal heißer Flüssigkeit seinen Hals hinunterlaufen, das Blut sein musste. Wenn er das Messer fallen ließ, würde Hypsikles ihn töten, soviel war sicher. Tat er es aber nicht, wäre das Ergebnis dasselbe. Er schluckte hart und spürte, wie sich die Klinge an seinem Hals bewegte. Er brauchte Zeit, irgendetwas, um den Kapitän davon zu überzeugen, dass…
„Du verschwendest meine Zeit. Meine Männer sollen arbeiten, aber stattdessen sehen sie uns jetzt zu. Also, entscheide dich, oder…“
„Ihr wollen mich nicht töten, Kapitän.“, sagte Bryzos und hoffte seine Stimme hörte sich zuversichtlicher an als er sich fühlte.
„Und warum ist das so?“, fragte Hypsikles.
„Sehen das?“, fragte er im Gegenzug und hielt den goldenen Ring hoch, den der Besitzer der ‚Wellenbrecher‘ ihm in Sestos gegeben hatte, bevor sie abgelegt hatten. „Euer Herr Zygostratos, Sohn von Xenostratos geben mir. Ich soll zu Shadbarot den Händler liefern.“ Das war zwar in der Tat wahr oder zumindest nahe genug an der Wahrheit, aber gab dem Kapitän immer noch keinen Grund, Bryzos nicht zu töten. „Ich soll zusammen mit Ring eine Nachricht abgeben.“, behauptete er einfach, ohne darüber nachzudenken.
„Welche Botschaft?“, fragte Hypsikles, wobei der Druck des Messers leicht nachließ. „Ich glaube kein Wort von diesem Blödsinn. Warum sollte Zygostratos einen verdammten Thraker schicken, um eine Nachricht abzuliefern?“
‚In der Tat, warum sollte er?‘, dachte Bryzos und zwang sich nicht einfach zu nicken.
„Es…, weil ich bin…. Sohn von“, aber er konnte nicht weitersprechen, weil er das Messer wieder an seiner Kehle spürte.
„Wessen Sohn du sein?“, trat Miren vor und sprach zum ersten Mal. „Lasst ihn sprechen, Kapitän.“, fügte er zu Hypsikles hinzu.
„Gut, also dann sag mir, Thraker: Wessen verdammter Sohn bist du?“, fragte der Kapitän.
Bryzos leckte sich die Lippen. Die Wahrheit war nicht nur völlig unglaubwürdig, sondern würde auch zu neuen und sehr viel schlimmeren Komplikationen führen. Überhaupt, warum in aller Welt sollte ein dolonkischer Prinz nach Ephesos fliehen, außer um Männern mit Geld und Macht aus dem Wege zu gehen, die ihn töten wollten? Männer, die vermutlich Hypsikles fürstlich entlohnen würden, wenn er…
„Entweder erzählst du es mir jetzt, oder ich werde dir die Kehle aufschlitzen und deinen wertlosen Kadaver über die Seite meines Schiffes werfen, Botschaft oder nicht.“, drohte der Kapitän.
„Ich… ich Gaidrus Sohn.“, platzte Bryzos schließlich heraus. „Er… er Handelsgefährte von Meister von euch.“
„Das sein wahr?“, fragte Miren und hob eine Augenbraue, woraufhin Bryzos ganz leicht nickte, nur um das Messer noch näher an seinem Hals zu spüren.
„Alles klar dann. Und jetzt: Messer fallenlassen.“, befahl Hypsikles.
Wieder einmal schluckte Bryzos hart. Aber es war klar, dass er nicht länger die Wahl hatte: Entweder würden die Dinge hiernach laufen, oder eben nicht. Er nickte langsam und nahm die Klinge in seiner eigenen rechten Hand langsam und sorgfältig weg vom Körper des bewusstlosen Seemanns, dann warf er sie vorwärts in Mirens Richtung, der sie schnell aufhob. Plötzlich wich der Druck des Messers. Der Kapitän stieß ihn vorwärts und aus dem Weg, worauf er auf den Körper des Mannes zu seinen Füßen fiel. Bryzos atmete tief ein und griff sich an die Kehle, wodurch er das Blut von dem Schnitt über seinen ganzen Hals verteilte.
„Ich glaube dir kein Wort davon, Junge. Aber ich habe keine Lust auf den ganzen Ärger, den du mir machen würdest, wenn du doch die Wahrheit sagst. Bleib mir bloß aus den Augen.“, sagte er und steckte seine Klinge mit einem unheilvollen Blick in Richtung des ehemaligen Prinzen wieder in die Scheide. „Ihr da, ihr faulen Bastarde! Was denkt ihr eigentlich, wofür ihr bezahlt werdet? Verdammt nochmal zurück an die Arbeit!“, fügte er hinzu und trat einfach über den Körper des Seemanns, der jetzt langsam stöhnte und sich wieder zu bewegen begann.
Nein, Thraker waren definitiv nicht dazu bestimmt, zur See zu fahren, dachte Bryzos.
***
Für den Rest des Tages war das Meer ruhig, oder so ruhig wie das Meer aus thrakischer Sicht jemals sein würde. Der Sturm hatte sie nach Westen geworfen, nachdem das Schiff den Kanal zwischen der Halbinsel Chersonnesos und dem kleinasiatischen Festland verlassen hatte, also mussten sie ihren Kurs neu ausrichten. Bryzos wurde auf einmal klar, dass er noch nie so weit weg von zu Hause gewesen war; wenn er überhaupt noch ein Zuhause hatte. Er hatte keine Ahnung, was sein mörderischer Halbbruder Tarbos, der nun der neue König der Dolonker war, tun würde. Mit Blick auf die große Insel zur Linken, der sich das Schiff näherte, wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wo er war. Tatsächlich wusste er nicht einmal, was der Rest des Tages bringen würde, geschweige denn was ihn am Ende der Reise in Ephesos erwarten würde.
Die Männer an Bord der ‚Wellenbrecher‘ blickten nun ständig gespannt auf Bryzos. Immerhin hatte der Kapitän deutlich gemacht, dass er seinen unliebsamen Passagier sicher ans Ziel bringen würde, damit er ihn dann dort loswerden konnte. Dennoch hatte der Prinz das andauernde Gefühl, dass die Seeleute nach einem Weg suchten, um ihn über Bord zu werfen, sobald Hypsikles wegsah; zumindest alle außer Miren. Und so blieb er bei dem Pfosten an der Reling, an den er sich während des Sturms gebunden hatte. Mittschiffs, auf der rechten Seite sitzend, blieb er somit wachsam und hoffte, dass sie am nächsten Tag ankommen würden.
Als sie näherkamen, füllte die große Insel sein Gesichtsfeld vollständig aus und mehr und mehr Schiffe drängten sich auf dem Wasser zusammen. Nördlich der Insel warfen Fischerboote ihre Netze für einen abendlichen Fang ins Wasser, während Bryzos zur Linken einen Hafen ausmachte.
„Diese Insel sein Lesbos, Thraka.“, sagte Miren und trat zu ihm an die Reling. „Du schauen dort hinüber.“, hier zeigte er auf die Hafeneinfahrt, „Das sein Methymna. Große Stadt, großer Hafen.“
Bryzos nickte und fragte sich noch einmal, warum der Bootsmann trotz der Reaktionen des Kapitäns und der anderen Besatzungsmitglieder weiter freundlich zu ihm war. Er zuckte mit den Achseln und fragte ihn einfach.
Miren nickte, strich sich über den Bart und blickte einen Moment aufs Meer hinaus.
„Thraka, Seemänner hier“, sagte er, „alle griechisch: Aiolier, Ionier, von den Inseln, von Festland, aber alle Griechen. Aber ich, ich nicht sein griechisch.“, sagte er und drehte sich wieder zu Bryzos herum. „Griechen, sie uns nennen ‚Barbaren‘. Das bedeuten ‚Leute, die nicht können richtig reden‘.“, sagte er, zeigte auf seine eigenen Lippen und grinste, worauf der Prinz zurückgrinsen musste. „Also ich denken, vielleicht Barbaren besser zusammenhalten.“
Bryzos nickte und fragte sich, ob die Bewohner von Ephesos wohl dieses Gefühl teilten und öffnete den Mund, um zu sprechen.
„Du sehen Ruderschiff, dort Thraka?“, fragte Miren und unterbrach seine Gedanken. „Diese Schiffe, sie heißen Triereis.“. Als er das Unverständnis auf Bryzos Gesicht sah, erklärte der Seemann, „Das Kriegsschiffe. Auf jedem Schiff vielleicht zweihundert Mann. An der Vorderseite Rammsporne, sie schmettern in anderes Schiff“, und hier schlug er lautstark seine Hände zusammen, um das Geräusch von Schiffskörpern zu simulieren, die zerbersten, „und dann Schiff sinken.“. Als er den gestörten Blick auf Bryzos Gesicht sah, fügte er hinzu und schlug ihm auf der Schulter, „Keine Sorge, Thraka, Triereis nicht an uns interessiert. Sie segeln für Sparta.“
Es waren etwa ein Dutzend oder so von ihnen: lange schmale Boote ohne Segel, angetrieben von Ruderern auf dreistöckigen Bänken, die sich nach Osten bewegten, während die ‚Wellenbrecher‘ weiter nach Westen segelte. Er fragte sich, wohin sie fuhren und ob es auf dem Meer genauso viele Konflikte gab, wie dies an Land der Fall zu sein schien. Und was oder wer genau Sparta sein mochte.
„Es gibt Krieg.“, sagte Miren und schüttelte den Kopf. „In Ephesos, du nehmen dich in Acht, Thraka.“
***
Die ‚Wellenbrecher‘ segelte weiter an der Nordküste von Lesbos entlang, dann drehte sie scharf nach Süden ab und fuhr in Sichtweite der Küste weiter. Bis zum Ende des Morgens hatten sie die westliche Spitze der Insel umsegelt. Bryzos schien es, als ob auf See die Zeit sich mit einer anderen Geschwindigkeit bewegte. Sie ließen die Insel Lesbos hinter sich und segelten aufs offene Meer hinaus. Der Nachmittag verging, und mehr als einmal musste Bryzos gegen den Schlaf kämpfen und sich zwingen wach zu bleiben, aus Angst vor dem, was die Mannschaft dann wohl tun mochte. Am Abend hatte die ‚Wellenbrecher‘ endlich die Insel Chios erreicht, wo der Kapitän der Besatzung befahl in einen natürlichen Hafen vor Anker zu gehen.
Die Nacht war ereignislos, aber Bryzos konnte wegen der Bewegung des Schiffes unter ihm keinen Schlaf finden. Und jedes Mal, wenn er ein Geräusch außer dem Plätschern des Wassers um sie herum hörte, schreckte er auf, von der Angst erfüllt, einer der Matrosen könnte versuchen ihm mit dem Messer an die Kehle zu gehen.
Als die ‚Wellenbrecher‘ schließlich bei Tagesanbruch lossegelte, war er von der Kombination aus Schlafmangel und Hunger völlig erschöpft. Das Schiff fuhr in die Gewässer, welche Chios von der Küste Kleinasiens trennten, und gelangte schließlich in eine Art Kanal zwischen der Insel und dem Festland. Obwohl der Verkehr keineswegs dicht war, begegneten sie einer Reihe von Handelsschiffen unterschiedlicher Größe. Manche schlossen sich ihnen auf der Fahrt nach Süden an, andere segelten nordwärts und einige kreuzten sogar ihren Weg auf der Fahrt von und nach Asien.
Am Nachmittag hat sich die Zahl der Schiffe so weit vergrößert, dass Bryzos es aufgab zu versuchen sie zu zählen. Neben den üblichen kleinen Fischerbooten sah er Frachter und Handelsschiffe von der Größe der ‚Wellenbrecher‘, die von und nach Osten an die Küste fuhren, aber nun auch mehrere Schiffe, die bei weitem größer als ihres waren. Welche Fracht sie an Bord trugen, konnte er sich nicht im Entferntesten vorstellen, aber er war verblüfft von der schieren Masse an Menschen und Dingen, die hier in Bewegung zu sein schienen.
Als sie sich allmählich ihrem Ziel näherten, fing die Mannschaft wieder an sich mit ihren unverständlichen nautischen Aufgaben zu beschäftigen. Die Menge an lautstark geschrienen Befehlen wuchs, als das Schiff eine gelegentliche Kehre machen musste, um einem wirklich großen Frachter aus dem Weg zu gehen. Mehr als einmal kam man dabei einander nahe genug, dass die Mannschaften ein paar freundliche Beleidigungen miteinander austauschen konnten, zumindest klang es Bryzos so.
Langsam segelten sie in eine breite Bucht hinein und eine niedrige, schmale Insel tauchte auf der linken Seite auf, an deren südlicher Spitze ein steinerner Turm errichtet worden war, der in die Bucht hineinzeigte. Als sie sich dem inneren Hafen näherten, sah Bryzos wieder eine Reihe von Kriegsschiffen aus der Richtung von Ephesos kommen. Keiner, nicht einmal die größeren Frachter, kamen ihnen in den Weg. Jeder Kapitän und jeder Bootsführer räumte ihnen weiten Raum ein. Als die Triereis an der linken Seite der ‚Wellenbrecher‘ vorbeifuhren, konnte er sie sich genauer ansehen und zählte insgesamt acht Schiffe. Er erinnerte sich an das, was Miren gesagt hatte und so beschloss Bryzos gemächlich die Zahl der Männer an Bord zu berechnen. Mit einer Mannschaft von jeweils zweihundert wären das insgesamt… mehr als eineinhalbtausend Mann! Das war mehr als die gesamte Bevölkerung seines Heimatdorfes. Und das auf nur acht Schiffen…
Bryzos wurde auf einmal schwindelig und er stand mit offenem Mund da, während die mächtigen Kriegsschiffe an ihnen vorbeifuhren. Wie sähe eine Flotte von einem Dutzend solcher Schiffe aus, oder zwei Dutzend oder drei? Wozu mochten sie fähig sein? Welcher König konnte eine solche Masse von Männern beherbergen und verpflegen, geschweige denn sich den Bau solcher Schiffe leisten? Er fuhr fort den Triereis verblüfft nachzublicken, bis ihr eigenes Schiff durch die allgemeine Geschäftigkeit des Hafens, dem sie sich allmählich näherten, verschlungen wurde.
Auf einem Hügel vor ihm erschien Ephesos, dessen Docks noch hinter einem Wald von Masten, Rahen und Segeln verborgen lagen, eine neue Stadt, ein neuer Kontinent, eine neue Zukunft. Und endlich auch wieder trockenes Land unter den Füßen.
Θ
Sobald die ‚Wellenbrecher‘ am Kai vor Anker gegangen war, begann die Mannschaft Seile an Land zu werfen, um das Schiff zu vertäuen. Bryzos wurde einfach ignoriert, die Matrosen waren genauso froh ihn loszuwerden, wie er selbst war endlich an Land gehen zu können. Das gesamte Schiff brach in hektische Aktivität aus, jeder schien gleichzeitig zu sprechen, während der Kapitän allen Anwesenden zur gleichen Zeit lautstark Befehle erteilte. Der improvisierte Mast wurde abgebaut, ebenso wie auch das Steuerruder auf der rechten Seite des Rumpfes, um es vor Beschädigung durch eines der anderen Schiffe, die im Hafengebiet umherschipperten, zu sichern. Erst als das Schiff vollständig gesichert war, ließ der Kapitän die Männer eine Holzbohle als Landungsbrücke vom Deck zur Pier auslegen.
„Also Thraka, jetzt wir sind Ephesos.“, sagte Miren und schlug Bryzos auf die Schulter, als er seine spärlichen Habseligkeiten zusammenpackte. „Jetzt wir entladen Schiff und morgen setzen neuen Mast, dann andere Last laden und wieder segeln zurück. Aber heute Abend Männer und ich, wir genießen Wein und Frauen. Wenn du mich suchen, dann du gehen in Taverne heißen ‚Meerjungfrau‘. Und, was du jetzt tun, Thraka?“
Der ehemalige Prinz lehnte sich gegen die Reling zurück und nahm sich einen Augenblick Zeit, um über seine Antwort nachzudenken, musste aber stattdessen auf einmal gähnen, worauf Miren breit grinste. Möwen schrien am Himmel über ihnen, der Geruch von Meer und Salz war in seiner Nase, genauso die unappetitlichen Gerüche einer Stadt, die ihren Abfall einfach in die Bucht warf. Überall sah er bunte Segel und Schiffe, deren Rümpfe in den verschiedensten Farben bemalt waren, viele von ihnen mit Augen am Bug. Die Männer und Frauen, die er um sich herum erblickte, waren nicht weniger farbenfroh. Nie zuvor hatte er so viele verschieden aussehende Menschen gesehen. Genaugenommen hatte er überhaupt noch nie so viele Leute auf einer Stelle gesehen.
„Ich werde meine Botschaft abliefern, Miren.“, antwortete er schließlich. „Und dann werde ich hoffentlich essen und schlafen. Im Moment bin ich einfach nur froh wieder an Land zu sein.“, fügte er hinzu.
„Nun, Thraka, dann ich hoffen du haben Glück.“, sagte Miren auf einmal ernst. Er streckte seine rechte Hand aus und sie ergriffen gegenseitig ihre Unterarme. „Du nehmen dich in Acht.“, sagte der Bootsmann, drückte den Arm des Prinzen noch einmal und drehte sich um, um die Mannschaft anzuschreien das Deck aufzubrechen, um an die Ladung zu gelangen.
Sofort begannen die Männer die Verzurrung der Deckplanken zu lösen. Ein großer Teil des Holzbodens, auf dem Bryzos noch wenige Augenblicke zuvor gestanden hatte, wurde abgebaut und die Ballen, Amphoren und die restliche Ladung kamen erneut ans Tageslicht. Ohne zurückzublicken sprang Bryzos auf die hölzerne Landungsbrücke und ging wieder an Land, während der Kapitän bewusst in die andere Richtung blickte. Leise hoffend, dass er dem Mann nie wieder begegnen müsse, zumindest wenn er es irgendwie vermeiden könne, ging Bryzos über die Bohle, bis seine Füße auf der anderen Seite wieder das Festland berührten.
Also das ist nun Ephesos, dachte er. Ich bin angekommen.
Als er den Pier entlangging, wurde er schnell von der Geschäftigkeit um ihn herum verschlungen. An Bord der ‚Wellenbrecher‘ hatte es immer eine kleine Brise gegeben, die ihn abkühlte. Hier hingegen wurde jeder Wind, der vom Meer wehte, von der Masse der Schiffe im Hafen verschluckt und seine schweren Stiefel und seine wollene Zeira wurden unangenehm warm. Er warf seinen Umhang von den Schultern zurück, faste ihn am Hals mit einer Spange zusammen und machte aus dem Überwurf eine Art Kapuze, um seinen Kopf gegen die Sonne zu schützen, womit er Arme und Schultern entblößte.
Die Tätowierungen auf seiner rechten Schulter, die ihn als Krieger auszeichneten, hätten in Thrakien einiges an Interesse geweckt. Hier allerdings brachten sie ihm bestenfalls einen vorübergehenden Blick ein. Nur wenige der Leute, die er sehen konnte, waren tätowiert, aber ihrem Aussehen nach zu urteilen dienten sie an diesem Ort eher nicht dazu Krieger von anderen Männern zu unterscheiden. Er hatte eine ältere Frau gesehen, die Zeichen quer über das Gesicht trug, sowie einen Mann mit dunkler Haut, der Markierungen auf den Schultern und seiner nackten Brust hatte, die durch irgendeine Art Ziernarben weiter betont wurden.
Er musste irgendwie diesen Shadbarot finden, aber im Moment wollte er sich einfach nur die Beine vertreten. Es war noch einiges an Tageslicht da und schließlich konnte dieser Ort ja nicht so groß sein, dachte er. Er spazierte in östlicher Richtung und bemerkte dann, dass dieser Abschnitt des Hafengeländes anders aussah. Die Anzahl von Männern in Rüstung und mit Waffen war hier deutlich höher und die Schiffe lagen lange nicht so dichtgedrängt an der Mole oder den hölzernen Landungsstegen, die in das Wasser der Bucht ragten, sondern jedem von ihnen war jeweils ein eigener Anlegeplatz zugeteilt worden.
Unter dem Klang von Trommeln und Flöten kam auf einmal ein großer Zug von Männern aus einem der Speichergebäude. An der Spitze ging ein Soldat in voller Rüstung, dessen Kopf mit einem prächtig glänzenden Bronzehelm bedeckt war, mit einem querlaufenden Helmbusch geschmückt. Direkt hinter ihm gingen die drei Musiker, die der Prinz schon gehört hatte, bevor er die Männer selbst hatte erblicken können, begleitet von einem weiteren Dutzend Kriegern, ebenfalls in voller Kampfmontur. Im Anschluss folgte ein ganzer Wald von hölzernen Stangen, die scheinbar unkontrolliert hin und her wackelten. Als dieser merkwürdige Anblick näherkam, zeigte sich, dass es sich hier um nur in Lendenschurze gekleidete Männer mit langen Rudern handelte. Sobald die Gruppe aus dem Bootshaus gekommen war, erschien eine zweite Abteilung Ruderer, und nach diesen eine dritte.
Bryzos war nicht der einzige, der von diesem Spektakel angezogen wurde. Schnell versammelte sich eine ganze Menge von Zuschauern, um das Ganze zu beobachten. Als die drei Männer mit den Helmen und den querlaufenden Helmbüschen vor ihren jeweiligen Schiffen zum Stehen gekommen waren, befahlen sie auf Griechisch den Männern an Bord zu gehen.
Die Schiffe hatten mit den Rammspornen voran am Kai Mole angedockt. Unter dem Beifall der Zuschauer begannen die Ruderer geordnet vermittels zweier Rampen, die zu beiden Seiten des Schiffbugs angelegt worden waren, ihre jeweiligen Schiffe zu besteigen. Auf einen weiteren lautstarken Befehl wurden die Ruder nach links und nach rechts ausgeworfen. Die Blätter platschten ins Wasser und die Mannschaften auf den Decks und auf der Pier lösten hastig die Seile, welche die Kriegsschiffe mit dem Kai verbanden.
Und dann gab der Kommandant des Bootes, welcher der Menge am nächsten war, Befehl das Schiff zurückzusetzen, woraufhin das Kriegsschiff anfing sich vom Hafen von Ephesos zu lösen. Die dichte Menge um ihn herum jubelte noch einmal, als die Triere sich zurückruderte, um sich dann auf der Stelle zu drehen, ein Manöver, das auch für jemanden, der damit so unvertraut war wie Bryzos, offensichtlich höchst kompliziert war und geschickt ausgeführt wurde. Nachdem alles erfolgreich verlaufen war, zog sich das Schiff zurück, um auf die anderen Mitglieder der Flottille zu warten. Sechshundert Mann arbeiteten im Einklang, dachte der Prinz und schüttelte verblüfft den Kopf.
Allmählich zogen alle drei in die Bucht, um dann aufs Meer hinaus zu rudern, wobei alle anderen Schiffe, die im Hafen unterwegs waren, wieder einen weiten Bogen um sie machten. So sieht es also aus, wenn ein Kriegsschiff in See sticht, dachte Bryzos und fragte sich, wie eine solche Mannschaft sich wohl auf See schlagen würde, gegen andere Männer, die ihnen an den Riemen ebenbürtig waren. Es wäre wohl ein großartiger und schrecklicher Anblick, dachte er und schüttelte den Kopf. Dem Reiter sei Dank bin ich wieder auf festem Land, da wo ich hingehöre.
Genauso schnell, wie sie sich versammelt hatten, begannen sich die Zuschauer auch wieder zu zerstreuen. Bryzos entschied, dass er sich wohl langsam besser um wichtigere Dinge kümmern sollte, blickte sich um und bemerkte mehrere Verkäufer, die ihre Waren von kleinen Handkarren aus auf dem Kai feilboten. Als er sich näherte, stieg ihm der Geruch von gekochtem Essen in die Nase und er bemerkte plötzlich, dass er heißhungrig war. Angesichts der Tatsache, dass er seine letzte Mahlzeit vor drei Tagen zu sich genommen hatte, noch bevor er nach Sestos geflohen war, brauchte er nicht lange, um sich zu entscheiden. Er näherte sich einem der Karren und griff in seinen Chiton, um nach dem kleinen Geldbeutel, den Gaidrus ihm vor seinem Tod gegeben hatte, zu fischen. Allerdings nur, um schnell festzustellen, dass dieser nicht da war. Man hatte ihn beraubt!
Er klopfte seine Bekleidung in der Hoffnung ab, dass er das Geld irgendwie verlegt hatte, aber ohne Erfolg. Der wütende Bryzos blickte sich um, irgendwie in der irrigen Hoffnung jemanden mit dem bisschen Geld, das er besaß, davonlaufen zu sehen. Aber da war natürlich keiner. Der Täter hatte ihm sogar das Messer halb aus der Scheide gezogen, nur um sich dann aber in seinem Gürtel zu verstricken. Bryzos stampfte auf den Steinen der Kaimauer, ließ seiner Frustration und Wut freien Lauf und fluchte laut auf Thrakisch. Sein Magen brummte angesichts des verlockenden Geruchs von gebratenem Fleisch, so dass ihm übel wurde, obwohl ihm gleichzeitig das Wasser im Munde zusammenlief. Vielleicht könnte er sich irgendwie etwas zu Essen erbetteln, oder…
„Du da, verpiss dich!“, sagte einer der Verkäufer auf Griechisch und machte eine Geste in seine Richtung, die der Prinz zwar nicht erkannte, die aber offensichtlich obszön war.
Als die Kombination von Hunger und Ärger über die Griechen auch die letzte Spur guten Benehmens, das er noch besaß, übermannte, stampfte Bryzos wutschnaubend und mit geballten Fäusten auf den Mann zu. Als er seinen Mund öffnete, um das wenige an griechischen Beleidigungen, das er kannte, zum Besten zu geben, schlug ihm ein Stein gegen die Schulter.
„Verdammt, wer…?“, sagte er auf Thrakisch und drehte sich zu dem unsichtbaren Angreifer herum, wobei er instinktiv sein Messer zog.
Zu seiner Überraschung war die Person, die es gewagt hatte, den Sohn von Ozrykes, König der Dolonker, anzugreifen, eine zerbrechlich wirkende alte Frau. Völlig verblüfft stand Bryzos einfach da, während sie ihn anbrüllte und sich dann sogar bückte, um einen weiteren Stein aufzuheben. Plötzlich traf ihn ein zweiter Stein in den Rücken, dieses Mal jedoch viel härter und schmerzhafter. Als er sich umdrehte, sah er, dass dies der Mann gewesen war, auf den er zugegangen war. Aber selbst als er sich unter einem dritten Wurfgeschoss wegduckte, kamen die umliegenden Verkäufer schon schreiend und wild gestikulierend angerannt und weitere Steinen wurden in seine Richtung geworfen.
Er wich einem Stein aus, indem er schnell den Kopf wegbewegte, aber ein weiteres Geschoss traf ihn in die Seite, gefolgt von einem an die Brust. Völlig überrascht von dieser plötzlichen Feindseligkeit sprang er vorwärts und fuchtelte bedrohlich mit seinem Messer vor dem Verkäufer herum, der ihm am nächsten war. Der Mann zog sich hastig zurück und ließ den Stein aus der Hand fallen. Mit lautstarken, wüsten Beschimpfungen auf Thrakisch packte Bryzos eine Handvoll Spieße vom Grill und rannte davon.
Als er sich davonmachte, folgte ihm ein Hagel von Wurfgeschossen, aber zu seinem Glück verfehlten sie ihn oder trafen ihn am Rücken, wo sein dicker Umhang ihn vor der Wucht ihres Aufpralls schützte. Er lief von der Uferpromenade weg, in weder in der Lage noch willens zu sehen, wo er eigentlich hinrannte. Schließlich kam er unter einem Baum, der außerhalb einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern stand, zum Stehen.
Müde, erschöpft und hungrig ging Bryzos ein paar Schritte in die schmale Straße hinein und ließ sich im Schatten auf den Boden fallen, um einen Augenblick zur Ruhe zu kommen. Er schloss die Augen, überwältigt von der Vielfalt der Farben von Haut, Kleidung und der Sprachen um ihn herum. Sein Herz klopfte und er erkannte allmählich, dass er sich die linke Hand verbrannt hatte, während er in der Rechten immer noch sein Messer hielt. Schnell steckte er die Klinge wieder in die Scheide; dies war sein Glücksmesser und hatte ihn mehr als einmal dann gerettet, als ihn Schwerter im Stich gelassen hatten. Bryzos atmete tief durch und machte sich über seine Beute her.
Das Fleisch war heiß und würzig, und obwohl Bryzos für den Augenblick etwas weniger ausgehungert war, bemerkte er jetzt auch, wie trocken sein Hals war. Er warf die Reste seiner bescheidenen Mahlzeit in die Gasse hinter ihm, woraufhin sofort wie aus dem Nichts ein räudiger Hund erschien. Während er zusah, begann das Tier die letzten Fetzen Fleisch abzunagen. Einen Augenblick spielte er mit Zygostratos Ring an seinem Finger und betrachtete dann seine Umgebung genauer. Er hatte keine Ahnung, wo er war, aber es waren noch mehrere Stunden bis zur Dämmerung und somit noch genug Tageslicht übrig, um zu versuchen diesen Shadbarot vor Sonnenuntergang zu finden. Aber in diesem Moment war er schlicht und einfach nicht in der Lage in dieser fremden Stadt nach dem Mann zu suchen.
Bryzos gähnte und beschloss, seine Augen zu schließen, wenn auch nur für einen Moment und sich zu sammeln, bevor er die nächste Herausforderung anging.
***
Scheinbar nur Augenblicke später wurde er grob durch einen Tritt in die Seite geweckt.
„He, du.“, zischte eine Stimme und unterstrich die Aussage mit einem weiteren Tritt.
Bryzos öffnete seine Augen, nur um festzustellen, dass es schon dunkel war. Er schüttelte sich, stand auf und sah sich drei Kindern gegenüber, wie er plötzlich erkannte.
„Das ist unsere Straße. Wenn du hier schlafen willst, musst du dafür bezahlen.“, sagte der größte von ihnen, der immer noch einen halben Kopf kleiner war als Bryzos, in stark akzentuiertem Griechisch.
„Ich keinen Ärger wollen.“, antwortete der Prinz vorsichtig und hielt seine Hand hoch.
„Dafür isses zu spät.“, sagte der zweite, dunkelhäutige Junge und schüttelte den Kopf. „Wenn du bleiben willst, dann musst du bezahlen.“, fügte er hinzu und grinste breit, woraufhin seine Freunde kicherten.
„Dann ich gehen.“, antwortete Bryzos, nickte und wandte sich zum Ausgang aus der Gasse.
„Wo zum Teufel willst du so schnell hin?“, fragte der dritte von ihnen und hielt die Hand hoch, um den Prinzen zu stoppen. „Du bleibst schön hier, Kumpel. Ich mag den Umhang, den du da hast; ich glaube, ich nehme ihn.“, fügte er hinzu, grinste und zog von irgendwo aus seiner zerlumpten Tunika ein Messer.
„Tu besser, was er sagt. Er wird gemein, wenn die Leute nicht tun, was man ihnen sagt.“, sagte der große Junge selbstgefällig und zog ebenfalls eine Klinge. „Weißt du was, wir sollten einfach alles nehmen, was du an dir hast, richtig Jungs?“
Bryzos sah die drei an und seufzte. Langsam und vorsichtig öffnete er die Schließe, die seine Zeira auf den Schultern hielt und reichte sie dem Jungen Nummer eins. Der grinste und nickte, bis er bemerkte, dass der Prinz nicht losgelassen hatte. Ein plötzlicher Ruck am Umhang erwischte den Jungen auf dem falschen Fuß und zog ihn nach vorne, wobei Bryzos ihm die Faust in die Schläfe rammte, als er vorbeistolperte. Sofort ließ er die Zeira auf die Straße fallen, um sich den anderen beiden zuzuwenden. Der große Junge reagierte schon, machte einen Schritt zurück und wechselte effekthaschend sein Messer von einer Hand in die andere. Bryzos duckte sich in Kampfstellung und wartete. Als das Messer wieder die Hand wechselte, ließ er sich zu Boden fallen und schlug dem großen Jungen mit dem rechten Bein in einem Sicheltritt die Beine unter dem Körper weg. Dieser landete schmerzhaft hart auf dem Kopfsteinpflaster und verlor dabei das Messer, das sofort in die Schatten der Gasse verschwand.
Gerade als Bryzos sich umdrehte, um sich dem dunkelhäutigen Jungen entgegenzustellen, traf ihn etwas hart genug zwischen linker Schulter und Hals um ihn auf die Knie gehen zu lassen. Der Schlag war nicht gerade stark gewesen, aber dafür sehr gut platziert. Sofort versuchte er automatisch, sich in Richtung seines Angreifers zu drehen. Aber bevor er sich vollständig umgedreht hatte, hieb der dunkelhäutige Junge wieder auf ihn ein und der Prinz war nur knapp in der Lage, seinen Arm rechtzeitig zur Abwehr zu heben.
Der Schlag ließ seinen linken Unterarm vom Ellenbogen abwärts taub werden. Bryzos rollte sich zur Seite ab, wobei er unangenehme Bekanntschaft mit dem Unrat machte, den man in die Gasse geworfen hatte. Als er wieder auf die Füße stolperte, kam der große Junge schon auf ihn zu. Noch halb in der Hocke wurde er mit dem Rücken gegen das Gebäude hinter ihm geschmettert. Nur die Tatsache, dass der Prinz noch nicht aufrecht gestanden hatte, verhinderte, dass sein Hinterkopf gegen die Hauswand hinter ihm geschleudert und er ohnmächtig geschlagen wurde. In der Dunkelheit unterschätzte der große Junge seine Reichweite und hastete vorwärts, um ihm den Rest zu geben. Stattdessen versenkte Bryzos seine rechte Faust in dessen Magengrube.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht klappte der Jungen in der Mitte zusammen, woraufhin sich der Prinz schnell zu seiner vollen Größe aufrichtete und ihm dann mit voller Wucht mit dem Knie ins Gesicht trat. Der dunkelhäutige Junge schaute zuerst zu seinen beiden Freunden, dann zu Bryzos. Obwohl der große Junge mit dem Kampf nichts mehr zu tun hatte, begann Junge Nummer eins schon wieder aufzustehen. Er näherte sich und gestikulierte mit seinem Knüppel in Bryzos Richtung. Der Prinz nickte grimmig zurück und sprang zur Seite, um den dunkelhäutigen Jungen zwischen sie zu bringen. Instinktiv drehte sich der dunkelhäutige Junge nach rechts und holte mit seinem Knüppel zum Schlag aus, nur um diesen in der engen Gasse gegen die Wand zu dreschen.
Bryzos duckte sich unter den Schlag weg, schmetterte dem dunkelhäutigen Jungen seinen linken Ellenbogen in die Brust und rollte sofort zur Seite, falls einer der beiden anderen wieder auf den Beinen war. Sein erster Angreifer versuchte inzwischen auf der Straße draußen wieder aufzustehen. Als er sah, wie der Prinz sich näherte, blieb er auf den Knien und hielt seine Hände in einer Geste der Kapitulation hoch. Bryzos entschied, dass er wohl genug hatte. Um die anderen beiden zu beeindrucken, zog er nun langsam und bedächtig seine eigene Klinge, während in der Gasse der große Junge schon dabei war dem dunkelhäutigen Jungen wieder auf die Beine zu helfen.
„Vielleicht jetzt ihr mich in Ruhe lassen?“, fragte er, wobei die Art und Weise, wie er sein Messer hielt, mehr als alles andere zeigte, dass er wusste, wie man es benutzt.
„Fick dich, wir werden…“, begann der dunkelhäutige Junge, wurde aber unterbrochen, als der große Junge sich krümmte und seinen Bauch hielt.
In einem lautstarken Schwall erbrach er dann eine ehemals reichhaltige Mahlzeit vor sich auf das Pflaster.
Junge Nummer eins stand auf, ging ein paar Schritte zurück aus der Gasse und sagte: „Willkommen in Ephesos, Arschloch, ich hoffe, dass dich jemand umbringt!“, und er spuckte auf den Boden zu Bryzos Füßen.