Kyniska - Prinzessin von Sparta - David J. Greening - E-Book

Kyniska - Prinzessin von Sparta E-Book

David J. Greening

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Beschreibung

Fünf Jahre nun schon währt der Krieg zwischen den Athenern und den Lakaidamoniern. Doch während in Sparta selbst Frieden herrscht, werden in anderen Teilen Griechenlands Menschen, Städte und ganze Völker in den Abgrund gerissen. Als Kyniska, die einzige Tochter von König Archidamos von Sparta, ihren sechzehnten Geburtstag begeht, ahnt sie noch nichts von diesen Ereignissen. Aber als seine Krieger sich am Heiligtum der Artemis vergreifen, bringt der Herrscher die Götter selbst gegen sich auf. Von der Göttin verflucht und vom Vater verstoßen muss Kyniska nun ihren eigenen Weg finden, während draußen vor den Toren Spartas der Krieg immer näher rückt…

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Inhaltsverzeichnis

Mystra

Eleusinios

Gerastios

Artamisios

Delphinios

Amyklai

Hyakinthia

Phliastos

Korinth

Lechaion

Isthmia

Hekatombeus

Ker

Sellasia

Nachwort

Dramatis Personae

Glossar

Ein SCHREIBSTARK Buch

1. Auflage 2021

Titelbild: Kostas Nikellis

Umschlaggestaltung: Martin Henze und David Toalster

kosv01.deviantart.com

SCHREIBSTARK

An imprint of

Schreibstark Verlag der Debus und Dr. Kuhnecke GbR

Saalburgstraße 30

61267 Neu-Ansbach

ISBN 9783969470060

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kyniska

Σπάρτας μὲν βασιλῆες ἐμοὶ πατέρες καὶ ἀδελφοί,

ἅρματι δ’ ὠκυπόδων ἵππων νικῶσα

Κυνίσκα εἰκόνα τάνδ’ ἔστασε·

Μόναν δ’ ἐμέ φαμι γυναικῶν Ἑλλάδος ἐκ πάσας

τόνδε λαβεν στέφανον.

Spartas Könige waren mir Väter und Brüder,

doch ich siegte mit dem Wagen schnellhufiger Rosse.

Kyniska stellte dies Bildnis hier auf:

Als einzige aber rühme ich mich der Frauen von ganz Hellas

den Siegeskranz empfangen zu haben.

Kyniska

Prinzessin von Sparta

David J. Greening

Θυγατράσι Σπαρτιατέων

Ebenfalls von David J. Greening

Thrax Buch I: Kriegerdämmerung

Thrax Buch II: Söldner von Sparta

Thrax Buch III: Gezeiten des Krieges

Die Prinzessin und der Schlüssel

Der Prinz und der Schlüssel

Danksagung

Wie immer bin ich einer Reihe von Menschen zu Dank verpflichtet, die mich beim Schreiben dieses Buches unterstützt haben. Zuallererst sind dies Elmar Köhler, Charlotte Knöll und Frank Billek, die mir bei Konzeption und Korrektur immer mit Rat und Tat zur Seite standen. Des Weiteren ein herzliches toda raba an meine Ex-Kollegen Josi Moss für seine Übersetzung ins Ivrit, welches hier als Phönikisch fungiert, und Martin Henze für die Umschlaggestaltung. Mein Dank gilt ebenfalls meinem Verleger Marc Debus. Last, but not least, gilt meine Dankbarkeit meiner Frau Inka.

Das Titelbild stammt von Kostas Nikellis, die Umschlaggestaltung von Martin Henze und die Karte von David Toalster.

Verbliebene Fehler, welcher Art auch immer, sind allein meine.

Die Peloponnes

David J. Greening

Kyniska

Mystra

Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern als meine Kindheit zu Ende ging. Der Winter hatte angefangen sich für dieses Jahr wieder in die Berge zurückgezogen, aber im Diosthyios konnte es durchaus noch ungemütlich kalt werden. In der Stadt waren wahrscheinlich die ersten Anzeichen des Frühlings zu spüren, aber in Mystra, dem Landsitz der Familie meines Vaters an den Ausläufern des Taÿgetos-Gebirges lag noch Schnee. Die Nächte waren noch kalt, morgens war Raureif auf den Ästen der kahlen Bäume und die Teiche waren mit Eis bedeckt.

Ich war wohl das, was man allgemein als ‚wildes Kind‘ bezeichnete, selbst für spartanische Verhältnisse. Wo die anderen adligen Mädchen aus meiner Gegend sich meist dem Lernen widmeten ritt ich lieber aus. Und wenn einmal kein Pferd zu ergattern war, dann kletterte ich auf Bäume, fing Fische im Fluss oder stellte mit meiner Freundin Praximika irgendwelchen Unsinn an. Praximika und ich waren gleichalt, zumindest soweit wir das sagen konnten. Als Spartanerin hatte man meinen Geburtstag natürlich vermerkt, aber wer gab sich schon die Mühe, den Tag der Geburt eines Heiloten oder einer Heilotin aufzuzeichnen? Also feierten ich und meine Freundin der Einfachheit halber unseren Geburtstag immer gemeinsam, schließlich verbrachten wir sowieso die meiste Zeit zusammen.

Ich wuchs in Mystra auf. Als Kind war das für mich immer ein magischer Ort, am Rande der Berge, die das Tal des Eurotas nach Westen hin umsäumten. Auf dem weitläufigen Gut der Königsfamilie der Agiaden gab es überall etwas zu entdecken und Abenteuer zu erleben. Obwohl man es mir – ich war damals noch ein etwas zu dünn geratenen Mädchen mit den struppigen dunkelbraunen Haaren, einem leichten Lispeln und einer etwas zu großen Unterlippe – nicht ansah, war ich doch die einzige Tochter von Archidamos II. und seiner zweiten Frau Eupoleia.

Meinen Vater sah ich natürlich nicht sehr oft. Er war meistens ‚in der Stadt‘, wie die Leute auf dem Land hier alle so sagen, in Sparta eben. Als einer der beiden Könige hatte er natürlich immer genügend wichtige Aufgaben und Verpflichtungen, die seine Zeit in Anspruch nahmen. Wie bei allen anderen Spartiaten auch war die Erziehung der Kinder, also von mir und meinem älteren Bruder Agesilaos, Frauensache. Bis zu unserem siebten Lebensjahr kümmerten sich stets Ammen und Dienerinnen aus dem Heilotengesinde der Familie um uns beide, stets unter den wachsamen aber liebenden Augen ihrer Herrin, meiner Mutter.

Mit Sieben mussten die Jungen zur Agoge, damit sie lernen Soldaten zu werden, während die Mädchen die Schola besuchten, um sich auf ihre späteren Aufgaben als gute Ehefrau eines Kriegers, Mutter von Helden und Verwalterin des Gutshofes ihrer Familie vorbereiteten. Agesilaos war vor ein paar Monaten im letzten Herbst eingezogen worden, aber ich hatte noch Zeit bevor für mich der Ernst des Lebens begann; zumindest dachte ich das damals.

Mutter sagte, wir würden ihn erst zu den Gymnopaidia im Hekatombeus wiedersehen, also in über einem halben Jahr. Da haben die jungen Kadetten in Sparta ihren ersten öffentlichen Auftritt. Ich war noch nie dabei gewesen, und auch wenn ich keine rechte Lust auf die Stadt hatte, so freute ich mich doch meinen großen Bruder wiederzusehen. Ich musste erst nächstes Jahr in die Schola, damit ich alles lernte, „was einer Dame zukommt“, zumindest drückte es unsere Haushälterin Hyle so aus. Bis dahin hatte ich Narrenfreiheit und genoss sie mit Praximika in vollen Zügen.

Mystra war schon ein ganzes Stück weg von Sparta, und das war mir auch sehr recht so. Mein Vater hatte mich schon ein paar Mal dorthin mitgenommen und ich hasste es dort: Wir waren einmal paar Tage in unserem Stadthaus geblieben, da mein Vater ein paar wichtige Männer treffen musste. Im Vergleich zu unserem Anwesen in Mystra war unser Haus in Sparta klein und eng, und der Garten noch nicht einmal so groß wie unser Kräutergärtchen! Und hektisch war es in der Stadt! Ich ging einmal mit einer unserer Heilotinnen auf den Markt, überall waren Leute unterwegs, fremde Menschen rannten scheinbar ziellos von hier nach dort oder wieder zurück, immer in Eile, immer unfreundlich. Auch der Lärm dort erschien mir damals unerträglich: Karren und Wagen rumpelten über die gepflasterten Wege und Straßen, Händler feilschten lautstark mit ihren Kunden und die Verkäufer priesen schreiend ihre Waren an, und nicht nur auf Dorisch, sondern auch in einem Griechisch, das ich nicht verstehen konnte! Es wirkte auf mich damals ganz so, als breche dort, in der großen Stadt, die ganze Welt über mich herein, wie eine Woge von Menschen, Gerüchen und Lärm, und ich wünschte mir sofort, dass mein Vater mich zurück nach Hause brächte. Ich war damals natürlich nur ein Kind und noch nicht in Athen gewesen. Wie hätte ich wissen können, dass eine Stadt wie Sparta, unser Sparta! sang- und klanglos selbst in einem der weniger geschäftigen Vororte Athens verschwunden wäre. In Mystra hingegen kannte ich jeden und unsere Streiche sorgten auch dafür, dass jeder uns kannte, Kyniska und Praximika. Wir waren beste Freundinnen auf ewig, unzertrennlich.

Weil draußen noch zu viel Schnee lag, hatten unsere Schäfer die Mutterschafe ausnahmsweise in einen der großen Ställe getrieben, um ihre Lämmer zu bekommen. Um Platz zu schaffen, hatte man die Rinder nach draußen getrieben und die Tiere waren nicht wirklich erfreut darüber. Zottelig und robust konnten sie das Wetter gut vertragen, aber die Kälte hätte uns zu viele Lämmer gekostet. Es war ein heilloses Durcheinander innendrin: Überall das Blöken der Tiere und das Rufen der Heiloten und Heilotinnen, die den Schafen beim Lammen halfen.

Ich war mit Praximika im Stall bei den neugeborenen Lämmern. Eines war von seiner Mutter verstoßen worden und so hatte einer der Schäfer das blökende, erbärmlich rufende kleine Tier einfach einem anderen Mutterschaf untergeschoben. Gierig trank das kleine Lamm von dieser ‚Stiefmutter‘. Ich musste an mich selbst denken. Als meine Mutter mich geboren hatte, hatte sie mir, wie bei Spartanerinnen üblich, nicht die Brust gegeben. Stattdessen wurde ich zum Säugen einer stillenden Heilotin übergeben, die gerade ebenfalls ein Kind bekommen hatte: Praximikas Mutter Feirana.

„Warum machen die das?“, hatte ich meine Freundin gefragt.

„Naja, weil es Hunger hat, Kyniska“, erwiderte sie schulterzuckend.

Das stimmte natürlich, also nickte ich, obwohl mich die Antwort nicht wirklich befriedigte, zumindest wenn ich an meine eigene Mutter dachte.

„Ja, aber meine Mutter hat das bei mir auch so gemacht“, sagte ich stirnrunzelnd. „Also mich zu deiner Mutter gegeben, statt mich selbst zu stillen, meine ich.“

Praximika schaute zu mir herüber und blickte nachdenklich drein.

„Vielleicht hatte deine Mutter ja auch keine Milch, oder eben nicht genug?“, sagte sie zögerlich nach einem Augenblick.

Ich verzog den Mund. Schließlich konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, dass eine Frau wie meine Mutter nicht in der Lage gewesen wäre, genug Milch für zu haben. Ich nickte ihr zu, da ich mir selbst ebenfalls keinen Reim auf dieses Rätsel machen konnte, und beschloss daher, meine Mutter bei nächster Gelegenheit danach zu fragen.

Wir lehnten uns ans Gatter und schauten den Mutterschafen und Neugeborenen beim Essen, Blöken und Trinken zu. Einer der Schäfer richtete die Einfriedung und nahm ansonsten von uns natürlich keine Notiz. Wahrscheinlich hoffte er, dass die beiden Nervensägen irgendwann die Lust verlieren würden, um jemand anderes heimzusuchen. Hatte meine Mutter mich nicht stillen können, oder wollte sie nicht, fragte ich mich. War ich irgendwie… verstoßen worden und keiner hatte es mir gesagt, wie das kleine Lamm, das wir eben gesehen hatten? Ich wusste ja, dass Mutter irgendwann nach meiner Geburt krank geworden war und ich deswegen nur meinen älteren Bruder Agesilaos, aber keine kleineren Brüder oder Schwestern hatte. Aber…

„Denkst du wieder nach?“, fragte Praximika grinsend, aber ich nickte nur, anstatt zu antworten. „Das wird bestimmt eine tolle Sache“, sagte sie.

Schließlich bedeutete Nachdenken bei mir doch häufig, dass ich etwas im Schilde führte. In Erwartung eines interessanten Tages grinste mich meine Freundin an.

„Nein, es ist ernst“, antwortete ich. „Ich muss Mutter etwas fragen“, erklärte ich und stieß mich vom Schafgatter ab.

Sie nickte und wir überließen dem erleichterten Schäfer und den anderen Heiloten ihren Stall und die Tiere. Als wir den Lämmerstall verließen, hüllten wir uns wieder enger in unsere dicken, wollenen Umhänge und zogen die Mützen über die Ohren. Mysa ist hoch genug, dass es hier kalt ist, wenn unten in Sparta schon eine ganze Weile der Frühling schon eingezogen ist, auch in milden Wintern. Wir stapften durch den Schnee ohne zu reden, die angefrorene weiße Decke knusperte und knirschte, und unser Atem kam in dampfenden Wolken aus Mund und Nase.

Als wir schweigend an ihm vorbeiliefen beäugte einer der Hütehunde uns argwöhnisch, aber wir brauchten natürlich keine Angst vor ihm zu haben. Wenn es etwas gibt, das alle Hunde hier lernen, dann ist es, dass man einer Spartanerin stets mit Respekt begegnet. Einer unserer Heiloten hatte einmal einen Hund verprügelt, weil er es gewagt hatte unaufgefordert an meiner Mutter herumzuschnüffeln. Wir lieben hier zwar unsere Hunde, aber sie müssen gehorchen.

Unser Gut liegt außerhalb des Dorfes, also da, wo die Heiloten wohnen, aber unsere Schafzucht und unsere anderen Stallungen sind Teil des Landsitzes. Wir hatten es also nicht wirklich weit bis wir wieder im Warmen waren. Praximika öffnete die Tür zum Haus und wir gingen in den Flur. Hier war es zwar noch fast so kalt wie draußen, aber wir konnten immerhin schon ein wenig die Wärme aus dem Haus spüren. Der längliche Raum war durch einen dicken Ledervorhang abgetrennt, und zu beiden Seiten waren kniehohe Regale für Schuhe und Stiefel. Wir klopften den Schnee von unseren Fellstiefeln und wussten, was zu tun war. Sofort fingen wir an das vorhandene Schuhwerk zu vertauschen, hier zwei Linke, dort ein Schuh und ein Stiefel gemischt, Hauptsache alles durcheinander. Zu guter Letzt stellten wir unsere eigenen Stiefel dazu, natürlich möglichst so, dass es nicht auffiel, wer für die ganze Unordnung verantwortlich war. Kichernd gingen wir hinein, mit dem Bewusstsein wieder einmal eine wahrhaft böse Tat vollbracht zu haben.

Schon kurz hinter dem Vorhang fühlten wir die Wärme des Bodens durch unsere dicken Wollsocken. Links war eine weitere Garderobe für die Umhänge und wir hingen unsere beiden sauber und ordentlich hin. Hier im Haus hätte uns einer der Hausdienerinnen ja schließlich bei einer eventuellen Missetat ertappen können. Wir gingen rechts um die Ecke und links am Esszimmer vorbei. Wir trafen allerdings keinen, die Heiloten waren entweder im Stall oder in der Küche beschäftigt.

Ein paar Schritte neben dem Essraum befand sich das Studienzimmer meiner Mutter. Die Tür war geschlossen damit es dort warm blieb und ich ging einfach hinein ohne anzuklopfen. Praximika blieb natürlich draußen. Eine Heilotin betrat schließlich nur nach Aufforderung das Zimmer eines Herrn oder einer Herrin. Außer mein Zimmer, da durfte sie ein- und ausgehen, wie sie wollte, sie schlief ja auch meistens bei mir. Ich ging den kleinen Flur entlang, der vor mir abermals mit einem Ledervorhang abgeteilt war, schob ihn beiseite und trat ein. Innen drin war es mollig. Zwei Bronzebecken mit heißen Kohlen heizten den Raum auf und sorgten auch für zusätzliches Licht. Meine Mutter saß wie so häufig vornübergebeugt an ihrem Schreibtisch und beschäftigte sich mit irgendwelchem Papierkram. Obwohl es eigentlich warm genug war, hatte sie sich trotzdem in einen Umhang gehüllt.

Für einen Moment blieb ich stehen und schaute sie einfach an während sie schrieb. Sie wirkte… nicht krank, nein, das war es nicht, dachte ich. Aber irgendwie wurde mir klar, dass ich meine Mutter noch nie wirklich gesund erlebt hatte. Wenn mein Vater da war gab sie immer ihr Bestes und tat so, als ginge es ihr gut. Aber ich sah sie ja schließlich jeden Tag und wusste es besser. Meine Mutter war…

„Statia, hast du mir…“, fing sie an und drehte sich um. „Ach du bist es, Kyniska. Ich dachte, du bist mit Praximika draußen?“

Noch im Gedanken schüttelte ich den Kopf. Meine Mutter lächelte mich an und hob ihre Hand und ich ging zu ihr. Sie nahm mich in den Arm und wir verblieben einen kurzen Moment einfach so, Mutter und Tochter, die Königin von Sparta und ihre kleine Prinzessin. Sie hatte schon wieder ein wenig abgenommen, ich konnte ihre Knochen deutlich auch durch ihre dicken wollenen Kleider spüren.

„Kyniska, ich habe zu tun“, sagte sie und schob mich sanft aber bestimmt von sich. „Das Gut deines Vaters verwaltet sich leider nicht von selbst“, erklärte sie mit milde lächelnd. „Also, was gibt es?“

Ich atmete tief ein, der Schafstall mit dem einsamen Lamm war auf einmal meilenweit entfernt. Aber wir Spartaner sind ein sehr direktes Volk.

„Mutter, warum hast du mir eigentlich nicht die Brust gegeben?“, platzte ich einfach heraus, „Warum hast du mich von Feirana säugen lassen?“

Ihre rechte Augenbraue ging hoch, wie immer, wenn sie von etwas irritiert war. Sie legte den Griffel hin und drehte sich auf ihrem Stuhl zu mir um. Es war also entweder wichtig, kompliziert oder beides.

„Damit ich meine körperlichen Attribute voll beibehalte“, antwortete sie mir. „Dafür sind Heiloten schließlich da, oder?“

„Welche Aptibute?“, stolperte ich mit meinem leichten Lispeln über das Wort.

Meine Mutter spitzte die Lippen, und ihre Augenbraue schien noch ein wenig weiter in die Höhe zu gehen, falls das überhaupt möglich war.

„Attribute, Kind. Das, was eine Frau für die meisten Männer zur Frau macht, Kyniska: Brüste.“

Sie hatte mich bei meinem vollen Namen genannt, also hatte ich höchstens noch eine oder zwei Fragen offen bevor sie mich hinauswarf. Ich fasste mir selbst an die Brust, um meine eigenen ‚körperlichen Attribute‘ abzutasten, aber mit nicht ganz sechs Jahren war da natürlich noch nichts zu sehen oder zu spüren. Ich sah sie fragend an und öffnete den Mund aber meine Mutter kam mir zuvor.

„Du bist noch ein Kind, Kyniska“, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir.

Ich zuckte zusammen und drehte mich um: Wie so oft hatte es Hyle unsere Verwalterin geschafft sich lautlos von hinten anzuschleichen.

„Wenn du einmal alt genug bist, wirst du es verstehen“, sagte sie, „und wenn du nach deiner Mutter kommst wirst du an allen weiblichen Attributen genug haben, um einen guten Mann zu bekommen“, fügte sie ernsthaft nickend hinzu.

Ich nickte stumm, nicht eben sicher, ob ich weder Attribute, noch einen Mann haben wollte. Wie immer fühlte ich mich in Hyles Anwesenheit ertappt, egal ob ich etwas angestellt hatte oder nicht.

„Wolltest Du nicht ausreiten?“, fragte meine Mutter und lächelte. „Kyniska, nimm doch Praximika mit.“

„Geh, Kind, deine Mutter hat zu tun“, fügte Hyle deutlich strenger hinzu.

Irgendwie war meine Frage nicht wirklich beantwortet worden. Aber es war nun ebenso offensichtlich, dass ich keine weitere Antwort erhalten würde. Ich zuckte also mit den Schultern, nahm meine Mutter schnell nochmal in den Arm, drehte mich um und ging hinaus.

Ich konnte förmlich spüren, wie Hyle hinter mir den Kopf schüttelte, tat ihr aber nicht den Gefallen mich umzudrehen. Ich schlug den Ledervorhang beiseite und draußen wartete Praximika. Sie blinzelte und legte den Kopf schief, ein todsicheres Zeichen, dass sie wieder eine krumme Idee hatte. Ich grinste und sie grinste zurück und wir machten uns auf den Weg zum Pferdestall.

Wir holten mein Pony und ritten los. Praximika kann natürlich nicht wirklich reiten, wie immer setzte sie sich also einfach hinter mich und hielt sich an mir fest; so war es für uns beide schließlich auch wärmer. Zilas war ein folgsames, ruhiges Tier und stapfte gemütlich durch den knöchelhohen Schnee, sein Atem war als dicke Wolke sichtbar. Mein Vater hatte ihn mir gekauft, damit ich möglichst früh reiten lernte.

„Meinst du nicht, dass sie ein bisschen jung ist?“, hatte Mutter eingewandt, aber Vater hatte nur den Kopf geschüttelt.

„Irgendwann muss sie es sowieso lernen, spätestens in der Schola. Da hat sie es jetzt einfacher. Außerdem sind Skyther die besten zum Lernen. Kyniska, wenn du es erst richtig beherrschst, dann kaufe ich dir einen Thraker“, hatte er dann zu mir gesagt.

Ich konnte damals nur mit einer gewissen Unsicherheit zu dem riesig scheinenden Tier aufschauen. Ich konnte mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen überhaupt jemals auf den Rücken eines solchen Monstrums zu gelangen, geschweige denn mich darauf halten zu können. Und Thraker… die waren ja noch größer! Aber das war auch schon wieder fast eineinhalb Jahre her.

„Wir könnten ja mal bei den Fischteichen nach dem Rechten schauen, was meinst du?“, fragte Praximika.

„Die sind doch alle noch voll vereist“, antwortete ich und zuckte mit den Schultern, lenkte aber Zilas schon in die entsprechende Richtung.

„Eben deswegen“, kicherte sie in mein Ohr.

Natürlich musste ich daraufhin grinsen. Also, sie hatte schon wieder eine Idee für irgendeinen Unsinn! Los geht’s, dachte ich, und schnalzte, damit Zilas sich etwas mehr in Bewegung setzte. Wir ritten eine Weile über unseren Landsitz. Der Morgen war schon weit fortgeschritten, aber bei der Kälte war kaum jemand von unseren Leuten draußen. Es gab ja immer etwas zu tun, auch im Haus. Nur ein wirklich harter Herr schickte die Heiloten bei dieser Kälte raus, wenn es nicht unbedingt sein musste. Meine Mutter war zwar streng, eine echte Spartanerin eben, leitete das Gut meines Vaters nicht mit übertrieben harter Hand. Sie ließ sich von der Dienerschaft nichts gefallen, zog es aber vor die Heiloten anzuleiten und zu führen, anstatt ihnen einfach nur Befehle zu erteilen.

Mein Vater war zwar nicht immer glücklich mit ihrer Art die Dinge auf dem Hof zu organisieren, aber die Leitung seines Landgutes ging ihn schließlich nichts an. In Sparta sind schließlich die Männer Krieger, aber die Frauen Wirtschafter. Und die Arbeiten wurden ja auch immer so erledigt, dass alle zufrieden waren. Ich hatte mir vorgenommen, das, was ich einmal auf der Schola lernen würde, auf dem Gutshof der Familie meines Mannes auch einmal so zu machen wie sie. Dann könnten Praximika und ich auch Freundinnen bleiben, wie Mutter und Hyle, die hatte sie ja auch vom Hof ihres Vaters mitgebracht.

Um die Schafe wurde sich gekümmert, unsere Kühe waren draußen auf der Südweide. Vielleicht war ja also wenigstens bei den Teichen irgendetwas los. Ich nahm ein Stück Trockenfleisch aus dem Beutel in meinem Umhang, biss ab und reichte Praximika die andere Hälfte über die Schulter, wir sagten nichts es war gerade zu kalt zum Sprechen.

Nach einem kurzen Ritt waren wir schon da. Die Magula entspringt im Taÿgetos in dem Hügelland über Mystra und fließt dann nach Osten, direkt an Sparta vorbei. Meine Mutter hatte das Flüsschen genutzt, um eine Fischzucht anlegen zu lassen. Mein Vater hatte das Ganze mit Begeisterung aufgenommen. Schließlich mochte er sehr gerne Fisch und der war jetzt immer verfügbar, ohne dass einer der Heiloten ihn mühsam angeln musste.

Es war keiner zu sehen und die Teiche waren mit Eis bedeckt. Hinter mir glitt Praximika vom Pony und lief hinüber zum größten der vier Fischteiche.

„Ich habe mir ein tolles Spiel ausgedacht!“, sagte sie und lief auf den hölzernen Steg zu, der in die vereiste Wasserfläche hineinragte.

Ich stieg ebenfalls ab und band Zilas Zügel an eine einsame, struppige Birke. Es gibt zwar ein kleines Wäldchen am Rand der Teiche, damit die Fische im Sommer auch beschattet werden, aber der ist auf der anderen Seite. Grinsend und gespannt darauf, was sie sich nun schon wieder ausgedacht hatte, folgte ich ihr. Das Holz des Steges war leicht vereist und knarrte unter meinen Füßen, während sich die große Eisfläche vor uns ausdehnte.

„Komm mit, wir stellen uns in die Mitte!“, rief Praximika, verließ den Steg und ging vorsichtig in die Mitte des Teichs.

Ich folgte ihr, immer noch ohne die leiseste Ahnung worum es ihr ging. Langsam und bedächtig gehend kamen wir in der Mitte an, da wo das Eis am dicksten war.

„So, und jetzt schauen wir, wer mehr Angst hat!“ sagte sie und dann, plötzlich und ohne Warnung, sprang sie in die Luft und kam mit den Hacken auf dem Eis auf.

Ich ging in die Knie und öffnete erschreckt den Mund, jeden Augenblick erwartend, dass das Eis unter uns brechen würde. Aber es war hier in der Mitte des Teichs hart wie gestampfter Boden. Praximika deutete auf mich und kringelte sich förmlich vor Lachen.

„Kyniska, du solltest dein Gesicht sehen!“, rief sie und lachte mich schallend aus. „Komme jeder geht abwechselnd einen Schritt zurück und springt dann.“

„Blödes Spiel“, sagte ich, und beäugte das Eis unter mir weiter argwöhnisch.

„Dann hast du Angst? Dann habe ich gewonnen und du verloren!“, sagte sie.

Praximika legte eine Hand an die Hüfte und grüßte mit der anderen ein unsichtbares Publikum von jubelnden Heiloten und Spartanern, ganz die Siegerin. Das konnte ich so natürlich nicht auf mir sitzen lassen.

„Na gut, ich mache mit, Praximika“, sagte ich schließlich. „Du fängst an.“

Sie nickte und machte grinsend einen Schritt nach hinten. Und dann sprang sie wieder in die Luft und kam hart mit den Stiefeln auf dem Eis auf. Wir blieben beide einen Moment stehen, aber es passierte nichts. Jetzt war ich dran. Ich trat vorsichtig nach hinten und schaute hinunter. Das Eis war fest, von einer leichten Schneeschicht bedeckt, wie Mehlstaub. Ich atmete tief ein und sprang hoch.

Und landete unsanft auf dem Hintern. Gegenüber fing Praximika wieder an lautstark über mein Missgeschick zu lachen. Ich schaute mich verlegen um, und war auf einmal froh, dass sonst keiner da war. Aber aufgeben gilt nicht. Ich streckte ihr die Zunge raus und stand wieder auf, den blauen Fleck, den ich jetzt sicher hatte, musste ich dann eben heute Abend im Dampfbad auskurieren.

„Jetzt wieder du“, forderte ich sie auf.

Sie nickte und ging wieder einen Schritt zurück und sprang hoch und landete wie schon zuvor elegant auf beiden Füßen. Das Eis hielt ohne Probleme und sie fiel auch nicht hin, was mich ziemlich ärgerte. Ich machte ebenfalls einen Schritt zurück und sprang, diesmal passte ich aber sehr viel besser auf, wie ich aufkam. Ein Bein rutschte mir ein wenig nach hinten weg, aber ich kam diesmal sicher zum Stehen. Mit ernstem Blick grüßte ich jetzt auch das unser Wettkampfpublikum, ein paar Birken und diverse Büsche.

„Na, geht doch!“, rief sie mit einem anerkennenden Nicken.

Wir grinsten einander an. Beste Freundinnen, fürs Leben. Sie war dran und dann wieder ich. Nach einem halben Dutzend Schritten knarrte und knackte das Eis in Richtung Teichrand langsam unter unseren Füßen, und eine von uns beiden würde wohl bald aufgeben oder nass und sehr kalt werden.

„Du springst nicht richtig“, ärgerte ich Praximika, die sehr wohl sehr fest aufgekommen war. „Nochmal!“

„Gar nicht wahr!“ erwiderte sie, sprang aus Trotz aber nochmal hoch.

„Na, geht doch!“, rief ich, und handelte mir damit ebenfalls eine ausgestreckte Zunge ein.

Dann ging ich einen Schritt zurück. Unter mir gab es ein Knacken, das laut genug war, dass auch Praximika es hören konnte.

„Und, springst du? Oder hast du etwa Angst?“, neckte sie mich.

Ich leckte mir die Lippen und blickte auf meine Füße. Unter mir konnte ich Risse im Eis sehen. Es war glasig und halbdurchsichtig, also auf jeden Fall nicht mehr richtig tragfähig. Einige Luftblasen im Wasser verteilten sich schon unterhalb eines kleinen Risses und…

„Und, was ist?“, rief sie vom anderen Ende des Teichs.

„Das ist ein blödes Spiel, Praximika“, sagte ich.

„Du hast Angst! Und ich habe gewonnen!“, sagte sie laut, und legte wieder in Siegerpose grüßend die Hand an die Hüfte.

„Gar nicht!“, rief ich verärgert zurück

In der Erwartung sehr bald nasse Füße zu bekommen machte ich einen Schritt zurück. Das Eis knarrte jetzt bedenklich unter mir, aber bevor ich es mir anders überlegen konnte sprang ich lieber. Es knirschte und ein langer Riss entstand, wo mein rechter Fuß aufgekommen war. Aber sonst passierte nichts. Ich atmete tief und erleichtert durch und sah hinüber zu meiner Freundin.

„So, du bist dran, oder traust du dich nicht?“, neckte ich sie.

Praximika grinste und nickte, und tat einen langen Schritt nach hinten. Völlig überraschend und ohne Vorwarnung brach sie auf einmal durch das Eis. Diesmal lachte ich schallend. Hatte ich nicht gesagt, dass es ein blödes Spiel war? Ihre Siegerpose nachahmend grüßte ich mit ernsthafter Miene die umstehenden Bäume und mein Pony.

„Kyniska, das Eis bricht weg!“ sagte Praximika auf einmal, die Angst in ihrer Stimme unüberhörbar.

Ich schaute hinüber und tatsächlich, wo sie eben noch eingesackt war, musste sei sich jetzt festklammern, um nicht unterzutauchen. Und sie konnte auch noch nicht schwimmen. Meine Mutter hatte versprochen es ihr dieses Jahr beibringen zu lassen. Ich lief los, um ihr zu helfen. Aber nach ein paar Schritten über das von unseren Sprüngen geschwächte Eis brach ich selbst mit dem Fuß durch. Ich stolperte aber vorwärts anstatt im Wasser zu landen, schlug hart mit dem Gesicht auf und verlor das Bewusstsein.

Ich weiß nicht, wann ich wieder aufwachte, aber mir tat alles weh. Mein Mund war besonders schlimm dran. Ich fasste meine Lippen an und meine Finger kamen blutig zurück, während meine Zunge feststellte, dass ich mir einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte. Und dann bemerkte ich das Blöken und Rufen. Ich schüttelte den Kopf, schließlich waren wir ja nicht mehr im Schafstall, sondern…

„Praximika!“ rief ich und schaute mich um.

Sie war es, die so jämmerlich gerufen hatte. Ich konnte ihren Kopf gerade noch aus dem Wasser ragen sehen, aber ihre Worte verstand ich nicht. Ich versuchte aufzustehen, und alles begann sich um mich zu drehen. Ich landete hart auf den Knien und erbrach das bisschen Trockenfleisch, das wir uns geteilt hatten, während um mich herum Lämmer und Schafe um Hilfe riefen. Zitternd zwang ich mich aufzustehen und mich in Praximikas Richtung zu schleppen. Ihre Hand schlug aufs Eis, um sie herum war jetzt eine Wasserfläche und sie konnte sich kaum noch lange oben halten. Weinend vor Schmerz und Angst kroch ich auf sie zu so schnell ich konnte.

Als ich endlich bei ihr war, ging sie vor meinen Augen unter. Sie schrie wohl die ganze Zeit verzweifelt um Hilfe, aber ich konnte nur sehen, wie sich ihre Lippen bewegten. Ich versuchte zu reden aber meine Zunge gehorchte mir nicht. Erschöpft brach ich auf dem Eis zusammen und das Wasser aus dem Loch vor mir durchtränkte alles, was ich anhatte. Unter mir sah ich Praximikas Gesicht. Ihre Finger krallten am Eis und Luftblasen kamen aus Nase und Mund. Und dann bewegte sie sich nicht mehr. Mit offenen Augen sank sie hinab, während es um mich herum Dunkel wurde.

Irgendwann fand mich einer der Heiloten auf dem Eis. Ich weiß nicht mehr, wie lang ich dort völlig durchnässt gelegen haben musste, aber er zog mir sofort meine ganze Kleidung aus und wickelte mich in seinen eigenen Umhang. Natürlich konnte auch er nicht reiten, und so band er mein Pony los und trug mich den ganzen Weg nach Hause. Ich habe seinen Namen nie erfahren; bis heute weiß ich nicht, wem ich eigentlich an diesem Tag mein Leben zu verdanken habe.

Die nächsten Stunden und Tage vergingen wie in einem Nebel. Es wurde irgendwann wieder warm, aber das Zittern hörte nicht auf. Meine Mutter kam immer wieder zu mir und versuchte mit mir zu sprechen, aber ich muss irgendwie im Delirium gelegen haben, zumindest kann ich mich an die folgende Zeit nicht mehr erinnern. Aber das Fieber wird mir immer im Gedächtnis bleiben: Mir war kalt und ich zitterte, gleichzeitig aber schwitzte ich. Ich schlief viel und konnte nichts essen, auch zum Trinken musste man mich förmlich zwingen. Mein Körper war meiner Kontrolle entglitten, ich erbrach alles, was ich gegessen hatte und ich nässte mich ein.

Die Heilotinnen wechselten sich damit ab nackt bei mir zu liegen, in der Hoffnung mich wärmen oder kühlen zu können. Vielleicht hoffte man auch, dass das Fieber sich auf eine von ihnen übertragen würde und ich damit geheilt wäre, ich weiß es nicht. Alles passierte ohne mein Zutun, so als wäre ich nicht da. Und egal ob ich schlief oder wach war, immer wieder sah ich Praximikas Gesicht vor mir. Unter Wasser gefangen hämmerte und kratzte sie mit den Händen von unten ans Eis. Ihr Mund rief mir etwas zu, aber ich sah nur die Blasen aus Mund und Nase aufsteigen, bis da keine Luft mehr war. Dann sank sie ins Dunkel, in die Tiefe, ins Reich des ewig Verhüllten Gottes.

Wenn ich zurückdenke, dann glaube ich, dass ich damals einfach sterben wollte. Aber irgendwie geschah das nicht. Dass ich die Einladung des Verhüllten, ihm in sein unterirdisches Reich zu folgen, schon beinahe angenommen hatte, wurde mir klar als ich meinen Vater nun öfter sah. Meistens war er ja in der Stadt und kam vielleicht drei- oder viermal im Monat nach Mystra. Nun besuchte er uns fast jeden zweiten Tag und blieb sogar immer wieder über Nacht, zumindest erzählte mir Mutter dies später.

„Du musst nicht hier sein, Archidamos“, sagte meine Mutter zu ihm als beide an meinem Bett standen und dachten, dass ich schlief. „Kyniska ist stark. Sie wird das Fieber besiegen.“

„Ich weiß“, erwiderte er. „Ich bin nicht wegen ihr hier, sondern wegen dir. Du könntest es nicht ertragen, wenn eines deiner Kinder zu Schaden käme.“

Und dann sah ich aus den Augenwinkeln, wie er sie in den Arm nahm. Zitternd und schluchzend weinte meine Mutter. Ich hatte sie vorher noch nie weinen sehen, zumindest glaube ich das. Beide standen einfach nur da, Archidamos II., der Eurypontidenkönig von Sparta und Eupoleia aus dem Hause des Geranor. In diesem Moment waren sie einfach nur besorgte Eltern.

Und dann wusste ich, was ich zu tun hatte, ob ich wollte oder nicht. Ich durfte nicht sterben, sondern ich musste wieder gesund werden.

Eleusinios

Als der Große Krieg anfing war ich elf Jahre alt. Man hat ihn dann irgendwann den ‚Krieg mit den Peloponnesiern‘ genannt, aber das waren die Athener. Und die lügen ja gerne und oft. In Wahrheit war es ein Krieg, wo alle Griechen irgendwie gegen alle anderen kämpften, und vielen Menschen viel Leid geschah. Aber eben nicht in Lakedaimonien. Wir haben keine Mauern und Gräben, „Die Schilde unserer Krieger sind unsere Mauern, und die Lücken zwischen den aufgehäuften Toten sind unsere Gräben!“, sagte mein Vater einmal, als ich ihn darüber befragte. Krieg war also eigentlich immer eher für die anderen schlimm, aber nicht für uns, zumindest dachte ich das damals.

Weil mein Vater einer der zwei Könige war, musste er natürlich kämpfen. Als oberster Befehlshaber führte er in den ersten zwei Jahren immer unsere Krieger nah Attika, um den Leuten aus Athen eine Lektion zu erteilen. Ich kann mich immer noch gut daran erinnern: Zuerst haben alle in der Schola davon geredet, auch unsere Lehrerinnen. „Es gibt Krieg. Opfert heute Nachmittag alle für eure Väter und Brüder“, hatte Pasikleia gesagt, die uns im Lesen und Schreiben unterrichtete. „Nicht alle werden zu euch zurückkommen Doch solange ihr an sie denkt leben sie in euren Herzen ewig.“

Die gesamte Schola mit allen Schülerinnen und Erzieherinnen ist dann nach dem Essen in die Hügel gewandert. In einem Wäldchen ist dort ein kleiner Altar für Artamis Aigineia. Aigineia ist natürlich die Jägerin der Gämsen, aber die Leiterin der Schola meinte, dass sie als Göttin der Jagd die Krieger Spartas als ‚Jäger ihrer Feinde‘ beschützen könne. Ich hielt das damals für ziemlichen Blödsinn. Warum sollte ausgerechnet Aigineia etwas für unsere Männer tun? Die Gämsenjägerin? Unsere Männer würden ja nicht nach Attika marschieren um Gämsen zu jagen! Wir hätten irgendeinen der Altäre für einen unserer Helden aufsuchen können, es gab schließlich einen kleinen Rundtempel für die Dioskuren in Mystra. Aber da ich sowieso einen schlechten Stand bei den Leuten in der Schola hatte, war ich lieber still geblieben.

Wir hatten also nach dem Unterricht gegessen und waren dann alle in die Hügel aufgebrochen. Im Gegensatz zu den ‚höheren Töchtern‘ kannte ich mich natürlich in der Gegend aus. Aber ich beging nicht noch einmal den Fehler unsere Leiterin Xenopitheia darauf hinzuweisen, dass sie uns auf einem längeren und vor allem steileren Weg hinführte als der, den ich gegangen wäre. Einmal hatte ich sie beim Reitunterricht dabei korrigieren wollen, als sie einem Pony das Geschirr anlegen wollte.

Dank der Schläge mit dem Schilfrohr konnte ich dann vier Tage nicht richtig sitzen. Aber ich hatte damals trotz der Schmerzen nicht geweint oder mich beschwert. Das hätte nur meine Mutter aufgeregt oder, noch schlimmer, Hyle. Also ließ ich die Erzieherinnen einfach ihre eigenen Fehler machen. Und so stapften alle Schülerinnen und Erzieherinnen gemeinsam die Hügel hinter Mystra hoch, und ich zumindest war wenig überrascht, dass einige Knie und Sprunggelenke dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden. Eine der Erzieherinnen namens Stratippa hatte eine Taube mitgebracht, die sollte dann Aigineia geopfert werden. Sie unterrichtet Tanz, Gesang und das Spielen auf der Kithara und schien mir immer ein wenig mit den Gedanken woanders, aber ich mochte sie.

Als wir dann endlich ankamen hatte sie natürlich peinlicherweise noch nicht einmal ein Messer dabei. Xenopitheia hat sie dann mit einem ziemlich bösen Blick abgestraft, hatte aber selbst auch keine Klinge mit. Ich entschied mich dann trotz meiner Erfahrungen mit dem Schilfrohr Stratippa schnell mein Messer zuzustecken, was sie dann auch dankbar entgegennahm.

„Hier, ich habe es doch noch gefunden!“, sagte sie und zog es schnell aus dem Bausch ihres Chitons als alle Augen auf unsere Leiterin gerichtet waren.

Xenopitheia nickte mehr mit Verwunderung als Erleichterung, nahm aber die Klinge entgegen. Mein Vater hatte mir das Messer einmal geschenkt. „Ein Schwert ist ein Werkzeug für Männer, um andere Männer zu töten, Kyniska“, hatte er gesagt. „Aber ein Messer, damit kann man viel mehr machen“, und dann überreichte sie es mir feierlich mit einem ernsthaften Nicken.

Auf ein Handzeichen von Xenopitheia befreiten dann ein paar Schülerinnen schnell den Altar von toten Blättern und ein wenig Gestrüpp, mit dem er überwachsen war.

„Oh Aigineia“, sagte die Leiterin, „nimm dieses Opfer von uns an!“

Daraufhin legte sie die Taube auf den Stein und stach mit meinem Messer auf den Vogel ein. Schon an ihrer Handhaltung konnte ich sehen, dass sie wenig Ahnung hatte, wie man das Opfertier schnell und schmerzlos vom Leben in den Tod befördert. Die Spitze der Klinge traf zwar die Taube, aber statt sie zu köpfen schnitt die Leiterin ihr lediglich in den Hals. Flatternd und schreiend schlug der Vogel nun um sich und spritze alles mit Blut voll, worauf Xenopitheia sich nicht anders zu behelfen wusste, als nochmal zuzustechen. Diesmal blieb die Messerspitze in einem Riss im Stein stecken und brach ab.

Während nun wenigstens die Taube ihr Leben aushauchte musste ich schon ein wenig schlucken, immerhin war das Geschenk meines Vaters ja jetzt zerbrochen. Wir schauten noch alle einen Moment zu, bis der Vogel endgültig gestorben war, dann reichte Xenopitheia das beschädigte Messer mit einem Schulterzucken, ohne weiteren Kommentar oder eine Entschuldigung wieder zurück an Stratippa. Die blickte mich daraufhin nur verschämt von der Seite an.

„Aigineia, so wie du Gämsen nachstellst, so stellen unsere Männer den Feinden Spartas nach!“, sagte die Leiterin und hob ihre Hände zum Himmel. „Schütze sie und helfe ihnen bei ihrem Werk!“

Hierauf bleiben dann alle noch schweigend einen Moment stehen. Dann, auf ein Zeichen von Xenopitheia, gingen wir alle wieder zurück. Einige der Mädchen gingen wieder zurück hinunter nach Mystra auf die diversen Höfe ihrer Familien, von den älteren aber machten sich die meisten sofort aus dem Staub um in einem nahegelegenen See zu schwimmen. Mir war das noch zu kalt, außerdem hatte Hyle mir eingeschärft zeitig zu Hause zu sein. Während sich also die Gruppe in Altersgenossinnen, Freundinnen und Erzieherinnen auflöste, ging ich allein hinunter, und zwar diesmal den kürzesten Weg. Das Messer hatte ich schon abgeschrieben nachdem ich gesehen hatte, wie Xenopitheia damit umgegangen war.

„Es tut mir leid“, sagte eine Stimme hinter mir, und ich fühlte eine Hand auf meiner Schulter.

Es war Stratippa und sie schaute ziemlich bedrückt.

„Ist schon gut. War nur ein Messer, ich habe noch mehr davon“, log ich und zuckte mit den Schultern, schließlich wollte ich nicht, dass sie sich wegen des Fehlers von jemand anderem schlecht fühlte. Und ich konnte ja vielleicht auch einen Heiloten bitten es umzuschleifen.

Wir stapften einen Moment schweigend zusammen den Pfad hinab als sie plötzlich fragte: „Kannst du schießen?“

Ich schaute etwas überrascht, nickte aber. Wir haben nämlich auch Unterricht im Bogenschießen, und da bin ich eine der Besten.

„Dann lass es uns so machen“, sagte sie und legte den Arm um meine Schulter, „ich behalte das kaputte Messer und gebe dir dafür einen intakten Bogen. Was hältst du davon?“

Und dann begann der Krieg. Die Männer Spartas sind Krieger und leben für den Krieg, selbst im Frieden. Als der Große Krieg anfing, war mein Vater als oberster Befehlshaber natürlich sofort in der Verantwortung. Wir sahen ihn nur noch selten, da er unsere Männer gegen unsere Feinde führen musste. Alle bei uns gingen natürlich von einem schnellen Sieg für Sparta aus, aber es kam alles vollkommen anders. Denn auch wenn es anfangs keiner wusste, dieser Krieg würde anders sein: Länger und härter, von beiden Seiten unnachgiebiger und gnadenloser geführt. Als ich eine erwachsene Frau wurde und der Große Krieg vorbei war – so nannten wir ihn dann einfach, denn es hatte ja nie einen größeren zwischen den Stadtstaaten Griechenlands gegeben – konnte nicht nur ich mich nicht mehr an eine Zeit zurückerinnern, als Frieden zwischen Athen und Sparta geherrscht hatte.

Die ersten zwei Jahre führte mein Vater die Krieger Spartas nach Attika, aber irgendwie gelang uns kein entscheidender Sieg. Im dritten Jahr brach dann die Pest in Attika aus, und deswegen zogen unsere Männer nach Norden, aber schon im nächsten Jahr griffen sie wieder Attika an. Mein Vater war in dieser Zeit entweder mit seinen Männern im Feld oder traf sich zur Beratung mit seinen Offizieren in der Stadt. Meine Mutter hingegen blieb mit Hyle auf unserem Landsitz. Irgendjemand musste sich dort ja um alles kümmern, und in Sparta sind es nun mal die Frauen, die sich um alles kümmern, außer dem Krieg natürlich.

Ich war fast sechzehn und die Schola war vorbei. Lasst den Krieg ruhig in Attika toben, ich würde in Mystra bleiben und mein Leben genießen, sorglos, und ohne, dass irgendwelche alten, vertrockneten Weiber mir ständig Befehle erteilten! Kein Singen und keine Kithara mehr, endlich. Das Bogenschießen würde ich vermissen, wie auch das Laufen und Ringen, da war ich immer gut gewesen. Aber alles andere… frei, endlich frei! hatte ich gedacht. Aber weil der Krieg sich immer länger hinzog, viel länger als alle dachten, hatte man mir eröffnet, dass ich nun in unser Stadthaus umziehen müsse.

Ich konnte es zuerst nicht glauben und dachte, dass Mutter sich mit mir einen Scherz erlaubte. Ich nach Sparta! Das konnte nicht ihr Ernst sein! Aber da hatte ich mich getäuscht, und zwar schwer. Ich hatte alles probiert, um in Mystra bleiben zu können. Ich hatte geweint, meine Mutter zuerst angefleht und ihr dann gedroht, aber ohne Erfolg. Vater war noch nicht einmal da, mit ihm hätte ich vielleicht reden können, als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte ich ihn mit meinen Tränen oft erweichen können, wo Mutter entschlossen geblieben war. Aber er war in der Stadt und plante mit seinem Stab wie man am besten Plataiai einnehmen könnte. Aber es hatte alles nichts genutzt. Meine Mutter die Königin war hart geblieben; ich würde nach Sparta gehen, ob ich denn nun wollte oder nicht.

Ich würde alles und jeden verlassen den ich kannte, um an einen Ort zu ziehen, den ich hasste, in dem alles fremd war. Nicht nur war ich enttäuscht, ich hatte Angst, immerhin war ich ja noch ein halbes Kind! Ich war stampfend und tobend aus dem Haus gestiefelt, vor Wut und Hoffnungslosigkeit zitternd und immer noch mit Tränen in den Augen.

Als ich dann so am Pferdegatter saß und Zilas anstarrte, wohl irgendwie mit der Überlegung, ob ich nicht einfach davonreiten sollte, fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter.

„Kind, Du kannst nicht hierbleiben“, sagte Hyle.

Zornig blickte ich zu ihr. Ich hatte schon den Mund offen, um etwas Scharfes und Verletzendes zu erwidern, aber dann sah ich ihren Gesichtsausdruck. Ich schluckte also und ballte die Fäuste, sagte aber nichts, sondern dachte plötzlich daran, wie man uns in der Schola beigebracht hatte ‚erfolgreich zu schweigen‘, wie es meine Erzieherin Pasikleia ausgedrückt hatte. Ich atmete also tief ein, öffnete meine Fäuste und nickte, während ich abwechselnd mit den Daumen jede Fingerspitze so fest zudrückte wie ich konnte.

„Warum nicht?“, fragte ich nach einem Moment, überrascht, dass ich mich so schnell hatte beruhigen können. „Mutter braucht sicher Hilfe.“

„In der Tat“, erwiderte Hyle. „Dafür hat sie mich. Aber du bist nun eine junge Frau und kein Mädchen mehr. Du kannst dich nicht mehr so verhalten.“

In dem Augenblick hätte ich sie am liebsten angeschrien. Ich wollte keine Frau sein und bestimmt nicht in die Stadt umziehen! Die Schola war endlich vorbei, und statt der ersehnten Freiheit sollte ich jetzt schon wieder irgendwo eingepfercht sein, mit Leuten die ich nicht mochte und die mich noch weniger leiden konnten, dem Lärm und dem Gestank, der Enge, den fremden Menschen und was weiß ich noch alles!

Stattdessen aber sagte ich: „Mein Vater hat in Sparta alle Unterstützung, die er braucht. Er ist immerhin der König“, fügte ich spitzfindig hinzu. „Was soll ich also da?“

„Nichts. Alles. Lerne die Stadt kennen“, sagte Hyle. „Darum geht es nämlich überhaupt nicht.“

Ich runzelte die Stirn. Ich kannte Sparta gut genug um zu wissen, dass ich fast überall lieber wäre als dort, zumindest dachte ich das als Sechzehnjährige. Und mit ‚alles‘ und ‚nichts‘ konnte ich eher wenig anfangen. Ich sah Hyle an und sie blickte schweigend zurück. Und dann wurde mir alles klar. Es ging um Mutter. Als unsere Haushälterin sah, wie sich der Ausdruck auf meinem Gesicht plötzlich veränderte, nickte sie langsam genau einmal.

„Wenn du in Sparta bist, dann weiß dein Vater, dass er sich um eine Person weniger Sorgen machen muss“, sagte Hyle knapp.

Ich nickte und blinzelte die Tränen schnell weg. Aber ich wusste gleichzeitig, auch, dass Hyle immer bei ihr sein würde, in einem Maße, wie es ein sechzehnjähriges, wildes Mädchen nie sein konnte. Und der König von Sparta erst recht nicht.

„Dann gehe ich“, erwiderte ich. „Wann?“

„Heute. Und schau vorher nach ihr“, sagte Hyle.

„Ja, natürlich.“

Ich ging zu meiner Mutter, um mich herzlich von ihr zu verabschieden. Wir hatten beide ein paar Tränen in den Augen, aber die Gegenwart von Hyle sorgte dafür, dass wir nicht einfach losweinten. Ich packte schnell ein paar Sachen, ich besaß ja nicht wirklich viel und brauchte noch weniger; in Sparta war ja schließlich alles vorhanden. Eigentlich wollte ich selbst reiten, aber Hyle hatte stattdessen dafür gesorgt, dass ein Heilote mit einem unserer Gespanne mich mitnahm. Ich tätschelte meinen treuen Zilas noch einmal zum Abschied und er schnaufte mir auf die Schulter. Und dann verließ ich Mystra.

Und so lebte ich jetzt schon seit einigen Wochen in der Stadt. In Mystra wäre der Eleusinios noch kühl, aber nicht mehr kalt, aber in Sparta war es schon Frühling. Die Frauen gingen häufig schon barfuß, die Spartiaten und jungen Männer sowieso. Alles war grün, die ersten Blumen blühten und die Menschen freuten sich, dass die kalte Jahreszeit endgültig vorbei war. Alle außer mir.

Die Erzieherinnen in der Schola hatten immer von mir verlangt zu lernen, zu üben und noch mehr zu lernen; Lesen und Schreiben, Buchführung und Pflanzenkunde. Aber nichts von dem, was ich zu Hause oder in der Schola gelernt hatte, hatte mich auf das vorbereitet, was mich im Stadthaus meiner Familie in Sparta erwartete. Denn dort regierte Damaris. Damaris der Drache. Sie war die Haushälterin meines Vaters und duldete keine weibliche Göttin neben sich; und wenn diese auch die Tochter des Königs selbst gewesen wäre. Ich hatte gehofft, dass ich ihr vielleicht bei der Buchführung über die Schulter schauen konnte, oder wenigstens einen Einblick in die Lagerhaltung bekommen könnte. Aber sie warf mich einfach raus und beschwerte sich bei meinem Vater über mich.

Auch wenn er der König von Sparta war und ich später vielleicht einmal die Mutter eines Königs, bestand mein Vater darauf, dass ich arbeitete.

„Wer befehlen will, der muss zuerst dienen lernen“, pflegte er immer zu sagen. „Das ist nun mal Sparta.“

Ich habe das Ganze anfangs nicht wirklich beherzigt. Schließlich dachte ich in meiner jugendlichen Naivität, dass er mit den Vorbereitungen für unseren diesjährigen Einfall nach Attika genug zu tun haben würde. Ich wurde dank Damaris jedoch schnell eines Besseren belehrt. Zwanzig Hiebe mit einem Schilfrohr auf den Hintern durch den kräftigsten Heiloten im Haus können das Benehmen selbst der renitentesten jungen Dame zügig ändern. Und so ergab ich mich in mein Schicksal: Jeden Morgen bei Sonnenaufgang Wasser im Brunnenhaus holen, mich bei unserer Köchin Kallistrata melden und dann weitere Aufgaben für den Tag entgegennehmen. Keine Pferde, kein Ausflug aufs Land zum Jagen, kein Spaß, sondern Arbeit oder Langeweile.

Die Mädchen, die ich bei meinen diversen Botengängen traf waren alle… naja, Mädchen eben, und dazu noch aus der Stadt. Eine Spartanerin muss erstens in der Lage sein das Familienanwesen zu leiten und seinen Wohlstand zu vermehren und zweitens Krieger für Sparta zu gebären. Das eine hat mich in dem Alter nicht sonderlich interessiert, naja, mit Ausnahme der Pferdezucht. Das andere… das würde ja dann noch früh genug kommen, und ging ja wohl auch von allein, das hatte ich bei den Pferden ja schon sehen können. Die Mädchen in der Stadt waren aber nur an Mädchensachen interessiert: Schminken, schöne Jungs, solange die noch nicht ins Feld mussten, Abendgesellschaften, und reden, reden, reden. Mit ihnen zusammen zu sein brachte mich vor Langeweile fast um.

Und so verbrachte ich den Beginn des Frühlings vor allem allein. Ich fühlte mich eingesperrt und war frustriert. Wenn ich Vater einmal zu Gesicht bekam fiel es mir schwer für ihn fröhlich zu sein. Aber dann überraschte er mich völlig. Anscheinend aus einer Laune heraus hatte er mir eine Sklavin gekauft, die mir wenigstens ein bisschen Gesellschaft leisten sollte. Sie war eine Aithiopin mit schwarzer Haut und kringeligen Haaren und fast so groß wie ich selbst. Irgendein voriger Besitzer von überschaubarem Humor hatte sie mit dem wenig einfallsreichen Namen ‚Melanopa‘, die ‚Schwarzäugige‘ versehen.

Als Sklavin unterstand sie auch mir und nicht allein unserer Haushälterin, wie die anderen Heiloten. Sie war zwar nett und versuchte immer mir zur Hand zu gehen, aber ihr Dorisch war noch nicht gut, also konnte ich mit ihr nicht wirklich reden. Aber sie war interessant, anders als wir. Natürlich hatte ich schon ein paar Fremde gesehen, ganz so ein Landei war ich zu diesem Zeitpunkt ja dann auch nicht mehr, aber eine Aithiopin war schon etwas Spezielles. Auf jeden Fall hatte ich mir vorgenommen ihr unsere Sprache beizubringen und sie dann über ihre Heimat auszufragen.

Es war für den Eleusinios ein ungewöhnlich warmer Vormittag, der Morgen am Tag vor meinem sechzehnten Geburtstag. Schon zum Sonnenaufgang war ich zusammen mit Melanopa zum Brunnenhaus gegangen, um Wasser zu holen. Morgen würde ich sechzehn sein, alt genug, um verlobt zu sein. Helena sei Dank hatte mein Vater zu diesem Zeitpunkt zu viel zu tun, um sich Sorgen um eine ‚gute Partie‘ für mich zu machen. Aber schließlich heiraten die meisten Spartanerinnen ja auch erst mit zwanzig, in Athen oder Korinth wäre ich wohl wahrscheinlich schon Mutter! Wenn doch nur der Krieg endlich vorbei wäre und ich wieder zurück aufs Land könnte!

„Guten Morgen, meine Schöne!“, sagte eine Stimme hinter mir. „So früh allein unterwegs? Und schon wieder bei der Arbeit?“

Melanopa sah mit einem ernsten Gesichtsausdruck hinüber, aber ich konnte mein Stöhnen nur mühsam unterdrücken. Vater hatte mir ja schließlich immer wieder gesagt, dass ich noch ein Kind sei und daher Erwachsenen Respekt zu zollen hätte. Und Machairion war nun mal ein Mann, ein Krieger, ja ein echter Spartiat. Zumindest tat er so.

„Einer muss sie ja machen“, erwiderte ich möglichst kurz und ging weiter, nun mit ihm im Schlepptau.

Dieser ekelhafte, aufdringliche Kerl war in letzter Zeit öfters um mich herumgeschlichen, meistens hatte er sich dann durch die anderen Mädchen ablenken lassen, die an seinem Gesäusel interessierter schienen als ich. Aber momentan war ich allein.

„Hast Du nicht bald Geburtstag?“, fragte er süffisant. „Du bist doch bestimmt bald alt genug zum Heiraten!“, fügte er leise lachend hinzu.

„Ja, bin ich. Ich werde Morgen sechzehn. Aber mein Vater hat noch keinen Mann für mich. Jetzt lass mich, ich habe zu tun.“

„Dann schaue ich auf jeden Fall zum Gratulieren vorbei“, sagte er, grinste und ging wieder fort.

Vor uns war schon das Brunnenhaus. Ich blickte hinüber zu Melanopa und rollte mit den Augen, froh den Kerl wieder los zu sein, aber sie sah ihm noch einen Augenblick nach. Dort waren wie immer ein paar andere Frauen und Mädchen, Heilotinnen und junge Spartanerinnen wie ich, die man wohl arbeiten ließ, damit sie nicht auf dumme Ideen kamen. Der Gedanke entlockte mir ein breites Grinsen, was bei den anderen mit ihren Eimern und Amphoren für ein paar düstere Blicke sorgte, aber keiner sagte deswegen etwas zu mir. Eines der Mädchen aber blickte mich direkt an, zog ihre Augenbraue hoch und leckte sich etwas anzüglich die Lippen.

Ich ignorierte sie und versuchte gleichzeitig zu verbergen, dass ich errötete. Sobald ich dran war füllte ich schnell meine beiden Holzeimer und half dann Melanopa. Dann gingen wir wieder zurück zu unserem Haus, wo ich das Wasser pflichtgetreu bei Damaris ablieferte.

„Du wirst morgen sechzehn“, sagte sie, eher eine Aussage als eine Frage.

Da es hierauf wenig zu erwidern gab nickte ich lediglich.

„Damit bist du heiratsfähig“, sagte sie und nickte etwas nachdenklich. „Dein Vater lässt ausrichten, du sollst dir den Morgen freinehmen und in den Tempel der Kora Soteira opfern. Lass dir von Therpis Geld für ein Opfertier geben.“

Daraufhin wandte sie sich um und ging ihren weiteren Besorgungen nach. Ich stand für einen Moment einfach etwas verdutzt da, aber ein freier Morgen, das kam nicht sehr oft vor. Ich ging schnell zu Therpis bevor der alte Drachen es sich anders überlegen konnte. Die wusste schon Bescheid und gab mir zwei Drachmen. Zwei Drachmen, einfach so! Damit konnte ich auf jeden Fall ein vernünftiges Opfertier kaufen und hatte noch genug, um mir etwas zu Essen und Trinken zu kaufen. Und Melanopa natürlich! Die musste unbedingt mitkommen! Ich glaube sie war zu diesem Zeitpunkt noch nie in einem unserer Heiligtümer gewesen. Welchen besseren Ort könnte es für ein Mädchen geben um unsere Götter besser kennenzulernen als den Tempel der Kora, der Beschützerin der unverheirateten Mädchen?

Auf einmal beseelt von dem Wissen, dass dies ein guter Tag werden würde, ging ich in die Küche, wo Melanopa mit Gemüseputzen beschäftigt war.

„Melanopa soll mit mir zu Soteira, Damaris hat uns für den Vormittag frei gegeben“, sagte ich unserer Köchin Kallistrata.

Das war zwar eine glatte Lüge, die mir mit großer Wahrscheinlichkeit noch ordentlich Ärger einbringen würde, aber für den Moment wären wir frei.

„Sieh zu, dass du heute Mittag wieder hier bist. Dein Vater erwartet Morgen Gäste“, antwortete sie mit spürbar wenig Begeisterung und deutete Melanopa mit dem Kinn an mit mir zu gehen.

Wir gingen schnell genug aus dem Haus, dass ich sofort das Gefühl bekam, wir würden fliehen. Ich kicherte und schaute zu Melanopa rüber und sie lächelte zurück, offensichtlich völlig ahnungslos wo ich mit ihr hinwollte.

„Vo’in, Errin?“, fragte mich Melanopa nachdem wir ein paar Haken geschlagen hatten, damit Damaris oder Kallistrata nicht die Möglichkeit hatten etwa ihre Meinungen zu ändern.

„Wohin, Melanopa, es heißt ‚wohin‘,“ korrigierte ich sie und hielt einen Augenblick an.

Ich schaute an meiner Sklavin hinauf und herab. Sie war wahrscheinlich genauso alt wie ich. „Nenn mich nicht Herrin“, sagte ich spontan, „Du kannst mich ab jetzt Kyniska nennen.“

„Ja, Errin Ky… Kynska“, erwiderte sie, wobei sie fast über den Namen stolperte.

„Kyniska, Melanopa, einfach nur Kyniska“, widerholte ich und lächelte.

Nickend lächelte sie zurück. Ich hakte mich bei ihr ein und wir machten uns auf in Richtung des Tempels. Da sie noch nicht lange hier war und wir schonmal frei hatten, entschied ich mich dazu ihr alles zu erklären.

„Also, Melanopa“, fing ich an, „dies hier alles ist Sparta“, und wedelte mit meinem freien linken Arm in der Gegend herum. „Wir liegen im Tal des Eurotas und der Fluss fließt östlich an der Stadt vorbei. Die Siedlung selbst bestand einmal aus vier selbstständigen Dörfern, die dann aber irgendwann zur Stadt Sparta zusammenwuchsen. Wir hier sind in Limnai, ‚den Sümpfen‘ am Westufer des Flusses. Das ist seit jeher der Stammsitz der Eurypontiden, also der Familie meines Vaters. Auf der anderen Seite des Stadtzentrums ist Pitana“, sagte ich und deutete vage nach links, „da hat die Königsfamilie der Agiaden ihren Sitzt. Südlich ist Mesoa, die ‚Mittelstadt‘, da wohnen viele von den alten lakedaimonischen Familien, wie das Geschlecht des Geranor zum Beispiel, das sind die Leute meiner Mutter. Und im Süden liegt die Neustadt. Da sie sich an die Straße nach Amyklai anschmiegt nenne wir sie Kynosura, ‚Hundeschwanz‘.“

„Vas’sist Amklei?“, fragte Melanopa.

„Amyklai“, korrigierte ich sie. „Naja, Amyklai… ist eben Amyklai“, erwiderte ich mit einem Schulterzucken. „Die gehören auch zu Sparta aber nicht so richtig“, sagte ich, und mir wurde sprunghaft bewusst, dass ich trotz meiner kleinen Geschichtsstunde nicht wirklich wusste wie die Leute von Amyklai zu uns standen. „Naja, sie sind halt keine Dorer so wie wir“, redete ich mich heraus, „sondern irgendwie älter. Glaube ich zumindest“, fügte ich unsicher hinzu.

Melanopa hatte natürlich überhaupt keine Ahnung von den Amyklaiern. Aber ich selbst war auch noch nie dagewesen. In drei Monaten, im Delphinios, fanden dort die Hyakinthia statt, aber ich war natürlich bisher nur bei den Prozessionen dabei gewesen, da ich für die eigentlichen Feiern zu jung war. Aber mit sechzehn nahmen eigentlich alle Jungen und Mädchen teil.

„Ich werde dich zu den Hyakinthia nach Amyklai mitnehmen, Melanopa“, sagte ich etwas zu gönnerhaft. „Das ist ein großes Fest, drei Tage lang. Ab sechzehn dürfen da alle mitmachen, auch Heiloten, Fremde oder Sklaven. Das wird bestimmt großartig!“

Melanopa nickte nur stumm, ohne überhaupt zu wissen worum es ging fiel es ihr offensichtlich schwer meine Begeisterung zu teilen. Wir gingen auf der Limnai-Straße nach Süden und hatten die Häuser und Höfe des Viertels hinter uns gelassen und rechts erhob sich jetzt der Kolona-Hügel.

„Da oben ist der Temple für Dionysos Kolonatas“, sagte ich und deutete hinauf.

Man konnte natürlich nichts sehen, da das Gebäude von einem kleinen heiligen Wäldchen umgeben ist, aber der Pfad, der hinaufführt war von unserer Stelle aus klar zu erkennen. Wir kamen an die Kreuzung nach Süden.

„Wenn wir jetzt da weitergehen, dann kommen wir zum Tempel der Hera Hypercheira, unserer Beschützerin. Aber das ist nur was für verheiratete Frauen, da haben wir noch ein bisschen Zeit“, grinste ich.

Melanopa musste bei meinem Gesichtsausdruck kichern und hielt sich züchtig die Hand vor den Mund. Wir nahmen die Abzweigung nach rechts in Richtung Mesoa. In diesem Teil der Stadt wohnen die meisten Händler und Handwerker, somit war eigentlich immer etwas los, vor allem um diese Zeit. Heiloten brachten Waren zum Markt, aber die ersten Rückkehrer waren auch schon vom Einkaufen auf der Agora unterwegs. Wenn wir der Straße weiter gefolgt wären, dann wären wir ebenfalls dorthin gelaufen. Aber das Haus der Soteira liegt auf der anderen Seite, um die Ecke vom Alten Markt und den Tempeln für die Ratsgötter Zeus Ambulios, Athena Ambulia und die Dioskuroi Ambulioi, die den Ältestenrat der Stadt schützen und unterstützen sollen. Also verließen wir die Hauptstraße und schlängelten uns durch die Gassen am Fuß des Kolona.

„Kora ist ‚das Mädchen‘,“ sagte ich zu Melanopa. „Und weil sie selbst ein Mädchen ist, ist sie auch die Beschützerin der Mädchen, also von mir und dir“, hierbei tippte ich uns beiden mit dem linken Zeigefinger an die Brust. „Sie ist dann zwar auch erwachsen geworden und hat Kinder gekriegt, aber wir verehren sie als Mädchen, verstehst du?“, Melanopa nickte zwar, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, dass sie nicht wirklich verstanden hatte.

Ich öffnete den Mund, um zu versuchen ihr unsere religiösen Sitten etwas begreiflicher zu machen, aber wir waren schon fast da. Auf dem Alten Markt könnten wir ein Opfertier kaufen und damit zu Soteira gehen, mit dem Wechselgeld wären sicher zwei Sesamkringel, oder Honigkuchen drin. Oder vielleicht beides, grinste ich.

„Heute wird ein guter Tag, Melanopa!“, sagte ich und lenkte unsere Schritte in Richtung des Alten Markts.

„Zwei Drachmen, Herrin, ich muss schließlich an meine hungrigen Kinder denken!“, sagte der Händler.

Ich schüttelte nur ärgerlich den Kopf. Ich hatte ihn zwar schon heruntergehandelt, aber ohne Wechselgeld gab es auch keinen Honigkuchen, Sesamkringel oder Nussplätzchen.

„Eine, und vier Obolen. Mein letztes Wort“, erwiderte ich und hielt die beiden Silbermünzen hoch. „Ich muss noch etwas zu Essen für uns kaufen“, und ich deutete mit dem Kinn in Richtung Melanopa, die natürlich während unserer Feilscherei nichts gesagt hatte.

Der Händler schüttelte aber lediglich den Kopf und hielt eine einzelne kleine Bronzemünze hoch. Das wären dann eine Drachme und fünf Obolen. Für ein drei Monate altes Lamm! Wucher! Aber ich hatte die anderen Viehhändler schon abgeklopft, und der Mann war der einzige, bei dem ich mit unserem Geld überhaupt hinkommen würde.

„Also gut“, sagte ich schließlich, „Aber ich suche aus.“

„Natürlich junge Dame, natürlich“, sagte der Mann und hielt die rechte Hand hin, „Nur zu.“

Ich gab ihm unsere zwei Drachmen und erhielt meine Obole, die ich sofort Melanopa in die Hand drückte. Er hatte vier Lämmer zur Auswahl und nach ein bisschen hin und her einigte ich mich mit dem Händler darauf, welches ich mitnehmen konnte.

„Beehren sie mich bald wieder, meine Damen“, sagte er süffisant und deutete eine Verbeugung an.

Ich nickte lediglich barsch zurück und machte ein eher unhöfliches Zeichen in seine Richtung als er sich wieder umdrehte. Wir hatten jetzt immerhin ein Opfertier, welches Melanopa an einem Strick um den Hals hinter uns herführte.

„Lahm is Opfer, ja?“, fragte sie und ich nickte.

„Genau. Das Lamm geben wir den Priesterinnen und die opfern es dann“, sagte ich. „Und dann segnen sie uns.“

„Sägne?“

„Naja, Soteira nimmt das Opfer an, und dann, ja… dann segnet sie uns. Also Kora, aber eigentlich ihre Priesterinnen.“

Melanopa nickte, ich glaube jedoch ich hätte meine Erklärung in dem Moment selbst nicht verstanden. Aber schon standen wir vor dem Tempel.

„Also, wir wollen, dass Soteira etwas für uns tut, oder?“, fragte ich und blieb stehen. Melanopa nickte. „Und deswegen geben wir ihr ein Geschenk.“

„Den Lahm.“