Der Prinzipal - Helmut Richter - E-Book

Der Prinzipal E-Book

Helmut Richter

0,0

Beschreibung

Eine Einbruchserie erschüttert das Vertrauen der Schmachtendorfer Bevölkerung in ihre Polizei. Doch noch während Horst Reiter und sein Team die Einbrüche aufklären können, müssen sie sich mit dem augenscheinlichen Selbstmord des Leiters eines Berufskollegs in Duisburg auseinandersetzen. Ein weiterer spannender Kriminalfall mit Horst Reiter, in dem die Konzertgitarre keine Nebenrolle spielt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 279

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eine Einbruchserie erschüttert das Vertrauen der Schmachtendorfer Bevölkerung in ihre Polizei. Doch noch während Horst Reiter und sein Team die Einbrüche aufklären können, müssen sie sich mit dem augenscheinlichen Selbstmord des Leiters eines Berufskollegs in Duisburg auseinandersetzen.

Ein weiterer spannender Kriminalfall mit Horst Reiter, in dem die Konzertgitarre keine Nebenrolle spielt.

Helmut Richter begann mit 16 Jahren während seiner Ausbildung zum Maschinenschlosser autodidaktisch das Gitarrespiel zu lernen. Ab 1976 Meisterschüler des Gitarristen Siegfried Behrend. 1981 erster Preis beim Regensburger Gitarrenwettbewerb, 1982 Prüfung zum Musikerzieher. Neben den Gitarrenstudien Studium in den Fächern Maschinenbau, Erziehungswissenschaften und Physik, später zusätzliche Studien in Psychologie und Neurobiologie.

Promotion zum Dr. phil. (Berufspädagogik). Zahlreiche CD- und Rundfunkaufnahmen, Buchveröffentlichungen und Veröffentlichungen eigener Kompositionen. Bundesgeschäftsführer der European Guitar Teachers Association. Schulleiter eines Berufskollegs im Ruhrgebiet.

Wieder für Gabi

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Buches sind absolut frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig. Was meistens, aber auch nicht immer, stimmt, sind die Orte der Handlung. Die gab bzw. gibt es zum Teil wirklich. Die Geschichten um Horst Reiter und seine Konzertgitarre wollen nicht die Realität getreu abbilden. Sie dienen nur der Unterhaltung der geschätzten Leserschaft.

Die gesperrt gedruckten Texte beziehen sich auf die Gitarrenmusik, die Kommissar Reiter zwischendurch hört. Sie können vom Leser bei fehlendem Interesse getrost übergangen werden, ohne dass für die Lösung des Kriminalfalls wichtige Passagen fehlen. Die Zahlen in eckigen Klammern [ ] beziehen sich auf die Tonspur der zugehörigen CD.

Musikübersicht

1

Attilio Bernardini

Marsch – Despedida

2

Altes Lied

3

Chôros

Miguel Llobet

Drei catalanische Weisen

4

El Testament d’Amelia

5

Canco de Lladre

6

El noy de la mare

7

Thomas Robinson

Robinson’s May

8

Merry Melancholie

9

Grisse his delight

10

Baden Powell de Aquino

Sentimentos

11

The shadow of your smile

12

Chanson d‘Hiver

Bruno Szordikowski

Stimmungsbilder für Gitarre

13

Preludio meditativo

14

Regentropfen

15

Classical mood

16

Walzer an einem Sommerabend

17

Memory

18

Siegfried Behrend

Hamachidorie

19

Danza amazonica

20

Danza mora

21

Ernesto Lecuona/José Feliciano

Malaguena

22

Heinrich Bohr

Frühlingsläuten

23

Das klagende Lied

24

Leo Brouwer

Un dia de Novembre

25

Bartolome Calatayud

Allegre Campina

26

Tango Argentino

27

Zambra

28

Georg David Weiss

What a wonderful World

29

Traditional

Michael row the boat ashore

30

(Satz P. Ansorge)

Es dunkelt schon in der Heide

31

St. James Infirmary

32

All along the Navajo Trail

33

Those were the days

34

Spanische Romanze

35

Turlough O’ Carolan

Sheebeg and Sheemore

36

(Satz: B.Szordikowski)

Hewlett

37

Eleanor Plunkett

38

O’ Carrolan’s Dream

39

Fanny Power

40

Claude Francois

My Way

Die Gitarre

Die Klage erhebt sich,

das Weh der Gitarre.

Es brechen die Kelche

des grauenden Morgens.

Die Klage erhebt sich,

das Weh der Gitarre.

Sie zu beschwichten ist unnütz.

Sie zu beschwichten - unmöglich.

So eintönig weint sie

wie weinendes Wasser,

wie weinender Wind

über den Schneewehn.

Sie zu beschwichten - unmöglich.

Dinge beweint sie,

die fern sind.

Beweint des Südwindes Sand, der heiß ist

und weiße Kamelien fordert.

Beweint den Pfeil ohne Ziel,

den Abend ohne den Morgen,

den ersten gestorbnen Vogel

auf dem Gezweig.

O Gitarre!

Du Herz, das von fünf Schwertern

zu Tode verwundet.

Federico Garcia Lorca (1898 - 1936)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Prolog

Duisburg-Rheinhausen, Freitag, 7. März 2008

Sandra Krämer bog in die Sedanstraße ein und stellte ihren Wagen auf dem fast leeren Parkstreifen ab. Es war noch keine sieben Uhr. Die Straße lag im Dunkeln. Die Schüler des Georg-Kerschensteiner-Berufskollegs, an dem sie als Verwaltungsangestellte arbeitete, kamen üblicherweise erst kurz vor Unterrichtsbeginn um halb acht. Der Hausmeister hatte die Vordertür bereits aufgeschlossen und das Licht in den Gängen eingeschaltet.

Sandra nahm ihre Handtasche, verschloss ihren Wagen und ging ihren morgendlichen Weg zum Verwaltungstrakt. Nach dem Betreten des Sekretariats hörte sie den Anrufbeantworter ab. Zwei Lehrer hatten sich krank gemeldet. Die im Ruhrgebiet grassierende Grippewelle ging auch nicht an ihrer Schule vorbei. Sie schrieb die Namen auf einen Zettel, den sie der Lehrerin, die den Vertretungsunterricht organisierte, in ein Postkörbchen legte. Anschließend schaltete sie den Computer ein, um die seit dem Vortag eingetroffenen Mails abzurufen. Während der Wartezeit erhitzte sie in einem Wasserkocher das Wasser für ihren Tee.

Sandra Krämers Chef, Oberstudiendirektor Dr. Rogall, kam meistens erst gegen acht Uhr. Es blieb ihr ein wenig Zeit, einen Blick auf die Briefpost zu werfen, ehe die ersten Lehrer und Schüler zu erwarten waren. Ab 7:15 Uhr hörte sie die ersten Schüler und Lehrer über den Gang laufen.

Um halb acht ertönte das Gongsignal zur ersten Unterrichtsstunde. Das seit einer Viertelstunde geschäftige Treiben in den Fluren ließ allmählich nach. Die letzten Nachzügler – Lehrer sowie Schüler – eilten durch die Gänge, um den Klassenraum noch halbwegs pünktlich zu erreichen. Sandra legte die Post erst einmal beiseite, denn sie hatte bei der ersten Durchsicht nichts Wichtiges entdecken können. Rogall würde in wenigen Minuten eintreffen. Wenn sie es zeitlich schaffte, kochte sie für ihn eine Kanne Kaffee auf der Kaffeemaschine in seinem Büro. Sie füllte eine Kanne mit Wasser an der kleinen Einbauküche in ihrem Büro.

Das Schulleitungsbüro lag direkt neben dem Sekretariat, akustisch abgeschottet durch eine Doppeltür. Als sie die erste Tür öffnete, wunderte sie sich kurz, denn die Tür war nicht wie üblich abgeschlossen. Manchmal vergaß Rogall das Abschließen vor dem Verlassen des Hauses, deshalb dachte sie nicht weiter darüber nach. Nachdem sie die zweite Tür nach innen hin geöffnet hatte, wunderte sie sich erneut. Offensichtlich hatte ihr Chef am Vortag sogar vergessen, das Licht zu löschen. Kopfschüttelnd über diese Nachlässigkeit ging sie zum der Tür gegenüberliegenden Schreibtisch, hinter dem die Kaffeemaschine stand. Sie füllte die Maschine mit Wasser und Kaffeepulver auf und schaltete sie ein. Sie wandte sich um und erstarrte. Hinter der Tür zu ihrem Büro hing ein menschlicher Körper von der Decke herab. Es war ihr Chef, Oberstudiendirektor Dr. Hans Rogall, der leblos mit einem Strick um den Hals im Luftzug leise baumelte.

Oberstudiendirektor Dr. Rogall war tot.

1

Oberhausen-Schmachtendorf, 06. November 2015

Als Horst Reiter sich um 7 Uhr aus dem Bett herauskämpfte, war er noch sehr müde. Er hatte eine anstrengende Woche und ein ebenso arbeitsreiches Wochenende hinter sich. Das war jedoch nicht alleine der Grund für seine Abgeschlagenheit. Er litt seit einigen Jahren an Schlafstörungen und nächtlichen Atemaussetzern, die dazu führten, dass die Nächte alles andere als erholsam waren. Zudem hatte er an den vergangenen Abenden oft bis in die späten Nachtstunden hinein auf seiner stummen Gitarre Fingerübungen gemacht und Konzertetüden gespielt.

Für einen Augenblick blieb er auf der Bettkante sitzen und überlegte, ob er sich nicht krank melden sollte. Er war trotz seiner 53 Jahre nach außen hin erstaunlich gesund; seine letzte Krankmeldung lag über zwei Jahre zurück. Kopfschüttelnd beendete er den kurzen inneren Dialog und stand auf.

Beate, seine Frau, war bereits seit einer halben Stunde aus ihrem Bett heraus. Sie saß in der Küche und las die Tageszeitung. Der Duft des frisch gekochten Kaffees war bereits in der Diele wahrzunehmen.

Nach dem Duschen ging er zurück in sein Zimmer. Beate hatte zwischenzeitlich eine Tasse Kaffee neben sein Bett gestellt. Er nahm sie und setzte sich an den Schreibtisch, der vor dem Fenster stand, und steckte sich einen Zigarillo in Brand. Die Funk-Wetterstation, die Beate ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, sagte einen sonnigen, aber kalten Tag voraus. Noch einmal dachte er kurz daran, im Präsidium anzurufen, um für ein oder zwei Tage zu Hause zu bleiben. Eine Rückkehr ins Bett schien ihm auch nach dem Duschen als sehr verlockend. Wieder schüttelte er seinen Kopf. Er trank einen Schluck Kaffee und erhob sich eilends, als wolle er diesen Gedanken endgültig loswerden. Reiter zog sich an, nahm einen letzten Zug an seinem Zigarillo und ging mit der Kaffeetasse in der Hand in die Küche. Beate saß am Küchentisch und studierte aufmerksam die Tageszeitung.

»Guten Morgen, mein lieber Schatz«, sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Hast wenigstens du gut geschlafen?«

Etwas unwillig sah Beate auf. »Guten Morgen. Ja, das habe ich«, antwortete sie mürrisch. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du endlich mal zum Arzt gehen sollst. Also beklage dich jetzt nicht.«

Unterschwellig hatte Horst gehofft, auf ein bisschen Mitleid zu treffen. Seine Schlafstörungen waren seit Jahren immer wieder Anlass für morgendliche Vorwürfe. Seitdem die beiden Mädchen, Daniela und Annika, die gemeinsame Wohnung verlassen hatten, schliefen er und Beate in getrennten Zimmern. Beate konnte ihn trotzdem nachts oft genug selbst durch die geschlossene Tür seines Schlafzimmers schnarchen hören. Dementsprechend genervt reagierte sie auf seine Klagen. Vor einem Jahr hatte Horst einen Anlauf zur ärztlichen Untersuchung unternommen, er hatte sogar schon einmal einen Termin beim Facharzt gehabt. Aber ein Mordfall, bei dessen Aufklärung er fast zu Tode gekommen wäre, hatte ihn daran gehindert, den Termin wahrzunehmen.

»Was sagt mein Horoskop denn für heute?«, fragte er zur Ablenkung.

»Weiche mir nicht wieder aus«, entgegnete Beate unwillig. »Du musst unbedingt etwas gegen deine Schlafstörungen unternehmen, sonst finde ich dich eines Morgens tot im Bett auf.«

Horst reagierte weiterhin nicht auf ihren Vorwurf. Stattdessen lugte er über ihre Schulter. Rechts neben dem Kreuzworträtsel stand das Tageshoroskop. Er schaute bei seinem Sternzeichen, der Waage, nach.

»Es geschieht nichts Aufregendes, alles verläuft heute zufriedenstellend und in geregelten Bahnen«, las er laut vor. »Na, das lässt ja hoffen«, kommentierte er. »...und was steht bei dir?«, wollte er wissen. Er suchte nach ihrem Sternzeichen „Krebs“. »Ihre streitlustige Seite könnte heute zeitweise durchkommen und für Tumult sorgen«, zitierte er halblaut. »Dein Horoskop scheint immerhin zu stimmen«, ergänzte er mit ironischem Unterton.

»Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft an solchen Quatsch?« fragte Beate.

Horst schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht, aber irgendwie hat man doch das Gefühl einer gewissen vorausschauenden Sicherheit für den kommenden Tag.« Beate sagte nichts dazu. Sie griff kopfschüttelnd nach ihrem Kugelschreiber, um das Kreuzworträtsel und anschließend das Sudoku zu lösen.

»Was liegt denn heute bei dir an?«, fragte sie beiläufig, während sie die ersten Lösungsworte in das Gitter eintrug.

»Nichts Besonderes eigentlich«, antwortete Horst. »Eine Einbruchserie hier in Schmachtendorf macht uns gerade zu schaffen. Die Einwohner fühlen sich nicht mehr so sicher wie früher einmal. Wir Polizisten können nun mal nicht überall sein. Ich bin aber guter Dinge, dass meine Leute und ich die Einbrecher über kurz oder lang erwischen.« Er nahm einen weiteren Schluck aus seiner Kaffeetasse und warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war viertel vor acht geworden, höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen. Während er seine Jacke anzog fragte er Beate noch nach ihrem Tagesplan.

»Heute ist Freitag«, antwortete sie. »Heute Abend gehe ich nach der Orchesterprobe mit Kerstin und Martina essen. Wahrscheinlich werde ich vor 23 Uhr nicht zu Hause sein.« Sie trug ein weiteres Lösungswort in das Rätsel ein. »Dein Abendessen steht im Kühlschrank«, ergänzte sie.

»Ich komme schon klar«, antwortete er knapp.

Beate spielte hauptberuflich Cello in einem Orchester, zudem hatte sie eine Teilzeitstelle an der Musikschule als Cellolehrerin. Horst und Beate Reiter sahen sich im Lauf der Woche nicht sehr häufig – "das Rezept für eine gute Ehe", wie Horst stets mit einem leicht süffisanten Unterton sagte.

Er gab ihr zum Abschied einen weiteren Kuss auf die Stirn. »Bis heute Abend dann«, sagte er beim Herausgehen. »Pass auf dich auf.«

»Du auch«, erwiderte Beate.

Die Luft draußen war kalt und trocken. Reiter musste die Scheiben seines silbernen VW Passat entgegen seiner Erwartung nicht vom Eis befreien. Nachdem er den Motor angelassen hatte schaltete er das Radio ein, um wie jeden Morgen die Andacht im Rundfunk zu hören.

Es ging um Glück und Glücklichsein. Der Pfarrer referierte über Faktoren, die nach seiner Meinung zu einem glücklichen Leben gehörten. Er führte die fünf F’s an: Freude, Freunde, Familie, Fitness und Finanzen. Er beklagte, dass in dieser – aus seiner Sicht zu weltlichen – Aufstellung die Spiritualität zu kurz käme.

»Bei mir sowieso«, dachte Reiter, der zwar noch Mitglied der Kirche war, es dabei jedoch bewenden ließ. Bei genauerer Betrachtung stellte er fest, dass die anderen Glücksfaktoren bei ihm gleichermaßen nicht sonderlich ausgeprägt vorhanden waren. Freude kam in seinem Beruf selten auf und seine guten Freunde hatte er in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt. Um seine körperliche Fitness war es ebenso schlecht bestellt wie um seine Finanzen. Einzig die Familie war soweit in Ordnung – sofern er sie überhaupt sah.

Viel weiter kam Horst nicht mit seinen selbstkritischen Gedanken. Nach der Morgenandacht wurde zur Überbrückung der Zeit bis zu den Nachrichten ein kurzes Stück Musik gespielt. Heute war es, wie so oft, wieder ein Stück für die Konzertgitarre.

Interessiert hörte Horst Reiter dem Stück „El Mestre“ zu. Es war die Vertonung eines alten spanischen Volksliedes, in dem von der Verehrung einer Schülerin für den Gitarrenlehrer erzählt wird, für die Gitarre gesetzt vom spanischen Gitarristen Miguel Llobet. (1878 – 1938). Reiter tippte wie immer auf den Interpreten des Stückes, den er am Klang des Gitarrespiels erkennen konnte. Mit dem Spanier Andrès Segovia behielt er – wie so oft zuvor – Recht. [ 4-6]

El Mestre

Ich habe einen guten Lehrer,

er liebt mich und ich ihn.

Werde nicht Nonne, sagt er,

sei mein Weib für später hin.

Miguel Llobet in einer Zeichnung von Ramon Casas

2

Reiter stellte seinen Wagen auf dem ihm zugeteilten Parkplatz im Hof des Polizeipräsidiums ab. Früher hatte er oft vor dem Gebäude geparkt, aber seitdem er dort von einem Straftäter angefallen und entführt worden war, parkte er den Wagen lieber im Schutz des bewachten Hofes. Obwohl er das Backsteingebäude direkt durch die Seitentür betreten konnte, ging er zum Haupteingang an der Vorderseite des Präsidiums. Er betrachtete diesen kurzen Weg und die zusätzlich zu steigende Treppe mit 12 Stufen als seinen Frühsport. Sein Büro lag in der ersten Etage, vom Fenster aus hatte er einen Ausblick auf die benachbarte Realschule, die er in seiner Jugend selbst besucht hatte.

Polizeipräsidium Oberhausen-Sterkrade

Noch bevor er den Computer einschaltete, befüllte er die Kaffeemaschine. Er hoffte, mit einer weiteren Tasse Kaffee seine anhaltende bleierne Müdigkeit bekämpfen zu können.

Auf dem Schreibtisch lagen die Ermittlungsunterlagen zu den Wohnungseinbrüchen im Oberhausener Ortsteil Schmachtendorf. Reiter und seine drei Kollegen – Anne Herweg, Michael Becker und Kurt Buller von der Spurensicherung – arbeiteten seit mehreren Wochen fieberhaft an den Fällen. Die örtliche Presse hatte in den vergangenen Tagen einen zunehmend polizeikritischen Tonfall angeschlagen. Im Namen der verunsicherten Bevölkerung drängte sie auf eine umgehende Aufklärung der Raubzüge, die nicht nur materielle, sondern auch psychische Schäden bei den Haus- oder Wohnungseigentümern hinterließen. Seufzend setzte er sich an den Schreibtisch und betrachtete die Tatortfotos. Auf allen Bildern war die gleiche Vorgehensweise der Einbrecher zu erkennen. Schränke und Kommoden waren durchwühlt, Schubladen lagen umgedreht auf dem Boden. In allen bisherigen Einbruchsfällen sah es aus wie nach einem Erdbeben.

Die Kaffeemaschine machte durch glucksende Geräusche auf sich aufmerksam. Mit einem leisen Ächzen stand er auf und goss sich eine große Tasse voll. Gerade, als er den ersten Schluck trinken wollte, klopfte es an der Tür. Ohne ein „Herein“ abzuwarten betrat sein Kollege Michael Becker das Büro.

»Guten Morgen, Horst«, sagte er. »Es hat wohl einen erneuten Einbruch unserer Diebesbande in Schmachtendorf gegeben«, setzte er fort, ohne Reiters Gegengruß abzuwarten.

Horst sagte nichts, sondern trank einen Schluck aus seinem Kaffeebecher. Er hasste es, wenn er sofort nach Arbeitsbeginn, noch vor der ersten Tasse Kaffee, mit dienstlichen Problemen belastet wurde. Mit einem Kopfnicken bedeutete er, dass Michael sich an den kleinen Konferenztisch setzen sollte. Ohne Nachfrage nahm Michael sich eine der Kaffeetassen, die neben der Maschine standen und befüllte sie. Danach setzte er sich an den Tisch.

»Dann schieß mal los«, sagte Reiter knapp, setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und sah Michael Becker auffordernd an..

»Gerade hat ein Herr Schröter aus Schmachtendorf angerufen«, begann sein Kollege. »Er hatte bemerkt, dass an einem Einfamilienhaus am Waldhuck die Haustür offen stand. Er ist dann dorthin gegangen, hat aber durch die Tür sehen können, dass im Haus alles nach dem uns bekannten Muster durchwühlt war. Danach hat er uns von seinem Handy aus angerufen.«

»Sind die Kollegen von der Streife und der Spurensicherung schon unterwegs?« wollte Reiter wissen.

»Ja, sicher, ich habe sie sofort losgeschickt«, bestätigte Becker. »Ich denke, angesichts der kritischen Presseberichte sollten wir uns dort ebenfalls sehen lassen«, ergänzte er.

Horst Reiter dachte einen kurzen Moment lang nach. »Du hast recht«, sagte er danach, »wir sollten unsere Präsenz zeigen. Ich trinke nur noch schnell meinen Kaffee aus.«

Für zwei Minuten saßen die beiden schweigend am Konferenztisch und schlürften gedankenverloren aus ihren Tassen. Sie waren sich beide darüber im Klaren, dass die bislang ungeklärten Einbruchsfälle bedrohliche Auswirkungen für das Ansehen der Polizei in der Oberhausener Bevölkerung zu entwickeln begannen.

Kaum hatten sie das Präsidiumsgebäude verlassen, steckte Reiter sich einen Zigarillo in Brand. Sie fuhren mit seinem Privatwagen nach Schmachtendorf. Der Tatort lag in einer abgelegenen Straße nahe dem Waldgebiet. Der Wagen der Kollegen von der Streife war bereits aus großer Entfernung zu erkennen. Reiter stellte seinen Passat hinter dem Streifenwagen ab und legte die letzten Meter zum Tatort zusammen mit Michael Becker zu Fuß zurück. Es war ein Einfamilienhaus, dem Baustil nach zu urteilen stammte es aus den 50er Jahren. Die Haustür stand offen. Reiter blieb einen Augenblick lang stehen und schaute auf das Namensschild an der Klingel. „Sander“ stand dort zu lesen. Horst betrat das Haus.

Kurt Buller von der Spurensicherung werkelte im Wohnzimmer des Hauses. Mit einem kurzen Seitenblick nahm er das Eintreffen der beiden Kollegen zur Kenntnis.

»Guten Morgen, Kurt«, begrüßte Reiter seinen Kollegen. »Der Tag scheint gut anzufangen.«

»Hör bloß auf!«, knurrte Buller. »Diese Einbruchserie will offensichtlich kein Ende zu nehmen. Gestern bin ich im „Klumpen Moritz“, meiner Stammkneipe, deswegen sogar von der Seite angequatscht worden.«

»Gibt es schon irgendwelche Erkenntnisse?«, wollte Becker wissen, ohne weiter auf die Bemerkung seines Kollegen einzugehen.

Buller schüttelte wortlos seinen Kopf. »Nichts Neues, sofern du das meinst«, setzte Buller fort. »Die gleiche Masche wie bei den anderen Einbrüchen. Das ist alles.« Dabei wies er mit seinem Kopf in Richtung des Chaos im Wohnzimmer.

»Wo sind die Eigentümer?«, fragte Horst Reiter.

»Keine Ahnung«, entgegnete Buller. »Die Haustür stand offen, als wir kamen. Auf mein Rufen hin hat niemand reagiert. Vielleicht sind die Bewohner verreist oder außer Haus.«

»Wir schauen uns einmal um«, sagte Reiter zu Becker. »Gehe du bitte nach oben, ich sehe mir währenddessen das Erdgeschoss an.« Beide zogen sich Gummihandschuhe über die Hände, um eventuell vorhandene Fingerabdrücke nicht zu verwischen.

Michael Becker stieg über eine Holztreppe in das Obergeschoss des Hauses. Reiter ging vom Wohnzimmer aus in die benachbarte Küche. Offensichtlich war diese von den Einbrechern übergangen worden, denn es war keine Unordnung zu erkennen.

Vom Hausflur aus zweigte ein weiterer Raum ab. Horst Reiter öffnete die Tür. Es war das Schlafzimmer. Bereits vom Türrahmen aus konnte er erkennen, dass hier alles durchwühlt war. Vorsichtig stieß er die Tür nach innen hin auf. Die Schubladen waren aus der Kommode herausgezogen, der Kleiderschrank stand offen. Kleidungsstücke lagen auf dem Boden verstreut. Das Bett war zerwühlt. Langsam, auf jede Kleinigkeit achtend, ging er in das Schlafzimmer hinein. Das Fenster lag zum Garten hin mit einem schönen, unverbauten Blick auf den benachbarten Wald. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg zum Fenster hin und schaute von dort aus in den gepflegten Garten hinein.

Als er sich umdrehte, um den Raum wieder zu verlassen, sah er, dass sich außer ihm noch jemand im Schlafzimmer befand.

Hinter der Tür baumelte ein lebloser männlicher Körper, aufgehängt an einem Strick um den Hals.

3

»Das sieht stark nach Selbstmord aus«, sagte Buller zu Reiter, nachdem dieser seine Kollegen ins Schlafzimmer gerufen hatte. Er legte seine Hand auf den Arm des Toten, um die Körpertemperatur abzuschätzen. »Der ist höchstens seit drei Stunden tot«, stellte er fest. »Der Körper ist noch sehr warm. Wahrscheinlich war es zwischen 7 und 9 Uhr, als er sich erhängte.« Buller ging zurück ins Wohnzimmer, um seine Digitalkamera zu holen. Währenddessen schauten Becker und Reiter sich im Schlafzimmer um. Auf dem Boden lag ein Fotorahmen. Becker hob ihn auf. Das Foto zeigte einen Mann, etwa 50 Jahre alt, zusammen mit einer Frau und einem jungen Mädchen.

»Offensichtlich ein Familienfoto«, vermutete Becker und übergab den Rahmen an Reiter.

»Es sieht ganz danach aus, dass unser Toter dieser Mann auf dem Foto ist«, stellte Reiter fest, nachdem er das Bild mit dem immer noch am Strick hängenden Toten verglich. Auf dem Foto sah der Mann ein wenig jünger aus. »Das Foto mag um die fünf Jahre alt sein«, setzte er fort, »vielleicht auch ein wenig mehr.« Nachdenklich betrachtete er das Bild. Das junge Mädchen mochte zum Zeitpunkt der Aufnahme um die 15 Jahre alt gewesen sein, also dürfte ihr heutiges Alter um die zwanzig Jahre herum liegen. Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor. Er dachte an seine Töchter, die ebenfalls beide um die 20 Jahre alt waren. Vielleicht kannten sie das Mädchen, denn sie waren ja in der Nähe aufgewachsen. Er beschloss, sie bei nächster Gelegenheit danach zu fragen.

Inzwischen hatte Buller seine Kamera aufgebaut und begann, Fotos von der Leiche und vom Fundort zu machen. Nahezu zeitgleich betraten der herbeigerufene Notarzt und zwei Sanitäter das Haus. Nachdem der Tote von der Decke abgenommen und auf den Boden gelegt worden war, stellte der Notarzt seinen Tod fest und stellte den Totenschein aus.

»Dem Foto nach zu urteilen hatte der Tote eine Familie«, sagte Reiter zu Michael Becker. »Finde bitte heraus, wo die Frau und die Tochter sind.«

»Ich werde erst einmal die Nachbarn befragen«, entgegnete Becker. »Vielleicht können die Auskunft geben. In den Zimmern oben war übrigens alles in Ordnung, soweit ich das sehen konnte«, ergänzte er. »Ein offenbar unbewohntes Kinderzimmer, ein Arbeitszimmer und ein Bad habe ich gesehen, bevor du uns gerufen hast. Alle diese Räume scheinen unberührt.«

Horst Reiter nickte. »Ich schaue mir das gleich selbst einmal an«, sagte er, »während du die Nachbarschaft befragst.«

»Okay, mache ich«, sagte Michael und verließ den Raum.

Inzwischen kamen die Sanitäter mit einem Leichensack und einer Trage, um den Toten abzutransportieren. Kurt Buller verlegte seine Spurensicherung ins Schlafzimmer. Reiter ging noch einmal zurück ins Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster. Vor dem Haus hatte sich eine kleine Gruppe von Nachbarn angesammelt, die das Geschehen neugierig beobachteten. Er konnte sehen, dass Michael Becker sich mit einigen Personen unterhielt.

Das Wohnzimmer war konservativ und solide eingerichtet. Eichenschrank und Couchgarnitur, eine Essecke, ebenfalls aus Eichenholz. »Gelsenkirchener Barock«, dachte Reiter unwillkürlich. Trotz der durch den Einbruch angerichteten Verwüstungen war zu erkennen, dass in diesem Haus alles seinen festen Platz hatte und dass Wert auf Ordnung gelegt wurde. Das war Reiter schon in der Küche aufgefallen – es war alles geordnet und wohl organisiert.

»Vielleicht hat der Tote das Chaos hier gesehen und im Anschluss daran Selbstmord begangen?«, dachte Reiter. »Oder war er bereits tot, als die Einbrecher kamen, und die sind geflüchtet, als sie ihn gefunden hatten? Vielleicht hat er die Einbrecher auch auf frischer Tat ertappt und sie haben ihn deshalb ermordet?«

Wortlos zuckte Horst nach seinem inneren Monolog die Schultern und ging noch einmal in das Schlafzimmer zurück. Buller sammelte gerade einige der herumliegenden Gegenstände, die er für wichtig hielt, zusammen und verpackte sie in durchsichtige Plastiktüten. Das Seil, an dem Sander gehangen hatte, war von den Sanitätern durchschnitten worden. Bevor Buller die beiden Stücke in die Plastiktüte schob, warf Reiter einen Blick darauf.

»Sieht aus wie eine Wäscheleine aus Jutefasern«, sagte er zu Buller.

»Ja, das denke ich auf den ersten Blick auch«, antwortete Buller. »Meine Mutter hatte auch so eine Wäscheleine, bevor die Kunststoffleinen auf den Markt kamen.«

»Hast du noch weitere Hinweise gefunden, die uns weiterhelfen könnten?«, fragte Reiter. »Einen Abschiedsbrief oder einen Hinweis auf den Selbstmord?«

Ohne aufzusehen schüttelte Buller seinen Kopf. »Nein, nichts, es ist aber möglich, dass in diesem Chaos noch etwas zu finden ist. Das kann noch eine Weile dauern.«

Reiter sah, dass seine Anwesenheit hier eher hinderlich war. »Ich schaue mir die obere Etage an«, sagte er und ging zur Holztreppe, die in das Obergeschoss des Einfamilienhauses führte.

Wie Becker vorher berichtet hatte, befand sich in der oberen Etage ein Badezimmer, das ordentlich und sauber wirkte. Daneben befand sich ein als Jugendzimmer eingerichteter Raum, der jedoch offensichtlich nicht genutzt wurde. Das Bett war hergerichtet und unberührt. Es lagen keine Kleidungsstücke oder Gegenstände herum. Dem Jugendzimmer gegenüber befand sich ein weiterer Raum, der sofort als Arbeitszimmer erkennbar war. Vor dem Fenster an der Dachschräge befand sich ein großer Schreibtisch. Die Wände waren mit Bücherregalen gefüllt. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Zeitschriften und ein Tagesordner. Ein großes Notebook stand zusammengeklappt auf der linken Seite des Tisches. Reiter nahm nacheinander einige Bücher aus dem Regal. Es handelte sich durchwegs um pädagogische Literatur. »Sander scheint Lehrer gewesen zu sein«, dachte Reiter. Die Zeitschriften auf dem Schreibtisch bestätigten ihn in seinen Vermutungen. »Titel wie „Lehren und Lernen“ oder „Der berufliche Bildungsweg“ finden sich nur bei Lehrern, dachte er, ansonsten liest das doch kein Mensch.«

In dem Tagesordner befanden sich einige dienstliche Dokumente sowie ein Stapel mit krakelig ausgefüllten DIN A4 - Blättern. Aufmerksam blätterte Reiter den Stapel durch. Es handelte sich offensichtlich um eine Klassenarbeit, in der auch gerechnet werden musste. Mühsam versuchte er, die Texte zu entziffern. „Ein auszubildender mus seine leerberichte einmal in der woche forzeigen“, stand da in krakeliger Schrift zu lesen, oder „Der ausbildungsfertrag muss schriftlich abgefast werden“. Reiter war entsetzt über die mangelnde Orthographie. Die anderen Arbeiten, die Reiter durchblätterte, sahen nicht wesentlich besser aus, sofern er sie überhaupt entziffern konnte. »Die Pisa-Studie hat anscheinend recht mit ihrer Analyse«, murmelte er vor sich hin.

»Sander scheint an einer Berufsschule gearbeitet zu haben«, dachte Reiter und öffnete die Schublade des Schreibtisches. Auf den ersten Blick konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken. Schreibgeräte, Taschenrechner, Papier. Wesentlich anders sah es in seinem eigenen Schreibtisch auch nicht aus. Reiter klappte das Notebook auseinander und schaltete es ein. Bis der Rechner hochfuhr schaute er noch einmal auf die Bücher in den Regalen. Neben der pädagogischen Literatur fand er eine ganze Serie von aus dem Schwedischen übersetzten Kriminalromanen sowie einige sehr kostspielig aussehende Kunstbände.

Der Computer meldete sich mit einem Piepen und verlangte ein Passwort. Reiter versuchte erst gar nicht, den Rechner weiter zu starten, sondern schaltete ihn gleich wieder ab. Das würde eine interessante Aufgabe für Buller und seine Kollegen sein.

Bevor er den Raum verließ, schaute Horst aus dem Dachfenster. Es war zur Straße hin gewandt. Er konnte sehen, wie Michael Becker mit einem Notizblock in der Hand weiterhin mit den Schaulustigen vor dem Haus sprach.

Reiter drehte sich um und ließ das Zimmer noch einmal auf sich wirken. »Kein Hinweis auf einen geplanten Selbstmord«, dachte er. »Hier ist augenscheinlich alles so, wie es sein soll.« Dann ging er die Treppe hinunter.

Kurt Buller war mit seinen Arbeiten inzwischen fertig und packte seine Utensilien wieder zurück in seinen „Zauberkoffer", wie Reiter das Arbeitsmaterial von Buller manchmal halb spöttisch, halb bewundernd nannte.

»Ich habe Nichts mehr gefunden«, sagte Buller auf den fragenden Blick von Reiter hin. »Keinen Abschiedsbrief, keinen Hinweis auf einen geplanten Selbstmord.«

»Die obere Etage kannst du dir ersparen«, antwortete Reiter. »Es ist alles offensichtlich vollkommen unberührt. Es sieht danach aus, als hätten die Einbrecher das Gebäude verlassen, bevor sie mit ihrem Beutezug fertig waren.«

»Ich gehe trotzdem einmal hoch«, widersprach Buller, »vielleicht hast du etwas übersehen.«

»Mach’ das von mir aus«, entgegnete Reiter gleichgültig. »Ich fahre zurück ins Präsidium, hier kann ich nichts mehr ausrichten.« Er verschwieg, dass er zudem einen heftigen Kaffeedurst verspürte. Außerdem wollte er gerne einen Zigarillo rauchen.

Buller nickte stumm. »Bis später dann«, sagte er, bevor er zur Treppe ging.

Im Flur kam ihm Michael Becker entgegen. »Wir sehen uns im Revier«, sagte Buller zu ihm und stieg die Holztreppe hoch.

Becker begab sich zu Reiter ins Wohnzimmer. »Ich habe Einiges herausgefunden«, eröffnete er.

»Das kannst du mir gerne auf der Rückfahrt erzählen«, fuhr Reiter dazwischen. »Wir fahren zurück zum Präsidium.«

Vor der Haustür stecke Reiter sich einen Zigarillo in Brand und nahm einen tiefen Zug. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war fast 12 Uhr geworden. Ein leichtes Brennen in der Magengegend erinnerte ihn daran, dass er noch nichts gegessen hatte. Becker und Reiter bahnten sich einen Weg durch die inzwischen größer gewordene Gruppe der Schaulustigen vor dem Haus. Horst startete den Wagen, wendete umständlich auf der engen Straße und fuhr langsam los in Richtung Präsidium.

4

»Dann berichte einmal, was du herausgefunden hast«, forderte Reiter seinen Kollegen Becker auf, nachdem er gestartet war und das Autoradio abgestellt hatte.

»Der Tote ist tatsächlich Klaus Sander«, fing Becker an. »Auf dem Foto ist er mit seiner Frau, Gabriele Sander und seiner Tochter Katharina zu sehen. Allerdings lebte er seit Jahren getrennt von seiner Frau. Seine Tochter studiert in Freiburg und kommt nur selten nach Hause.«

»Wohnte er alleine?«, hakte Reiter nach.

»Ja, es scheint so zu sein. Den Nachbarn zufolge hat Frau Sander ihren Mann vor zwei oder drei Jahren verlassen, seitdem lebte er alleine in dem Haus. Eine „Neue“ ist nicht gesehen worden. Sander pflegte nach Aussage der Nachbarn nicht viele Kontakte. Er wurde übereinstimmend als höflich und zurückhaltend beschrieben.«

»Hier auf dem Land wird man noch beobachtet, ich weiß«, warf Reiter mit ironischem Unterton ein.

»Die direkte Nachbarin, Frau Schröter, hat mir die Adressen von Frau und Tochter gegeben. Sander hatte sie dort für Notfälle hinterlegt«, setzte Michael Becker fort.

»Nimm du bitte den Kontakt zu den beiden auf«, sagte Reiter, der höchst ungern schlechte Botschaften überbrachte.

»Muss das sein?«, fragte Michael.

Reiter blieb eine Antwort schuldig, schaute aber stattdessen für einige Sekunden streng in Michaels Richtung.

»Was hat Sander beruflich gemacht?«, fragte er, als wolle er ablenken.

Michael räusperte sich, als hätte er gerade eine Kröte geschluckt. »Er war Lehrer an einer Berufsschule«, antwortete er knapp. »Zuletzt war er als Direktor tätig, hat mir die Nachbarin Schröter gesagt. Sie wusste aber nicht, an welcher Schule er beschäftigt war. Es dürfte kein Problem sein, das herauszubekommen.«

Inzwischen hatte Reiter mit dem Wagen die Brücke über die Autobahn erreicht. Die A 3 war in Richtung Bottrop wieder total überfüllt, der Stopp-and-Go-Verkehr zog sich so weit, wie er sehen konnte.

»Ich lade dich zu einem Kaffee ein«, sagte er zu Becker und bog an der nächsten Kreuzung in Richtung des Einkaufszentrums ab. Horst hatte das Gefühl, bei Becker etwas wieder gut machen zu müssen. Schließlich hatte er ihm einen sehr unangenehmen Auftrag erteilt.

Becker sagte dazu nichts. Er wusste, dass die Einladung seines Chefs einer weiteren dienstlichen Anweisung gleichkam.

»Alle Nachbarn waren entsetzt«, setzte er stattdessen seinen Bericht fort. »Nach ihren Aussagen deutete nichts auf eine Selbstmordabsicht hin. Erst gestern noch hatte Sander sich mit seiner Nachbarin über den Zaun hinweg unterhalten. Es ging um die Pflanzen, die auf der Grundstücksgrenze stehen, wie sie mir erzählte. Die beiden wollten sie am Wochenende gemeinsam niederschneiden.«

Reiter bog auf den Parkplatz des Einkaufszentrums ein und stellte den Wagen ab. Im Foyer des Lebensmittelgeschäftes befand sich ein kleines Café. Reiter bestellte zwei Tassen Kaffee und ein belegtes Brötchen für sich. »Irgendwann muss ich ja mal frühstücken«, sagte er fast entschuldigend zu Becker.

Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster mit Blick auf den Parkplatz. Reiter ging gerne in dieses Café, denn er konnte es schnell und ohne großen Umweg vom Präsidium aus erreichen. Manchmal konnte er zwischendurch noch seine Einkäufe erledigen. Außerdem konnte er hier seine Lieblings-Kaffeesorte, eine Kolumbianische Arabica-Mischung in extra starker Röstung, einkaufen. »Teuer, aber gut«, betonte er immer, wenn Beate den hohen Preis des Edelkaffees beklagte.

Eine kurze Weile saßen die beiden schweigend einander gegenüber und schauten nachdenklich aus dem Fenster. Der Anblick einer Leiche ließ sie trotz langer Berufserfahrung nicht unberührt.

»Wie geht's jetzt weiter?«, brach Michael das Schweigen.

»Da es sich wohl um einen Selbstmord handelt«, antwortete Reiter mit einem leichten Schulterzucken, »werden wir in dieser Richtung nicht viel zu ermitteln haben.« Er legte eine kurze Pause ein, um einen Bissen von seinem Brötchen zu nehmen. »Wir müssen vordringlich endlich diese verdammte Einbruchserie klären, sonst werden wir von der Presse öffentlich hingerichtet.« Er nahm einen weiteren Bissen von seinem Brötchen und spülte ihn mit einem Schluck Kaffee herunter. »Warum schmieren die immer so viel Butter auf das Brötchen?«, sinnierte er. »Das ist ja ekelhaft. Ich will doch nicht gemästet werden.«

»Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn die Einbruchserie mit einem Todesfall in Verbindung gebracht wird«, kehrte er zum Thema zurück. »Weiteres können wir gleich im Präsidium zusammen mit Anne und Kurt besprechen«, ergänzte er nach einem weiteren Bissen ins Brötchen.