Der Privatdetektiv - Patrick Salm - E-Book

Der Privatdetektiv E-Book

Patrick Salm

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Beschreibung

Im kleinen Bergnest Gourdon, dem der Küste vorgelagerten Hochland an der Côte d'Azur, geniesst Florian Räber über die Neujahrsfeiertage stressfreie Stunden. Die alte Bergwerkhütte, weit abgelegen vom Geschehen, erlaubt ihm Entspannung vom nervenaufreibenden Alltag. Trotz heftigem Schneetreiben versammeln sich in der Silvesternacht die Anwohner Gourdons in der Taverne Provencale. Sie alle wollen an Florian Räbers spannenden detektivischen Recherchen Anteil nehmen. Florian ahnt nicht, dass seine Ausführungen die Aufmerksamkeit eines Gastes wecken. Weit nach Mitternacht und inzwischen tobendem Schneesturm poltert jemand an die Türe der Bergwerkhütte. Sein letzter Kriminalfall holt ihn ein. Eine Verbrecherbande wurde durch seine Ermittlungen gefasst, nicht aber die Hintermänner. Vorsichtig, mit einem schweren Eisenhaken bewaffnet öffnet er die Türe. Es verschlägt ihm die Sprache. Plötzlich wird Florian Bestandteil eines viel gefährlicheren, sich dramatisch zuspitzenden Kriminalfalls. Welches Spiel treibt die unbekannte Schönheit, darf er ihr vertrauen?

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Inhaltsverzeichnis

Namenliste

Sonntag, 31. Dezember 2017

Vor sechzehn Jahren

9. August 2017

Dienstag, 26. Dezember 2017

Montag, 1. Januar 2018, halb zwei Uhr morgens

1. Januar 1800 Uhr

Dienstag, 2. Januar

Donnerstag, 4. Januar

Samstag, 6. Januar

Sonntag, 7. Januar

Montag, 8. Januar 2018

Mittwoch, 10. Januar 2018

Donnerstag, 11. Januar 2018

Freitag, 12. Januar

Samstag, 13. Januar

Sonntag, 14. Januar

Montag, 15. Januar

Dienstag, 16. Januar

Samstag, 20. Januar

Sonntag, 21. Januar

Montag, 22. Januar

Dienstag, 23. Januar

Mittwoch, 24. Januar

Donnerstag, 25. Januar

Freitag, 26. Januar

Montag, 29. Januar

Dienstag, 30. Januar

Mittwoch 31. Januar

Donnerstag, 1. Februar

Freitag, 2. Februar

Samstag, 3. Februar

Sonntag, 4. Februar

Montag, 5. Februar

Namenliste

Florian Räber

Privatdetektiv

Hanna Dubois

Buchhändlerin

Albert Crémraud

Staatsanwalt

Alexandra

Geliebte

Alice Marinaud Dr.

Psychiaterin

Bippo

Fischer

Capo

Besitzer Night run und Chef Transportunternehmen

Edy und Jean

Angestellte der Transportfirma

Etienne Perit, Oberst

Kommandant der Polizei von Nizza

Fabienne

Gastgeberin B&B in Mougins

Francois Dorberg

CEO eines grossen Versicherungskonzerns

Francois und Madame Rosco

Falscher Name von Florian und Hanna

Kommissaire Treport

Polizeikommandant Polizeikommando Saint-Raphael

Lucas Chevalier

Direktor und Inhaber von Le chercheur

Manuela

Ehemals Angebetete von Florian Räber

Michael Trasson

Immobilienmakler und Lokalpolitiker

Michele Bernhard

stellvertretender Polizeikommandant von Saint-Raphael

Paul Fournier.

Vorarbeiter der Bootswerft in Monte Carlo

Romain Tendre

Wirt in der Taverne Provencale

Sonntag, 31. Dezember 2017

Extreme Kälte und heftige Winde lassen die Schneeflocken zu schneidenden Schneekristallen mutieren. Erbarmungslos wie kleine Messerstiche empfinden die der Taverne zustrebenden Männer und Frauen den kalten Angriff der Natur.

Es herrscht Winter in den Alpes-Maritimes, nur wenige Kilometer nördlich der französischen Mittelmeer-Küste. Die Meteorologen sprechen vom Jahrhundertwinter und noch ist kein Ende in Sicht.

Trotz des miesen Wetters strömen die Einwohner vom kleinen Bergdorf Gourdon in Scharen zum jährlich stattfindenden Silvesteranlass, in den mit vielen bunten Ballonen und Girlanden feierlich geschmückten Speisesaal der La Taverne Provencale. Menschen, die sich das Jahr hindurch kaum begegnen, geniessen die Geselligkeit und den bezahlbaren Imbiss an diesem letzten Tag des Jahres. Hier kennt jeder jeden. Nebst den Feierlichkeiten zum Jahreswechsel gilt ihr Interesse auch den Enthüllungen des Schweizer Privatdetektiven Florian Räber.

«Bereits zum zweiten Mal habe ich das Vergnügen, unseren Gastreferenten, Florian Räber aus der Schweiz, bei uns begrüssen zu dürfen. Ihn als Redner mit seinen hochspannenden Erfolgsberichten hier zu haben, ehrt mich besonders.» Auch die Tatsache, sein Lokal bis auf den letzten Platz ausgebucht zu wissen, lassen Romain Tendre, den Wirt des La Taverne Provencale, die Worte sichtbar stolz über die Lippen gleiten.

Heftiges Gelächter erfasst die Gäste beim zweiten missglückten Versuch Tendres, den Namen Räber einigermassen verständlich auszusprechen. Die Chinesen mit dem für sie unmöglich auszusprechenden Buchstaben «R» lassen grüssen.

Die Stimmung unter den ungefähr vierzig Gästen könnte nicht besser sein. Roter Gigondas in den Gläsern, das fein duftende Omelette mit Kräutern und Schinken auf den Tellern, die Geborgenheit an der Wärme und das zu erwartende Referat von Florian Räber sind Garant für den erfolgreichen Verlauf dieses Abends.

Romain Tendre hebt das Weinglas und mit einem Schmunzeln im Gesicht bittet er seinen Referenten, mit seinen Ausführungen zu beginnen. Gläser berühren sich und mit den hellen Klängen der Rotweingläser im Saal hebt sich nicht nur die Stimmung, auch Florian Räber vom Sitz.

«Halt, halt meine Damen und Herren, mit dem Applaus sollten Sie noch warten bis zum Ende meiner Ausführungen – vielleicht halten einige unter Ihnen so lange durch.»

Seine gewinnende Art, notabene auch das dynamische Äussere dieses gutaussehenden zweiunddreissigjährigen Schweizers zieht vor allem auch die anwesenden Damen in ihren Bann.

«Das letzte Mal schilderte ich Ihnen einen mysteriösen Fall, welchen die Schweizer Öffentlichkeit lange beschäftigte. Heute ist es ist mir ein Anliegen, Ihnen zuerst, vor der eigentlichen Kriminalgeschichte, meinen unkonventionellen Werdegang zum Privatdetektiv aufzuzeigen.

Schon als Junge begleitete mich so etwas wie einen siebten Sinn. Auf dem Bahnsteig stand ich immer in sicherer Distanz zu den Schienen, an der Verkehrsampel trat ich einige Schritte zurück – ich könnte ja geschubst werden, oder beim Verlassen unseres Hauses vergewisserte ich mich, dass niemand vor der Türe auf mich lauerte.

Vielleicht habe ich zu viele Kriminalromane gelesen oder unter der Bettdecke mit Kopfhörern haarsträubende Krimis von Edgar Wallace oder Alfred Hitchcock in mich hineingezogen. Trotzdem schlafe ich gut, mein siebter Sinn und Schutzengel steht mir ja tagtäglich zur Seite.

Ich bin in Biel in der Schweiz aufgewachsen. Man spricht in dieser Stadt Deutsch und Französisch. Bekannt wurde Biel durch seine vielen Uhrenmanufakturen, aber auch durch den gleichnamigen See und die Nähe zu den idyllischen Jurahöhen.

Weshalb ich jeweils einen Wintermonat hier verbringe, liegt an der Ruhe dieses herrlichen Hochlandes oberhalb der Côte d’Azur – nicht zuletzt aber auch wegen den freundschaftlichen Beziehungen, die sich zwischenzeitlich entwickelt haben. Als Balsam für meine Seele empfinde ich die Abgeschiedenheit in der alten Bergwerkhütte bei der stillgelegten Eisenerzgrube, einen Kilometer von hier. Ich fühle mich dort geborgen, die Umgebung gibt mir Raum, mich zu sammeln und Ereignisse aus meinem Berufsalltag niederzuschreiben und zu verarbeiten. Besonders belasten mich jene Fälle, in welchen ich aussereheliche Beziehungen aufdecke und als Folge oftmals Ehen daran zerbrechen.

Aber nun der Reihe nach: Alles begann an einem schulfreien Nachmittag. Vier ziellos herumlungernde Typen, ich schätzte sie zwischen dreissig und vierzig Jahre alt, weckten meine Aufmerksamkeit. Meine kriminalgeschädigte Phantasie liess sofort Verdächtiges in ihrem Verhalten erkennen. Vom Schuljungen auf dem Fahrrad, der ich war, nahmen sie keine Notiz. Vermutlich trafen sie sich zum ersten Mal in dieser Gegend, dies jedenfalls entnahm ich ihrer Gestik. Nach einer kurzen Diskussion entfernten sich zwei zu Fuss, die anderen beiden stiegen in einen Skoda mit polnischen Kontrollschildern. Die Nummer notierte ich auf einen Notizblock, den ich seit einiger Zeit auf mir trug. Die Welt ist ja voller potenzieller Verbrecher.»

Lachende Gäste unterbrechen für einen Moment Florian Räbers Ausführungen. Das Glas mit dem roten Gigondas wandert zu Florians Lippen, sein Gaumen sendet wohlwollende Signale in Richtung seiner grauen Zellen.

«Dem Skoda folgen war chancenlos», fährt er fort, «also nahm ich die Verfolgung der beiden andern dubiosen Typen auf. Einmal bei der auf Rot stehenden Verkehrsampel stand ich direkt neben ihnen. Mein Herz schlug dermassen heftig, ich meinte, sie müssten es hören.

In der Nähe der Bijouterie an der Ecke Zentralstrasse/ Kongresshaus tuschelten sie angeregt. Sie bemühten sich, dabei nicht aufzufallen. Dem Jungen auf dem Fahrrad, inzwischen aus der Gegenrichtung heranfahrend, meldete sein kriminalistischer Instinkt, dass diese beiden kaum etwas der Menschheit Zuträgliches im Schilde führten. Wenn ihn nicht alles täuschte, galt ihr Interesse der Bijouterie.

Schnurstracks fuhr ich zum Polizeiposten von Biel. Der Beamte hinter der Theke, abgestumpft von alltäglichen und dann im Sande verlaufenden ‚ ‹immer wichtigen Hinweisen›, trat nicht auf meine Beobachtungen ein. Ich liess nicht locker und schliesslich war er bereit, meinen Zettel mit dem notierten polnischen Nummernschild bei sich zu behalten. Nicht einmal meinen Namen oder die Wohnadresse wollte er wissen. Frustriert verliess ich den Polizeiposten. Sicherheitshalber hatte ich die Nummernschilder für mich ebenfalls notiert – man kann ja nie wissen. Am Folgetag in der Schule herrschte Aufregung. Es war am späteren Nachmittag, ich erinnerte mich noch ganz genau. ‹Das musst du sein›, bestürmten mich meine Schulkollegen. Im Radio sei ein Anruf der Polizei erfolgt. Vergangene Nacht sei eine Bijouterie in Biel ausgeraubt worden. Ein Junge mit Fahrrad hätte der Polizei wichtige Hinweise zur Verhaftung dieser ausländischen Einbrecherbande geliefert. Vor der österreichischen Grenze wurden die vier in ihrem Skoda abgefangen und verhaftet – dank meinem Hinweis der Kontrollschilder.

Fortan hiess ich nicht mehr Florian, meine Kollegen riefen mich ‹Verfolgungsjan›.»

Erneutes Gelächter im voll besetzten Speisesaal des La Taverne Provencale.

«Mein Stellenwert bei meinen Schulkumpanen stieg schlagartig. Plötzlich wollten alle bei meinen Kriminalspielen miträtseln. Es handelte sich um Geschichten, die ich mir zu Hause ausdachte und die dann in der Schule von Klassenkameraden gelöst werden mussten. Manuela, das hübsche Mädchen aus der gleichen Schulklasse, schien dagegen immun. Manch schlaflose Nacht durchlitt ich. Sie reagierte nicht auf meine unbeholfenen Annäherungsversuche – Florian war ein guter Kerl, aber leider nicht ihr Typ.

Das Gymnasium beendete ich mit der Matura. Dank meines Abschlusszeugnisses und der Empfehlung der Schulleitung erhielt ich einen begehrten Job in der Rechtsabteilung eines grossen Uhrenkonzerns in Biel.

Jahre später erreichte mich der Anruf einer Dame, deren Stimme ich sofort kannte. Ich musste mich setzen, es war Manuela, die Frau meiner schlaflosen Nächte. Sie sei inzwischen verheiratet und möchte mich in einer delikaten Angelegenheit sprechen.»

Gespannte Ruhe herrscht im Speisesaal der Taverne Provencale, vereinzeltes Hüsteln oder das Geräusch der auf den Tisch zurückgestellten Weingläser unterbrechen die Stille.

«In einem abgelegenen Kaffeehaus in Bern trafen wir uns», fährt Florian Räber weiter. «Manuelas Gesicht, weiblicher und hübscher als damals in der Schulzeit, liess auch einige Sorgenfalten erkennen. Kaum wahrnehmbare Zuckungen um ihre Mundwinkel – ein Zeichen ihrer inneren Unruhe?

Sie erinnere sich noch an meine detektivischen Erfolge in der Schule und auch sonst hätte ich sie immer beeindruckt, sagte sie. Verblüffung liess mich zuerst einmal nach Worten ringen, ich schaute in ihre Augen.

Was will sie von mir, will sie mir schmeicheln, spielt sie mit ihren weiblichen Waffen, weshalb?

Einen Moment der Besinnung, Manuela senkte ihren Blick und begann zu erzählen: ‹Mein Mann ist CEO eines grossen Versicherungsunternehmens mit Hauptsitz in Biel, ich vermute, dass er mich betrügt.›

‹Und warum erzählst du mir dies?›

‹Ich möchte, dass du meinen Mann beschattest.›»

Grinsend wendet sich Florian seinem Publikum zu. «Können Sie sich vorstellen, welche Gefühlsachterbahn ich durchlebte? Dieser Mann heiratete meine Herzdame und nun sollte ich gegen ihn, den erfolgreicheren von uns beiden, ermitteln.»

Gelächter hallt von den Scheiben der Taverne Provencale, einen kurzen Augenblick nur, dann herrscht erneut angespannt Stille.

«‹Ich weiss, dass du in Biel arbeitest, Florian. Und da könnte doch eine kleine detektivische Aufgabe in unmittelbarer Umgebung deines Arbeitsplatzes etwas Abwechslung in deinen Alltag bringen – ich habe grosses Vertrauen in deine Diskretion, selbstverständlich würde ich dich sehr gut bezahlen.› – Fragen Sie mich nicht warum, aber ich liess mich auf ihr Angebot ein und kaum eine Woche nach unserem Treffen erfolgte ihr erneuter Anruf. ‹Heute ist wieder einer dieser Geschäftstermine mit später Nachtsitzung. Mein Mann fährt um vierzehn Uhr von zu Hause weg›, sagte sie. Manuelas Wohnhaus lag im Villenviertel von Biel. Ein schwarzer Mercedes S-Klasse rollte kurz nach vierzehn Uhr den Kiesweg hinunter zur Hauptstrasse. In einem älteren Mazda heftete ich mich ans Heck des Mercedes, immer ein oder zwei Fahrzeuge zwischen uns lassend. Im Altstadt-Parkhaus in Biel entschwand der Mercedes. Wenn Manuelas Mann tatsächlich eine Nebenbeziehung pflegte, dann hatte er für sein Unterfangen das beste Parkhaus, direkt neben der Altstadt und Einkaufsmeile, gewählt. Die Einfahrtszeit hielt ich schriftlich fest. Manuelas Foto ihres Mannes wanderte zwischenzeitlich vor mein Gesichtsfeld. Niemand beim Verlassen des Parkhauses passte auf die Beschreibung. Erst um dreiundzwanzig Uhr dreissig, mit dem Herausfahren des schwarzen Mercedes aus der Parkgarage, endete diese erfolglose und frustrierende erste Beschattung.

Eines war mir klar: Dieser Mann war nicht nur im Beruf erfolgreich, er beherrschte auch die geschickte Tarnung. Mein Killerinstinkt war geweckt, ich würde ihn zur Strecke bringen.

Manuelas nächster Anruf folgte zehn Tage später. Diese lästige Sitzung dauere bestimmt wieder bis gegen Mitternacht, habe ihr treuer Ehemann gemeint. Er könne nicht einmal zu Mittag essen mit ihr.

Um zehn Uhr war ich vor Ort, nicht vor Manuelas Wohnsitz, sondern im zweiten Untergeschoss des Altstadt Parkhauses. Bei meiner ersten Observierung war der Mercedes auf dieser Etage parkiert gewesen.

Menschen leben nach einem Schema, und wenn mich mein Instinkt nicht täuschte, müsste der Mercedes bald im zweiten Untergeschoss auftauchen. Helle Leds erhellten das Untergeschoss. Sie stammen vom erwarteten, nur wenige Meter vom letztmaligen auf das Parkfeld einschwenkenden Mercedes. Der Fahrer beachtete den mit Abfallkübeln beschäftigten Parkwärter nicht – im Gegensatz zum Wärter im orangen Overall, welcher eine hochauflösende Kamera unbemerkt auf den Mercedes richtete. Einige Minuten verstrichen, die Türe der S-Klasse öffnete sich, heraus trat ein Mann um die vierzig, mit Baskenmütze und Schnurrbart. Es sah zwar nicht aus, wie der Mann auf dem Foto, aber es war Manuelas Mann.

Der hat es faustdick hinter den Ohren, meldete mir meine verblüffte innere Stimme.

Noch mehr ins Erstaunen versetzte mich sein zielstrebiger Gang zu einem, nur wenige Meter entfernten, parkierten Renault-Kastenwagen. Ohne sich umzuschauen, setzte er sich hinters Lenkrad und kurz darauf entschwand der Renault auf der Rampe in Richtung Obergeschoss zur Ausfahrt.

Am nächsten Tag erfolgte erneut ein Telefonanruf von Manuela. Ihr Mann sei erst kurz nach Mitternacht nach Hause gekommen, bestimmt hätte ich etwas über seinen Aufenthalt erfahren. Ich fühlte ihre Ängste, sie wusste es, ohne es wirklich zu wissen, ihr Mann hatte eine Affäre. Als ich ihr eröffnete, seine Spur im dichten Strassenverkehr verloren zu haben, schien sie noch mehr geknickt. ‹Manuela, gib mir noch etwas Zeit. Ich muss meine Taktik ändern, informiere mich auf jeden Fall vor seiner nächsten, dir verdächtig scheinenden Geschäftssitzung›.

Weshalb sollte ich sie bereits jetzt mit meinen Erkenntnissen konfrontieren, bestimmt hätte sie ihre Gefühle nicht mehr kontrollieren können und ohne dies zu beabsichtigen, ihren Mann gewarnt.

Manuelas Anruf liess dieses Mal volle vierzehn Tage auf sich warten.

Das Interesse galt nun nicht mehr dem Mercedes, sondern dem Renault-Kastenwagen, welcher zehn Minuten nach der Einfahrt der S-Klasse aus der Parkgarage hinausfuhr. Meine Abklärungen hatten ergeben, dass der Renault auf eine Autovermietfirma in Bern immatrikuliert war. Mit meinem Mazda heftete ich mich erneut ans Heck, dieses Mal ans Heck des Renault-Kastenwagens. Als eine Verkehrsampel direkt vor mir auf Rot wechselte und der Renault in Richtung Osten entschwand, wäre die Beschattungsfahrt beinahe gescheitert. Die Unbeirrbarkeit der Fahrtrichtung bereits vor der Ampel liess vermuten, dass er Biel weiter in östlicher Richtung verlassen würde. Mit übersetzter Geschwindigkeit nahm ich die Verfolgung auf und noch vor dem Stadtende tauchte das Heck des Renault in mein Blickfeld.

In Solothurn lag das Ziel seiner Fahrt. Abseits der Hauptachse, einige Querstrassen weiter, vor einer grossen Wohnüberbauung hielt der Renault. Einige prüfende Blicke nach links und rechts, dann verschwand der Mann mit Schnurrbart und Baskenmütze im Haus Nr. 18b.

Endlich fand auch ich eine Parklücke, wobei es mir wichtig erschien, nicht in unmittelbarer Nähe des Renault zu parkieren.

Die Liste mit den Namen der Bewohner beim Hauseingang hielt ich auf meinem Handy fest. Neun Parteien bewohnten das Gebäude – vier davon begannen mit ‹Familie›.

Eher unwahrscheinlich, dass eine Ehefrau Manuelas Nebenbuhlerin sein könnte – aber auch nur so eine Vermutung.»

Schallendes Gelächter in der Taverne Provencale. Die Franzosen scheinen ihren Ehefrauen einiges an geheimen «Missionen» zuzutrauen. Der Film mit Catherine Deneuve «Belle de jour» taucht in diesem Augenblick in Florian Räbers Gedächtnis auf. Nun erfasst auch ihn ein heftiger Lacher.

«Drei Namensschilder lauteten auf männliche Vornamen», fährt Florian Räber weiter. «Zwei auf weibliche. Die eine wohnte im Erdgeschoss, die andere im bestimmt teuren Dachgeschoss. Ihr Name Alexandra – Sie werden verstehen, dass ich hier nichts Weiteres preisgeben darf.»

Aus dem Publikum melden sich zwei Männer gleichzeitig: «Warum nicht, wir würden uns für nähere Abklärungen gerne zur Verfügung stellen!»

Erneutes Gelächter, Gläser klingen, der Wirt ist damit beschäftigt, Nachschub an rotem Gigondas auf die Tische zu stellen.

«Die Einsichtnahme von Alexandras Facebook-Profil liess einen Besucher nicht im Unklaren, in welche Richtung ihre Interessen gingen. Ungefähr 35 Jahre alt, ausgesprochen hübsch, offenherzig und mit sehr weiblichen Rundungen, als Beruf stand PR-Beraterin.

Manuelas Mann und diese PR-Beraterin würden kaum den Fehler begehen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, dachte ich mir.»

Erneut heftiges Gelächter.

«Wie aber sollte es mir gelingen, ein kompromittierendes Foto zu schiessen. Die Türe beim Hauseingang schloss automatisch, also kein Durchkommen. Der Lift führte bestimmt ins oberste Geschoss, aber auch da dürfte Endstation sein. Ich hätte ja ein Versteck für mich und die Kamera gebraucht. Ein Foto von Manuelas Mann beim Betreten und Verlassen der Wohnüberbauung mit genauer Zeitangabe würde einige Rückschlüsse ergeben, als Beweismittel in einem Scheidungsprozess aber bestimmt nicht genügen.

In ungefähr fünfhundert Meter Entfernung ragte ein markantes Betongebäude aus der Anonymität der Stadt Solothurn. ‹Mühle Eichenau› stand auf dem nackten Betonkörper. Grosse Silolastwagen entluden oder luden ihr Weizengut über verschiedene Förderstationen vom oder ins Gebäude. Kurzfristig parkierte ich den Mazda auf einer Nebenstrasse. Vom Dach dieses Gebäudes müsste ich direkte Sichtverbindung zur Wohnüberbauung und Alexandras Wohnung erhalten. Beim Emporsteigen im Treppenhaus nahm niemand Kenntnis von mir. Unbehelligt erreichte ich das Dach der Mühle Eichenau. Alexandras Wohnüberbauung erkannte ich – Einzelheiten waren infolge der grossen Distanz nicht möglich.

Diese Tatsache dürfte dieser Alexandra ebenfalls bewusst gewesen sein, und sie sah kaum eine Notwendigkeit, Storen oder Vorhänge in ihrer Wohnung zu schliessen. Unverrichteter Dinge verliess ich das Dach der Mühle Eichenau, aber ich hatte einen Plan.

In einem Optikergeschäft in Biel mietete ich ein für die Beobachtung des Sternenhimmels bestimmtes Teleskop mit riesiger Brennweite.

Ausser Atem schleppte ich dieses fünfundzwanzig Kilogramm schwere Teleskop mit Stativ an jenem Nachmittag aufs Dach der Mühle Eichenau. Auslöser für den beschwerlichen Gang aufs Dach war Manuelas Anruf am Vortag und der Hinweis, ihr Mann hätte an diesem Tag erneut eine nicht zu verschiebende Geschäftssitzung.

Ohne genau zu wissen, wann ihr Mann tatsächlich in Alexandras Wohnung auftauchte, und ob er vielleicht anderweitigen Verpflichtungen nachkommen musste, richtete ich mich auf dem Mühlendach ein.»

Beim Hinweis mit den anderweitigen Verpflichtungen erfasst erneutes Schmunzeln die Gäste im Saal.

«Gestochen scharf erkannte ich nun Details wie Wohnzimmer, die Küche, leider nicht das Schlafzimmer, es musste sich auf der Rückseite des Hauses befinden. Gegen vierzehn Uhr kam Bewegung ins Wohnzimmer. Alexandras Facebook-Profil hatte nicht zu viel versprochen. In aufreizendem schwarzem Babydoll mit schwarzem Tüll-Umhang und Strings, eher einem Nichts aus Kleidung, erschien sie im Wohnzimmer. Ich vermutete, dass sie in diesem Moment kaum beabsichtigte, Haushaltarbeiten zu erledigen.»

War es vorhin Schmunzeln, ist es nun heftiges Gelächter, welches der angespannten Situation wegen, sofort wieder verstummt.

«Alexandra verliess das Wohnzimmer, ihre eleganten, in High Heels steckenden Beine, traten erstmals ins Blickfeld. Zurück im Wohnzimmer, stellte sie eine Flasche Moët & Chandon mit zwei Gläsern auf den Clubtisch.»

Schelmische Lachfalten prägen Florian Räbers Gesicht und ebenso schelmisch meint er: «Ich musste nicht davon ausgehen, dass Staubsauger Moët & Chandon trinken.

Alexandra war sichtlich nervös, vermehrt blickte sie hinunter in Richtung Parkplatz und auf ihre Uhr am Handgelenk. Dann verschwand sie aus dem Blickfeld.»

Die Anspannung in der Taverne Provencale ist kaum mehr zu toppen – die Luft zum Zerreissen angespannt.

«Zwei Minuten verstrichen, ein Mann trat ins Blickfeld. Eine leidenschaftliche Umarmung der beiden folgte. Erst nach und nach lösten sie sich aus der Umarmung und ein erstes Mal erkannte ich das Gesicht des Mannes, es war Manuelas Ehemann. Im Sekundentakt erfolgte das Klick meiner Kamera. Alexandra sass auf dem Schoss ihres Liebhabers, beide schlürften das edle Getränk – etwas umständlich, aber irgendwann schafften sie es doch noch, die Gläser zu leeren. Die eine Hand um Alexandras Taille, die andere etwas weiter oben, verliessen die Turteltauben das Wohnzimmer. Ich wusste, wohin sie wollten», und an das Publikum gewandt, «wenn mich nicht alles täuscht, Sie auch.»

Als ob jemand einen Schalter umdreht, löst sich die Anspannung im Saal. Gläser heben sich und übermütiges Lachen erfasst alle Anwesenden. Mit fragender Mimik wendet sich Florian Räber an die Gäste im Saal.

«Ich habe Sie jetzt bald eine halbe Stunde mit dieser einleitenden Geschichte über meinen Werdegang zum Privatdetektiven strapaziert. Eigentlich hatte ich beabsichtigt, meinen ersten professionellen Fall aufzuzeigen, dies würde jedoch nochmals eine Stunde Ihre kostbare Zeit beanspruchen – soll ich hier aufhören, oder möchten Sie diese Geschichte auch noch hören?» Wogender Applaus hallt durch den kleinen Speisesaal und es fallen Worte wie: «weiter, weiter», «wird bestimmt auch so spannend», «du wirst auch andere zur Strecke bringen» und so weiter, und so weiter.

Nach einer zehnminütigen Kaffeepause, einige suchen die Erfrischung an der eisigen Kälte, andere bleiben heftig diskutierend im Saal sitzen. Das Geschirr wird vom Personal weggetragen, dafür stehen nun einige Desserts oder der bei Franzosen geliebte Calvados auf den Tischen.

«Mein Fotomaterial war sehr umfangreich», beginnt Florian Räber erneut. «Ich wollte Manuela nicht unnötige Schmerzen zufügen und sandte ihr nur die eindeutig verfänglichen, nicht aber die leidenschaftlichen Aufnahmen. – Wie Sie richtig vermuten, befassen sich nun Scheidungsanwälte mit Klagen und Rechtfertigungen – bestimmt dürfte dies eine teure Angelegenheit werden.»

Florian Räber blickt in fragende Gesichter.

«Ich weiss, was Sie wissen möchten. – Ja, ich bin noch in Kontakt mit Manuela. Zweimal trafen wir uns seither zum Diner. Es sind jedes Mal schöne Momente – für mich jedenfalls. Bei Manuela bin ich mir nicht sicher. Sie brauche Zeit zur Besinnung und möchte vorerst keine neue Beziehung eingehen, meint sie. Ihr Interesse gilt nun ihrem Töchterchen – sie liebe es über alles und werde für das Kind kämpfen», und in Gedanken versunken fährt Florian fort: «Ich glaube, sie liebt ihren Mann noch immer.»

So etwas wie Mitgefühl wird in der Taverne Provencale in diesem Moment fühlbar. Florian Räber gönnt sich einen Schluck Gigondas. Das kleine Intermezzo ist überwunden, seine vorher gelebte Souveränität nimmt wieder Besitz seiner Handlung.

«Können Sie sich vorstellen, wie überrascht ich war, als mich Wochen später ein Anruf von Manuelas Mann erreichte. Er ersuchte mich um einen Termin im Hauptsitz seiner Versicherungsgesellschaft. Was wollte er von mir? Sein Fall war doch absolut eindeutig. Zögernd nahm ich seine Einladung an. Wir verabredeten uns auf einen Donnerstagmittag um vierzehn Uhr. Die Empfangsdame führte mich ins Besprechungszimmer.

Ich muss gestehen, es gab in meinem Leben angenehmere Momente als diesen, im exklusiven Besprechungszimmer der Versicherungskonzerns zu stehen.»

Belustigte Gesichter, bestimmt auch ein bisschen dem Einfluss des Calvados zuzuschreiben, strahlen im Raum.

«Was erwartet mich in der Höhle des Löwen? Würde Manuelas, des Ehebruchs überführten Ehemann sich mit hochrotem Kopf auf mich stürzen, mich tätlich angreifen oder eventuell mir eröffnen, mich juristisch zur Rechenschaft zu ziehen?»

Angespannte Stille herrscht in der Taverne Provencale.

«In dunklem Nadelstreifenanzug und Krawatte – notabene ohne Baskenmütze und Schnurrbart, betrat François Dorberg mit breitem Lächeln im Gesicht den Besprechungsraum.»

Raunen hallt durch den Saal des Taverne Provencale.

«Mir erging es nicht anders wie Ihnen in diesem Moment: Es gelang auch mir nicht, meine Verblüffung zu verbergen. Alles hatte ich erwartet, nur nicht einen lächelnden Mann. ‹Herr Räber, darf ich Ihnen einen Kaffee offerieren, Sie nehmen doch bestimmt noch einen kleinen Cognac dazu›, eröffnete er das Gespräch.

Ich musste ziemlich betroffen aus der Wäsche geschaut haben, als wir uns am Besprechungstisch gegenübersassen.

‹Ihre Vorgehensweise bei der Enttarnung meines Verhältnisses hat mich sehr beeindruckt – das war grosse Klasse› ‹Es mag für Sie paradox klingen, Ihnen dieses Kompliment zu machen, immerhin geht nun meine Ehe wahrscheinlich zu Bruch – aber›, mit bestimmtem Blick auf mich gerichtet, ‹wir könnten Ihre Hilfe gebrauchen.›»

Totenstille im Saal der Taverne Provencale.

«‹Lassen Sie mich erklären›, fuhr François Dorberg weiter, ‹unsere Versicherungsgruppe zählt weltweit über eine Million Versicherungsnehmer. Betrügereien gibt es seit Menschengedenken, so auch bei unserem Versicherungsunternehmen. Seit zwei Jahren häufen sich Haftpflichtschäden, in einem von uns versicherten Bereich. Wir vermuten, dass es sich um Betrugsfälle handelt, aber es gelang uns bisher nie, schlagkräftige Beweise gegen die vermeintlichen Betrüger zu sammeln. Allein im letzten Jahr belief sich die Schadensumme auf über zwei Millionen Schweizer Franken. Die Masche verläuft in den meisten Fällen nach dem gleichen Schema. Ein Fahrzeug stoppt abrupt. Dem hinterherfahrenden Wagen gelingt es nicht mehr, rechtzeitig zu bremsen. Eine Auffahrkollision resultiert als Folge. In der Rechtsprechung ist der Fahrer des hinteren Automobils der Schuldige. Ist er bei unserem Versicherungsunternehmen versichert, bezahlen wir doppelt. Den Schaden des Schadenverursachers und natürlich auch den Schaden des vorausfahrenden Fahrzeuges. Von Seiten der Polizei erhalten wir die Unfallrapporte, nie aber schlüssige Erklärungen, weshalb der Vordermann unmotiviert seine Bremsen betätigte. Wir sehen einzig die Aussagen vom Schadenverursacher auf dem Unfallprotokoll, und die lautet in etwa immer gleich: Eine Katze sprang vor mein Auto, dann ist es ein Hund, welcher über die Strasse rannte, einmal war es sogar eine Entenfamilie.

Auffallend bei diesen Schadenfällen – die den Auffahrunfall provozierten Fahrzeughalter sind in rund achtzig Prozent der Fälle Fahrer aus Oststaaten.

Waren zuerst nur Automobile im Raume Zürich in solche Auffahrunfälle involviert, grassiert nun eine richtige Epidemie an Auffahrunfällen in der ganzen Schweiz. Und noch etwas lässt uns aufhorchen, keines der beschädigten Fahrzeuge der Unfallopfer …»

Beim Wort «Unfallopfer» geht ein Lacher durch den Saal. Florian Räber wiederholt den Satz. «‹Keines der durch diesen Heckaufprall stark beschädigten und in der Regel teuren Fahrzeuge weist einen höheren Kilometerstand auf. Das heisst: Nicht nur der Schaden am Fahrzeug ist sehr hoch, auch die entsprechenden Reparaturkosten gehen massiv ins Geld. Wir bezahlen den Schaden – ob sie dann tatsächlich repariert werden, wissen wir nicht.› François Dorberg führte die Kaffeetasse zum Munde und gönnte sich einen Schluck Cognac aus dem Schwenker. ‹Sie, Herr Räber, sagen wir dem einmal so, haben auf unkonventionelle Vorgehensweise bewiesen, schwere Fälle zu lösen.› Ein breites Grinsen überzog sein gebräuntes Gesicht. ‹Wir möchten Ihnen ein Angebot unterbreiten und Sie als Ermittler in unser Unternehmen, als zuständiger Leiter für ungeklärte Schadenfällen einstellen.› Er liess mir keine Chance zu einer Antwort. Bevor ich mich äussern konnte, fuhr er weiter. ‹Über die Höhe ihres Salärs brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen – wir sind ein sehr grosszügiges Unternehmen.›

‹Herr Dorberg, gehen wir einmal davon aus, ich trete auf Ihr Angebot ein und es gelingt mir, den Fall aufzuklären, wie sieht die nähere Zukunft bei Ihnen aus? Ich bekleide einen verantwortungsvollen Job in der administrativen Verwaltung eines Grosskonzerns. Ich werde diese Stelle nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.›

Herrn Dorbergs Antwort erfolgte postwendend: ‹Wie ich Ihnen anfangs bereits erklärte, nehmen die Betrugsfälle in sämtlichen Versicherungsbereichen zu – Ermittlungsfunktionen werden auch in Zukunft immer wichtiger.›»

Und an die Gäste im Saal gerichtet meint Florian Räber: «Mein kriminalistisches Gedankengut war geweckt – ich nahm den Job an.

Diese mysteriösen Häufungen von Auffahrunfällen wurde mein erster Fall. Ich studierte mich in die Dossiers ein. Zehn Adressen der sogenannten Geschädigten, alle im Umkreise von fünfzig Kilometern um Biel wohnhaft, unterzog ich einer näheren Prüfung. Wie von Herrn Dorberg bereits erwähnt, betrafen diese Schadenfälle in der Schweiz wohnhafte, aus osteuropäischen Ländern stammende Menschen, und wie sich später herausstellte, war keiner im Besitze einer längerdauernden Niederlassungsbewilligung in der Schweiz. Der Jüngste war erst zwei Monate hier ansässig und der Älteste noch keine zwei Jahre. Bei mir läuteten die Alarmglocken: Zwei Monate in der Schweiz, fährt einen teuren Audi – und dann wird dieser Audi infolge eines unverhofften Bremsmanövers auf offener Strasse zu Schrott gefahren.

In der Schweiz wird der Persönlichkeitsschutz hoch geschrieben. Erst nach mehrmaligen, mühsamen Versuchen, auf dem Strassenverkehrsamt an die gewünschten Informationen zu gelangen, erhielt ich Auskunft über den Fahrer dieses Audi. Meine Verdienste in der Schulzeit halfen mir schliesslich zum Durchbruch. Zehn Tage nachdem der Audi-Fahrer in die Schweiz eingereist war, erstand er diesen Wagen bei einem albanischen Autohändler in der Nähe von Biel. Zwei Wochen lang beschattete ich den Audi-Fahrer. Er wohnte in einer Vorortsgemeinde von Biel und teilte die bescheidene Bleibe mit Frau und einem Kleinkind. Einer geregelten Arbeit ging er offensichtlich nicht nach. Jeden Tag um neun Uhr verliess er sein Haus, um sich mit Kollegen in einer Spelunke zu treffen. Glauben Sie mir, nur ein Lebensmüder Schweizer hätte einen Schritt in diese, von dunkelhäutigen Bodybildner-Typen besuchte Kneipe gewagt.»

Jemand im Speisesal der Taverne Provencale hebt den Schwenker und stösst auf die Ausführungen Florian Räbers an. Applaus reflektiert von den Fenstern und nun sind es auch die Frauen, welche heftig klatschend die sofortige Weiterführung Florians spannender Geschichte fordern.

«Als nächstes», fährt Florian Räber weiter, «galt mein Interesse dem albanischen Autohändler. Nach aussen präsentierte sich dieser unscheinbare Garagenbetrieb mit einigen älteren Gebrauchtwagen ums Haus stehend, völlig harmlos. Ein teureres Fahrzeug wie den Audi fand sich nicht in seinem Angebot. Woher hatte er wohl diesen, nicht in sein Sortiment passenden teuren Audi? Noch eine andere Ungereimtheit weckte mein Interesse – war am Tag kaum Bewegung in seiner Garage, sah es in der Nacht vollkommen anders aus. Hecktisches Treiben herrschte. Mindestens zwei Männer werkelten teilweise bis nach Mitternacht im Garagenbetrieb.

Ich musste eine Gelegenheit finden, in diese Werkstatt zu gelangen. Aber wie? Die Türen wurden immer verschlossen und ein Eindringen durch Einschlagen einer Fensterscheibe hätte die vermeintliche Autobande gewarnt.

Ein Werkstatt-Van gehörte zum Unternehmen. Morgens wurde er aus der Garage gefahren und am Abend oder eben in der Nacht wieder hineingestellt. Über die gesamte Zeit meiner Beobachtung wurde er nie benutzt. Während einer Mittagspause schlich ich in den Laderaum des fensterlosen Vans. Vorher aber orientierte ich meinen Versicherungskonzern über meine Absicht. Es könnte ja sein, dass ich entdeckt würde und dann – Sie können sich vorstellen was dann geschehen könnte.»

Herrschte vorher Totenstille im Saal, geht nun ein Raunen durch die Menge.

«Um dreiundzwanzig Uhr fünfundzwanzig wurde die Fahrertüre des Vans geöffnet und Sekunden später setzte sich der Van in Bewegung. Zwei, drei Rumpler, dann stand er wieder. Wir mussten uns im Innern der Garage befinden. Vereinzelt waren noch Männerstimmen in einer mir nicht bekannten, ich nehme an, albanischen Sprache zu hören, dann schloss sich laut quietschend ein schweres Tor. Ich wartete eine lange Viertelstunde. Den Schrecken beim Moment des Aussteigens vergesse ich nicht mehr. Ich stolperte über ein am Boden liegendes Metallrohr, welches laut polternd durch die Werkstatt rollte. Das Glück stand mir Pate – die Garagenbetreiber waren ausser Hörweite.

Mit dem schwachen nach unten gerichteten Display-Licht tastete ich mich durch die Garage.

Ein S-Klasse Mercedes mit ausgebautem Armaturenbrett stand in einer von aussen nicht einsehbaren hinteren Ecke. Hatte ich bereits einen Volltreffer gelandet? Ein S-Klasse Mercedes mit ausgebautem Armaturenbrett in dieser Schmiede von einer Garage – das roch gewaltig nach Betrug. Bestärkt wurde meine Vermutung durch die verschiedenen Fahrzeugausweise im von Müll und lose umherliegenden Papieren vollgestopften Büro.

Zwei Fahrzeugausweise fanden sich zuoberst auf einem Haufen, lauteten auf denselben Mercedes. Einer mit Adresse eines rumänischen Halters, der andere auf einen Besitzer in der Nähe von Biel. Die Fahrgestellnummern stimmten nicht überein. Das auf den rumänischen Halter lautende Wartungsheft wies einen Kilometerstand von 350’000 auf. Der auf einem Papierstapel liegende Mercedes Kilometerzähler lediglich deren 35’000. Keine Frage: Dieser Tachometer wurde um dreihundertfünfzehntausend km zurückgestellt. Erst allmählich begriff ich den Grund, der in einem Nebenraum auf einem Sockel eingeschraubten Lämpchen. In Sekundenabschnitten schalteten sie ein und aus. Eine Heizlampe strapazierte diese Birnen zusätzlich.

In all den Unfallprotokollen monierten die Besitzer der auffahrenden Fahrzeuge, kein Bremslicht am vorausfahrenden Fahrzeug erkannt zu haben. Weshalb? Weil die Stopplampen nicht mehr funktionsfähig waren. Die Verbrecher hätten sie auch einfach zerschlagen können, aber, und dies war den Ganoven bewusst, bestand das Risiko, dass beim Aufprall nicht jedes Mal das komplette Rücklicht zerstört würde. Eine zerschlagene Birne in einem noch intakten Rücklicht – da würde jeder auch nicht Experte wissen, welche Musik hier gespielt wird. Abgedeckt mit meiner Jacke, den Blitz aus meinem Handy könnte mich sonst verraten, fotografierte ich die beiden Fahrzeugausweise und den ausgebauten Kilometerzähler.»

Florian Räber gönnt sich einen Schluck Evian-Mineralwasser. Die Anspannung im Saal könnte man mit dem Messer schneiden, in den Köpfen der Gäste frisst sich der Gedanke fest, ihre eigenen Atemzüge würden Florian Räber verraten.

«Das grosse Garagentor hätte sich von innen öffnen lassen», fährt Florian fort. «Aber, und das wissen auch Sie, ein nicht verschlossenes Garagentor hätte die Verbrecher gewarnt und als Folge den Mercedes sofort verschwinden lassen. Ich musste das Spiel zu Ende bringen, wie ich es begonnen hatte. Endlose Stunden sass ich nun erneut im Laderaum des Werkstatt-Vans. Ich hielt den Atem an, als ich um acht Uhr morgens erste Schritte hörte. Öffnete nun jemand die hintere Laderaumtüre und ich wäre in der Falle gesessen oder führten die Schritte hinters Lenkrad des Vans? Das Geräusch des Anlassers und noch mehr das laute Anspringen des Diesels empfand ich als Segen Gottes. Wie am Vortag stand der Van kurz darauf vermutlich erneut auf seinem angestammten Platz auf dem Garagenvorplatz. Am Mittag, um zwölf Uhr fünfzehn, verstummten letzte Männerstimmen. Zwischen den beiden Vordersitzen gelangte ich in die Fahrerkabine. Das Verlassen des Vans bei eingeschränkter Sicht nach vorne und etwas zur Seite glich einem Blindflug. Gott sei Dank befand sich keine Menschenseele über die Mittagszeit auf dem Garagenareal.

Es sollte trotzdem nochmals hektisch werden. Wenige Schritte in Richtung Strasse näherte sich ein schwarzer Nissan. Die Insassen, vier grimmig aussehende Männer, beobachteten argwöhnisch den zu Fuss vom Garagenareal wegschreitenden Mann. Kalter Schweiss rann über meine Stirne – eine Minute später ausgestiegen … – ich wage nicht mehr daran zu denken. Meinen Wagen, ein unscheinbarer Van mit der Aufschrift ‹Bodenbeläge und Keramikarbeiten› in einer Seitenstrasse parkiert, erreichte ich unbehelligt. Die Berner Kantonspolizei nahm sich des Falles an. Wie mir später mitgeteilt wurde, dauerte die Observation durch die Polizei weitere zwei Wochen. Man wollte zuerst herausfinden, über welche Kanäle die Verbrecher an Fahrzeugausweise auf Originalpapier und diversen Stempeln und Zertifikate gelangen konnten, und ob weitere Garagenbetriebe involviert waren. Auf insgesamt drei Standorten, dezentral über die Schweiz verteilt, erfolgten die Manipulationen an den Fahrzeugen. Eine koordinierte Razzia führte schliesslich zur Verhaftung von sechzehn aus Albanien und Rumänien stammenden Männern und der Zerschlagung des Verbrecher-Syndikates.»

Männlein und Weiblein erheben sich, heftiger Applaus hallt im Speisesaal der La Taverne Provencale. Florian Räbers zufriedener Gesichtsausdruck lässt seine Genugtuung spüren.

Auch er gönnt sich einen kräftigen Schluck Calvados und an die Zuhörer gewandt: «Ich hoffe, es ist mir gelungen, Ihnen einige interessante Einblicke in meine Tätigkeit als Privatdetektiv zu vermitteln. Vielleicht sehen wir uns ja nächstes Jahr wieder. Wie bereits erwähnt, sprach mein CEO von vielen ungelösten Fällen – ich kann Ihnen bestätigen, dass dem so ist.»

Es ist Mitternacht, Korken knallen, Raketen – Fehlanzeige. Sie würden im Schneesturm sowieso verblassen, zudem leben wir hier im kargen Hinterland und nicht im pulsierenden Luxusleben an der Küste.

Die Einwohner von Gourdon, meistens Bauern, gehen früh zu Bett, so auch an diesem ersten Januar. Händeschütteln, Dankesworte und immer wieder: «Ich freue mich schon heute auf nächsten Silvester …» Dann leert sich allmählich der Speisesaal.

Romain Tendre begleitet Florian Räber zur Türe, er drückt ihm einen Einhundert-Euro-Schein in seine Hand. «Florian, das war spitze, heute lade ich dich zum Mittagessen ein. Du kommst doch, ich freue mich schon jetzt auf deinen nächsten Fall im neuen Jahr.»

Die beiden umarmen sich.

Florian tritt in die eisige Kälte dieser dunklen Januarnacht. Heftiger als vor Stunden fegt der Schneesturm durch die schmalen Gassen Gourdons. Seine Kleidung ist der eindringenden Kälte nur ungenügend gewachsen. Das Hochkrempeln des Mantelkragens bringt wenigstens in der Halsgegend etwas Erleichterung. Noch begleiten ihn zahlreiche Fussspuren, der in ihre Häuser zurückkehrenden Besucher der Taverne Provencale, bis sich auch die letzten im Nichts verlieren. Unheimliche Stille, nur das Heulen des Windes und seine eigenen, durch den inzwischen zwanzig Zentimeter hohen Neuschnee stapfenden Schritte, erreichen sein Gehör.

In diesem Moment fühlt sich Florian einsam, einsamer als der einzige Mensch auf diesem Planeten.

Im Handy-Licht taucht sein Mercedes aus der unwirklichen vom Schneegestöber zusätzlich sichtbehindernden, gefrässigen Dunkelheit. Das elektrische Heizsystem seines GLE 500e hat ganze Arbeit geleistet. Scheiben und Dach sind völlig schneefrei. Wohlig räkelt er sich im geheizten Innenraum seiner vierrädrigen Burg. Der schwere SUV setzt sich in Bewegung. Markierpfähle zur Linken und Rechten weisen ihm den Weg durch das Kurvengeschlängel in Richtung seiner Blockhütte. Eine Fahrverbotstafel tritt aus der Anonymität. Florian Räber ignoriert sie, sein vierradgetriebenes Fahrzeug würde auch bei höherem Schneevorkommen nicht liegen bleiben. Jetzt die Abzweigung zur Hütte nicht verpassen – auch dieses Unterfangen ist geschafft. Umrisse der Hütte und des angrenzenden Schuppens werden sichtbar. Florian öffnet die Schuppentüre und Augenblicke später steht der Mercedes im trockenen Innenraum des Schuppens.

Seine ihm angeborene Sicherheitslogik nicht aus den Augen verlierend, nähert er sich der Blockhütte.

Keine Fussspuren im Neuschnee, niemand war zwischenzeitlich hier. Wer sollte auch Interesse an dieser weit jeglicher Zivilisation entfernten einfachen Blockhütte finden? Ein leises Unbehagen bleibt. Florian war Zeuge beim Prozess der Autoschieber-Bande und sass bei der Gerichtsverhandlung den Tätern gegenüber. Zu mehreren Jahren Gefängnis mit anschliessendem Landesverweis wurden die Männer verurteilt.

Man wusste von Komplizen in Rumänien und Albanien, welche jedoch nie gefasst oder überführt werden konnten – Florian schaudert.

Das schwere Schloss an der Türe lässt sich ohne Probleme öffnen. Schneller als sonst tritt Florian ins Innere der Hütte und ebenso schnell sind die beiden Sicherungsschieber in ihre Schliessposition gerückt. Florians Blick schweift durch den grossen Raum. Die tiefe Innenraumtemperatur lässt ihn den Weg zum Schwedenofen einschlagen. Das Feuer ist erloschen, immerhin strahlen der Ofen und die durch den Raum führenden Ofenrohre noch etwas Wärme in den Raum. Die zweite Wärmequelle, das offene Holzfeuer im hinteren Teil der Hütte brannte höchstens eine Stunde, seine Wärmestrahlung ist inzwischen verflogen.