Die Bedrohung fährt hinterher - Patrick Salm - E-Book

Die Bedrohung fährt hinterher E-Book

Patrick Salm

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Beschreibung

Der Stahlbauunternehmer Stephan erfüllt sich seinen Traum, nur mit Bike und Zelt ausgerüstet von Zürich an den südlichsten Punkt Spaniens und wieder zurück zu reisen. Bei Kälte und strömendem Regen trifft Stephan in Ronda auf eine völlig verwirrte Frau, die ihm eine entsetzliche Geschichte erzählt. Ihr Ehemann ist auf offener Strasse erschossen worden, die Täter seien nun auch hinter ihr her. Stephan lässt sich auf die Geschichte und die Frau ein und bietet ihr an, die Nacht in seinem Zelt zu verbringen. Die Ereignisse überstürzen sich und lassen Stephan in Abgründe schlittern, die sein eigenes Leben gefährden.

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Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

2. Auflage 2024 © Patrick Salm

Inhaltsverzeichnis

Freitag, 3. April

Samstag, 4. April

Sonntag, 5. April

Montag, 6. April

Dienstag, 7. April

Mittwoch, 8. April

Donnerstag, 9. bis Freitagmittag, 10. April

Freitagnachmittag, 10. April

Samstag, 11. April

Sonntag, 12. bis Mittwoch, 15. April

Donnerstag, 16. April

Freitag, 17. April

Samstag, 18. April

Sonntag, 19. April

Montag, 20. April

Dienstag, 21. April

Dienstag, 21. April, 22 Uhr

Mittwoch, 22. April, 2 Uhr

Donnerstag, 23. April, ab 3 Uhr

Freitag, 24. April

Samstag, 25. bis Sonntag, 26. April

Montag, 27. bis Dienstag, 28. April früh

Dienstag, 28. April, 4.50 Uhr

Mittwoch, 29. April

Donnerstag, 30. April

Freitag, 1. Mai

Freitag, 3. April

Bis auf die Tatsache, dass es an diesem Tag nie aufgehört hat zu regnen, verläuft Stephans Bikereise wie geplant. Erste Spuren der nahenden Dämmerung zeigen sich bereits. Sein vorgesehener Übernachtungsplatz liegt nur wenige hundert Meter von hier entfernt.

Die malerische Touristenstadt Ronda, mittig getrennt durch die imposante Schlucht des Río Guadalevín, zeigt sich im farblosen, wolkenverhangenen dumpfen Licht des regnerischen Tages und lädt nicht zum Verweilen ein.

Vorsichtig, auf nassem Kopfsteinpflaster über die Puente Nuevo, vorbei am Parador-Hotel direkt am Rande der Schlucht und der weltberühmten Stierkampfarena, nähert er sich dem Ortsende der beliebten andalusischen Kleinstadt. Die Wasserspritzer der auf der nassen Fahrbahn rollenden Räder können von den kleinen Kunststoff-Schutzblechen nur dürftig aufgefangen werden. Kein Wunder, dass sich seine Füsse und die Unterschenkel feucht und kalt anfühlen. Trotzdem ist Stephan mit sich und diesem Tag zufrieden. Die notwendigen Einkäufe für die bevorstehende Übernachtung hat er soeben in Ronda getätigt, und die anstrengenden achtzig Kilometer von Marbella hier hinauf in das Städtchen, die er heute zurückgelegt hat, verschaffen ihm innere Zufriedenheit.

Plötzlich und völlig unerwartet, wie aus dem Nichts, steht sie vor ihm. In einem nahen Gebüsch muss sie sich versteckt haben, steifbeinig rennt, oder besser, humpelt sie direkt vor sein schwer beladenes Bike. Obwohl er sehr langsam unterwegs war, kann Stephan einen Zusammenstoss nur knapp verhindern. Sie packt Stephan am rechten Arm – nein, sie umklammert ihn mit eisigem Griff. Er fühlt ihre nasse Kälte.

«Señor, por favor, ayúdame, helfen Sie mir, bitte – helfen Sie mir!»

Verzweiflung spricht aus ihrer Stimme. Ihr dunkelbraunes nasses Haar fällt kraftlos, einem feuchten Schleier ähnlich, über ihr fahles Gesicht. Von den tiefen Augenringen aus läuft das dunkle Makeup über ihre markanten Wangenknochen. Dieser junge, vor Kälte schlotternde Frau ist wahrlich kein schöner Anblick.

Stephans Spanischkenntnisse sind sehr bescheiden. Er kommuniziert mit ihr mehr schlecht als recht auf Englisch und Französisch.

«Helfen Sie mir bitte!», sprudelt es aus ihr heraus.

Sie wiederholt sich mehrmals und fügt mit zittriger und schluchzender Stimme hinzu, dass sie zusehen musste, wie ihr Mann heute Morgen ermordet wurde. Auch sie sei in grosser Gefahr und absolut sicher, dass sie verfolgt werde. Schon den ganzen Tag verstecke sie sich im nahen Gebüsch und dem angrenzenden Schuppen und wisse nicht, an wen sie sich wenden könne.

Sie trägt elegante Kleidung: dunkelbraune Stiefeletten, schwarze Strümpfe, einen dunkelbraunen Jupe und eine pastellfarbene Bluse. Die goldene Armbanduhr, der auffällige Versace-Gürtel und die Etienne-Aigner-Tasche lassen vermuten, dass sie aus wohlhabenden Verhältnissen stammen muss.

Hilflos und bettelnd steht sie vor Stephan. Sie tut ihm leid und gleichzeitig weckt sie sein Interesse. Noch immer am Strassenrand und im Regen stehend bietet er ihr an, sie zur Polizei zu begleiten.

«No, Señor», stöhnt sie, «nur nicht zur Polizei, die ist wahrscheinlich am Mord meines Mannes beteiligt.»

Auch seine Empfehlung für ein nahes Hotel in Ronda stösst auf heftigen Widerstand. Autos fahren an den beiden vorbei und es fällt Stephan auf, wie sie sich jeweils abwendet und den wenigen Verkehrsteilnehmern den Rücken zukehrt. Sie will offensichtlich nicht erkannt werden.

Später sollte sich herausstellen, dass ihr Verhalten richtig war und einen wesentlichen Einfluss auf den weiteren Verlauf dieser unglaublichen Geschichte haben sollte.

Was sollte er tun? Diese vor Kälte und Verzweiflung zitternde Frau mit ihren wirren Aussagen einfach hier stehen lassen? Welche Möglichkeit könnte er ihr noch anbieten?

«Möchten Sie mit mir kommen und in meinem Zelt übernachten?», fragt er die junge Frau.

Verkrampft hält sie die teure Ledertasche in ihren Händen und nickt, ohne lange zu überlegen. Aus ihrer Sicht ist das wahrscheinlich die beste aller schlechten Varianten.

Trotz der Kälte in dieser unwirklichen Gegend ist Stephan hellwach; seine Neugier ist geweckt. Angesichts ihrer Verzweiflung verzichtet Stephan darauf, sie mit Fragen, weshalb sie sich nicht an irgendwelche Bekannte oder einen vorbeifahrenden Automobilisten gewendet habe, zusätzlich zu strapazieren. Später wird er noch genügend Zeit finden, das nachzuholen.

Seinen Regenschutz braucht die junge Frau mehr als er selbst, also zieht er ihn aus und bietet ihn der vor Kälte zitternden Unbekannten an.

Sie ist völlig geschwächt; ihre Arme, klamm vor Kälte, sind nicht mehr in der Lage, den Regenschutz selbst überzuziehen. Stephan hilft ihr dabei und zieht auch die Kapuze über ihr nasses Haupt. Die Jacke schützt sie vor Wind und dem weiteren Auskühlen ihres Körpers. Die Frau ist sehr schlank und für eine Spanierin recht gross gewachsen. Ihr Alter schätzt Stephan auf 30 bis 35 Jahre.

Sein Navigationsgerät, stets ein treuer Begleiter auf dieser Reise, leistet auch jetzt beste Arbeit bei der Suche nach einem geeigneten Übernachtungsplatz, zu dem eine Naturstrasse, einige hundert Meter von hier, rechts von seiner momentanen Route führen soll.

Der schlechten Verfassung seiner Begleiterin wegen nehmen sie sehr langsam die Strecke bis zum Übernachtungsort in Angriff. Auf dem Weg zur Naturstrasse passieren sie ein Trucker-Lokal mit einem grossen Parkplatz, auf dem ungefähr zwanzig schwere Brummer stehen. Aus dem Lokal dringen dumpfe Musikklänge und Stimmenfetzen fröhlicher Menschen, die nichts vom dramatischen Ereignis vor ihrem Lokal ahnen.

Heftig keuchend schiebt Stephan sein Rad mit dem schweren Anhänger auf dem nun eingeschlagenen Kiesweg durch den Wald, den Hügelzug empor. Mehrere Male hält er inne, seine neue Begleitung kann kaum folgen. Sie läuft wie in Trance und ihr wenig für einen solchen Fussmarsch geeignetes Schuhwerk erschwert diesen zusätzlich. Sie ist völlig entkräftet und könnte ohne Stephans Hilfe wohl kaum mehr weiterlaufen.

Auf der Anhöhe verlassen sie den Kiesweg und schlagen eine neue Richtung durch eine nasse Wiese ein.

Sein Instinkt hat ihn noch nie im Stich gelassen. Jede Übernachtungsstelle auf seiner bisherigen Reise war sicher gewählt und nie erlebte er unliebsame Überraschungen. Vor dem jeweiligen Ziel legt er seitlich jeweils zwei- bis dreihundert Meter zurück, immer darauf bedacht, für jegliche Verkehrsteilnehmer unsichtbar zu bleiben. Waldränder oder leichte Geländesenkungen sind Orte, in denen er sich relativ sicher fühlt. Es scheint ihm äusserst wichtig, dass niemand bemerkt, wenn er von der normalen Route abweicht. Im Verlaufe seiner Reise ist er in ähnlichen Fällen oft weitergefahren, um dann wenig später wieder zurückzukehren.

In der momentanen Situation empfindet er es als Glück, an einem regnerischen Tag unterwegs zu sein. Den Autofahrern macht dieses Wetter anscheinend auch wenig Freude, kaum ein Wagen zeigt sich auf der Ausfallstrasse von Ronda. So bleibt es ihm erspart, eine noch längere Wegstrecke abzulaufen.

Die Wiesen sind um diese Jahreszeit noch nicht gemäht und auf dem nassen Gras hinterlassen sein Rad und die Fussabdrücke sichtbare Spuren. Kein Grund zur Beunruhigung, die nasse Witterung arbeitet für die beiden, sie wird diese nicht erwünschten Spuren in Kürze zum Verschwinden bringen. Nur das unter dem Gewicht der Schuhe zusammengedrückte Gras und eigentümliche Quietschgeräusche aus den durchnässten Schuhen begleitet sie in dieser gespenstischen Stille.

Mühsam bewegen sie sich weiter über diesem feuchten Grund. Die rechte Hand führt den Lenker, mit dem linken Arm stützt Stephan seine geschwächte Begleiterin. Eine einigermassen flache Mulde taucht aus dem nasskalten Nichts vor ihnen auf.

Prüfend mustert Stephan die im Dunst auslaufende Umgebung. Dieses Revier scheint für eine unentdeckte Übernachtung geeignet. Aus der rechten hinteren Fahrradtasche entnimmt Stephan sein Fernglas. Langsam schweift sein Blick über die Landschaft. Kein Haus, keine Strasse und auch sonst nichts Beunruhigendes zeigt sich in der schwächer werdenden Abenddämmerung.

«Hier werden wir unser Zelt aufschlagen.»

Mit leerem Blick nimmt sie Stephans Worte zur Kenntnis. Ihr scheint es in diesem Moment völlig gleichgültig, was mit ihr geschieht. Sie hat nicht mehr die Kraft, um weiterzukämpfen. Im nassen Gras kauernd, durchgefroren von der kalten Nässe und vom Windschutz nur wenig geschützt, wartet sie, 15 Grad Celsius zeigt sein Temperaturmesser.

Den Anhänger, in welchem Zelt und Innenausstattung untergebracht sind, koppelt Stephan vom Rad ab. Dies gelingt ihm erst nach einigen Versuchen, denn das Bike kippt auf dem matschigen Untergrund mehrmals auf die Seite.

Als Erstes löst Stephan das Strompanel der kleinen Fotovoltaik-Anlage, welche zuoberst auf der Plane des Anhängers befestigt ist. Sie dient dem Laden der Batterien für Handy und Navigationsgerät, die wassergeschützt in einem Plastikbeutel untergebracht sind.

Dann legt er das zusammengerollte Zelt auf die Wiese. Moderne Technik macht es möglich, ein Zelt auch ohne Zeltstangen, nur mit Luftbahnen im Zelttuch, in Kürze mit einer Luftpumpe aufzurichten. Kaum Wind weht, deshalb verzichtet Stephan auf das Sichern des Zeltes mit Heringen. Die weiche und geschmeidig Schlafunterlage entfaltet sich unter dem Luftdruck der Pumpe ebenfalls sehr schnell und kurz darauf ist auch der wärmende Daunenschlafsack, eine Neuentwicklung aus der Raumfahrttechnik, installiert. Nur noch das Vordach einknöpfen und ihr Igluzelt ist wohnbereit. Die vier Radtaschen sind unter dem Vordach verstaut und den Anhänger schiebt Stephan ebenfalls darunter, wo er regengeschützt ist.

Einen Moment lang verweilt Stephan gedankenversunken in dieser nasskalten, fast menschenfeindlichen Umgebung, er atmet tief durch.

Die letzte Stunde seit der Begegnung mit der unbekannten Frau auf der Strasse wird sich in Stephans Kopf einprägen wie kein Ereignis zuvor. Diese Begegnung sollte den Verlauf seiner Radreise dramatisch verändern.

Behutsam hilft er der Spanierin aus dem nassen Gras und mit seiner Unterstützung gelangen sie ins Zelt. Die junge Frau sollte schnell aus ihren nassen Kleidern. Gemeinsam entledigen sie sich der nicht mehr wärmenden Textilien. Apathisch und schwächlich, die Arme schützend vor ihren Brüsten verschlungen, kauert sie auf der weichen Daunendecke.

Die Situation ist grotesk, vor nur einer Stunde hat Stephan die unbekannte Frau auf der Strasse getroffen. Seit dieser Begegnung haben sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. Er kennt weder ihren Namen noch sonst etwas von ihr und nun sitzt sie unbekleidet und frierend in seinem Zelt.

Stephan übergibt ein trockenes Frotteetuch in die klammen Finger seiner schlotternden Begleiterin. Er möchte sie mit seinen Blicken nicht verletzen und kramt umständlich ein Unterhemd mitsamt Herrenslip aus der Tasche.

Sie zieht sich seine Sachen über und schlüpft in den wärmenden Schlafsack. Zusammengerollt und zitternd wie ein neugeborenes Kätzchen im schützenden Korb liegt sie schwach atmend auf der Seite.

Das Frotteetuch wandert nun über Stephans ebenso regennassen Körper. Wie seine Gefährtin zieht er trockene Unterwäsche an und schlüpft zu ihr, in den bei dieser Kälte wunderbaren und unverzichtbaren Schlafsack.

Unaufhaltsam prasselt der Regen vom Himmel; ihr Zelt, im Moment scheint es wie eine kleine Villa, gibt Schutz und vermittelt Geborgenheit.

Der jungen Frau geht es sehr schlecht, ihre Unterkühlung schwächt sie zusehends. Ihr Gesundheitszustand scheint kritisch, schnelle Linderung ist höchstens durch Stephans Körperwärme möglich.

«Darf ich Sie auf meinen Oberkörper ziehen, Señora?»

Sie antwortet nicht, doch ihr schwaches Nicken signalisiert ihr Einverständnis.

«Helfen Sie mir bitte dabei, ich brauche Ihre Unterstützung!», bittet er.

Sie akzeptiert seinen Vorschlag und lässt das Prozedere über sich ergehen.

Um sie nicht unnötig berühren zu müssen, zieht Stephan sie mit ihren an den Hüften angewinkelten Ellenbogen rücklings auf seinen Oberkörper. Er fühlt die endlose Kälte und das nasse Haar der völlig entkräfteten Frau auf seinem warmen Körper. In diesem Moment, als Beschützer und Retter der leidenden Unbekannten, befällt ihn ein warmes Glücksgefühl.

«Señora, bald geht es Ihnen besser, kämpfen Sie weiter, Sie haben das Schlimmste bereits überstanden», versucht er, sie aufzubauen.

Unaufhaltsam schreitet die Dämmerung voran und legt ihren beruhigenden Mantel über die neblige Regenlandschaft. Bald wird sie die Dunkelheit in ihrer kleinen Welt einhüllen.

Müsste diese Frau nicht so sehr leiden, Stephan empfände diesen Zustand in ihrem Zelt wohlig und schön.

Stephans Entscheidung, sie nicht ihrem Schicksal zu überlassen, erfüllt ihn mit innerer Genugtuung, er möchte ihr helfen, das traumatische Ereignis zu bewältigen und so weit wie möglich Geborgenheit und Sicherheit vermitteln. Mit der Wärme seines Körpers breitet sich auch die Wärme im Daunenschlafsack aus und ihr frostiges Zittern wird von Minute zu Minute schwächer.

Seit Mittag hat Stephan nichts mehr gegessen und entsprechend hungrige Signale melden sich aus seiner Magengegend. Er vermutet, dass auch seine spanische Begleiterin längere Zeit nichts mehr zu sich genommen hat.

Während sie geborgen, halb auf seinem Oberkörper liegend, Wärme tankt, richtet sich Stephan, den momentanen Möglichkeiten entsprechend, etwas auf und macht sich am griffbereiten Gaskocher zu schaffen. Eine würzige Gemüsesuppe steht auf dem Speiseplan.

Herrlicher Duft von Fleischbrühe, Brokkoli, Karotten, Erbsen und Blumenkohl schwängert wenig später die Luft in seinem Iglu.

Ihre Arme und Oberkörper bleiben in der geborgenen Wärme des Daunenschlafsackes, während er Löffel um Löffel der Kraft einflössenden und fein schmeckenden Suppe zu ihrem Munde führt. Sie teilen sich den Inhalt und in kürzester Zeit wird der Boden des Pfännchens sichtbar.

Als Nächstes folgt ein Menu aus Teigwaren und spanischem Jamón. Obwohl nur aus der Büchse, aufgeheizt durch den Kocher, geniesst Stephan diese Kost, als sässe er in einem Fünfsternerestaurant.

Ihr Hunger muss riesig sein: Sie isst, so scheint es, als wäre dies ihre letzte Mahlzeit.

Eine halbe Stunde liegen sie inzwischen beieinander.

Die wohlige Wärme im Daunenschlafsack hat nun auch die Extremitäten ihres Körpers erreicht. Sie müsste sich geborgen und wohlfühlen und dennoch ist ihr Blick traurig und leer.

Als ob sich eine Schleuse öffnet, bricht das heute Erlebte plötzlich aus ihr heraus. Laut schluchzend und heftig zitternd weint sie ihr Leid von der Seele. Mehr zu sich selbst quält und quillt es aus ihr heraus. Auf Spanisch wiederholt sie mehrmals das Unfassbare, das sie heute Morgen erleben musste. Wörter wie «Alejandro», wahrscheinlich der Name ihres Ehemannes, und «morir» fallen immer wieder.

In diesem Moment will sie keine Zuneigung, sie sucht die Trauer nur für sich allein. Das Einzige, was sie von Stephan annimmt, sind die wenigen Papiertaschentücher, die ihm zur Verfügung stehen.

Er lässt ihr die Zeit zum Ausheulen. Es besteht überhaupt kein zeitlicher Druck, vor morgen können sie sowieso nichts mehr unternehmen.

Mit der endgültig einsetzenden Dunkelheit beruhigt sich auch die junge Frau neben Stephan.

An und für sich wäre nun der Abwasch des Geschirrs an der Reihe. Angesichts der fortgeschrittenen Dunkelheit – er müsste jetzt die Taschenlampe zu Hilfe nehmen – verzichtet Stephan dieses Mal darauf.

Das Risiko, in seinem Zelt mit Licht entdeckt zu werden – dieses Mal sogar mit einer Frau, die um ihr Leben fürchtet – ist für Stephan einfach zu gross. Eine Taschenlampe liegt jedoch immer griffbereit; aus Sicherheitsgründen würde er sie nur in einem absoluten Notfall benutzen. Auch den kleinen Kocher verwendet er deshalb nur, solange es draussen noch hell ist.

Das Einzige, was Stephan im Moment noch unternimmt, ist, das Geschirr ungewaschen in einem Plastiksack zu verstauen. Tiere haben ein empfindliches Geruchsorgan und nächtliche Besuche eines Fuchses, eines Wildschweins oder eines anderen Geschöpfes möchte er sich ersparen.

Die wohlige Wärme im Daunenschlafsack und das unaufhaltsame Niederprasseln der Regentropfen wirken entspannend und beruhigend.

Geborgenheit stellt sich ein.

Bald eine Stunde liegen sie nun wortlos in der geborgenen Wärme des Schlafsacks, unaufhaltsam hüpfen die Regentropfen über das Zeltdach und verursachen klatschende, beinahe fröhliche Geräusche. Inzwischen ist es vollkommen dunkel, nur die gegenseitige Körperwärme und die gelegentlich ungewollten Berührungen machen deutlich, dass zwei sehr nahe beieinanderliegen.

«Können Sie mir von dem dramatischen Ereignis, welches Ihnen heute widerfahren ist, erzählen, Señora? Ich möchte Ihnen bei der Verarbeitung der schrecklichen Tat und der Suche nach einer Lösung zur Seite stehen.» Sachte, beinahe entschuldigend, bringt Stephan seine Worte über die Lippen.

Nach einigen Augenblicken der inneren Sammlung beginnt sie zu erzählen. Ihre Stimme wirkt jetzt klarer und gefasst. Gebannt lauscht er ihren beinahe unglaublichen Ausführungen.

«Es war heute, Freitagmorgen, als ich im Wagen zusammen mit Alejandro, meinem Ehemann, zurück nach Madrid fahren wollte. Ursprünglich hatten wir geplant, eine Woche in unserer Ferienwohnung in Marbella zu verbringen. Alejandro war in letzter Zeit oft abwesend und unkonzentriert. Diverse Telefonate von gestern und vorgestern haben ihn besonders beunruhigt. Er war auf Ungereimtheiten gestossen, welche ein Erdbeben in der spanischen Regierung auslösen könnten. Noch wisse er nicht genau, was an dieser Geschichte wahr sei und er müsse wegen Abklärungen möglichst rasch zurück nach Madrid, hatte er mir gesagt. In der Nacht auf heute erreichten ihn zwei anonyme Anrufe. Er schlief kaum und mehrere Male hielt er sich in seinem Büro auf. Er wolle mich auf keinen Fall in etwas hineinziehen, wovon er selbst noch nicht hundert Prozent Gewissheit hatte. Nur so viel wollte er mir verraten: Es handelte sich um ein vermutlich dubioses Ölgeschäft mit einem arabischen Staat, in das hohe spanische Regierungsmitglieder involviert seien. Namen nannte er mir keine. Mein Mann ist … war Anwalt.»

Erneut unterbricht heftiges Weinen für einen Moment ihre Erzählung, bevor sie fortfährt. «Er war Anwalt in führender Funktion im Wirtschaftsministerium. Sein Fachgebiet umfasste internationale Handelsbeziehungen. Auf der Avenida de Ricardo Soriano verliessen wir Marbella Richtung Madrid. Am Ausgang von Marbella fuhr Alejandro seinen Wagen auf eine Bus-Ausweichstelle, gegenüber liegt die Arztpraxis unseres Freundes Silvano.»

Sie berichtet weiter, dass er ihm ein blutdrucksenkendes Medikament verschrieben hatte, was sie nun abholen wollte. Es war halb neun morgens und seine Praxis sollte geöffnet sein. Reger Verkehr belebte an diesem regnerischen Morgen die Avenida und sie brauchte etwas Geduld, bis sie die beiden Fahrbahnen überqueren konnte.

«Beim kurzen Blick zurück beobachtete ich, wie ein Fahrzeug mit Blaulicht im Kühlergrill direkt hinter dem Mercedes-Sportwagen meines Mannes anhielt. Es müsse sich um ein verdecktes Polizeifahrzeug handeln, meinte ich. Das Einparken auf der Busspur war sicher nicht erlaubt und es dürfte einiges an Diskussionsgeschick von Alejandro verlangen, um einer Verwarnung oder Geldbusse zu entgehen. Aus dem vermeintlichen Polizeifahrzeug stieg der Beifahrer aus und begab sich zum Mercedes von Alejandro, der im Fahrzeug sitzen blieb und das Seitenfenster öffnete … Was ich nun sah, war grauenhaft.»

Mit weinender Stimme erzählt sie weiter: «Der Mann zückte eine Pistole und zielte auf Alejandro. Einen Schuss konnte ich nicht hören. Ich sah aber, wie Alejandro seitlich neben dem Lenkrad wegknickte. Ich schrie heftig auf, das war einfach unfassbar, was ich mit ansehen musste. Mein geliebter Mann war soeben angeschossen worden und sackte offenbar mit tödlichen Verletzungen im Wagen zusammen. Durch meinen lauten Entsetzensschrei wurde der hinterhältige Mörder auch auf mich aufmerksam. Unsere Blicke trafen sich und augenblicklich schickte er sich an, die Strasse zu überqueren. Er trug keine Uniform und er hatte deshalb wie ich zuvor, einige Schwierigkeiten die Strasse zu überqueren. Ich war Zeugin des Mordes an meinem Mann geworden. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass auch mein Leben in grösster Gefahr war. Auf meiner Strassenseite, nur hundert Meter von mir entfernt, fuhr soeben der Linienbus Marbella–Marbella Centro an die Bushaltestelle. Mir war klar, dass ich diesen Bus erreichen musste. Ich rannte also um mein Leben. Den Mantel und den Regenschirm habe ich unterwegs verloren und meine Stiefeletten mit den hohen Absätzen waren beim Flüchten sehr hinderlich. Der Busfahrer schickte sich gerade an, die Haltestelle zu verlassen. Er musste mich im Rückspiegel gesehen haben und hielt wieder an. Die hintere Wagentür stand kurz für mich offen. Kaum war ich hindurchgeschlüpft, schloss sie sofort wieder und der Bus setzte sich in Bewegung. Durch das Rückfenster verfolgte ich diese Bestie beim Überqueren der Strasse, er war ja auf der Jagd nach mir. Als dieser Mann die gleiche Strassenseite erreicht hatte, fuhr mein Bus bereits im fliessenden Verkehr. Dieser Busfahrer hat mein Leben gerettet.»

Jetzt weint seine Begleiterin heftig und ist nicht mehr in der Lage, weiterzusprechen. Stephan ergreift tröstend ihre Hand. Ruhig und geborgen liegen sie im Iglu und lauschen den herunterprasselnden Regentropfen.

Eine Weile vergeht, bis sie mit zittriger Stimme von den dramatischen Ereignissen weitererzählt. «Ich war mir bewusst, dass der Mörder schnellstens zu seinem Fahrzeug zurückeilen wird und sie mich mit dem Wagen verfolgen würden, – es war nur eine Frage der Zeit, bis sie meinen Bus eingeholt haben dürften. An der nächsten Bushaltestelle stieg ich deshalb aus. Durch die Unterführung gelangte ich auf die andere Strassenseite und bestieg dort einen Bus, der in Gegenrichtung fuhr. Den Zielort dieser Linie kannte ich nicht, in diesem Moment war es mir auch egal. Wichtig war nur, dass der Motor startete und sich das Gefährt in Bewegung setzte. Auf dem Sitz kauernd, beobachtete ich das sich nun auf der gegenüberliegenden Strassenseite schnell nähernde, vermeintliche weisse Seat-Polizeiauto, das nun ohne Blaulicht hinter dem Kühlergrill vorbeiraste. Doch sie waren zu schnell, als dass ich die beiden Männer hätte erkennen können, die Alejandro verfolgt und umgebracht hatten. Ich vermutete, dass sie meinen vorherigen, stadteinwärts fahrenden Bus bald eingeholt haben würden und feststellen mussten, dass die für sie belastende Zeugin nicht mehr an Bord war. Im Moment war ich ihnen entkommen, ich konnte ein erstes Mal durchatmen. – Auf derselben Strasse und in derselben Richtung wie eine Viertelstunde vorher mit Alejandro, rollte der Bus nun stadtauswärts in Richtung Osten. Wir fuhren an der Ausweichstelle mit dem noch immer am gleichen Ort stehenden Mercedes meines Mannes vorbei. Deutlich sah ich Alejandro seitlich vornübergebeugt und regungslos neben dem Lenkrad liegen. Keine Menschenseele war zu sehen und niemand schien von dem dramatischen Ereignis Notiz genommen zu haben. – Am Ortsausgang von Marbella erreichte der städtische Bus die Umkehrstelle. Von hier aus verzweigen sich weitere Linien in alle Himmelsrichtungen. Mein Instinkt liess mich ein weit entferntes Ziel wählen. Ich entschied mich für Ronda, denn diese Stadt kannte ich aus früheren Besuchen mit Alejandro. Kurz darauf fuhr der Bus, in dem ich nun sass, die Bergstrasse in Richtung Ronda hinauf. Ich wählte einen Platz ganz hinten und liess die Strecke hinter uns nicht aus den Augen. Kein Seat folgte uns, auch kein anderes Fahrzeug mit fragwürdiger Besatzung. Der Busschaffner musterte mich kritisch, als ich das Billett löste, meine verheulten Augen und die verzerrten Gesichtszüge liessen mich sicherlich schrecklich aussehen. Am Ortsausgang von Ronda verliess ich den Bus und versteckte mich an dem Ihnen bekannten Ort.»

Stephan hat sie in ihren Ausführungen nie unterbrochen und ihre Geschichte mitfühlend angehört.

«In Ihrer familiären Umgebung kennen Sie sicherlich Personen, zu denen Sie Vertrauen haben? Warum haben Sie nicht versucht, in diesen Kreisen Hilfe zu finden?», möchte er wissen.

«Das habe ich, leider vergebens. Auf der Fahrt nach Ronda und in meinem Versteck ausserhalb der Stadt ist es mir nicht gelungen. Mein Handy hatte keinen Empfang.»

Wie ein Blitz schiesst es durch Stephans Kopf: Ihr Handy kann geortet werden, und wenn ihre Geschichte stimmt und die Polizei in den Mord verwickelt ist, dann sind sie hier in grösster Gefahr! Ganz allein in dieser verlassenen Gegend und weit und breit niemand, der sie hören oder helfen könnte!

«Hast du dein Handy noch hier? Und wenn ja, ist es noch eingeschaltet?», fragt Stephan aufgeregt. In seiner Hektik entgleitet ihm die Wortwahl, es ist das erste Mal, dass er sie mit «du» anspricht.

Sie wühlt in der Dunkelheit in ihrer edlen Tasche und streckt Stephan schliesslich das Handy entgegen. Er ertastet es und durch die Berührung einer Taste schaltet sich das Display ein. Sanftes, grünliches Licht beleuchtet das Iglu und ihr Gesicht, in welchem Stephan viele Fragen sieht.

Die Batterie hat noch fast ihre volle Kapazität, die Empfangsanzeige hingegen meldet schwache Verbindung. Dank des Displaylichtes findet auch Stephan sein Handy. Hier ist es das Gleiche: Es hat ebenfalls nur schwach Netz.

Vorerst ist Stephan beruhigt, denn wenn kaum Verbindung vorhanden ist, können sie auch nicht so schnell geortet werden. Er erinnert sich daran, als vor nicht allzu langer Zeit in der Schweiz eine junge Frau vermisst wurde. Dieser Fall wurde in der Presse ausführlich ausgeschlachtet. Die junge Frau hatte ein Handy bei sich. Obwohl im Standby-Modus, konnte es geortet werden. Dieser Prozess dauerte wohl etwas länger, führte aber schlussendlich auch zum Erfolg und zum Auffinden dieser vermissten Frau.

Wenn ich der jungen Frau ihr Handy hier und jetzt vernichte oder eingrabe, habe ich dann die Gewissheit, dass es niemand orten kann?, stellt sich Stephan selbst die Frage.

Er findet jedoch keine beruhigende Antwort, und wendet sich seiner mysteriösen Begleiterin zu: «Wenn ich Sie vor den Tätern schützen will, müssen wir Ihr Handy schnellstmöglich loswerden; weshalb, werde ich Ihnen später erzählen.»

Mit Erleichterung nimmt sie zur Kenntnis, dass es bei seiner heftigen Reaktion um ihr Handy geht und sie ist sofort bereit, auf seinen Vorschlag einzugehen.

«Mein Plan ist verwegen, aber er müsste funktionieren. Ich werde Ihre Verfolger auf eine falsche Fährte locken, Señora. Ich habe da einen Plan: Das Handy schicke ich auf einem der Lastwagen auf dem Trucker-Parkplatz unten auf der Hauptstrasse – wir sind daran vorbeigelaufen – auf die Reise. Diese Aktion dürfte nur wenig Zeit beanspruchen und in einer halben Stunde bin ich wieder zurück.»

Der Griff an seinen Arm ist derselbe wie vor einigen Stunden auf der Strasse im Regen als er ihr das erste Mal begegnete; nur, dass ihre Hand dieses Mal warm ist.

«No, Señor, das können Sie mir nicht antun, ich sterbe vor Angst! Bitte, bitte, bleiben Sie hier!»

Sie will auf keinen Fall hier alleingelassen werden, zu gross ist ihre Angst in dieser einsamen Gegend und der dunklen Nacht. Sie hat etwas Forderndes und Bittendes zugleich, dieser Frau kann Stephan ihren Wunsch nicht abschlagen. Er muss sich gleichzeitig auch eingestehen, dass er keine Frau kennt, welche hier oben auf der einsamen Wiese und bei Dunkelheit allein ausharren würde.

«Señora, ich werde Sie nicht hier allein lassen. Ich nehme Sie mit zum Trucker-Parkplatz. Wir müssen uns aber sehr beeilen. Es wird nicht angenehm sein, wieder in unsere nassen Kleider zu schlüpfen, aber wir haben keine andere Wahl.»

Hinein geht es also in die nassen Kleider. Dieses Anziehen bei Dunkelheit ist mühsam und macht keine Freude. Kalt und nass klebt die Unterwäsche auf der trockenen Haut. Besonders unangenehm ist das Hineinschlüpfen in ihre Schuhe.

Bei seinen «Klicks» geht das noch einigermassen, ihre nassen Stiefeletten hingegen erfordern Stephans Mithilfe beim Anziehen. Den Regenschutz überlässt er auch dieses Mal seiner Begleiterin.

Nasskalt empfängt sie die dunkle, verregnete Umgebung. Das Navigationsgerät trägt Stephan sicherheitshalber bei sich und auch sein Bike wird ihn begleiten. Die Fussabdrücke auf der nassen Wiese, vor allem aber die Radspuren werden ihnen nachher wieder den Weg zu ihrem «Zuhause» weisen. Stephan rechnet damit, dass die tiefer eingedrückten Radabdrücke auch in einer halben Stunde noch sichtbar sein werden.

Sie laufen lautlos durch die dunkle Nacht. Mehrmals halten sie inne und lauschen auf verdächtige Geräusche oder ein Automobil, das im Dunkeln abgestellt sein könnte. Nichts Beunruhigendes ist festzustellen.

Wenig später erreichen sie den schmalen Weg, auf dem die beiden vor ein paar Stunden schon einmal hinaufliefen. Damit sie ihren Standort später leichter wiederfinden, tritt Stephan zur Markierung das Gras am Wegrand nieder.

Weiter folgen sie dem Kiesweg nach unten bis zur Hauptstrasse. Von hier aus erkennen sie bereits die Beleuchtung des Truckerareals.

Es gibt bessere Momente, um jemanden nach seinem Vornamen zu fragen. Stephan tut es trotzdem jetzt. «Ich heisse Stephan, darf ich Sie nach Ihrem Vornamen fragen?»

Er fühlt das Erstaunen in ihrer Stimme, als sie ihm ihren Vornamen nennt: «Olivia.»

«Olivia, du musst nun tapfer sein. Die restliche Distanz bis zum Truckerareal muss ich allein zurücklegen. Man darf dich keinesfalls auf der Strasse sehen. Verstecke dich hier im Gebüsch. In spätestens zehn Minuten bin ich wieder hier.»

Keine Antwort. Ihrem Stillschweigen entnimmt Stephan, dass sie seinen Vorschlag begreift und akzeptiert.

Er drückt die Äste zur Seite und hilft Olivia ins schützende, aber wenig einladende und vor Nässe triefende Gebüsch. Gleichzeitig vergewissert er sich, dass sie aus allenfalls vorbeifahrenden Fahrzeugen nicht entdeckt werden kann. Mit einem kurzen Händedruck verabschiedet sich Stephan, er versichert ihr nochmals das Gelingen seines Vorhabens und verspricht ihr, in wenigen Minuten wieder hier zu sein.

«Auf keinen Fall darfst du das Versteck verlassen! Bleibe so lange im Versteck, bis ich wieder zurück bin!», ermahnt er sie eindringlich.

Gespenstische Ruhe herrscht, als Stephan sich aufs Bike setzt und in Richtung Trucker-Parkplatz losradelt. Kein Auto fährt zu dieser späten Stunde auf der Ausfallstrasse von Ronda. Mit dem dürftigen Licht am Fahrrad nähert er sich dem Truck-Areal. Die Platzscheinwerfer zeichnen bizarre Lichtkegel in die unwirkliche, regnerische und dunstige Nachtstimmung.

Nur noch wenige Trucks stehen auf dem Parkplatz. Das Restaurant ist um diese Zeit geschlossen.

Ein schwerer Lastwagen zieht Stephans Aufmerksamkeit auf sich. Grosse Lettern prangen auf der Plane: Farmacia Internacional de Cataluña.

Eine sehr weite Strecke hat dieser Laster bis hierher zurückgelegt, der Weg retour nach Katalonien dürfte ebenfalls sehr viel Zeit beanspruchen.

Das Bike hat Stephan inzwischen beim Eingang zum Parkplatz an einem Geländer abgestellt und er nähert sich zu Fuss dem grossen Lastwagen. Die Fenster sind mit Vorhängen verschlossen und kein Licht dringt nach aussen. Der Chauffeur geniesst seine wohlverdiente Nachtruhe.

Auch bei den beiden schweren Brummern links und rechts ist nichts Beunruhigendes zu erkennen. Von hinten schleicht Stephan zu den schweren Lastwagen. Seine Klick-Schuhe verursachen auf dem Kiesareal deutlich vernehmbare Geräusche.

Lauter als das Klackern seiner Schuhe jedoch sind die aufprallenden Regentropfen auf den Kabinendächern und den Planen der Lastwagen.

Durch die grossen Aussenspiegel könnte er beobachtet werden. Das Risiko, entdeckt zu werden, muss Stephan trotzdem eingehen.

Mit jedem Schritt in Richtung des Brummers steigt Stephans Blutdruck, in seiner Halsgegend fühlt er den heftig pochenden Puls.

Beim Farmacia Internacional de Cataluña handelt es sich um einen Sattelzuglastwagen mit langem Anhänger, starke Chassisholmen tragen den Anhängeraufbau.

Endlich erreicht Stephan den hinteren Teil des Lkws.

Das Prasseln des Regens hat sein Näherkommen verschluckt, es ihm aber ebenfalls verunmöglich, für sein Vorhaben gefährliche Geräusche wahrzunehmen. In tief geduckter Haltung verharrt er deshalb eine gewisse Zeit hinter dem schweren Anhängerzug.

Alles bleibt still.

Zwischen den beiden hinteren Achsen, in eine Öffnung am Chassisholmen, legt er das auf Standby geschaltete Handy von Olivia. Im fahlen Licht der Platzscheinwerfer reflektiert das edle Designerhandy ein letztes Mal in seiner Hand.

Beruhigt und mit der Gewissheit, das Handy sicher und vor Regen geschützt untergebracht zu haben, entfernt sich Stephan vorsichtig vom Platz.

In schneller Fahrt, die Gischt der Räder spritzt bis zu den Knien, schmilzt die Distanz zum Versteck von Olivia.

Ein Fahrzeug nähert sich von hinten. Bereits erfasst ihn der Lichtkegel seiner Scheinwerfer, Stephans Schatten fährt vor ihm her.

Nur jetzt keine Polizei!, sind Stephans gestresste Gedanken. Welche Antwort hätte er parat, kurz vor Mitternacht, bei strömendem Regen auf einem schlecht beleuchteten Bike und ohne Gepäck auf der Ausfallstrasse von Ronda.

Stephan ist noch am gedanklichen Konstruieren einer Geschichte, als ihn der Wagen überholt. Seine Beine schlottern, er zittert am ganzen Körper und betet, das Auto möge doch vorbeifahren, und tatsächlich: Das Auto fährt vorbei.

Keine Polizei!

Eine Zentnerlast fällt von ihm ab, nur noch wenige Meter trennen ihn von Olivias Versteck. Noch ist das Fahrzeug am Horizont in Sichtweite.

Erst als die Rückleuchten im Regendunst entschwinden, signalisieren Stephans kreisende Bewegungen mit der Taschenlampe Olivia seine Rückkehr.

Sie springt Stephan aus dem nassen Gebüsch entgegen.

Hat er einen ähnlichen Sprung vor sein Bike, nur wenige hundert Meter von hier entfernt, nicht schon einmal erlebt?

«Nun kann niemand mehr feststellen, wo du dich aufhältst, Olivia! Man wird den Weg deines Handys verfolgen und nicht den unseren.»

Die Erleichterung ist Olivia auch im schwachen Licht der Taschenlampe anzusehen. Nebeneinander laufen sie den Kiesweg empor. Noch immer zittert Stephan heftig am ganzen Körper. Ohne ihn darauf anzusprechen, nimmt Olivia seinen Stress zur Kenntnis. Bestimmt weiss sie, wie riskant das Verstecken des Handys für Stephan war.

Seine Unterstützung beim Laufen braucht Olivia inzwischen nicht mehr. Das Essen und die Wärme im Daunenschlafsack haben ihre physischen Kräfte zurückgebracht.

Unten auf der asphaltierten Strasse nähert sich ein Auto in Fahrtrichtung Ronda.

Weder den Wagen selbst noch sonst ein Detail können sie erkennen, nur das Licht der Scheinwerfer, welches – von den Bäumen und Gebüschen teilweise verdeckt – gespenstisch im Dunstschleier des heftigen Regens Richtung Ronda wandert.

Täuscht er sich, oder fährt das Fahrzeug nicht besonders schnell?

Es fährt wirklich sehr langsam.

Suchen die Insassen etwa nach Stephan und ist es vielleicht dasselbe Fahrzeug, welches ihn noch vor wenigen Minuten überholt hat?

Wenn dem so sein sollte, müsste den Insassen auffallen, dass der Biker plötzlich wie vom Erdboden verschluckt wurde.

Sehen können sie Olivia und Stephan auf dem Kiesweg auf keinen Fall; der regennasse Wald ist zu dicht, die Distanz zu gross und sie bewegen sich ja ohne Licht.

Jetzt dürfte das Fahrzeug die Stelle passieren, wo der Kiesweg nach oben führt.

Beide halten den Atem an, bereit, sich schnellstmöglich im Wald zu verstecken.

Nichts passiert, der Wagen fährt weiter in Richtung Stadt.

Mit dem wenigen Licht der Sterne am Firmament stossen sie bald auf die Stelle mit dem zertrampelten Gras. Tatsächlich sind die Bikespuren noch schwach sichtbar. Ein-, zweimal muss Stephan die Beleuchtung seines Handys zu Hilfe nehmen.

Wenig später erreichen sie völlig durchnässt ihr Zelt.

Ruhig verharren Olivia und Stephan einige Momente vor dem Iglu und lauschen in die dunkle Nacht. Kein Laut, nicht einmal das Geräusch eines Tieres, nur das Prasseln der Regentropfen auf dem Zeltdach ist zu hören.

Sie begeben sich in die Geborgenheit des Zeltes, entledigen sich der nassen Kleider, das Frotteetuch wandert erneut von Hand zu Hand und die Unterwäsche ist wieder angezogen. Gemeinsam schlüpfen sie in die wärmende Umgebung des Daunenschlafsackes.

Tiefe und ruhige Atemzüge signalisieren Stephan kurze Zeit später den erlösenden Schlaf von Olivia. Inzwischen ist es kurz nach Mitternacht.

Eigentlich müsste Stephan jetzt todmüde in einen Tiefschlaf fallen, doch die heutigen Ereignisse und vor allem die riskante letzte halbe Stunde lassen ihm noch keine Ruhe.

Anfang März war er von seinem Wohnort Zürich zu einer Radtour nach Spanien gestartet. Geplant hatte er diese Reise schon lange, aber die tatsächliche Entscheidung zum Start fiel erst zwei Wochen vorher. Sein Geschäft, ein Stahlbauunternehmen im Bereich Hochbau, bewegt sich sehr erfolgreich am Markt und die Stellvertretung ist schon seit einem Jahr geregelt; einzig das richtige Zeitfenster zur Abenteuerfahrt wollte sich nicht öffnen, immer wieder gab es Gründe, den Start hinauszuzögern.

Mindestens drei Monate hat Stephan für sein Abenteuer eingeplant. Ziel war es, im frühen Frühling zu starten, um Anfang Sommer wieder zurück in der Schweiz zu sein. Die Reise verlief bis auf einige kleine Pannen ohne Probleme.

Nach Valencia brach am Bike die Gepäckaufhängung hinten rechts, die dann aber postwendend von einem spanischen Landschmied geschweisst wurde. Pneuplatten hatte er bisher ebenfalls nur eine – nicht weiter erstaunlich, war sein Bike doch mit Strassenpneus und nicht mit Rennreifen ausgerüstet.

Für die bisher nach Andalusien zurückgelegten 2 200 km benötigte er 25 Tage.

Überrascht haben ihn eigentlich das eher kühle Wetter hier im südlichsten Teil Spaniens und die doch zahlreichen Regenfälle um diese Jahreszeit.

Auf einen gewissen Minimalkomfort wollte er nicht verzichten und er entschloss sich deshalb für den Kauf eines etwas grösseren Zeltes. Es würde sogar Platz für drei Personen bieten und auch bei der Wahl des Schlafsackes wählte er die Ausführung für zwei Personen. Stephan musste für diese Extras runde fünf Kilogramm Mehrgewicht auf dem Anhänger mittransportieren, doch das war ihm dieser Luxus wert.

Dass er seinerzeit so entschieden hat, und damit dieser jungen Frau die heutige Übernachtungsmöglichkeit bieten konnte, mutet fast wie eine Fügung des Schicksals an.

Der heutige 3. April hat sein Leben schlagartig verändert. Die letzten sechs Stunden werfen sein in bisher perfekten Strukturen verlaufendes Leben in eine völlig neue Bahn.

Plötzlich wird Stephan Bestandteil einer Geschichte, die er mit beeinflussen kann. Er ist in etwas hineingeschlittert, was sogar sein eigenes Leben gefährden könnte. Diese Entscheidung, auf das Anliegen der jungen Olivia einzugehen, entwickelt sich zu einer Überlebensübung mit völlig offenem Ausgang. Eine Art Pfadfinder-Sehnsucht mit Indianerabenteuer à la Karl May wird in Stephan wach.

Über allem schwebt noch das Damoklesschwert der Ungewissheit, ob die von Olivia erzählte Geschichte überhaupt stimmt.

Irgendwann fühlt Stephan eine Hand auf seiner Schulter. Es ist Olivia, die ihn mit sanften Rüttelbewegungen weckt. Die Uhr zeigt Viertel nach drei.

Sie müsse kurz austreten und fürchte sich, allein das Zelt zu verlassen. Ob er sie nicht nach draussen begleiten würde?

Noch regnet es ununterbrochen aus dichten Wolken, welche jeglichen Blick auf den Himmel oder die weitere Umgebung verhindern. Nasskalt empfängt sie die unwirkliche Umgebung, die schweren Regentropfen prasseln auf die dürftig, nur mit Unterwäsche bekleideten Körper.

Fröstelnd ziehen sie sich in die wohlige Wärme des Schlafsacks zurück und wenig später schlafen beide entspannt mit dem lieblichen Geräusch der fallenden Regentropfen unter dem geborgenen Igludach ein.

Samstag, 4. April

Wie jeden Tag beim Erwachen fällt Stephans Blick zuerst auf die gewölbten Rundungen seines «Hauses». Der Regen fällt noch immer, mit dem einzigen Unterschied, dass es jetzt bereits Samstag ist.

Wie gewohnt bleibt er noch etwas liegen. Stress am Morgen verträgt Stephan schlecht.

Oft, vor allem im Geschäftsleben, wenn er am Morgen gestört wurde, brauchte er jeweils fast einen halben Tag, bis er seinen Rhythmus wieder finden konnte.

Olivia liegt abgewandt zur Seite. Sie ist ruhig, aber sie schläft nicht. Fast unhörbar, für Stephan aber doch vernehmlich, fühlt er ihre sanften Schluckgeräusche. Es sind Tränen der Trauer für ihren Alejandro.

Stephan will sie nicht stören und lässt ihr diese Zeit für sich selbst.

Auf seinem kleinen Kocher blubbert der Morgenkaffee.

«Ich habe nur eine Tasse für uns beide zur Verfügung.»

Dankbar nimmt Olivia die Tasse in ihre Hand. Während sie behutsam schlürft, nehmen ihre grossen dunklen und traurigen Augen Stephan in Beschlag.

Was denkt sie wohl von diesem 52-jährigen Mann?, überlegt Stephan. Der Mann, der vom Alter her eigentlich ihr Vater sein könnte?

Es ist das erste Mal, dass sie Stephan richtig wahrnimmt. Dank spricht aus ihren Augen und fast gleichzeitig folgt ein: «Muchísimas gracias, Stephan!»

Er fühlt, dass sie es aufrichtig meint, und freut sich über das kleine Lächeln, welches sofort wieder verschwindet.

Auch ihre Trauer ändert nichts daran, dass Olivia eine ausgesprochen hübsche Frau ist. Die dunkelbraunen Haare trägt sie schulterlang und in Stufen geschnitten. Schöne weisse Zähne schmeicheln ihrem breiten Munde und die ebene Nase, die markanten Wangenknochen und ihr ausgeprägtes Kinn lassen sie edel und selbstbewusst erscheinen.

Wortlos im Schlafsack sitzend geniessen sie das noch knusperige Brot und die feine Mermelada.

Es will ihr nicht so recht gelingen, ihre vollen Brüste, welche gar nicht so recht zu ihrem sonst so schlanken Körper passen, unter seinem Unterhemd zu verbergen. Natürlich schaut ein anständiger Mann nicht hin, aber trotzdem bleibt Stephan dieses reizvolle Bild nicht verborgen.

«Wie soll’s nun weitergehen, was schlägst du vor, Olivia?», möchte Stephan wissen. «Kann ich dich jetzt, einen Tag nach dem Ereignis, irgendwohin begleiten? Oder vielleicht kannst du mir inzwischen eine Lösung vorschlagen?»

Sie weiss nur, dass ihr geliebter Alejandro auf hinterhältige Weise sein Leben lassen musste. Den einen Täter hat sie sich genau eingeprägt, als er ihr auf der anderen Strassenseite gegenüberstand, und das weiss auch der Mörder ihres Mannes. Ob die Täter wirklich Polizisten oder nur angeheuerte Killer waren, darüber kann sie nur mutmassen. Am weissen Seat ist ihr lediglich der blaue, horizontal verlaufende Aufkleber am hinteren Kotflügel aufgefallen, den Text darauf konnte sie jedoch nicht lesen. Auf jeden Fall wagt sie es nach wie vor nicht, sich bei der Polizei zu melden. Wenn wirklich hohe Politiker und Polizeibeamte hinter diesem Todesauftrag stehen, sei sie wahrscheinlich in diesem Land nirgends mehr sicher, nicht einmal zu Hause bei ihren Eltern, meint sie. Nun müsse sie zudem damit rechnen, als mögliche Täterin von der Polizei gesucht zu werden.

Stephan kann ihre Schilderungen durchaus nachvollziehen.

Sie fühle sich im Moment sicher bei ihm, sagt sie, andererseits verstehe sie aber auch, dass Stephan seine Reise nur wegen ihr nicht abbrechen könne.

«Wir können trotzdem nicht länger hierbleiben, Olivia, irgendwann würden wir auch auf dieser einsamen Wiese entdeckt werden.»

Am grössten sehe sie ihre Chancen, wenn sie ihn weiter begleiten dürfte, erwidert Olivia. «Niemand würde auch nur im Geringsten vermuten, dass sie mit einem Bike-Touristen auf der Flucht sei.»

Diese letzten Worte von ihr fallen weich und bittend und Gleiches liest Stephan aus ihren schönen braunen Augen.

«Nehmen wir an, wir reisen zusammen weiter … Kannst du dir vorstellen, das mit eigener Kraft mit einem Bike durchzustehen?»

Ohne gross überlegen zu müssen, nickt sie Stephan zu.

Die Situation kommt ihm vor wie gestern, als sie Stephan auf der Strasse aufhielt und sofort einwilligte, als er ihr den Vorschlag mit der Übernachtung im Zelt machte.

Noch immer plätschert der Regen auf ihr Zelt. Dennoch fühlen beide den bevorstehenden Wetterwechsel, steigende Temperaturen und sich lichtende Wolken sind Indizien für eine meteorologische Veränderung.

«Ich werde heute einige Dinge in Ronda für uns erledigen müssen. Ich schätze, dass das etwa vier Stunden beanspruchen wird, und ich sollte spätestens gegen drei Uhr nachmittags wieder zurück sein. In dieser Abgeschiedenheit kommt kaum jemand vorbei, und wenn doch, dann sind das höchstens Wanderer, die von dem Vorfall in Marbella sowieso noch nichts mitbekommen haben. Du kannst dich also absolut sicher fühlen. Den Anhänger und das Bike lasse ich hier. Ich werde zu Fuss nach Ronda marschieren.»

Aus seiner Tasche holt Stephan einen Schreibblock mit Schreibgerät. «Olivia, darf ich dich bitten, während meiner Abwesenheit den Tathergang ausführlich, wenn möglich mehrmals, niederzuschreiben? Wir werden die Schriftstücke dann morgen per Post versenden. Überlege, an welche Freunde und Bekannte du sie schicken möchtest. Auf keinen Fall darfst du meine Person oder die Absicht unserer Reise mit dem Bike erwähnen. Teile deinen Lieben mit, dass du dich an einem momentan sicheren Ort aufhältst. Und das Wichtigste: Deine Bekannten sollten Kopien deines Schreibens an Zeitungsredaktionen senden – so viele wie nur möglich. Bei der Brisanz deiner Geschichte, an welcher vermutlich ranghohe Politiker beteiligt sind, die auch vor einem Mord nicht zurückschrecken, müssen wir damit rechnen, dass deine Briefe teilweise abgefangen werden.»

«Ich werde mein schreckliches Erlebnis aufschreiben», willigt Olivia ein. «Stephan, bitte komm bald zurück, lass mich hier oben nicht allein. Ich fühle mich dermassen elend und verlassen!»

Stephan möchte sie berühren, doch er lässt es sein.

Ängstlich, traurig und verunsicherte Blicke begleiten Stephan, als er sein Zelt in Richtung Ronda verlässt. Mit leichten Halbschuhen, welche schon bald von der feuchten Wiese durchnässt sind, gelbem Regenschutz, T-Shirt, dunkelblauem Pullover und in dünnen schwarzer Jeans macht sich Stephan zu Fuss auf den Weg zum Einkauf nach Ronda.

Im Rucksack trägt Stephan die Bike-Schuhe, die er zu einem bestimmten Zeitpunkt gegen die Halbschuhe tauschen wird.

Noch regnet es in Strömen aus dem wolkenverhangenen Himmel; wenigstens ist die Temperatur angenehmer als gestern und sie sollte im Laufe des Tages sogar noch etwas steigen.

Der Trucker-Parkplatz ist an diesem Samstagmorgen beinahe leer. Das Handy von Olivia ist mit dem Farmacia Internacional de Cataluña unterwegs auf grosser Fahrt.

Eine leise Schadenfreude überkommt Stephan beim Gedanken, wie sich die Behörden mit dem «fliehenden Handy» beschäftigen und es ihm hoffentlich gelingt, sie auf eine falsche Fährte zu locken.

Das erste Fachgeschäft, welches Stephan in Ronda ansteuert, ist die kleine Velohandlung Bicicleta Garcia auf der Calle Parauta.

Der junge, begeisterte Verkäufer – wahrscheinlich der Sohn des Inhabers – setzt sich sehr für ihn ein. Um jeden Zweifel auszuschliessen, dass das Bike für eine Dame bestimmt sein könnte, entschliesst sich Stephan zum Kauf eines Herrenfahrrades.