Gefangen zwischen Liebe und Leidenschaft - Patrick Salm - E-Book

Gefangen zwischen Liebe und Leidenschaft E-Book

Patrick Salm

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Beschreibung

Sandro verbringt seine Sommerferien in Deauville. Seit Tagen beschäftigt den Privatdetektiv die attraktive junge Frau im Strandkorb hinter ihm. Wenn nicht am Strand, verbringt sie ihre Zeit mit Schreiben. Er möchte sie kennenlernen und folgt ihr. Dabei beobachtet er in ihrer Nähe einen schwarzen Van. Bereits gestern hatte Sandro diesen bemerkt. Sind es dieselben Absichten, die der Fahrer wie Sandro hegt? Oder plant der etwa eine Entführung? Sandro ist vorbereitet und hatte zum französischen Nationalfeiertag Feuerwerksraketen gekauft. Bei einer Strassenkreuzung wird die Türe des Vans aufgerissen und vier vermummte Männer stürmen heraus. Sandro schiesst die Raketen in ihre Richtung. Ein Mann wird getroffen, die zweite Rakete explodiert im Innenraum. Irritiert und benommen flüchten die Männer in ein anderes Fahrzeug. Die Frau rennt um ihr Leben. Sandro weiss inzwischen, wo sie wohnt, und nimmt Kontakt mir ihr auf. Er wird Bestandteil einer dramatischen Geschichte und gerät ebenfalls in den Fokus der Verbrecher. Schaffen es die beiden, sich lebend aus der verhängnisvollen, sich zuziehenden Schlinge zu befreien?

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Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen

Personen wären rein zufällig.

1. Auflage 2023

© Patrick Salm

Namenliste

Annette Gerber

Freundin von Leas Eltern

Apollon

Sektenführer Gott des Lichtes in Neapel

Brigadegeneral Coltone

Garnisonskommandant in Sizilien

Dario

Ehemann von Josianne

Don Alfredo

Drogenboss in Sizilien

Dr. Mantoni

Chefredaktor von Il Mattino (Neapel)

Elenora

Haushälterin von Lea in Neapel

Eliane

Schwester von Lea

Elio Bianchi

Stellvertretender Polizeikommandant Neapel

Emanuele

Entführte Frau aus Burundi

Ferdinand

Mann von Annette Gerber

Francesco Russo

Ehemann von Lea (Bootvermietung Neapel)

Hauptmann Sollberger

Einwanderungsbehörde in Zürich

Isabelle

Leas Mutter

Josianne

Leas Freundin in Neapel

Lea Russo

Frau von Francesco

Leutnant Gfeller

Zürich, Ermittler aussergewöhnliche Todesfälle

Martin

Freund und Geschäftskollege von Sandro

Matteo Bruppacher

falscher Name von Sandro

Raffael Peter

falscher Name von Sandro

Sandro Rickenbach

Privatdetektiv

Sophie

Sandros verstorbene Geliebte

Inhaltsverzeichnis

Namenliste

Prolog

12. und 13. Juli

14. Juli

15. Juli

16. Juli

17. Juli

18. Juli

19. Juli

20. Juli

21. Juli

22. Juli

23. Juli

24. Juli

25. Juli

26. Juli

27. Juli

28. Juli

29. Juli

30. Juli

31. Juli

1. August

2. August

3. und 4. August

5. August

6. August

7. August

8. August

9. August

10. August

11. August

12. August

13. August

14. August

15. August

16. August

17. August

18. und 19. August

20. und 21. August

22. August

23. August

26. August

27. August

28. August

Der Autor

Prolog

Dass er an diesem Morgen im festlich geschmückten Zelt zwei Feuerwerksraketen kaufte, war kein Zufall. Mit diesen Raketen schöne Bilder in den Himmel zu zaubern, war auch nicht seine Absicht – ihr Zweck bestand darin, einen heftigen Knall zu erzeugen.

Genugtuung erfasst Sandro beim Lesen der Warnungen auf dem Raketenkörper: «Gefährlich, hochexplosiv, dieser Böller darf nur als Schlussknall beim Feuerwerk verwendet werden, auf keinen Fall für Kinderhände bestimmt.» Vorsichtig steckt er die beiden Raketen in die von der Verkäuferin angebotene Tasche.

Es war auch kein Zufall, dass er nebenan im Haushaltswarengeschäft ein Bic Feuerzeug erstand und dieses zusammen mit Ofenhandschuhen auf das Förderband bei der Kasse legte. Die Handschuhe würden ihn vor Verbrennung schützen.

Seine Vorahnung liess ihn die Strasse nochmals abschreiten und den vorgängig rekognoszierten Platz hinter einer Stützmauer, zusätzlich durch eine Hecke geschützt, einnehmen.

Auf dieser rege befahrenen Strassenkreuzung, bei der Verkehrsampel, musste es geschehen – seine Logik liess ihm keine andere Wahl.

Wie schon die letzten beiden Tage näherte sich ein langsam fahrender Van mit abgedunkelten Scheiben der Kreuzung. Die Verkehrsampel steht auf Grün, trotzdem stoppt der Van abrupt vor der Ampel. Ein genervter hinter ihm fahrender Automobilist macht seinem Unmut durch hefiges Hupen Luft. Im selben Augenblick wird die seitliche Schiebetüre am Van aufgerissen und vier vermummte Männer stürmen aus dem Fahrzeug. Trotz zitternden Händen gelingt es Sandro, den Docht in Brand zu setzen. Sprühend, aber für sein Empfinden viel zu langsam, frisst sich der brennende Docht zum Raketenkörper. Sie zischt los in Richtung Van. Zwei Männer sind bereits auf der Strasse. Sie trifft auf den dritten Vermummten. Ein lauter Knall zerreisst die vorabendliche Stille des mondänen Deauville.

Die Männer reagieren erschrocken. Woher stammte dieser Angriff? Ratlos gestikulierend halten sie Ausschau nach dem Angreifer.

In diesem Moment schlägt die zweite Rakete in den offenen Van. Der Böller lässt ein Seitenfenster zerspringen.

Völlig von der Rolle und offensichtlich betäubt von den heftigen Explosionen rennen die Männer zu einem bereitstehenden schwarze Ford Kastenwagen. Einer der vier humpelt verletzt hinterher. Es war derjenige, den die Rakete am Körper traf. Mit laut quietschenden Reifen setzt sich der Ford in Bewegung.

Gespenstische Ruhe kehrt ein auf der Rue de la Mer in Deauville.

12. und 13. Juli

Traumatisiert vom tragischen Tod seiner Geliebten vor einem Jahr, war Sandro Rickenbach mehrmals nahe daran, dem Alkohol und Drogen zu verfallen. Seine strenge Erziehung gab ihm die Kraft, nicht aufzugeben, an sich zu glauben. «Es gibt immer einen Weg», pflegte ihn seine Mutter jeweils bei Streitigkeiten mit Schulkollegen oder unfairem Behandeltwerden von Lehrkräften aufzumuntern. Ob sie geahnt hat, dass Sandro eines Tages ihren lebensbejahenden Ratschlag gebrauchen könnte?

Sein Beruf half ihm, die schwere Zeit zu überbrücken und jetzt, ein Jahr danach, wächst in ihm das Bedürfnis, erneut am Leben teilzunehmen.

Eine Frau kennen zu lernen, sich wieder zu verlieben, gesellige Momente mit Freunden erleben, lachen zu dürfen. Als Indiz für seine wiederaufkommende Lebensfreude nimmt er das fröhliche Vogelgezwitscher am Morgen wieder wahr.

Deauville, ja Deauville hiess sein Ziel. Als Jugendlicher durfte er mit seinem Vater einmal ein Pferderennen in Deauville, diesem mondänen Ort in der Normandie, besuchen. Sein Vater war verantwortlich für ein Gestüt eines reichen Pferdebesitzer an Zürichs Goldküste. Nicht den Pferderennen galt Sandros Interesse, es waren die vielen hübschen Mädchen entlang den Banden, die ihm schon als Jugendlicher schlaflose Nächte bescherten.

Sandro sitzt im Strandkorb am breiten Strand von Deauville. Er schwelgt in seinen Gedanken, Erinnerungen werden wach. Ein Mädchen stand damals an der Bande in seiner Nähe, ihre Blicke kreuzten sich, Zuneigung sprach aus ihren anmutigen Bewegungen und in ihren dunklen Augen brannte ein geheimnisvolles Feuer. Schüchtern wie er war, wagte er es nicht, sie anzusprechen. Am Folgetag, übrigens sein Letzter in Deauville, suchte Sandro vergebens nach seiner Herzblume. Er redete sich ein, sie sei mit ihren Eltern zurückgereist, und sie werde den hübschen Jungen ebenfalls vermissen. Heute entlocken ihm diese Gedanken ein Lächeln.

Jahre später traf er in Zürich an der Seepromenade eine junge Frau, die ihn magisch anzog und dieses Mal wagte er den ersten Schritt. Sie wurde seine Lebenspartnerin und Geliebte. Erneut schleichen sich schwere Gedanken in seine Seele. Nicht wieder in Melancholie verfallen, John Grishams Roman «Die Firma», bereits auf Seite auf 243, lässt ihn den belastenden Gefühlen entkommen. Trotzdem gelingt es Sandro nicht, sich auf den Roman zu konzentrieren.

In den letzten drei Tagen belegte eine geheimnisvolle junge Frau den Strandkorb wenige Meter hinter ihm. Sie schien nur ein Auge für ihre Notizen zu haben. Schrieb sie an einem Roman oder ein ausführliches Tagebuch? Von Zeit zu Zeit verliess sie den Strandkorb in Richtung Meer, ihre modische Sonnenbrille deponierte sie jeweils im Strandkorb.

Auf ihrem Rückweg wählte sie den Weg an Sandros Strandkorb vorbei. Von niemandem schien sie Kenntnis zu nehmen, auch nicht von Sandro, dessen Blick durch seine Sonnenbrille verdeckt, ihren Gang und ihre Körpersprache analysierte.

Sandro ist erfolgreicher Privatdetektiv. Den Erfolg verdankt er nicht zuletzt seiner Begabung, menschliche Eigenschaften, auch aufgrund der Körpersprache und Bewegungen, zu erkennen.

Sein Gespür liess ihn Eigenartiges, für ihn nicht Erklärbares an der hübschen Frau erkennen. Bereits nach den Beobachtungen am ersten Tag hinterliess ihr sonderbares Verhalten Fragen in seinem Denkapparat. Vielleicht ein Hirngespinst seiner beruflichen Erfahrung. War sie bedroht, versuchte sie einem Liebhaber zu entkommen, oder vielleicht ist sie eine Täterin? Spielt seine Phantasie verrückt? In fünfzig Prozent seiner zuerst gefällten Beurteilungen lag er falsch und insgeheim wünscht er sich, dass die Vermutung, sie könnte eine Täterin sein, auch dieses Mal falsch sein würde.

Etwas über einen Meter siebzig gross, mit ihrer schlanken Figur und eleganten Gang wirkt die geheimnisvolle Frau ausserordentlich anziehend. Sandro schätzt ihr Alter auf fünfunddreissig Jahre. Weshalb reagiert sie nicht auf Männer, welche die attraktive Frau längst zur Kenntnis genommen haben? Oder liebt sie nicht Männer, sondern Frauen?

Bereits gestern zerbrach sich Sandro den Kopf, bei welcher Gelegenheit er dieser Frau einmal begegnet sein könnte. Er ist ihr nie begegnet, aber sie hat Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Anne Hathaway. Aus dem Film «Der Teufel trägt Prada» trat sie wieder in Sandros Erinnerung.

Sinnliche, rot geschminkte Lippen, breiter Mund und schöne Zähne, dunkle, unschuldig wirkende grosse Mandelaugen, anmutige Gesichtszüge, dann ihre langen bis auf die Schultern fallenden schwarzen Haare mit Pagenschnitt zeichnen die Schönheit im Strandkorb hinter ihm.

Sandro hadert mich sich, soll er sie ansprechen, wie damals seine Herzdame an der Seepromenade in Zürich? Er lässt es sein, aber er möchte sie beobachten, herausfinden, wo sie wohnt – verhindern, sich lächerlich zu machen, wenn sie einem Liebhaber in die Arme fällt.

Eine Erkenntnis gelang Sandro bereits. In ihrem Strandkorb liegen eine deutsche «Brigitte» und eine deutschsprachige «Cosmopolitan» – sie ist der deutschen Sprache kundig.

Beinahe gleichzeitig mit der geheimnisvollen Frau begibt sich auch Sandro zur Umkleidekabine. Beschatten, jemandem unbemerkt folgen, gehörte zu seinem Alltag.

Mit modischer Badetasche wan der Schulter und sommerlichem Outfit läuft die unbekannte Schönheit auf dem Gehsteig der Rue de la Mer in Richtung Yachthafen. Kurz nach dem Parking Indigo, wechselt sie nach rechts auf die Rue Sem und verschwindet wenig später in einer grösseren Überbauung.

Den älteren in gebückter Haltung und in respektablem Abstand hinter ihr herlaufenden Herrn nimmt sie nicht zur Kenntnis.

Sandros Jagdinstinkt ist geweckt. Das fünf Stockwerk hohe Gebäude zieht sich entlang der Strasse. Jetzt bei Tageslicht wird es kaum möglich sein, Näheres in den Wohnungen zu erkennen, aber bei Dunkelheit und Lichter in den Räumen könnte es gelingen.

Endlich, die Dunkelheit legt sich über das mondäne Deauville und den Wohnblock gegenüber. Erste Lichter erhellen die Räume, Jalousien senken sich oder Vorhänge werden gezogen. So auch im dritten Stock rechts des Einganges. Nur einen kurzen Augenblick, dann verhindert die nach unten fahrende Jalousie weitere Einblicke in den Raum, aber doch genügend, um die Dame an der Drehkurbel zu erkennen. Es ist die unbekannte dunkelhaarige Schönheit. Sandro tritt aus dem Gebüsch und wählt den Weg zum Wohnblock gegenüber.

Helene Grimraud steht neben der Klingel zum dritten Stock. Die Unbekannte muss nicht Helene Grimraud heissen, in Deauville vermieten viele ihre Wohnung über Airbnb, warum nicht auch Helene Grimraud.

Sandros Mietwohnung liegt nur wenige Häuserblocks entfernt an der Rue Edmond Blanc.

Die Nähe zum Meer ermöglichte ihm, ohne Auto an den Strand zu gelangen. Auch für seinen Mercedes fanden sich genügend Parklätze direkt vor dem Gebäude.

Nach einem kurzen Nachtessen und einer unruhigen Nacht sehnt sich Sandro nach dem neuen Tag. Keine Ruhe liess ihm der Gedanke, dass die unbekannte Schönheit nicht mehr am Strand auftaucht und abgereist sein könnte, wie damals seine Angebetete an der Bande der Pferderennbahn. Hartnäckig hält sich der Song «Living Next Door to Alice« in seinem Kopf, die angebetete Alice verschwand, ohne dass er sie jemals wagte anzusprechen.

Gross ist Sandros Erleichterung: Die attraktive dunkelhaarige Schönheit sitzt auch heute im Strandkorb hinter ihm. Sein Entschluss steht, er wird sie heute ansprechen. Nicht hier unter den vielen Badegästen am Strand – dort, in der beschaulichen Umgebung vor ihrem Wohngebäude scheint der ideale Ort.

Sandro gönnt sich kein Mittagessen, er wagt es nicht, die Dame aus den Augen zu lassen.

Viermal taucht sie ein in die warmen Fluten des Atlantiks und entsprechend viermal läuft sie an seinem Strandkorb vorbei. Täuscht er sich oder haben sich ihre Blicke kurz gekreuzt?

Endlich, sie ist auf den Weg zur Umkleidekabine. Sie hat den Mann im Strandkorb aus der kurzen Begegnung bestimmt wahrgenommen, entsprechend vorsichtig will er ihr folgen. Dieses Mal mit einem kleinen Gepäckrollwagen, dunklem Hut und einem alten T-Shirt am Körper folgt er ihr mit noch grösserem Abstand als gestern. Sollte sie den hinterherschleichenden Verehrer entdecken, welch peinlicher Moment. Ein langsam fahrender Van fährt in die gleiche Richtung. Der hat es auch nicht eilig, die Strasse vor ihm ist frei, der könnte wesentlich schneller fahren, stellt Sandro fest. War da nicht schon gestern ein solcher Van in langsamer Fahrt in gleicher Richtung unterwegs? Sandro ist nicht der Einzige, welcher der unbekannten Schönheit folgt. Ist es ein Verehrer, der ebenfalls den Mut nicht aufbringt, die Dame anzusprechen? Sandro läuft schneller, jetzt ist er auf der Höhe des Vans. Abgedunkelte Scheiben verhindern die Sicht in den Innenraum. An der Verkehrsampel stoppt der Fahrer den Wagen. Eine Kinderschar möchte die Strasse überqueren. Dicht an dicht stehen sie auf dem Gehsteig. Einige ermunternde Worte der jungen Frau mit der modischen Badetasche und die Kinder öffnen eine Gasse und lassen sie ungehindert in die Rue Sem einbiegen.

Die Ampel wechselt auf Grün, die Fahrspur nach vorne wäre frei. Weshalb fährt der Van nicht sofort los? Ist es wegen der Kinderschar, die noch immer herumalbernd auf dem Gehsteig steht? Verfolgt der Fahrer des Vans etwa eine andere Absicht, und ist er allein im Fahrzeug?

Sandros Gedanken gelten plötzlich dem dunklen Van. Das Interesse des Fahrers gilt offensichtlich der jungen Dame. Aber sind seine Beweggründe dieselben wie bei ihm? Je länger Sandro darüber nachdenkt, umso grösser werden seine Zweifel. Das eigenartige Verhalten der jungen Frau am Strand wird Sandro in diesem Moment wieder bewusst.

Was führt der Fahrer oder die Insassen im Schilde? Warten sie etwa auf eine Gelegenheit, die Dame zu kidnappen? Ist die Kinderschar schuld, dass es nicht so weit kam?

Hat sie Angst und fühlt sich bedroht, lauert die Gefahr in diesem Moment nur zwei Meter von ihr entfernt? Der Van setzt sich in vorheriger Fahrtrichtung in Bewegung. Die junge Frau ist bereits vor dem Eingang zu ihrer Wohnüberbauung.

Sollte der Frau tatsächlich etwas angetan werden, wäre dies die beste Stelle an der Verkehrsampel. Hier böte sich die Gelegenheit mit dem Fahrzeug in drei Richtungen zu fliehen, ist Sandro überzeugt:

Morgen feiern die Franzosen le quatorze juillet, ihren Nationalfeiertag. Sandro verfolgt einen Plan.

14. Juli

Für Deauville-Geniesser aussergewöhnlich früh ist Sandro an diesem quatorze juillet bereits um neun Uhr unterwegs zu seinem Strandkorb. Nebst seinen Badeutensilien trägt er eine Papiertüte mit Einkäufen aus dem Hauhaltwarengeschäft und dem angrenzenden geschmückten Festzelt. Seine Nervosität lässt ihn alles für Frankreichs wichtigen Nationalfeiertag vergessen, sein Interesse konzentriert sich einzig auf die geheimnisvolle Dame. Gott möge ihm gnädig sein und dafür sorgen, dass sie noch immer in Deauville weilt und noch viel wichtiger, auch heute ihren Platz im Strandkorb hinter ihm einnimmt.

Es ist kurz nach zehn Uhr, sie ist es. Hörbar Sandros Aufatmen, er erkennt ihren anmutigen Gang schon aus der Ferne und nun im weichen Sand empfindet er jeden ihrer Schritte als Einladung – Einladung von dieser begehrenswerten Frau. Sie trägt ein verführerisches Strandkleid mit dezentem gerafftem Bandeau-Oberteil sowie einen weiten Rock aus transparentem Chiffon, mit langem Schlitz auf der Vorderseite, welcher raffiniert Einblick auf ihre eleganten Beine ermöglicht. Der transparente Chiffon verhüllt einiges, lässt aber niemanden im Unklaren, welch reizvollen Körper, durch den dunkelblauen sexy Bikini noch betont, sich unter dem luftigen Stückchen Stoff verbirgt.

Wem will sie gefallen? Sandros prüfender Blick fördert keinen möglichen Kontrahenten zu Tage, oder doch etwa eine Frau?

Er sieht die zurückgezogene im Strandkorb sitzende Frau der letzten Tage, und nun dieser extrovertierte Auftritt. Diese Frau wird immer geheimnisvoller.

Eines weiss Sandro mit Bestimmtheit. Sie hat keine Ahnung, was gestern Abend an der Verkehrsampel hätte geschehen können.

Dreimal läuft sie zum Meer und zurück und jedes Mal an Sandros Strandkorb vorbei. Glaubt Sandro tatsächlich, ein Lächeln auf breitem Munde zu erkennen?

Es ist gegen fünf Uhr am Nachmittag und die unbekannte Schönheit begibt sich auf den Rückweg vom Strand. Vereinzelte Raketen künden das heutige Fest an. Heute ist Sandro vor der Dame an der rekognoszierten Stelle bei der Verkehrsampel. Sein Puls rast. Beschwingt und völlig entspannt nähert sie sich der Kreuzung mit der Verkehrsampel. Wie von Sandro vermutet, fährt der dunkle Van wieder in Richtung Verkehrsampel. Just auf der Höhe der Dame stoppt der Wagen. Die Schiebetüre wird aufgerissen, vier vermummte Männer stürmen aus dem Van. Überrascht bleibt die Dame eine Schrecksekunde lang wie angewurzelt stehen. Hatte sie eine Vorahnung und ist nun vom eintretenden Ereignis trotzdem überrumpelt? Dann rennt sie, die Badetasche lässt sie fallen, überstürzt in Richtung der Wohnüberbauung.

Wenige Meter fehlen den Männern zum verhängnisvollen Griff auf die Dame. Die erste Rakete trifft einen der Vermummten. Verwirrt bleiben sie stehen, Sekunden später schlägt die zweite Rakete in den offenen Van. Ihr Plan wurde durchkreuzt, steht die Polizei hinter der Attacke? Hals über Kopf flüchten sie zu einem bereitstehenden schwarzen Ford Kastenwagen.

Ausser Atem wirft die Frau nochmals einen Blick zurück auf den mit offener Schiebetüre und aus dem Innenraum rauchenden Van. Die vermummten Männer verfolgen sie nicht mehr, weshalb?

***

Sie rennt die Stufen hoch, seit ihrer Flucht aus Neapel trägt sie den Wohnungsschlüssel an einer feinen Kette am Hals. Ist das so etwas wie Vorsehung? Sie öffnet die Türe und wirft sich heulend auf das Bett.

Sie wurde enttarnt. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Türe zu ihrem Appartement aufgebrochen wird?

Jemand hat die Entführung verhindert. Sie hörte die beiden heftigen Explosionen. Wer steckt dahinter und weshalb?

Es gibt niemanden, an den sie sich wenden könnte. Alle ihre bekannten Personen befinden sich im Einfluss der Organisation.

Ein Klopfen an der Türe schreckt sie vom Bett auf. Ist es bereits so weit? Sie hält den Atem an und schaut gebannt zur Türe. Nichts geschieht. Erst als sie den Blick von der Türklinke senkt, erkennt sie einen weissen Zettel, welcher unter der Türe durchgeschoben wird.

Will sie jemand an die Türe locken und im Moment beim Wegziehen des Blattes durch die Türe erschiessen? In einem Fernsehkrimi wurde dies einer Zeugin zum Verhängnis. Von der Seite her nähert sie sich der Türe und zieht, nur die linke Hand kurz der Gefahr aussetzend, den Zettel schnell zu ihr hin. Die Handschrift stammt von einer männlichen Person, der Text wurde in deutscher Sprache geschrieben. Der unbekannte Verfasser weiss um ihre Deutschsprachigkeit.

Sie sind in grösster Gefahr. Suchen Sie Schutz bei der Polizei. Verlassen Sie das Gebäude erst, wenn der Streifenwagen vor die Liegenschaft fährt. Wollen Sie die Polizei nicht informieren, könnte ich Ihnen Hilfe anbieten – die Raketen, welche den Van trafen, wurden von mir abgefeuert. Wenn Sie mein Angebot annehmen möchten, notieren Sie in grossen Zahlen ihre Handynummer auf ein Blatt Papier und halten Sie es ans Fenster. Vertauschen Sie die beiden letzten Ziffern. Ich werde Ihre Telefonnummer fotografieren und mich aus einer öffentlichen Kabine in der nächsten Stunde melden. Verlassen Sie auf keinen Fall vorher Ihre Wohnung und bleiben Sie mit Ausnahme der Telefonbotschaft vom Fenster fern. Ihre Badetasche habe ich Ihnen vor die Türe gelegt.

***

Gebannt wartet Sandro auf der gegenüberliegenden Strassenseite auf eine Reaktion aus dem dritten Stock. Wenige Minuten nachdem er seine Botschaft deponiert hat, erkennt er einen weissen Zettel am Fenster mit kräftig aufgemalten Ziffern. Die Dame bleibt unsichtbar, sie hält sich unter der Fensterbrüstung versteckt. Sandro weiss nicht, wie ihm geschieht. Diese begehrenswerte Frau reagiert auf seinen Vorschlag. Erstmals erfasst ihn ein Gefühl von Wärme. Die Ziffern hat sie mit rotem Lippenstift aufgemalt.

Die Kamera seines Handys hält diese fest und dank Zoom gelingt es ihm, sie zu entschlüsseln.

Die öffentliche Telefonkabine am Bahnhof von Deauville erreicht Sandro wenig später.

Bereits nach dem zweiten Rufton meldet sich eine heftig atmende Frauenstimme.

«Ja, was möchten Sie?»

«Ich bin derjenige, welcher …»

Sie unterbricht Sandro. «Ich glaube zu wissen, wer Sie sein könnten. Sassen Sie nicht direkt im Strandkorb vor mir? Ich weiss, dass Sie mich beobachtet haben.»

Sandro schluckt, war er dermassen plump bei seinen Beobachtungen, liess ihn die schöne Frau detektivische Regeln vernachlässigen?

«Ja, es ist so.»

Am anderen Ende folgt ein kurzer Unterbruch. Seine Aussage scheint die Dame zu beruhigen. Sie vermutet zu wissen, welche Beweggründe den Mann im Strandkorb zu der Beobachtung veranlassten.

Sandro spricht weiter: «Unser Telefongespräch könnte abgehört werden. Ich hinterlasse Ihnen eine weitere Botschaft. Sie wissen wie und wo.» Er hängt den Hörer in die Gabel.

Sandro war vorbereitet, er hatte alles geplant, Taxi, Bahnverbindung mit genauen Zeitangaben und Beschreibung der Orte.

Erneut steht er vor der verschlossenen Türe im dritten Stock.

Kurzes Anklopfen und das Blatt mit den Informationen unter der Türe durchschieben. Die Schönheit hat seine Botschaft erwartet – noch beim Durchschieben wird ihm das Blatt von innen von der Hand gezogen.

Er verlässt das Gebäude durch den Hintereingang. Nicht wissend, weshalb die Frau entführt werden sollte und wie gefährlich die Entführer sind, sollte niemand eine Verbindung zwischen ihm und der unbekannten Schönheit herstellen. Nur wenn er unerkannt bleibt, kann er der Frau vielleicht helfen.

***

Sie erkennt die markante männliche Schrift auf dem unter der Türe durchgeschobenen Blatt Papier.

Ihre Wohnung ist nicht sicher. Packen Sie sofort Ihr Gepäck. Ein Taxi wird um 18:30 Uhr vor Ihrem Haus vorfahren. Es führt Sie zum Bahnhof Deauville. Es ist im Voraus bezahlt und der Fahrer übergibt Ihnen ein verschlossenes Couvert mit Zugfahrkarte nach Cabourg. Sie müssen sich am Bahnhof Deauville beeilen, der Zug fährt um 18:50 Uhr auf Geleise drei. In Cabourg steigen Sie in ein Taxi und fahren nach Caen zum Parking Indigo Caen. In der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit wird es den Verfolgern nicht möglich sein, Ihre Spur aufzunehmen.

Im zweiten Untergeschoss des Parking Indigo Caen erwarte ich Sie. Benützen Sie auf keinen Fall den Fahrstuhl, (Videoüberwachung), die Treppe ist gleich gegenüber dem Fahrstuhl.

Haben Sie Vertrauen.

Ihr heimlicher Beschützer

Sie weiss nicht, weshalb sie diesem unbekannten Mann vertrauen soll. Immerhin hätte er in den letzten Tagen Gelegenheit gehabt, sie zu entführen oder sogar umzubringen. Er tat es nicht. Welche Beweggründe er auch haben sollte, auf jeden Fall gehört er nicht zu den Kidnappern im dunklen Van.

Ermöglicht ihr die Polizei die Sicherheit, um zu überleben? Gewährt man ihr Schutzhaft? Und wenn nein, was geschieht nach der Befragung auf dem Polizeirevier? Warten dann ihre Häscher beim Verlassen des Polizeipostens auf sie?

Sie muss sich entscheiden und packt ihre wenigen Habseligkeiten in den Koffer.

Pünktlich um 18:30 Uhr fährt das Taxi vors Gebäude. Im Internet hat sie sich kurz über das Taxiangebot in Deauville orientiert, die Kleberaufschrift seitlich am Heckfenster «Central Taxis Deauville-Trouville» lässt sie erleichtert die Wohnung verlassen und die Treppe hinuntersteigen.

***

Die Überraschung im Gesicht des Taxifahrers könnte nicht grösser sein, als sie aus dem Hausgang tritt. Was sich hier wohl abspielt? Der unbekannte Mann, welcher ihm den Auftrag zur Fahrt erteilte, sprach französisch, aber bestimmt war er nicht Franzose. Er drückte ihm ein verschlossenes Couvert in die Hand und verlangte von ihm, den Auftrag zu wiederholen. Das grosszügig bemessene Trinkgeld weckte erst recht seine Neugier. Nun, es ist ja nicht seine Aufgabe zu ermitteln, weshalb diese kurze Fahrt zum Bahnhof einem vermutlichen Geheimnis unterliegt.

Er startet den Motor seines Renault Espace.

Die Bahnhofuhr zeigt 18:40 Uhr. In zehn Minuten fährt der Zug nach Cabourg. Kein Fahrzeug ist ihnen gefolgt. Sie eilt mit dem Koffer zum Geleise drei. Wie schwer ein Koffer sein kann, erlebt sie in diesem Moment. Ausser Atem besteigt sie den Zug nach Cabourg. Kaum auf dem Sitzplatz, setzt der Zug sich in Bewegung.

Ein erstes Mal durchatmen. «In was bin ich hineingeraten?», fliessen die Worte über ihre Lippen. «Wer ist dieser Mann? Warum wusste er vom Überfall und warum kannte er den Zeitpunkt des Überfalls? Wenn er schon alles wusste, weshalb hat er mich nicht vorher gewarnt?» Zweifel und Hoffnung wechseln sich im Minutentakt ab.

Herrlich leuchten die riesigen Getreidefelder im Abendlicht auf der Zugfahrt nach Cabourg. Sie sieht sie nicht, emotionslos gleitet die malerische Landschaft an der Fensterfront des Zuges vorbei.

Sie könnte in Cabourg das Taxi nicht nehmen und sich auf eigene Faust, wie es ihr in den anderthalb Wochen in Deauville gelang, durchschlagen und irgendwohin reisen.

Die innere Stimme lässt sie trotzdem zum Taxenstand laufen und dem Fahrer als Fahrziel Indigo Parking Caen in die Navigation eintippen.

Die Treppe zur Tiefgarage liegt, wie vom unbekannten Mann beschrieben, auf der hinteren Seite des Aufzugs. Seit ihrer Flucht aus Neapel hat sie zweimal die Adresse gewechselt. Das erste Mal gelang es ihr, die Anonymität zu wahren, weshalb man ihr in Deauville auf die Schliche kam, ist für sie nicht nachvollziehbar. Sie weiss um das Risiko bei Videoüberwachungen und erkennt die Absicht ihres geheimnisvollen Beschützers, nicht den Aufzug ins Untergeschoss zu benützen.

Sie hat den Badegast im Strandkorb auf dem Rückweg vom Strand einige Male wahrgenommen. Sie schätzt das Alter des athletisch gebauten Mannes auf etwas über dreissig Jahre. Und jetzt im dunklen Untergeschoss des Parkings wird sie dem unbekannten Beschützer ein erstes Mal gegenüberstehen. Herz und Atem rasen. Wird er ihr wirklich helfen wollen? Ist es ihrer weiblichen Anziehung zu verdanken, oder treiben ihn andere Gründe? Erinnerungen an ihre Flucht aus Neapel schleichen sich erbarmungslos in ihre Gedankenwelt.

Sie erreicht die Parkebene zwei. Nur wenige Fahrzeuge finden sich hier abgestellt. Niemand scheint auf sie zu warten. Panik bemächtigt sich ihrer. Ist sie in eine Falle getappt? Hier gibt es kein Entrinnen und niemand würde bei einem Verbrechen etwas mitbekommen.

Ein Mann tritt ihr entgegen, noch lässt die Dunkelheit keine Details erkennen. Er scheint zu lächeln und streckt ihr seine Hand entgegen. Ein immenser Druck löst sich von ihren Schultern, den Koffer stellt sie auf den Boden. Unfähig sich zu rühren, fällt es ihr schwer, ihre Bewegungen zu kontrollieren und sich auf den Beinen zu halten.

Endlich spricht der Mann. Seine Stimme, seine Worte passen zum Bild des Mannes, welches sie am Strand von ihm gemacht hatte.

«Sandro.» Breit sein Lächeln.

«Lea.» Ihre Erleichterung spricht aus jeder Silbe ihres Namens.

«Wir sollten schnell diesen Ort verlassen. Mein Wagen steht ausserhalb der Videoüberwachung, gleich ums Eck. Leg dich hinter den Vordersitzen auf den Boden.» Sandro zieht einen Regenhut tief ins Gesicht, die dunkle Sonnenbrille leistet einen weiteren Beitrag zu seiner Anonymität.

Wenig später auf einer Nebenstrasse stoppt er seinen Mercedes. Letzte Sonnenstrahlen entschwinden am Horizont, unaufhaltsam legt sich die Dunkelheit über die malerische Normandie. «Lea, du darfst nun hervorkommen. Lass mich noch schnell die Kontrollschilder wieder montieren.»

Dieser Mann versteht etwas von Tarnung, geistert es durch Leas Gedankenwelt. Welchen Beruf er wohl ausübt? Aus dem Kofferraum entnimmt Sandro die Schweizer Kontrollschilder und mit wenigen Klicks klemmen sie fest an der Front und dem Heck seines Mercedes GLC 63 AMG.

Dieser Mann hat sie vor der Entführung gerettet. Sie ist ihm zu grossen Dank verpflichtet. Was erwartet er von ihr? Wie weit darf, will sie gehen? Ohnmächtige Zweifel zerreissen ihr Inneres. Sie ist verheiratet, in Italien wartet ihr Ehemann, und trotzdem kann sie nicht zurück nach Neapel.

Kilometer schmelzen unter den Rädern des Mercedes.

Sandro wird mit Lea in seine Mietwohnung nach Deauville fahren, sie dort vorerst unterbringen und mit ihrer Hilfe versuchen, Licht ins Dunkel dieser vereitelten Entführung zu bringen.

Cabourg liegt bereits hinter ihnen. Sandro glaubt zu verstehen, welche Gedanken Lea im Moment beschäftigen. Er weiss, wie Frauen in einer solchen Notlage denken. Lea wird sich in diesem Moment wünschen, hässlich und unattraktiv geboren worden zu sein.

Sandro lächelt. «Mach dir keine Sorgen. Ich werde dir nicht zu nahe treten. Ich möchte dir helfen. Dies wird aber nur möglich sein, wenn du mir lückenlos Einblick in dein bisheriges Leben gewährst.»

Sandros Gedanken kreisen um ein mögliches Ereignis, welches er weder für sich noch für Lea wünscht. Es könnte sein, dass dem Entführungsversuch eine Straftat zu Grunde liegt, sinniert er. Dann müsste er wissen, was für eine und weshalb. Es gibt Fälle, in welchen Menschen sich im Affekt oder aus Eifersucht zu Taten hinreissen lassen, welche Augenblicke vorher nicht denkbar gewesen wären.

Unverhofft sprudelt es aus Leas Munde: «Weshalb hast du von diesem Entführungsversuch gewusst, Sandro?»

Schmunzeln und Verlegenheit zugleich auf Sandros Gesicht. «Ganz einfach, ich wollte dich kennen lernen und bin dir gefolgt. Den dunklen Van habe ich zuerst nicht wahrgenommen. Erst am zweiten Tag wusste ich Bescheid.»

«Du hättest mich ja im Strandkorb ansprechen können. Wäre doch alles viel einfacher gewesen.»

Wohlüberlegt gleiten Sandros Worte aus seinem Munde: «Ich wollte herausfinden, ob du verheiratet bist, oder ein Freund auf dich wartet.» Seine Befürchtung, eine Frau könnte die Geliebte sein, lässt er unerwähnt.

«Ich bin verheiratet», sagt sie kurz.

Sandros konzentrierter Blick gilt der Strasse, kaum wahrnehmbar bewegt sich sein Adamsapfel.

«Es ist alles so kompliziert.» Tränen suchen den Weg über ihr edles Antlitz. Sie möchte sich an die Schulter des Mannes am Lenkrad lehnen, an den Mann, den sie erst eine halbe Stunde kennt, dem sie vielleicht sogar ihr Leben verdankt und dem sie blindlings vertraut.

Beide in Gedanken versunken verlaufen die restlichen Minuten auf dem Weg zu Sandros Ferienwohnung.

Eine Strassennische kurz vor Deauville lässt Sandro seinen Mercedes anhalten. «Leg dich erneut hinten auf den Boden, Lea.»

Der Parkplatz vor seiner Mietwohnung ist dürftig beleuchtet. Eine Gegebenheit, die den beiden sehr entgegenkommt. Unbemerkt erreichen sie das Gebäude – der Aufzug bringt die beiden in den fünften Stock.

Ein erstes Mal sitzen sie sich gegenüber. Obwohl Lea sich nie etwas anmerken liess, war sie ebenso im Bilde über ihren Nachbarn im Strandkorb, wie er über sie. Jegliche Gefühle verdrängend, wollte sie auf keinen Fall Kontakt mit diesem gutaussehenden Mitdreissiger mit seinen blauen Augen und den braunen Haaren. Heute Morgen machte sie eine Ausnahme bei ihren hehren Grundsätzen. Sie wollte wieder einmal ihr Ego stillen, fühlen, wie begehrenswert sie ist – mit ihrem Outfit die Aufmerksamkeit ihres Korbnachbarn auf sich lenken. Sie brauchte dieses Gefühl von Freiheit und Anerkennung und es tat ihr unheimlich gut. Es fühlt sich jeweils wie eine wohltuende Brise des tiefblauen Atlantiks an.

Noch vor einem halben Tag verlief alles nach ihrer Planung und nun sitzt sie dem Mann gegenüber, den sie nie kennen lernen wollte. «Wirst du mir auch helfen, obwohl ich verheiratet bin?» Ihre grossen, fragenden Augen lassen niemanden kalt.

«Weshalb wollte man dich entführen, Lea?»

Längere Zeit verweilt sein Blick im Gegenüber. «Es würde mir weh tun, sollte eine strafbare Handlung vorliegen. Das würde mein Engagement sehr in Frage stellen. Wenn dem so wäre oder die Entführer aus welchen Gründen auch immer nach deinem Leben trachteten, müsstest du dich bei der Polizei melden.»

«Meine Ehe, zu Beginn jedenfalls, war getragen von Liebe und Vertrauen. Irgendwann geriet Francesco in die Fänge einer religiösen Sekte. Diese Sekte, so vermutete auch meine Schwester, ist wahrscheinlich im Drogenhandel aktiv. Ich weigerte mich, Francesco an die Treffen dieser Vereinigung zu begleiten. Es fiel ihm immer schwerer, Gründe für die Abwesenheit seiner abtrünnigen Gattin zu erklären. Mehr und mehr öffnete sich ein Graben zwischen Francesco und mir. Es folgten Schläge, psychischer Terror und heftig Drohungen. – In einem von ihm geführten und von mir unbemerkt mitgehörtem Telefongespräch wurde Francesco unter Drohung aufgefordert, mich an eine der säubernden Rituale mitzubringen. Er musste wiederholen: Auch unter Gewaltanwendung werde ich sie zu unserm Treffen schleppen. Wir werden sie gefügig machen und ihren Willen brechen. – Ich war schockiert und gelähmt. Glücklicherweise verliess er nach diesem Gespräch unser Haus. Es wäre mir nicht gelungen, meinen Schock vor ihm zu verbergen. – Einen Tag nach dem schrecklichen Telefonat brachte er eine Sporttasche mit nach Hause. Verunsichert und misstrauisch öffnete ich sie in einem unbeobachteten Moment. Sie war voller Euro, gebündelte Zweihunderterscheine. Eine Videokassette lag ebenfalls in der Tasche. Ich verstaute die Tasche danach wieder im Schrank hinter dem Eingang. Nach diesem mitgehörten Telefongespräch konnte ich meine Neugier auf den Inhalt der Kassette nicht mehr unterdrücken und in einem unbeobachteten Moment steckte ich sie in den Videorekorder.»

Lea muss sich sammeln. «Ekelhaft und sehr frauenverachtend, was über den Bildschirm flimmerte.»

Erneut muss sich Lea überwinden, weiterzusprechen. «Ist Francesco zu solchen Taten ebenfalls fähig, und nahm er an solchen Ritualen teil, fragte ich mich. Ich traute ihm solche Scheusslichkeiten einfach nicht zu. – Ich wartete auf eine Gelegenheit, in welcher Francesco ‹ansprechbar› war, um ihn auf diese Tasche und die Videokassette anzusprechen. – Seine Aggression wurde durch meine Hartnäckigkeit heftiger. Es blieb mir keine Wahl, ich musste Francesco verlassen.»

«Wer einmal in einer Sektenfalle sitzt, so wie Francesco», fährt Sandro dazwischen, «findet ohne fremde Hilfe kaum mehr aus dem Schlamassel. Man müsste wissen, weshalb er diese Tasche in eurer Wohnung deponierte – war es Leichtsinn oder standen andere Absichten dahinter?»

Lea reagiert erschrocken. «Bringe ich mit meinem Diebstahl auch Francescos Leben in Gefahr?»

Sandro antwortet nicht sofort. «Mach dir deswegen keine Sorgen. Die Sekte wird ihrem Mitglied bestimmt eine Türe offenlassen.»

«Nur mit meinen notwendigsten Utensilien flüchtete ich aus unserer Wohnung. Die Tasche nahm ich mit. Ich wollte überleben.» Es folgt eine Pause. Gross fragende dunkle Augen haften an ihrem Gegenüber.

Sandros Gefühlswelt fährt Achterbahn. Er möchte ihr helfen, weiss aber auch, durch seine vereitelte Entführung zum Komplizen der jungen Frau geworden zu sein. «Ich vermute, dass es sich um Drogengelder handelt. Wenn dem so ist, dann kennen solche Organisation kein Erbarmen. Die werden nicht ruhen, um das Geld wieder zurückzuholen.»

«Wenn sie mich erwischen, was geschieht mit mir – werden sie mich töten?»

«Nicht nur dich. Sie waren dir dicht auf den Fersen. Du hattest einen riesigen Schutzengel.»

«Ich weiss, wie mein Schutzengel aussieht.» Leas Blick verweilt länger in ihrem Gegenüber als vorhin.

«Weisst du, wie viel Geld du mitgenommen hast?»

«Ich habe es nie gezählt. Aber es ist sehr viel Geld.»

«Auf jeden Fall solltest du es nicht mit dir herumschleppen. Es könnte auch anderweitig gestohlen werden. Wir sollten es in einem Banksafe in Sicherheit bringen.»

Gemeinsam zählen sie die gebündelten Noten. Schlussendlich liegen 200 Bündel Zweihunderter-Euronoten, à zehntausend Euro, vor ihnen auf dem Clubtisch.

«Zwei Millionen Euro ist kein Klacks. Da hast du ganze Arbeit geleistet», sagt Sandro und grinst.

«Wenn ich mich einschränke, und das ist für mich kein Problem, kann ich mit diesem Geld sehr lange leben. Nur ewig verstecken, um dann wieder fliehen zu müssen, das halte ich nicht durch.»

«Wir werden eine Lösung finden. Hier bist du vorerst in Sicherheit, die Verbrecher wissen nicht, wer hinter dem Raketenanschlag steht.»

Dem Kühlschrank entnimmt Sandro diverse französische Käsesorten, Lachstranchen und Brot vom Bäcker an der Strandpromenade.

Wortlos geniessen sie die Kleinigkeiten. Beide scheinen die gleichen Gedanken zu beschäftigen – wo wird Lea die heutige Nacht verbringen? Das französische Bett bietet genug Platz für zwei, dennoch keine gute Idee, findet Sandro. Er entschliesst sich, das Bett Lea zu überlassen und installiert sich mit Wolldecke und Kissen auf der Polstergruppe im Wohnzimmer.

15. Juli

Ein brennender Van beherrscht die Titelseite der Montagsausgabe «La Gazette» de Deauville vom 15. Juli:

Est-ce-que c’était encore une attaque terroriste sur l’état français?

War das erneut ein Terroranschlag auf den französischen Staat?

Gestern Abend an unserem Nationalfeiertag, um fünf Uhr am Nachmittag, erfolgte ein Brandanschlag auf einen schwarzen Van an der Kreuzung Rue de la Mer / Rue Sem in Deauville. Zeuge des Anschlages war ein hinter dem Van fahrender Franzose. An der Ampel, obwohl auf Grün geschaltet, stoppte der dunkle Van. Die Seitentüre wurde aufgerissen, vier maskierte Männer stürmten aus dem Wagen. In diesem Moment ging eine Feuerwerksrakete los. Ein Mann wurde getroffen, eine zweite Rakete explodierte im Wageninnern. Weshalb die Männer aus dem Van stürmten und wer die Raketen zündete, ist unklar. Der Zeuge meinte, eine Frau beobachtet zu haben, welche panikartig in Richtung Casino Barrière flüchtete. Die zweite Rakete muss den Wagenbrand ausgelöst haben, in deren Folge der Van vollständig ausbrannte. Die Männer, offensichtlich vom Angriff überrascht, flüchteten in einem bereitstehenden Ford Kastenwagen.

Wer hinter dem Anschlag auf den Van steckt und weshalb vermummte Männer aus dem Wagen sprangen, sind Bestandteile der laufenden Untersuchungen der Polizei von Deauville.

Wurde hier ein Attentat auf den französischen Staat vereitelt oder war eventuell die flüchtende Frau Grund des Anschlags?

Die Zeitung wandert von Mann zu Mann. Grabesstimmung herrscht in der Suite der «La Ferme Saint Siméon» in Honfleur.

Einer ihrer Männer liegt mit schweren Bauchverbrennungen im Spital, die übrigen zutiefst betroffen durch die misslungene Entführung und noch mehr wegen des soeben geführten Telefongesprächs mit ihrem Gottesbotschafter in Neapel.

Apollon, ihr Oberhaupt, ein selbsternanntes Kind des griechischen Gottes Apollon, beschimpfte und bedrohte die Männer aufs Heftigste. Sie seien unfähig und seiner religiösen Vereinigung nicht würdig. «Ich gebe euch noch eine letzte Chance, dieses vom Teufel besessenen Weibes habhaft zu werden. Es spielt mir keine Rolle, ob tot oder lebendig. Die zwei Millionen Euro bringt ihr mir auf jeden Fall zurück.»

Die Drohung seiner Worte aus dem Handylautsprecher lässt die Männer deprimiert in den Ledersesseln versinken. Ohne ein weiteres Wort oder ein Signal des Begreifens für die gescheiterte Aktion beendet Apollon das Gespräch.

Der gestrige Fahrer des Vans löst sich als Erster aus der Lethargie. «Gebt mir nochmals die Videoaufzeichnungen aus unserem Van an den Tagen vor und während des Anschlages.»

Ihre Konzentration gilt einem alten Mann mit Gepäckrollwagen.

«Dieser Mann bekundete Interesse für unser Fahrzeug. Seht ihr, vor der Ampel versuchte er ins Innere unseres Vans zu blicken, weshalb? – Natürlich waren wir langsam unterwegs, aber erklärt dies seine Neugierde? Und nun wird es spannend, bereits einen Tag vorher befand sich ein älterer Mann zur gleichen Zeit wie Francescos Frau auf dem Weg zur Verkehrsampel. Ich habe dies auch erst im Nachhinein festgestellt und nun müsst ihr genau hinschauen.»

Er zoomt die beiden Videoaufnahmen.

«Es ist derselbe Mann. Durch seine gebückte Haltung und die lausige Kleidung versuchte er sein Alter zu kaschieren. Der ist viel jünger, als er sich zu geben versucht. Der folgte wahrscheinlich ebenfalls Francescos abtrünniger Gattin. – Weshalb ist mir ein Rätsel. Vielleicht ein abgewiesener Liebhaber oder ein verklemmter Spanner, weiss der Teufel. Aber der könnte uns vielleicht Informationen zur Schlampe liefern.»

«Weshalb suchen wir nicht direkt nach ihr?», fragt ein anderer.

«Das gescheiterte Kidnapping hat sie hautnah miterlebt», erwidert der Fahrer. «Die ist irgendwo untergekrochen, der unbekannte Mann hingegen hat keine Ahnung unserer Beobachtung.»

16. Juli

Mit Esswaren beladen steht Sandro an der Kasse des Haushaltswarengeschäfts. Die Verkäuferin erinnert sich an den sympathischen Mann vom 14. Juli. Damals für sie kaum nachvollziehbar, kaufte er nur Ofenhandschuhe und ein Bic Feuerzeug.

Herzhaft lacht sie ihm entgegen. Ist er ein Strassenkünstler oder sonst irgendwie ein verrückter Yuppie aus der Schickimicki-Szene, von denen es in Deauville unzählige gibt? Der Mann sieht unverschämt gut aus. Welch vermögende, vielleicht auch ältere Dame möchte sich nicht in seinen Hintern verbeissen.

«Womit habe ich Ihr Lachen verdient?», fragt Sandro ebenso erfreut.

«Sie sehen auf dem Foto einfach umwerfend aus.»

«Welches Foto meinen Sie, nette Dame?»

«Sie mit dem kleinen Gepäckrollwagen, dunklem Hut und einem alten T-Shirt. – Zwei Männer waren hier, sie möchten diesen Artisten für eine Fashion-Party engagieren, wussten aber nicht, wo Sie erreichbar sind.» Die Kassiererin fährt fort: «Ich solle bei Ihrem nächsten Einkauf die Männer anrufen.»

Sandros Reaktion schreckt die Kassiererin. «Habe ich etwas Falsches gesagt?»

Der plötzliche Stress steuert Sandros Atmung, hoffentlich erkennt die Dame nicht den heftigen Pulsschlag am Halse. «Wann waren die Männer hier?»

«Vor etwa zwei Stunden.»

Sandros Hirn arbeitet im Hochleistungsmodus. Er möchte die Frau an der Kasse keiner Gefahr aussetzen und ihr einen Grund liefern, weshalb sie nicht anrufen soll. «Geben Sie mir doch die Telefonnummer, dann werde ich die beiden Männer direkt kontaktieren.»

Der Verkäuferin wird in diesem Moment bewusst, dass der nette Herr vor ihr an der Kasse nicht anrufen wird. Was wollten die beiden Männer von dem Herrn? Sie spürt die Gefahr.

Verwirrt kramt die Verkäuferin den Notizzettel mit der Telefonnummer aus einer Schublade.

Sandro hat es plötzlich eilig, sein ernster Blick erhärtet die Bedenken der Kassiererin. «Ich habe eine Bitte an Sie: Sollten die Männer nochmals hier aufkreuzen, würden Sie ihnen ausrichten, ich hätte nicht mehr eingekauft.» Sie lächelt und nickt. «Mache ich doch gerne für Sie.»

***

Sandro lässt seinen vorher parkierten Mercedes vor dem Laden stehen. Mit zwei Tragtaschen beladenen läuft er zu Fuss in der ursprünglichen Fahrtrichtung weiter. Niemand scheint von ihm Kenntnis zu nehmen oder ihn zu verfolgen. Dreihundert Meter weiter an der nächsten Strassenkreuzung wendet er sich an einen gelangweilt herumlungernden jungen Mann. «Darf ich Sie etwas fragen?»

«Selbstverständlich. Was möchten Sie wissen?»

«Haben Sie einen Führerschein und können Sie Automatikgetriebe fahren?»

Der junge Mann grinst. «Weshalb so geheimnisvoll?»

«Sie sollten meinen Mercedes vor dem Haushaltswarengeschäft abholen und hierher überführen.»

«Hast du den geklaut und brauchst nun einen Helfer?»

«Da kann ich dich beruhigen. Es sollte mich nur niemand sehen, wenn ich in den Wagen steige.» Jetzt grinst auch Sandro vielsagend.

Einen Zwanzigeuroschein entnimmt Sandro seinem Portemonnaie.

«Okay, mache ich doch gern für dich.» Bereits ist der junge Mann schnellen Fusses auf dem Weg in Richtung Haushaltswarengeschäft. Kaum zehn Minuten später braust der Mercedes heran.

«Verdammt heisse Kiste. Wenn du mich weiter brauchst, bin ich auch unentgeltlich für dich da.»

Sein Blick mehrheitlich im Rückspiegel als auf die Strasse vor ihm, gelangt Sandro zu seiner Ferienwohnung an der Rue Edmond Blanc in Deauville.

Lea lächelt beim Auspacken der Einkaufstüten, der denkt auch an alles.

«Du bist plötzlich so ernst. Was beschäftigt dich, Sandro?», fragt sie.

«Zwei Männer haben sich nach mir im Hauhaltwarengeschäft erkundigt.»

Leas Gesichtsfarbe wechselt ins Bleiche. «Doch nicht etwa die Entführer?»

«Leider müssen wir davon ausgehen. Aus dem Van heraus wurde ich fotografiert. Die wissen Bescheid!»

«Wissen die, wo du wohnst?» Der letzte Rest Farbe ist aus Leas Gesicht gewichen.

«Noch nicht, bestimmt werden sie auch dies bald herausfinden. Wir können nicht länger hierbleiben. Wo bist du zu Hause, Lea?»

«Ich bin beziehungsweise war wohnhaft in Neapel.»

Sandro kann seine Verblüffung nicht verbergen. «Das liegt aber auch nicht gleich am Weg.»

Wäre die Situation nicht so grotesk, würden sich jetzt bestimmt erheiternde Fältchen um die Mundwinkel der beiden legen.

«Und wohin soll ich mich in Sicherheit bringen?», möchte Lea wissen. «Gibt es überhaupt noch einen Ort auf dieser Welt, wo man mich nicht aufspürt?»

«Wenn du meine Hilfe annehmen willst, musst du mir sehr viel anvertrauen. Vor allem auch die Hintergründe, warum dein Ehemann in die Fänge dieser Sekte geriet.»

Sandro fühlt Leas Unsicherheit und nimmt die zu erwartende Frage gleich vorweg: «Du möchtest wissen, weshalb ich dir helfen soll und ob ich überhaupt dazu in der Lage bin.»

Sie nickt nachdenklich. «Kaum zu glauben.» Sandros Blick gilt seinem Handy-Display. «Es ist bereits ein Uhr. Wir sollten etwas essen. Wie wär’s mit einer Pizza?»

Sandro wählt die Nummer des Pizza-Services und kaum fünfzehn Minuten später klingelt es an der Tür. Einmal Pizza Quattro Stagioni und einmal Pizza Margherita nehmen sie in Empfang, fünfunddreissig Euro wechseln den Besitzer. In der Bar der kleinen Küche sitzend, verzehren sie die wohlschmeckenden Kalorienhappen.

«Du möchtest wissen, ob und wie ich dir helfen kann. Zuerst musst du mir aber erklären, weshalb du dich nicht direkt an die hiesige Polizei wendest.»

Leas Antwort erfolgt zögerlich. «Ich traue der Polizei, vor allem der Polizei von Neapel, nicht. Meine Schwester ist Rechtsanwältin in Zürich. Sie ermittelte gegen eine Gelwäscherei- und Drogenorganisation in der Schweiz. Ihre Recherchen führten sie auch nach Süditalien – vor allem Neapel schien ein wichtiger Drogenhotspot zu sein. Seither ist sie verschollen, ich befürchte das Schlimmste. – Mit der Polizei von Neapel hatte ich deswegen regen Kontakt. Niemand wusste Bescheid, weder über ihren Aufenthalt noch über ihre Ermittlungen.»

«Wo in Neapel fanden die Ermittlungen deiner Schwester statt?»

«Nicht einmal dies ist mir bekannt.»

«Wann hattest du zum letzten Mal Kontakt mit deiner Schwester?»

«Das war vor drei Monaten, am Montag, 15. April, am Tage des Geburtstages meiner Mutter. Eliane versprach mir, mich in Neapel zu besuchen. Es kam nie so weit.»

Sandro wischt sich mit der Serviette einen Rest Pizza vom Mundwinkel. «Die vereitelte Entführung geschah aber hier in Frankreich. Das wäre ein Fall für die französische Justiz. Hier hättest du nichts zu befürchten.»

«Ich habe mir deswegen auch Gedanken gemacht. Vielleicht würde die Polizei meine Wohnung observieren. Aber genügt dies?»

«Und darin würde man zwei Million Euro finden, die du einer Sekte abgenommen hast», meint Sandro nachdenklich. «Das macht die Sache auch nicht einfacher. Leben deine Eltern in der Schweiz? Wenn ja, hättest du dort am ehesten Schutz vor der Sekte.»

«Meine Eltern wohnen in Baden im Aargau in einer Eigentumswohnung. Beide sind im Ruhestand. Francesco wird dieser Sekte, vermutlich unter Drohung, auch meine Heimadresse ausgehändigt haben.»

Ihr tiefer Seufzer lässt Sandro nicht im Unklaren, wie es um Leas Gefühlswelt steht.

«Ich bezweifle ernsthaft, mich dort in Sicherheit zu wissen.»

Sandro teilt Leas Überlegungen, seine Gedanken gelten einer Möglichkeit: nicht für immer, aber vorübergehend. Warum nicht?

***

Dieses Mal empfindet die Kassiererin die beiden bei ihr an der Kasse stehenden Männer unheimlich und bedrohlich.

Der Wunsch des schönen Mannes, den Herren zu verschweigen, dass er nochmals im Haushaltswarengeschäft Einkäufe tätigte, gelingt ihr nicht, ohne eine gewisse Beklemmung. Die Männer müssen ihre Unsicherheit fühlen.

Ausgesprochen hilflos und klein fühlt sie sich im Moment hinter dem Förderband an der Kasse sitzend. Bohrende Blicke durchdringen sie.

«Der Mann war nicht nochmals hier?», wiederholt einer der beiden die Aussage der Verkäuferin. «Ich glaube, Sie belügen mich, Madame.»

Die Drohung in seiner Stimme lässt die Verkäuferin tiefer in ihren Stuhl sinken.

«Haben Sie Kinder?»

Sie zuckt zusammen.

«Ich frage Sie nochmals, war der Mann hier?»

Aus zitterndem Munde kommt: «Ja, heute Vormittag.»

«Hat er Einkäufe getätigt, und waren dabei auch Gegenstände, die für eine Frau hätten sein könnten?»

Die Verkäuferin stottert: «Ja, ich glaube.»

«War der Mann vorher schon einmal hier?», bohrt er weiter, «und wenn ja, was hat er damals gekauft?»

Sie hadert mit sich. Einerseits möchte sie den sympathischen Mann nicht der jetzt fühlbaren Bedrohung aussetzen, andererseits holen sie die drohenden Worte «Haben Sie Kinder?» wieder ein.

«Er hatte nur Ofenhandschuhe und ein Feuerzeug gekauft.»

Die Blicke der beiden Männer sprechen Bände.

«Hier von der Kasse aus sehen Sie das Parkareal. Was für ein Fahrzeug fuhr der Mann?»

Üblicherweise interessieren die Kassiererin die Fahrzeuge ihrer Kunden nicht – bei diesem gutaussehenden Mann war es anders. «Er fährt einen Mercedes SUV.»

«Welche Farbe hat der Wagen?»

«Er ist weiss», presst sie gequält heraus.

«War er Franzose, oder welches Nummernschild war am Mercedes montiert?»

Sie zögert und blickt in die kalten Augen. «Er war vermutlich kein Franzose, aber er spricht sehr gut Französisch. Die Nummernschilder konnte ich beim Wegfahren nicht erkennen.»

«In welcher Richtung fuhr er weg?»

«Es setzte sich ein anderer Mann ans Steuer und fuhr in Richtung Yachthafen.»

Erneut vielsagende Blicke der beiden Männer.

«Wenn der französisch sprechende Mann wieder hier auftauchen sollte, rufen Sie mich unverzüglich an.» Er drückt der Kassiererin nochmals seine Telefonnummer in die Hand. Die Drohung in seinen Worten lässt keinen Spielraum zu irgendwelchen Interpretationen.

Ohne sich zu verabschieden, verlassen die beiden Männer das Haushaltswarengeschäft.

Gefühllos gleiten die Finger der Kassiererin beim nächsten Kunden über die Tastatur.

Ihr dreijähriges Töchterlein hält sich fest in ihren Gedanken.

***

Draussen vor dem Geschäft diskutieren die beiden Männer angeregt.

«Dieser Mistkerl hat Lunte gerochen und weiss, dass wir hinter ihm her sind. Noch ist nichts verloren.» Er wählt eine Nummer auf seinem Handy. «Beobachtet unsere Strassen und die Parkplätze in Deauville und Umgebung. Der unbekannte Mann fährt einen weissen Mercedes SUV. Drängt ihn von der Strasse ab. Wenn er draufgeht, umso besser.»

***

«Könntest du dir vorstellen, mit mir in die Schweiz zu reisen, Lea?»

Geheimnisvolles Schimmern liegt in Leas schönen Augen. Hin-und hergerissen kämpft sie mit ihren Gefühlen. Der Mann vom Strandkorb, welchen sie nie kennen lernen wollte, macht ihr dieses hilfreiche Angebot. Sie weiss, dass er ihre Nähe sucht, und sie ist nicht willens, ihr Ehegelübde zu brechen. Hat sie bei ihm mit ihrem beinahe schon Einladen und verführerischen Strandauftritt falsche Hoffnungen geschürt?

Sandro lächelt. «Ich glaube, deine Sorgen zu verstehen. Es macht mir einfach Freude, dir zu helfen. Die Kidnapper werden nicht aufgeben, dich zu suchen. Noch haben wir einen Vorsprung. Lass uns aufbrechen.»

Kaum eine halbe Stunde später verlassen Lea und Sandro die Ferienwohnung. Sein weisser Mercedes steht unversehrt auf seinem für ihn reservierten Parkfeld. Trotzdem beschleicht Sandro ein ungutes Gefühl beim Starten des Motors.

Sind seine Befürchtungen berechtigt?

Sandros Gedanken kreisen um das vorherige Gespräch mit der Kassiererin. Der angesprochene junge Mann fuhr kurz vor Mittag mit seinem Mercedes vom Haushaltswarengeschäft weg. Er war in der Nähe des Einganges parkiert. Bestimmt hat die Kassiererin den Wagen gesehen. Wenn die Entführer nochmals zurückkamen, die kamen bestimmt nochmals, und die Kassiererin unter Druck setzten, wissen sie nun auch Bescheid über seinen Mercedes. Die Verbrecher machen nicht nur Jagd auf Lea, auch ihn haben sie nun im Visier und ganz nebenbei liegt noch ein hübsches Sümmchen von zwei Millionen Euro, vermutlich gewaschenes Geld, in seiner Ferienwohnung. Ein kleiner Doppelmord wäre jetzt angebracht. Sandros sarkastische Schlussfolgerung: So etwas gehört doch zum Tagesgeschäft dieser Banden, bestimmt haben sie bereits den Auftrag an ein Betonwerk erteilt.

***

Kaum eine Stunde ist seit dem Telefonhinweis ihres Kollegen beim Haushaltswarengeschäft vergangen.