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Das Kultbuch: Gibrans Gedanken über Liebe, Tod und das Leben prägten die Beatnik- und Hippie-Kultur und waren ähnlich einflussreich wie Saint-Exupérys "Der kleine Prinz".
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Seitenzahl: 62
Alle Rechte vorbehalten
© 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Umschlaggestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2013
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960244-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019082-1
www.reclam.de
1 Die Ankunft des Schiffes
2 Liebe
3 Ehe
4 Kinder
5 Geben
6 Essen und Trinken
7 Arbeit
8 Freude und Leid
9 Häuser
10 Kleidung
11 Kaufen und Verkaufen
12 Verbrechen und Strafe
13 Gesetze
14 Freiheit
15 Verstand und Leidenschaft
16 Schmerz
17 Selbstkenntnis
18 Lehren
19 Freundschaft
20 Reden
21 Zeit
22 Gut und Böse
23 Gebet
24 Genuss
25 Schönheit
26 Religion
27 Tod
28 Der Abschied
Zu dieser Ausgabe
Zum Autor
Almustafa, der Erwählte und Geliebte, seiner Tage Morgenröte, hatte in der Stadt Orfalis zwölf Jahre lang auf sein Schiff gewartet, das ihn zur Insel seiner Geburt zurückbringen sollte.
Und im zwölften Jahr, am siebten Tag des Jelul, des Erntemondes, erstieg er die Anhöhe vor der Stadtmauer, schaute auf das Meer hinaus und erblickte im Nebel sein Schiff.
Da öffneten sich die Tore seines Herzens, und seine Freude flog weit über das Meer. Und er schloss die Augen und betete in der Stille seiner Seele.
Doch als er den Hügel hinabstieg, überkam ihn Betrübnis, und er dachte in seinem Herzen:
Wie soll ich in Frieden und ohne Kummer scheiden? Nicht ohne eine Wunde in meiner Seele werde ich diese Stadt verlassen.
Lang waren die Tage des Schmerzes, die ich in ihren Mauern verbrachte, und lang die Nächte der Einsamkeit; und wer vermöchte seinen Schmerz und seine Einsamkeit ohne Bedauern zurückzulassen?
Zu viele Splitter meines Geistes habe ich in diesen Straßen verstreut, und zu zahlreich sind die Kinder meiner Sehnsucht, die nackt durch diese Hügel wandelten. Ich kann mich von ihnen nicht entfernen ohne eine Last und einen Schmerz.
Was ich heute abwerfe, ist kein Gewand, sondern eine Haut, die ich mir mit eigenen Händen abziehe.
Es ist auch kein Gedanke, den ich zurücklasse, sondern ein Herz, süß von Hunger und Durst.
Doch ich kann nicht länger zögern.
Das Meer, das alle Dinge zu sich ruft, es ruft auch mich, ich muss an Bord.
Denn mögen die Stunden der Nacht auch brennen, bedeutet zu bleiben, zu erfrieren, zu Kristall zu erstarren und in einer Form gefesselt zu sein.
Gern würde ich alles, was hier ist, mit mir nehmen. Doch wie könnte ich das?
Eine Stimme kann die Zunge und die Lippen, die ihr Flügel verliehen haben, nicht tragen.
Sie muss allein den Äther suchen.
Und allein und ohne seinen Horst muss der Adler durch die Sonne fliegen.
Als er den Fuß des Hügels erreichte, wandte er sich erneut zum Meer und sah, dass sein Schiff sich dem Hafen näherte. Und am Bug des Schiffes standen die Seeleute, die Männer aus seinem Land.
Und seine Seele rief ihnen zu:
Ihr Söhne meiner uralten Mutter, ihr Reiter der Gezeiten.
Wie oft schon seid ihr in meinen Träumen gesegelt.
Nun kommt ihr in mein Wachen, meinen tieferen Traum.
Ich bin bereit zu gehen, und meine Sehnsucht erwartet mit vollen Segeln den Wind.
Nur noch einen Atemzug werde ich in dieser reglosen Luft tun, nur einen liebevollen Blick noch zurückwerfen.
Dann werde ich unter euch stehen, ein Seefahrer unter Seefahrern.
Und du, unermessliches Meer, schlafende Mutter, die du allein dem Fluss und dem Bache Friede und Freiheit bist,
Nur noch durch eine Windung wird dieser Bach fließen, nur noch ein Murmeln wird auf dieser Lichtung ertönen, und ich werde zu dir kommen, ein grenzenloser Tropfen in ein grenzenloses Meer.
Und während er ging, sah er in der Ferne Männer und Frauen von ihren Feldern und aus ihren Weinbergen zu den Stadttoren eilen.
Und er hörte ihre Stimmen seinen Namen nennen und einander von Feld zu Feld die Ankunft seines Schiffes verkünden.
Und er sagte zu sich:
Wird der Tag des Abschieds der Tag der Begegnung sein?
Und wird es einmal heißen, mein Abend sei in Wahrheit meine Morgenröte gewesen?
Und was werde ich ihm geben, der seinen Pflug in der Furche stehen ließ, oder dem, der das Rad seiner Kelter anhielt?
Wird mein Herz zu einem Baum werden, schwer beladen mit Früchten, die ich sammeln und ihnen geben werde?
Und werden meine Wünsche wie ein Springbrunnen sprudeln, auf dass ich ihre Becher fülle?
Bin ich eine Harfe, dass die Hand des Mächtigen mich berühren, oder eine Flöte, dass sein Atem mich durchströmen mag?
Ich bin ein Suchender der Stille. Und welche Schätze habe ich in der Stille gefunden, die ich vertrauensvoll verteilen kann?
Wenn dies mein Tag der Ernte ist, auf welchen Feldern habe ich den Samen gesät und zu welchen vergessenen Jahreszeiten?
Wenn dies die Stunde ist, in der ich meine Laterne erhebe, so wird nicht meine Flamme darin brennen.
Leer und dunkel werde ich die Laterne erheben,
Und der Wächter der Nacht wird sie mit Öl füllen und anzünden.
Dies sagte er mit Worten. Doch vieles blieb ungesagt in seinem Herzen. Denn er selbst vermochte sein tieferes Geheimnis nicht zu offenbaren.
Und als er die Stadt betrat, kamen alle, ihm zu begegnen, und sie schrien auf wie mit einer Stimme.
Und die Ältesten der Stadt traten vor und sagten:
Geh noch nicht fort von uns.
Du warst ein Mittag in unserer Dämmerung, und deine Jugend hat uns Träume träumen lassen.
Du bist für uns weder ein Fremder noch ein Gast, sondern ein Sohn und unser innig Geliebter.
Lass unsere Augen noch nicht nach deinem Anblick hungern.
Und die Priester und Priesterinnen sagten zu ihm:
Lasse nicht zu, dass die Wellen des Meeres uns jetzt schon trennen, und lass die Jahre, die du in unserer Mitte verbracht, nicht zur Erinnerung werden.
Du bist unter uns gewandelt als Gast, und dein Schatten war ein Licht auf unseren Gesichtern.
Wir haben dich sehr geliebt. Doch unsere Liebe war sprachlos und durch Schleier verhüllt.
Nun aber ruft sie laut zu dir, will unverschleiert vor dir stehen.
Nie hat die Liebe ihre Tiefe vor der Stunde der Trennung gekannt.
Auch andere kamen und flehten ihn an. Doch er antwortete ihnen nicht. Er neigte nur sein Haupt, und die in seiner Nähe sahen Tränen auf seine Brust fallen.
Und er schritt mit den Menschen zum großen Platz vor dem Tempel.
Und aus dem Heiligtum trat eine Frau, Almitra genannt. Sie war eine Seherin.
Er schaute sie mit besonderer Zärtlichkeit an, denn sie hatte ihn als erste aufgesucht und an ihn geglaubt am Tag, an dem er in die Stadt gekommen war.
Und sie grüßte ihn und sagte:
Prophet Gottes, auf der Suche nach dem Erhabensten, lange hast du in der Ferne nach deinem Schiff gesucht.
Nun ist dein Schiff gekommen, und du musst fort.
Tief ist deine Sehnsucht nach dem Land deiner Erinnerungen und nach dem Ort deines höheren Verlangens; und unsere Liebe könnte dich nicht binden, unsere Nöte könnten dich nicht halten.
Doch bitten wir dich, zu uns zu sprechen, bevor du uns verlässt, und uns deine Wahrheit zu geben.
Wir werden sie an unsere Kinder und diese sie an die ihren weitergeben, auf dass sie nicht vergehe.
In deiner Abgeschiedenheit hast du über unsere Tage gewacht, und in deinem Wachen hast du dem Weinen und Lachen unseres Schlafes gelauscht.