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Der "Narr" mit seinen Gleichnissen, Parabeln und Prosagedichten gehört zu den beliebtesten Werken Khalil Gibrans. Er ermutigt darin, einen eigenständigen, ungewöhnlichen Lebensweg zu gehen, der tiefer zu sich selbst, zu einem authentischen Menschsein und einem verantworteten Leben führt - denn: "Nur ein Narr und ein Genie brechen die von Menschen geschaffenen Gesetze; sie sind dem Herzen Gottes am nächsten."
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Seitenzahl: 39
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Haupttitel
Inhalt
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Über das Buch
Impressum
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Khalil Gibran
Der Narr
Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Assaf
Patmos Verlag
Du fragst mich, wie ich zum Narren wurde? Das geschah so: Eines Tages, lange bevor die vielen Götter geboren waren, erwachte ich aus einem tiefen Schlaf und gewahrte, dass meine Masken gestohlen worden waren – die sieben Masken, welche ich in sieben Leben verfertigt und getragen hatte. – Unmaskiert rannte ich durch die vollen Straßen und schrie: »Diebe, Diebe, die verdammten Diebe!«
Männer und Frauen lachten. Einige liefen aus Angst vor mir in ihre Häuser.
Als ich zum Marktplatz kam, rief ein Junge von einem Hausdach: »Er ist ein Narr!« Ich blickte empor, um ihn zu sehen: Da küsste die Sonne erstmals mein bloßes Antlitz. Zum ersten Mal küsste sie mein bloßes Antlitz, und meine Seele entflammte in Liebe zu ihr, und ich wünschte mir keine Masken mehr. Wie in Trance rief ich: »Segen, Segen über die Diebe, die meine Masken gestohlen!«
So wurde ich zum Narren.
Und in meiner Narrheit fand ich Freiheit und Sicherheit: die Freiheit der Einsamkeit und die Sicherheit vor dem Verstandenwerden. Denn diejenigen, welche uns verstehen, versklaven etwas in uns.
Aber ich will nicht zu stolz sein auf meine Sicherheit. Denn auch ein Dieb ist im Kerker sicher vor einem anderen Dieb.
Gott
Mein Freund
Die Vogelscheuche
Die Schlafwandler
Der weise Hund
Die beiden Eremiten
Über Geben und Nehmen
Die sieben Ich
Krieg
Der Fuchs
Der weise König
Ehrgeiz
Die neue Freude
Die andere Sprache
Der Granatapfel
Die beiden Käfige
Die drei Ameisen
Der Totengräber
Auf den Stufen des Tempels
Die gesegnete Stadt
Der gute Gott und der böse Gott
»Schmach«
Die Nacht und der Narr
Gesichter
Die größere See
Gekreuzigt
Der Astronom
Die große Sehnsucht
Ein Grashalm sagte
Das Auge
Die beiden Gelehrten
Als meine Sorge zur Welt kam
Und als meine Freude zur Welt kam
»Die vollkommene Welt«
Nachwort
Literatur
Als vor Zeiten der erste bebende Laut über meine Lippen drang, erklomm ich den heiligen Berg und sprach zu Gott. Und ich sagte: »Herr, ich bin dein Diener. Dein geheimer Wille ist mein Gesetz, und ich folge dir immerdar.«
Aber Gott antwortete nicht. Er entschwand einem mächtigen Sturme gleich.
Und nach tausend Jahren erklomm ich den heiligen Berg, und wieder sprach ich zu Gott. Und ich sagte: »Schöpfer, ich bin dein Geschöpf. Aus Ton hast du mich geformt, und was ich bin und habe, schulde ich dir.«
Aber Gott antwortete nicht. Er entschwand tausend eiligen Flügeln gleich.
Und nach tausend Jahren erklomm ich den heiligen Berg, und wieder sprach ich zu Gott. Und ich sagte: »Vater, ich bin dein Sohn. Aus Liebe und Erbarmen hast du mich gezeugt, und in Liebe und Ehrerbietung will ich dein Königreich erben.«
Aber Gott antwortete nicht. Er verschwand wie Dunst in der Ferne.
Und nach tausend Jahren erklomm ich den heiligen Berg, und wieder sprach ich zu Gott. Und ich sagte: »Mein Gott, mein Ziel und meine Erfüllung. Ich bin dein Gestern, und du bist mein Morgen. Ich bin deine Wurzel in der Erde, du bist meine Blüte am Firmament, und gemeinsam wachsen wir vor dem Antlitz der Sonne.«
Da neigte sich Gott hernieder und flüsterte süße Worte in mein Ohr. Und wie der See das Bächlein umfängt, das in ihn mündet, so umfing er mich. Und als ich in die Weiten und Täler hinabstieg, war Gott auch dort.
Mein Freund, ich bin nicht dein Freund. Mein Schein ist bloß ein sorgfältig gewobenes Kleid, das ich trage, um mich vor deinen Fragen und dich vor meiner Gleichgültigkeit zu schützen.
Das »Ich« in mir, mein Freund, wohnt in dem Haus der Stille. Dort soll es bleiben, immerdar, unerkannt – und unnahbar.
Du sollst meinen Worten keinen Glauben schenken und sollst meinem Tun misstrauen – denn meine Worte sind nur das Echo deiner Gedanken und meine Taten bloß deine verwirklichten Wünsche.
Sagst du: »Der Wind weht von Osten«, so sage ich: »Ja, er weht von Osten.« – Du sollst nicht wissen, dass nicht der Wind meinen Sinn bewegt, sondern die See. Du kannst meine seefahrenden Gedanken nicht erraten. Ich will mit der See allein sein.
Wenn für dich Tag ist, mein Freund, ist für mich Nacht. Und doch rede ich von Mittagsglanz, der über Hügeln tanzt, und von dem Purpurschatten, der sich durch das Tal stiehlt. Du kannst die Lieder meiner Finsternis nicht hören und siehst nicht, wie meine Flügel gegen die Sterne schlagen. – Du sollst nicht sehen und sollst nicht hören. Ich will mit der Nacht allein sein.