Der Psychopath - Bram Dehouck - E-Book

Der Psychopath E-Book

Bram Dehouck

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Beschreibung

Eine Lösung, die ein Vater nie wählen würde.

Sam ist anders als andere Kinder. Das merken seine Eltern früh. Doch der Arzt und die Krankenschwester können damit umgehen. Sams Verhalten wird erst zum Problem, als er in die Schule kommt. Niemand hat den aufbrausenden Jungen im Griff. Während seine Mutter glaubt, der Sohn werde gemobbt, ist sein Vater Chris mehr und mehr davon überzeugt, dass mit Sam etwas nicht stimmt. Manisch sammelt er Fachartikel, die beweisen sollen, dass sein Sohn ein geborener Psychopath ist. Als Sam eines Tages einer Katze den Bauch aufschlitzt, um nachzusehen, was sich darin verbirgt, versteift sich Chris immer mehr auf seine Theorie. Und er sieht nur eine Lösung. Eine Lösung, die ein Vater sonst nie wählen würde: Er will den eigenen Sohn umbringen …

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Zum Buch

Sam ist anders als andere Kinder. Das merken seine Eltern früh. Doch der Arzt und die Krankenschwester können damit umgehen. Sams Verhalten wird erst zum Problem, als er in die Schule kommt. Niemand hat den aufbrausenden Jungen im Griff. Während seine Mutter glaubt, der Sohn werde gemobbt, ist sein Vater Chris mehr und mehr davon überzeugt, dass mit Sam etwas nicht stimmt. Manisch sammelt er Fachartikel, die beweisen sollen, dass sein Sohn ein geborener Psychopath ist. Als Sam eines Tages einer Katze den Bauch aufschlitzt, um nachzusehen, was sich darin verbirgt, versteift sich Chris immer mehr auf seine Theorie. Und er sieht nur eine Lösung. Eine Lösung, die ein Vater sonst nie wählen würde …

Zum Autor

BRAM DEHOUCK, Jahrgang 1978, war lange für Öffentlichkeitsarbeit im Sozialbereich verantwortlich. Sein Kriminalroman »Sommer ohne Schlaf« wurde mit dem Gouden Stroup, dem wichtigsten niederländischen Krimipreis, ausgezeichnet und wird derzeit verfilmt.

BRAM DEHOUCK BEI BTB

Sommer ohne Schlaf. Kriminalroman

Bram Dehouck

Der Psychopath

Thriller

Aus dem flämischen Niederländischvon Stefanie Schäfer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die flämische Originalausgabe erschien 2012 bei de Geus, Breda.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung April 2016

Copyright © 2012 by Bram Dehouck

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Ildiko Neer/Demurez Cover Arts

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

UB · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-17028-8V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Now run as fast as you can through this field of treesSay goodbye to everyone you have ever known

Editors, »Smokers Outside the Hospital Doors«

1

Gerade noch hat Wachtmeister Thomas Gijsen gedacht, es würde wohl ein ruhiger Tag werden, als die Frau hereingestürmt kommt. Sie stürzt durch die Tür, bleibt mit dem Fuß an einer der obersten Treppenstufen hängen, stolpert und fällt mit dem Gesicht voran auf den kalten Marmorboden der Polizeiwache. Kurz bleibt sie liegen, dann rappelt sie sich schluchzend auf.

Das war’s mit der Ruhe, denkt Gijsen, steht von seinem Stuhl auf und versucht einzuschätzen, ob die Frau unter dem Einfluss von Tabletten oder Alkohol steht. Vielleicht ist sie auch eine von diesen hippen Koksjunkies. Heroin eher nicht – dann würde sie nicht so schicke Klamotten tragen. Hilfesuchend sieht sie sich um, doch ihr Blick findet nur die leeren roten Plastikstühle und die Korkpinnwand.

»Er will ihn umbringen!«

Sie erschrickt, als sie den Nachhall ihrer eigenen Worte hört.

Gijsen wählt die Nummer der Opferhilfe.

»Ja?«, ertönt es aus der Telefonanlage.

»Ich brauch dich an der Rezeption, dringend. Und bring Tess Jonkman mit.«

Ein Glück, denkt er, dass Jonkman heute Dienst hat. Anschließend klopft er ans Fenster der Rezeption. Gijsen sehnt den Tag herbei, an dem die Dienststelle in den Neubau am Stadtrand umziehen wird. Dann braucht er die Besucher nicht jedes Mal darauf hinzuweisen, dass hinter der Tür noch drei weitere Stufen folgen. Alte Gebäude besitzen zwar ihren eigenen Charme, aber praktisch sind sie nicht immer. Und verdammt kalt im Winter.

Die Frau erhascht seinen Blick und stürmt die letzten Stufen hinauf auf ihn zu. Erst umklammert sie mit beiden Händen die marmorne Empfangstheke, dann trommelt sie gegen die Glasscheibe.

»Er will unseren Sohn ermorden!«

Bei näherem Hinsehen scheint sie nicht unter Drogen oder unter Alkoholeinfluss zu stehen und hat auch nicht den glasigen Blick einer Psychiatriepatientin. Obwohl man sich da nie sicher sein kann. Die Frau streicht sich eine verschwitzte Haarlocke aus dem Gesicht.

»Beruhigen Sie sich, gleich kommt jemand, um Ihnen zu helfen.«

Noch einmal hämmert sie an die Scheibe.

»Schnell, bevor es zu spät ist!«

Gijsen hofft, dass er sie beruhigen kann.

»Wir helfen Ihnen sofort weiter. Wer will Ihren Sohn ermorden?«

»Chris!«, ruft sie so erregt, dass Speicheltröpfchen an die Glasscheibe fliegen.

»Und wer ist dieser Chris?«

»Er ist …«

Ihre Stimme bricht.

»… sein Vater.«

2

Den Entschluss, den Mord auszuführen, traf Chris Walschap auf der Terrasse des Waldcafés. Er nippte an einem dunklen Klosterbier, von dessen Fuß Spülwasser auf seine Hand tropfte. Er wischte es an seiner Jeans ab und starrte in den Wald.

Außer ihm saß niemand draußen auf der Terrasse. Die Bedienung war unfreundlich, wie so oft in Lokalen, die von Laufkundschaft lebten. Erst hatte sie ihn zehn Minuten warten lassen und dann, ohne ein Wort zu sagen, das Bier vor ihn auf den Tisch geknallt. Die Blätter verloren ihren Glanz, als die Sonne hinter den Baumkronen verschwand. Er erschauerte.

Am Waldrand stand eine Hütte, an der eine Wanderkarte befestigt war. Sie war mit Dreckschlieren überzogen, und die verschiedenen Baumarten waren nicht mehr zu unterscheiden. Hellgrüner Laubwald und dunkelgrüner Nadelwald waren gleichermaßen zu schmutzig blauen Flecken verblasst, voneinander abgegrenzt durch eine Schlangenlinie, die den Bach darstellte und wahrscheinlich von jeher schmutzig blau gewesen war. Der Wanderweg, mit einer breiten schwarzen Linie eingezeichnet, bildete einen fast perfekten Kreis. Nach der Hälfte konnte man die Wanderung abkürzen, indem man einen asphaltierten Weg einschlug, der mitten durch den Wald führte. Es hatte Chris einige Mühe gekostet, auf diesem abstrakten Bild den Ort zu finden, von dem er glaubte, dass er perfekt für den Mord geeignet sei.

Chris kannte diesen Wald. Als Kind hatte er hier mit seinem Bruder Gert Kastanien gesammelt und unklare Kriege ausgefochten, indem sie sich mit den stacheligen Schalen bewarfen. Manchmal waren sie Cowboy und Indianer, dann wieder Außerirdische oder Soldaten irgendwelcher obskurer Armeen, aber oft genug waren sie einfach Brüder. Wenn der Regen von Kastanienschalen und Kiefernzapfen versiegt war, gingen sie im Unterholz auf Hasen- und Wildschweinjagd – einmal sogar auf Elefantenjagd, als sich der Wald in einen afrikanischen Dschungel verwandelte. Ihre einzige Beute waren Schrammen und blaue Flecken und eine Ohrfeige von Nanny, wenn sie mit zerrissener Kleidung nach Haus kamen. Es machte ihnen nichts aus – das war nun einmal das Los von Abenteurern.

Später wurde der Wald Zeuge seiner romantischen Spaziergänge mit Charlotte. Hier fanden sie die Abgeschiedenheit, die ihnen in der Stadt fehlte, wo sie zwangsläufig auf irgendwelche Nachbarn, Kommilitonen, Freunde oder Bekannte ihrer Eltern stießen. Er wusste nicht mehr genau, ob er in diesem Wald oder im Stadtpark vorgeschlagen hatte, ihre Initialen in einen Baum zu ritzen.

»Nein«, hatte Charlotte erwidert, »das tut dem Baum doch weh.«

Sie hatten darüber gelacht.

Nachdem er vor dem Café geparkt hatte, war er kurz neben dem Auto stehen geblieben und hatte hinauf in die Baumwipfel geblickt. Die schönen Erinnerungen an diesen Ort lagen tief in der Vergangenheit begraben. Auch wenn die Umgebung etwas Vertrautes besaß und sich das Panorama in all den Jahren kaum verändert hatte, würde sein Plan es für immer ausschließen, dass die ursprüngliche Beziehung erneuert würde. Ihn erfüllte ein bizarres Schuldgefühl, denn er würde diese alte Freundschaft auf grausamste Weise missbrauchen.

Der oberflächliche Charme dieses Freundes konnte ihn nicht mehr bezaubern. Während des Spaziergangs vermied er es, sich von kleinen Geräuschen verführen zu lassen, die einen Blick auf scharrende Nagetiere oder andere Naturschönheiten versprachen. Ebenso wie der Herbstduft, der aus dem Boden aufstieg, waren sie dazu bestimmt, eine gewisse Milde in ihm zu erwecken. Ruhe und Idylle wirkten gemeinsam auf ihn ein, um ihn davon zu überzeugen, dass sich der Mordplan mit Hilfe von ein wenig frischer Luft verflüchtigen würde. Doch der Wald verbarg sein wahres Wesen ebenso genial wie das Böse, das sich unbemerkt in seiner Familie eingenistet hatte: Es lebte geräuschlos, tief im Inneren.

Deswegen war er auf der Hut.

Er hielt den Blick auf den Weg gerichtet und passierte eine mit Mooskissen bedeckte Bank und die Turngeräte, die Kinder zu waghalsigen Übungen herausforderten. Unbeirrt überquerte er die kleine Brücke über den Bach.

Trotz der Trockenheit in diesem Herbst war es im Wald feucht. Chris verfluchte seine Schuhe, die keinen Halt boten. Mehrmals versank er im Schlamm. Das Leder würde er nie wieder sauber bekommen, und die Socken saugten sich mit kalter Feuchtigkeit voll. Als er einen Erdklumpen wegtreten wollte, sah er erst im letzten Moment, dass es ein toter Vogel war. Er trat daneben und studierte das Tier. Die Krallen, die er versehentlich für kleine Wurzeln gehalten hatte, zeigten nach oben, und der Kopf war so tief in die Brust gedrückt, dass er kaum zu erkennen war. Aus den Augen krochen Maden. Bei genauerem Hinsehen sah er auch kleine Würmer aus anderen Öffnungen kriechen, an Stellen, an denen ein Vogel normalerweise keine Öffnungen hatte. Er schreckte zurück. Genau das würde mit Sam geschehen. Nicht daran denken.

Er konzentrierte sich auf die Baumwurzeln, deren Windungen einer Logik folgten, die ihm verborgen blieb. Er zählte Kastanien. In Erdklumpen versuchte er, Tiere zu erkennen. Chris wurde sich erst dann wieder vollständig der Umgebung bewusst, als er zur Weggabelung gelangte. Er entschloss sich, den Rundweg zu vollenden, und ging an der Einbiegung zum breiten Weg vorbei, der geradewegs zurück zum Eingang des Waldes und dem Café führte.

Als der Weg schmaler wurde, fragte er sich, ob dies die passende Stelle wäre. Über dem Maisfeld ragte ein rotes Ziegeldach hervor. Die Schwerkraft hatte im Laufe der Jahre den Giebel in der Mitte nach unten gezogen. Genau dort gab es eine Gaube. Hinter der Glasscheibe konnte er keine menschliche Gestalt entdecken. Doch das musste nicht bedeuten, dass dort niemand war. Vielleicht starrte jemand mit demselben Interesse zu ihm hinüber, mit dem er zur Gaube blickte. Vielleicht hatte dieser Jemand ein Fernglas. Er drehte sich um.

Dunkle Gestalten kamen auf ihn zu, die er im Gegenlicht nur schemenhaft erkennen konnte. Es erstaunte ihn, dass er die Reiter nicht hatte kommen hören. Er trat an den Wegesrand und ließ sie vorbei. Der vordere Reiter tippte im Vorübergehen an seinen Helm. Der weiße Handschuh war blitzsauber, die Kleidung ebenso untadelig.

»Guten Abend«, grüßte der Mann.

Chris nickte.

Die dahinter folgende Reiterin gönnte ihm nur einen kurzen Blick. Ihr Pferd hob den Kopf, wich zurück und legte die Ohren an. Es ging noch ein paar Schritte weiter rückwärts, als überlege es, was es tun solle: weitergehen oder steigen.

»Ganz ruhig!«, sagte die Frau.

Chris drückte sich tiefer ins Gebüsch. Er hatte keine Lust, zertrampelt zu werden, falls das Pferd seine Reiterin abwarf und anschließend durchging. Der Reiter vorne wendete sein Pferd.

»Ruhig, ganz ruhig!«

Die Frau beugte sich nach vorn und redete mit dem Tier, bis es die Ohren wieder aufstellte. Sanft tätschelte sie ihm den Hals. Schließlich gehorchte es ihr. Am Pferdehintern und dem geraden Rücken der Frau vorbei sah Chris in das Gesicht des Reiters, der ihn schon die ganze Zeit beobachtete. Der Mann grüßte erneut und lächelte, während er die Frau voranreiten ließ. Die ganze Art ihres Benehmens besaß etwas Aristokratisches, und Chris fragte sich, ob es einfach daran lag, dass sie zu Pferde saßen, oder ob diese Leute tatsächlich zu den höheren Kreisen gehörten.

Der kalte Schweiß brach ihm aus. Er schloss die Augen und fühlte sich den Puls, fünfzehn Sekunden lang. Angenommen, es kämen auch dann Reiter vorbei, wenn er seinen Plan ausführte? Er atmete tief ein, dreimal hintereinander, und fühlte erneut seinen Puls. Er musste sich beruhigen.

Die Begegnung mit den Reitern hatte ihn ins Grübeln gebracht. War dieser Wald wirklich der beste Ort? Gab es eine Alternative? Noch konnte er es sich anders überlegen. In seinen schlammigen Schuhen, über Steine rutschend, im Schlamm versinkend. Bis jetzt war er noch ein unschuldiger Spaziergänger, ein braver Familienvater, der ein wenig frische Luft schnappte.

Chris kehrte zurück in die Realität. Der Weg führte in eine Sackgasse. Wie war das möglich? Er befand sich auf einer offenen Lichtung mit hohem Gras, umringt von dicht nebeneinanderstehenden Bäumen. Er ging denselben Weg zurück, den er gekommen war, und erkannte seinen Fehler. Ganz in Gedanken war er unbemerkt vom Weg abgekommen und direkt in dieses Stück Wald hineingeraten. An der scharfen Kurve war er geradeaus gegangen, zwischen zwei Bäumen hindurch und einen kleinen Abhang hinunter. Er kehrte zurück zu dem Platz, den er gerade entdeckt hatte. Ideal, erkannte er mit einer Gänsehaut am ganzen Körper. Abgeschirmt von einer Baumreihe, konnte das Gras eine Leiche jahrelang verbergen.

War es Zufall, dass er diesen Ort genau jetzt entdeckt hatte, kaum eine Minute, nachdem sein Entschluss ins Wanken geraten war? Obwohl er schon seit seiner frühen Teenagerzeit nicht mehr religiös war, hatte er das Gefühl, es handelte sich um göttliche Vorsehung. Wie häufig in letzter Zeit überfiel ihn die Erkenntnis, dass die Ausführung seines Plans das Ende seiner Leiden bedeuten würde, aber auch das Ende seiner Zivilisiertheit, und dass seine Tat der schlimmstmögliche Ausdruck seines Versagens sein würde.

Er spürte, wie seine Schultermuskeln sich anspannten, wie sein Herz schneller zu schlagen begann und ihm der Schweiß unter den Achseln und im Nacken brannte. Mit zusammengebissenen Zähnen lauschte er dem Rauschen der Baumkronen, das wie Meeresrauschen klang, und es war, als stünde er nackt in einer eisigen Brandung. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, indem er die Augen schloss. Er hörte Grillen. Einen Vogel. Er atmete tief ein. Der Vogel, die Grillen, die Baumkronen: Nur sie würden seine Zeugen sein.

Als Chris auf der Terrasse an seine Entdeckung dachte, die Augen noch immer auf die Karte geheftet, war die Sonne endgültig verschwunden. Das letzte Stück des Weges hatte er schnell zurückgelegt, in dem Versuch, seine herumwirbelnden Gedanken zu ordnen. Nur eine Minute lang blieb er an einem Teich stehen, der mit grünem Schlick gefüllt war – es war nicht zu erkennen, ob es ein Sumpfloch oder ein stark verschmutzter Weiher war –, doch schon bald ließ er die idiotische Idee fallen, die Leiche dort hineinzuwerfen. Eine Leiche umherzuschleppen war ein zu großes Risiko, und durch die Gasbildung würde sie schon nach kurzer Zeit an die Oberfläche treiben.

Die Kühle und Dunkelheit trübten die Landschaft ein, ebenso wie das Bier, das ihm nicht mehr schmeckte. Auf der Karte war die Stelle nur ganz am Rande eingezeichnet. Rechts oben musste sie sich befinden, in der Nähe der scharfen Biegung.

Chris trank sein Glas leer. Kalt strömte das Bier in seinen Magen. Er kramte fünf Euro aus seinem Portemonnaie, legte den Schein auf den Tisch und stellte das Glas darauf. Er blickte sich zur Tür des Cafés um, in dem inzwischen das Licht eingeschaltet worden war, doch die Kellnerin war nirgends zu sehen. Er stand auf. Sollte das Mädchen das Wechselgeld doch behalten. Nicht, weil sie ihn so freundlich bedient hatte, sondern weil er vermeiden wollte, dass sie sein Gesicht länger sah als nötig.

3

Wie viele Menschen wohl schon einmal einem Nahestehenden den Tod gewünscht hatten?

Ich bringe ihn um!, hatte eine Patientin gezischt, nachdem sie erfahren hatte, dass sie sich einen Herpes zugezogen hatte. Sie schlief nur mit ihrem Freund, und der hatte keinen Herpes, wie sie erklärte. Gleich darauf begriff sie, und vor Wut stiegen ihr die Tränen in die Augen. Den Trageriemen ihrer Handtasche knetend, murmelte sie unablässig tödliche Verwünschungen an die Adresse ihres Freundes.

Ich erwürge ihn!

Ich bring ihn um, das schwöre ich!

Sie war ein nettes Mädchen. Es war, als hätte Chris ihre sexuelle Entwicklung mitverfolgt. Das erste Rezept für die Pille. Jahrelang war sie das einzige Medikament, das sie benötigte. Dann plötzlich die panische Bitte um die Pille danach. Der HIV-Test drei Monate später. Chris erinnerte sich an ihre Erleichterung, als er ihr am Telefon sagte, der Test sei negativ ausgefallen.

Und dann das. Er kannte sie nicht als eine Frau, die irgendjemanden töten würde. Zu ihm war sie immer sehr höflich gewesen. Von ihrer Mutter, die ebenfalls seine Patientin war, wusste er, dass sie ihr Studium mit guten Noten abgeschlossen, gleich danach einen Job gefunden hatte und mit ihrem Freund zusammengezogen war. Der Reihe nach hätten das Haus, die Katze und die Kinder folgen sollen. Doch nun hatte sich der Herpes dazwischengedrängt.

Der Wutanfall legte sich, als Chris ihr die Folgen der Infektion erklärte und ihr das Rezept für eine kurze Aciclovir-Kur ausstellte. Was blieb, war eine schwelende Wut, die so gut wie sicher das Ende der Beziehung bedeuten würde – auch wenn die Krankheit nur kurz aufflackern würde. Doch ermorden würde sie ihren Freund nicht, höchstens wüst beschimpfen. Ein solcher Ausbruch bereitete Chris keine Sorgen. Da galt das Sprichwort über die bellenden Hunde.

Nein, es waren die Stillen, vor denen man auf der Hut sein musste, diejenigen, die einen mit treuen Hundeaugen ansahen. Wirklich gefährlich waren die Wut und die Verzweiflung, die sich still und klammheimlich aufstauten und sich aus immer wiederkehrenden Zwischenfällen nährten. Niemand konnte voraussehen, ob sie je zum Ausbruch kommen würden, und wenn ja, wann. Solche menschlichen Vulkane kamen mit unbedeutenden Kleinigkeiten zu ihm in die Praxis – ein Kratzen im Hals, Bauchschmerzen, Migräne –, die nur ein Symptom für das Ungeheuer waren, das sich dahinter verbarg.

ENDE DER LESEPROBE