Weißer Rabe - Bram Dehouck - E-Book
SONDERANGEBOT

Weißer Rabe E-Book

Bram Dehouck

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Manipulation, Intrigen, Verleumdung - kommt Nick Farkas mit allem durch, sogar mit einem Mord?

Nick Farkas ist ein Mann, der angenehm auffällt. Er hat Charme, Stil, Charisma. Sein Lebenslauf ist eine Liste von Erfolgen. Er ist ein weißer Rabe – so nennen ihn zumindest seine Vorgesetzten. Andere, die mit ihm zusammenarbeiten, zum Beispiel Stefanie Bartsoen in der Marketingabteilung, erzählen eine andere Geschichte. Über Manipulation und Einschüchterung, Intrigen und Verleumdung. Über grenzenlose Selbstüberschätzung. Kommt Hochmut nicht vor dem Fall? Nein, Nick Farkas fällt nicht; wenn es eng wird, spreizt er die Flügel und fängt woanders von vorne an. Doch diesmal ist er womöglich zu weit gegangen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 312

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Nick Farkas ist ein Mann, der angenehm auffällt. Er hat Charme, Stil, Charisma. Sein Lebenslauf ist eine Liste von Erfolgen. Er ist ein weißer Rabe – so nennen ihn zumindest seine Vorgesetzten. Andere, die mit ihm zusammenarbeiten, zum Beispiel Stefanie Bartsoen in der Marketingabteilung, erzählen eine andere Geschichte. Über Manipulation und Einschüchterung, Intrigen und Verleumdung. Über grenzenlose Selbstüberschätzung. Kommt Hochmut nicht vor dem Fall? Nein, Nick Farkas fällt nicht; wenn es eng wird, spreizt er die Flügel und fängt woanders von vorne an. Doch diesmal ist er womöglich zu weit gegangen …

Zum Autor

Bram Dehouck, geboren 1978, war lange für Öffentlichkeitsarbeit im Sozialbereich verantwortlich. Sein erster Roman wurde mit dem Schaduwprijs, dem Preis für das beste niederländische Debüt, und dem Gouden Strop (Die goldene Schlinge), dem wichtigsten niederländischen Krimipreis, ausgezeichnet. Sein Kriminalroman »Sommer ohne Schlaf« wurde ebenfalls mit dem Gouden Strop ausgezeichnet und verfilmt. »Weißer Rabe« ist sein fünfter Roman.

Bram Dehouck bei btb

Sommer ohne Schlaf

Der Psychopath

Bram Dehouck

Weißer Rabe

Psychothriller

Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Witte raaf« bei De Geus BV, Amsterdam. Dieses E-Book wurde mit Unterstützung der Flanders Literature herausgegeben (flandersliterature. be). Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Genehmigte Ausgabe August 2022 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Copyright © 2016 Bram Dehouck Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Umschlaggestaltung: semper smile, München Covermotiv: © Trevillion Images / Lee Avison; Shutterstock / Krasovski Dmitri CP · Herstellung: sc Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-641-21833-1V001www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Make your money with a suit and tie

Make your money with shrewd denial

Make your money expert advice,

If you can wing itR.E.M. – »King of Comedy«

Teil I

1

An dem Tag, als Nick Farkas in Stefanie Baertsoens Leben trat, wirkte der Bunker noch bedrohlicher als sonst. Das mochte die Absicht des Architekten gewesen sein: Der gewaltige voluminöse Klotz sollte die Leute beeindrucken, ja geradezu einschüchtern. Bei der feierlichen Eröffnung hatte er vom rohen Beton – »natürlich und zeitlos« – und den Glaselementen – »ein unverstellter Blick auf die Welt« – geschwärmt. Seine Meisterleistung war eine schräg nach außen geneigte Scheibe, die die gesamte Südseite des Büros von Generaldirektor Ludo Scherpereel bildete. Sie bot Aussicht auf den Kanal und die Wiesen dahinter, wo die Kühe in den nächsten Jahren noch mehr Beton und Stahl weichen würden.

Stefanie fand nur noch ganz hinten auf dem Parkplatz ein freies Plätzchen für ihren roten Twingo. Wer spät kam, hatte keine große Auswahl mehr. Wobei sie zwar spät dran, aber nicht zu spät war. Sie stieg aus und ging langsam an den geparkten Autos vorbei. Einige von ihnen erkannte sie, wie Emys alten Toyota Starlet und den grauen Jaguar XF ihres Chefs. Ludo hatte als Einziger einen festen Platz.

Am Eingang stand ein Volvo V60 schräg in einer Parkbucht. Auf dem Rücksitz lagen ein schwarzer Regenschirm und ein englischsprachiges Lifestyle-Magazin, und in das Fach neben dem Schalthebel passte genau eine Dose Menthol-Kaugummi hinein. Der Wagen war blitzblank poliert. Stefanie trat einen Schritt rückwärts. Der Rahmen des Kennzeichens trug den Werbeaufkleber einer Leasingfirma. Sei nicht so neugierig, schalt sie sich und blickte reflexartig zu den Fenstern an der Vorderseite des Bunkers hinauf. Niemand schaute kopfschüttelnd zu ihr herunter.

Als sie eintrat, bekam sie von der ihr entgegenströmenden kühlen Luft eine Gänsehaut. Ihre Absätze klackten auf dem gebohnerten Fußboden, der an regnerischen Tagen spiegelglatt war. Das Gebäude strahlte sowohl von außen als auch von innen Machismo aus. Ideal, um Freunde vom Arbeitgeberverband oder dem Society-Club herumzuführen.

Nirgends gab es weiche Materialien, sodass man jeden, der die Halle betrat, bis in die oberste Etage hören konnte. Die Schreibtische, Maßanfertigungen aus tropischem Hartholz, waren nicht höhenverstellbar, und der Designer hatte noch nie etwas von Kabelkanälen gehört.

»Wenn ich die Beine übereinanderschlage, stoße ich mit dem Knie an das verdammte Holz, und mein Rock ist ruiniert«, hatte Empfangsdame Emy während eines Mittagessens die Einrichtung kommentiert, als ihre Schreibtische noch eine Skyline aus Umzugskartons zu tragen hatten.

»Emy, du solltest froh sein über so schöne Möbel«, entgegnete Ludo. »Das ist Hartholz aus Afrika!«

Emy verdrehte daraufhin nur die Augen.

»Es sieht kalt aus«, hatte Stefanie bemerkt. »Und es ist auch kalt.«

»Es ist ein Bunker«, hatte Marlene ihr beigepflichtet. »Der einzige Ort, wo dieser Klotz wirklich hinpasst, ist der Atlantikwall.«

Stefanie lächelte.

Wie sehr sie Marlene vermisste!

Auf dem Empfangstresen war der Name der Firma in Metallbuchstaben angebracht. SCHERPEREEL. Wenn die Sonne durch die Glasschiebetüren fiel, wurde man vom Widerschein geblendet. Emy winkte ihr zu.

»Und?«, fragte Stefanie.

Emy hob den Daumen.

»Attraktiv?«

»Hot!«

Stefanie drückte den Aufzugsknopf.

»Gehen wir heute Mittag zusammen essen?«, fragte Emy.

»Kommt darauf an, ob ich den Neuen rumführen muss.«

»Manche Leute haben einfach Glück.«

Als Stefanie den Lift betrat, zwinkerte Emy ihr zu.

Stefanie zwinkerte zurück.

Die Fahrstuhltür schloss sich; sie überprüfte ihre Zähne im Spiegel und richtete ihre Frisur.

Ping, machte der Lift, und die Tür glitt auf. Stefanie strich schnell ihren Rock glatt und rückte ihr Oberteil zurecht. Ihre Absätze klackten im Rhythmus ihres Herzschlags. Sie ging an Marlenes leerem Büro vorbei, das nun nicht mehr lange leer bleiben würde.

Auch wenn das Gebäude ein testosterongeschwängerter Klotz war – als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete, fühlte es sich an, als würde sie nach Hause kommen. Sie liebte ihre Arbeit auf eine fast leidenschaftliche Art und Weise. Die Leidenschaft, die aus ihrer Beziehung mit Alex verschwunden zu sein schien, hatte sie hier wiedergefunden. Es machte ihr Spaß, die Produkte in Prospekten und Broschüren von ihrer besten Seite zu präsentieren, und sie lächelte zufrieden, wenn sie einen guten Text geschrieben hatte. Der Geruch von frischen Drucksachen machte sie glücklich. Sie hatte Spaß daran, E-Mails zu formulieren und zu verschicken und Öffnungsraten und Klickzahlen zu analysieren.

Stefanie ließ sich in den Bürostuhl sinken; summend erwachte ihr Computer zum Leben. Rasch las sie die eingetroffene Offerte von ExpertPrint für eine Broschüre mit einer Auflage von fünftausend Exemplaren. Wie immer der beste Preis. Sie klickte auf »Antworten«.

Hallo, Robert,

danke für dein Angebot. Wir freuen uns, dir mitteilen zu können, dass wir es annehmen. Ich schicke dir so schnell wie möglich die Druckdatei.

Das Telefon klingelte.

LUDO erschien auf dem Display.

»Guten Morgen«, sagte sie.

»Ah, da bist du ja. Kommst du bitte zu mir?«

Schon hörte sie, dass Ludo wieder aufgelegt hatte.

Schnell beendete sie die Mail und klickte auf »Senden«.

Sie überprüfte ein letztes Mal die Mappe, die sie am Vorabend neben die Tastatur gelegt hatte: Informationen über Drucksachen, die Verkaufsmappe, Mailings und E-Mails, Zahlen, den letzten Jahresbericht. Einen Ausdruck der Richtlinien für den Unternehmensstil und das Handbuch für die Website hatte sie ebenfalls beigelegt. Ganz hinten befanden sich die Kontaktdaten von Druckereien und Lieferanten.

Sie ordnete die Papiere fein säuberlich in der Mappe, schlug diese zu und klemmte sie unter den Arm. Es war ein Gefühl wie am ersten Schultag, wenn die Lehrerin bestimmte, neben welchem Klassenkameraden man während des ganzen Schuljahres sitzen würde, und man nicht wusste, ob der neue Sitznachbar ein Freund fürs Leben werden oder einem die Stifte klauen würde.

2

Ludos Büro war nach außen hin verglast, als Zeichen der Offenheit und Zugänglichkeit. Ein Großteil der Scheibe war jedoch getönt – die Offenheit hatte ihre Grenzen.

Stefanie ging an der Scheibe entlang, hinter der sie den Schatten eines Mannes am Konferenztisch erkannte. Im anderen Schatten, der sich gerade vom Schreibtisch zum Tisch bewegte, erkannte sie Ludos Profil: ein stämmiger, kleiner Mann, den man spontan eher für einen Klempner als für den Firmendirektor gehalten hätte.

Sie klopfte.

»Herein!«

Ludos Gesicht strahlte vor Freude, und Stefanies Laune hob sich ebenfalls. Er winkte sie näher und wandte sich an den Mann am Konferenztisch.

»Nick, ich möchte dir Stefanie vorstellen. Sie hat in den letzten Monaten die Aufgaben von Marlene übernommen, zu unserer großen Zufriedenheit.«

Der Mann stand auf und reichte ihr die Hand. Sie fühlte sich weich an, als cremte er seine Hände regelmäßig ein. Der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht; sie erkannte es wieder – von den Bildern im Internet, auf die sie bei der Recherche nach ihm gestoßen war. Ludo schaute von ihm zu ihr und wieder zurück, als könnte er in diesem Moment schon erfassen, ob die Chemie zwischen ihnen stimmen würde.

»Ich freue mich, dich kennenzulernen. Ich habe viel Gutes über dich gehört.«

Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Er war kein hässlicher Mann, aber auch nicht außergewöhnlich gut aussehend. Trotzdem verstand Stefanie Emys begeisterte Reaktion. Nick Farkas strahlte die schwer zu erklärende Anziehungskraft von jemandem aus, bei dem man das Gefühl hatte, dass etwas Spannendes passieren würde. Er beobachtete einen exakt lange genug, lächelte genau im richtigen Moment, und sein Händedruck war fest, aber nicht aggressiv. Sein Äußeres war tadellos gepflegt. Er trug ein enges Shirt über Skinny Jeans, schicke Schuhe und einen Schal um den Hals. Und dann seine Augen. Sie schauten durch einen hindurch, als könnte er Gedanken lesen.

»Nick hat umfangreiche Erfahrungen im Marketing«, erklärte Ludo. »Er hat unter anderem für Assist Team gearbeitet.«

»Die Interimsagentur«, bemerkte Stefanie, als wäre ihr das neu, obwohl sie es bereits auf Farkas’ LinkedIn-Profil gelesen hatte.

Farkas nickte. »Assist bezeichnet sich selbst gerne als Personaldienstleister, aber im Grunde ist es eine Zeitarbeitsfirma.«

»Und du hast auch für eine IT-Firma gearbeitet, oder?«, fuhr Ludo fort.

»Spiele und Apps für alle Arten von Organisationen, von Social Profit bis hin zu Festivals.«

Farkas verschränkte die Arme.

»Ich war auch zwei Jahre lang Wahlkampfleiter für PACIN.«

»Pacific Children in Need«, sagte Stefanie.

Farkas hob die Augenbrauen. »Du kennst die Organisation?«

»Durch die Weihnachtskampagne vor ein paar Jahren. Sie war wirklich gut.«

Sie erinnerte sich an ein Foto von Farkas mit Sonnenbrille und einem flatternden Sonnenschirm im Hintergrund, das zweite Foto in der Google-Bildergalerie. Dieses Foto hatte sie zu einer Nachrichtenseite geführt, und was sie dort als Nächstes sah, hatte sie schockiert: zwei ausgemergelte Kinder in Lumpen, die einander auf der Türschwelle einer Hütte umklammerten. Sie hatte weiter nach unten gescrollt, vorbei an Fotos von Klebstoff schnüffelnden Kleinkindern und Mädchen von höchstens elf Jahren in winzigen Shorts, die Autos an einer Ampel zuwinkten. Und dann war da noch Nick Farkas’ Foto mit der Sonnenbrille und der einprägsamen Bildunterschrift.

Wir wollen die Kinder aus der Dunkelheit holen, buchstäblich und im übertragenen Sinne, sagt Kampagnenleiter Nick Farkas. Sie gehören in Schulen und auf Spielplätze, nicht in die Gosse oder in das Bett eines perversen Weißen.

Stefanie fand immer noch, dass das ein starker Slogan war.

»Nicht viele Leute können auf Anhieb etwas mit PACIN anfangen«, bemerkte Farkas. »Es ist nicht leicht, dafür Aufmerksamkeit zu wecken. Greenpeace, UNICEF oder Amnesty International geben ein Vermögen für ihre Kampagnen aus. Aber mit der nötigen Kreativität kann man trotzdem viel erreichen.«

»Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig ist, mit diesen großen Namen zu konkurrieren«, sagte Stefanie.

Farkas schaute von ihr zu Ludo.

»Man konkurriert nicht mit dem Leid der Leute, man versucht einfach, so viel wie möglich für sie rauszuholen.«

Er lächelte kurz, als fühlte er sich persönlich gekränkt.

»Natürlich, natürlich«, beeilte sich Ludo zu sagen, von dem Stefanie wusste, dass er jedes Jahr zu Weihnachten Bleistifte von Kindern kaufte, die für wohltätige Zwecke in die Kamera lachten.

»So war es nicht gemeint«, sagte Stefanie und errötete.

»Habe ich schon verstanden. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

Farkas’ Blick glitt von ihrem Gesicht zu ihrer Brust. Sie schaute nach unten, um ihr Oberteil zu überprüfen. Es war die Informationsmappe, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte; sie hielt sie fest gegen ihren Körper gedrückt. Ungeschickt wollte sie sie ihm überreichen, aber er nahm sie nicht an.

»Ich habe hier einige Informationen für dich zusammengestellt.«

Sie hielt ihm die Mappe ein zweites Mal hin. Er legte den Kopf leicht schief, als wüsste er nicht recht, was von ihm erwartet wurde.

»Darüber, wie unser Marketing und unsere Kommunikation funktionieren«, sagte sie. »Du kannst das alles in Ruhe durchgehen; dann bist du gleich auf dem neuesten Stand.«

»Wie aufmerksam von dir.« Endlich nahm er die Mappe.

»Stefanie legt Wert auf Ordnung und Struktur«, bemerkte Ludo lachend. »Und Mappen.«

»Ordnung auf dem Schreibtisch bedeutet Ordnung im Kopf«, sagte Stefanie.

»Oh, das ist auch absolut mein Ding«, sagte Nick, »Ordnung im Kopf.«

3

»So, das hätten wir. Alles installiert. Jetzt kannst du dich an die Arbeit machen.«

»Du klingst, als wärst du überrascht.«

»Bei Windows weiß man nie. Geh mal auf das Icon.«

Stefanie hörte das Klicken der Maus. Sie trat näher an die Tür ihres Büros heran. Die Politik der offenen Tür in Scherpereel hatte ihre Vorteile.

»Stimmt, funktioniert.«

»Ein Wunder«, sagte Paul, der IT-Mann von Scherpereel, amüsiert.

»Warum benutzt ihr keine Macs?«

Paul schwieg, und Stefanie konnte erkennen, wie er seinen Zeige- und Mittelfinger mit seinem Daumen rieb.

»Ah«, sagte Nick, »aber Qualität hat nun mal ihren Preis.«

Man hörte ein Wischen und ein Ping.

Paul pfiff durch die Zähne. »Wow, ist das die neueste Version?«

»Jep. Ich schwöre auf Apple. Teuer, aber nie irgendwelche Probleme.«

Es herrschte Stille. Vermutlich waren die beiden jetzt über Nicks Smartphone mit den vielen Apps und Gadgets gebeugt.

»Ach, übrigens« sagte Nick, als fiele ihm das gerade erst wieder ein, »welche Tablets benutzen eigentlich die Vertreter?«

»Sie haben gar keine … Sie benutzen eine Verkaufsmappe.«

»Eine Verkaufsmappe?« Nick lachte abfällig. »Und die Verkäufer? Haben sie Autos, oder fahren sie noch Kutsche?«

»Autos, seit Neuestem«, erwiderte Paul lachend. »Und was die Verkaufsmappe betrifft, na ja, da musst du dich an Stefanie wenden.«

»Stefanie, richtig.«

»Gute Idee, das mit den Tablets. Aber erwarte nicht, dass du iPads bekommst. Wenn du Glück hast, werden es Microsoft-Geräte der Mittelklasse.«

Nick seufzte.

»Die haben durchaus auch ein paar sehr gute Tablets«, sagte Paul, und da er keine Antwort erhielt, fügte er hinzu: »Na schön, dann lasse ich dich jetzt mal in Ruhe. Wenn du Fragen oder Probleme hast, weißt du, wo du mich findest.«

»Danke dir.«

Stefanie duckte sich hinter ihren Aktenschrank, für den Fall, dass Paul an ihrer Tür vorbeikam. Geistesabwesend starrte sie auf den rissigen Buchrücken eines Layout-Handbuchs. Das brachte sie auf eine Idee. Sie nahm ihren Mut zusammen und klopfte an Nicks Tür.

»Hey, Stefanie«, sagte Nick.

Sie ging einen Schritt näher.

»Hat Paul dir von der Adobe Creative Cloud erzählt?«

Für einen Moment wirkte Nick verwirrt.

»Paul hat mir so viel erzählt. Ein erster Arbeitstag ist wie der erste Tag in der Schule. Jede Menge Informationen und Eindrücke.«

Stefanie lächelte, als er denselben Vergleich zog wie sie vorhin.

»Und was ist nun mit dieser Adobe-Dingsda?«, fragte Nick.

»InDesign, Photoshop, Illustrator.«

»Ah ja. Und warum sind diese Programme auf meinem Computer?«

»Damit du unsere Prospekte und Broschüren erstellen kannst.«

»Haben wir dafür kein Personal?«

»Wir sind das Personal. Ich mache die meisten Layouts selbst«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Aber es ist praktisch, dass du die Dateien öffnen kannst, falls du etwas ändern möchtest. Marlene und ich haben immer so gearbeitet. Ein bisschen wie Pingpong, verstehst du?«

Er nickte.

»Wie war Marlene so?«

»Ach.« Stefanie setzte sich auf einen Stuhl, ein wenig überrumpelt von der Frage. Sie ließ ihren Blick über den Schreibtisch gleiten, der bis auf einen mit dem Rücken zu ihr stehenden Bilderrahmen neben dem Computerbildschirm vollkommen leer war. »Marlene hat das Marketing bei uns ausgebaut«, sagte sie und schaute nun an Nick vorbei durch das Fenster auf die roten Neonbuchstaben von Daisy Bakeries. »Ludo brauchte Unterstützung. Die Firma hat seinem Vater gehört, und er wollte sie erfolgreicher machen. Er wollte expandieren, wachsen. Und das hat er auch geschafft.«

»Und wie bist du hierhergekommen?«

»Die Arbeit wurde zu viel für Marlene. Sie haben nach einer Kommunikationsmitarbeiterin gesucht und voilà, hier bin ich.«

»Sie war deine Vorgesetzte?«

»Nein. Wir waren ziemlich schnell gleichgestellt. Wir haben die Aufgaben unter uns aufgeteilt; sie das Marketing, ich die Kommunikation.«

»Und aus welchem Grund hat sie die Firma verlassen?«

»Ihre Mutter hatte eine Änderungsschneiderei. Marlene hatte schon immer eine Affinität zum Einzelhandel und hat ihr eigenes Geschäft aufgemacht. Handtaschen.«

Nick zog die Augenbrauen hoch.

»Dass sie gegangen ist, hatte also nichts mit ihrer Arbeit hier zu tun?«

»Nein.«

»Oder mit dir?«

»Nein.«

»Und, hast du noch Kontakt zu ihr?«

»Natürlich, ich habe sogar eine Handtasche von ihr.«

Ein Muskel zuckte in seinem Gesicht.

»Ludo muss enttäuscht gewesen sein, dass sie die Firma verlassen hat.«

Stefanie nickte.

»Sie war seine rechte Hand.«

Für einen Moment herrschte Schweigen.

»Und seine Nichte«, platzte Stefanie heraus, ohne genau zu wissen, warum. »Das hier war ihr Büro.«

Sie sahen sich beide im Raum um. Ein leerer Aktenschrank, kahle Wände. Ein helleres Quadrat erinnerte an die Monet-Reproduktion, die früher dort gehangen hatte. Während der Brainstormings hatten sie oft auf die Impression von Monets Garten geschaut, auf die Seerosen und die kleine Brücke, den Lichteinfall auf dem üppigen Grün und die blauvioletten Blumen. Jetzt war da nur noch das triste Beige der Wand.

»Wie gefällt es dir?«, fragte Stefanie.

Nick zuckte mit den Schultern.

»Es ist ein Büro. Unpersönlich. Und es riecht nach Vanille.«

Er atmete tief ein.

»Der Duft kommt von Daisy Bakeries nebenan. Waffeln sind ihre Spezialität. Kennst du die Marke?«

»Nein.«

»Ich bekomme immer Appetit auf Kekse, wenn ich die Vanille rieche«, sagte Stefanie und lachte.

Nick verzog keine Miene. »Riechst du das auch in deinem Büro?«

Stefanie schüttelte den Kopf.

»Ich vermute, hier in der Nähe ist ein Lüftungsschacht. Aber es ist ein angenehmer Geruch, oder?«

»Geschmäcker sind nun mal verschieden.« Nick schaute erst das Bild auf dem Schreibtisch an und dann sie, und Stefanie hatte das Gefühl, als wartete er darauf, dass sie noch etwas sagen oder aber gehen würde.

»Ich bin wirklich froh, dass du hier bist. Die letzten Monate waren hart für mich, so ganz allein.«

»Ludo hat mir erzählt, dass du eine schwere Zeit hinter dir hast.« Nick nahm einen Kugelschreiber aus der Stiftablage und ließ ihn durch seine Finger wandern. Stefanie lief es kalt den Rücken hinunter. Was genau hatte Ludo gesagt? Hatte er Nick von ihrer Abwesenheit erzählt? Nein, Ludo war nicht der Typ, der alte Geschichten aufwärmte.

»Aber das spielt ja jetzt keine Rolle mehr«, sagte Nick,

»Stimmt.«

»Was genau ist dein …«

Weiter kam Nick nicht; Ludo klopfte an die Tür.

»Ach, ihr besprecht euch schon. Sehr gut. Ich hoffe, ich störe nicht?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Nick.

»Kommst du vor dem Mittagessen noch mal kurz rüber? Ich möchte ein paar Dinge mit dir durchgehen.«

»Okay.« Nick drehte sich zu Stefanie, die aufstand. »Wir sollten auch mal zusammen zu Mittag essen. Ich würde gerne deine Meinung über das Marketing und die Kommunikation in der Firma hören. Was dir gefällt, was du erreichen willst, was du gerne ändern würdest.«

»Gute Idee. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.«

Stefanie ging zur Tür, wo Ludo ihr Platz machte.

»Bis später«, sagte sie.

Nick hob die Hand, und Ludo sagte noch etwas, das sie nicht richtig mitbekam.

Zurück in ihrem Büro wählte sie die Nummer von Emy.

»Hey, Emy, hast du Lust, was essen zu gehen?«

»Na klar!«, rief Emy ihr ins Ohr. »Du musst mir alles erzählen!«

4

»Überraschung!«

Alex strahlte, sein Gesicht wurde nur von flackernden Kerzen und Teelichtern beleuchtet. Er zog einen Stuhl zurück.

»Bitte setzen Sie sich, Mevrouw.«

»Danke«, sagte Stefanie.

Er küsste sie.

»Womit habe ich das verdient?«

»Einfach so, du brauchst dir nichts zu verdienen.«

Ein köstlicher, würziger Duft strömte aus der Küche. Stefanie fühlte sich plötzlich schuldig, weil sie die Brote, die er ihr jeden Morgen machte, in den Müll geworfen und stattdessen mit Emy zu Mittag gegessen hatte.

»Und weil du dich endlich nicht mehr allein für Scherpereel abrackern musst.«

Sie lachten.

»Ein Glas Wein, meine Schöne?«

»Gerne.«

»Als Vorspeise servieren wir ein Carpaccio mit Rucola und Parmesan«, sagte Alex, schlug sich ein Handtuch über den Arm und goss den Wein ein.

»Köstlich!«

»Gefolgt von Lachs auf der Haut gebraten an frischem Spinat und kleinen Bratkartöffelchen.«

»Wunderbar!«

»Und zum Nachtisch …« Er beugte sich hinunter, um ihr ins Ohr zu flüstern; sie roch das Parfüm, das sie ihm vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. »Mousse au Chocolat.«

Sie küsste ihn.

»Du bist ein Schatz.«

»Sag mal, wie ist denn der neue Kollege so?«

Sie erzählte während des ganzen Abendessens. Der Wein stieg ihr irgendwann zu Kopf. Als sie die Treppe hinaufgingen, hielt sie sich am Geländer fest. Im Bett kuschelte sich Alex an sie. Er streichelte sie am ganzen Körper. Der Alkohol schien ihre Lust eher zu dämpfen, als anzufachen. Trotzdem wandte sie sich ihm zu. Es tat weh, als Alex in sie eindringen wollte. Seine Erektion wurde schwächer, und er rückte von ihr ab. Er seufzte ein paarmal, drehte sich auf seine Seite und schlief ein.

5

Ping, machte der Lift, und die Tür glitt auf. Ein leichter Schwindelanfall brachte Stefanie aus dem Gleichgewicht; für den Bruchteil einer Sekunde tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen. Sie hatte sich die ganze Nacht hin und her gewälzt, ihre Gedanken waren zwischen dem gescheiterten Sexversuch, dem Treffen mit Farkas und seinen Kommentaren zur Verkaufsmappe hin und her gesprungen. Am Morgen waren die Gedanken zu einem unsinnigen Brei verschmolzen. Sie war verwirrt aufgewacht, als Alex sich für sein tägliches Morgenritual aus dem Bett hievte: Kaffee kochen, frühstücken, die Zeitung lesen und in der Zwischenzeit ihre Pausenbrote belegen.

Unter der Dusche begannen sich ihre Gedanken wieder zu entwirren. Während sie sich einseifte, dachte sie an Alex’ Annäherung gestern Abend. Wie lange war es her, dass sie es noch einmal versucht hatten? Einen Monat? Zwei? Sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. Noch vor einem Jahr hatten sie die Hände nicht voneinander lassen können. Aber sie konnte nichts dagegen tun – ihr Körper verkrampfte sich, wenn er ihr zu nahe kam.

Sie neigte den Kopf in den Nacken und ließ das warme Wasser über ihr Gesicht plätschern. Für eine Weile vertrieb es die Schwere in ihrem Kopf, von der sie nicht wusste, ob sie vom Alkohol während des Abendessens, den Ereignissen des Vortages oder einer Kombination aus beidem herrührte. Sie drehte den Wasserhahn zu und dachte an Farkas. Der beeindruckende Lebenslauf, das exquisite Auftreten, die scheinbar natürliche Ausstrahlung des erfolgreichen Mannes. Das laute Gelächter, als er von der Verkaufsmappe erfahren hatte.

Es war keine schlechte Idee, Tablets zu benutzen. Vielleicht waren Marlene und sie nicht innovativ genug gewesen. Die Verkäufer waren tüchtig, aber was wussten sie von modernen Kommunikationsmitteln? Ihr Topverkäufer André, zweiundsechzig und seit vierzig Jahren in der Firma, sprach mit den Kunden über das Wetter, das neue Auto im Carport, die schulischen Leistungen der Kinder. Zwischendurch erwähnte er die Produkte von Scherpereel, als wäre es eine ausgemachte Sache, dass der Kunde den Auftrag unterschrieb. Auf diese Weise erzielte er einen legendären Umsatz. Neue Kommunikationstechnologie war für ihn unerheblich. Natürlich hatte die Arbeit von Marlene und Stefanie eine große Verbesserung gegenüber der Vergangenheit bedeutet. Aber war sie gut genug gewesen? Es konnte nicht schaden, die altbewährten Methoden zu hinterfragen.

Sie nahm sich vor, heute mit Nick darüber zu reden, aber sein Büro war dunkel und die Tür geschlossen. Würde Ludo, der normalerweise um halb acht vor seinem Computer saß, nun auch bei ihm vorbeischauen und verärgert auf seine Uhr tippen?

Wenn man vom Teufel sprach …

Ludo lehnte am Türrahmen ihres Büros. Er lachte, und für einen Moment befürchtete sie, er hätte ihre Gedanken erraten. Doch er sprach mit jemandem im Büro. Ludo fing ihren überraschten Blick auf und machte Platz.

Hinter dem Schreibtisch saß Nick.

»Hallo, Stefanie«, sagte er.

»Kann ich dir bei irgendetwas helfen?«, fragte sie.

Auf einem der Stühle stand ein Pappkarton. Sie erkannte den Stab, der daraus hervorschaute, und die oberen Blätter des halb verdorrten Glücksbambus.

Ein Objekt neben dem Bildschirm erregte ihre Aufmerksamkeit. Der Bilderrahmen.

Sie betrachtete die Ordner auf dem Aktenschrank, die immer noch ordentlich aufgereiht dort standen.

»Ihr habt ausgemacht, die Büros zu tauschen?«, fragte Ludo, der ihrem Blick gefolgt war. Er formulierte es als Frage, aber das war es nicht. Er wollte eine Bestätigung.

»Wie bitte?« Stefanie spürte ein seltsames Kribbeln, als hätte sie einen Schlag gegen den Kopf bekommen.

»Ich denke, es ist eine gute Idee«, sagte Ludo. »Dann sitzt Nick etwas näher bei mir; wir werden in den nächsten Wochen viel zu besprechen haben.«

»Ich kann mich nicht erinnern …«, begann Stefanie.

»Wir haben doch gestern darüber gesprochen, stimmt’s?«, sagte Nick, »Ich habe dir gesagt, dass ich diesen Geruch nicht ausstehen kann.« Er wandte sich nun an Ludo. »Ich habe als Kind einmal zu viel Vanillepudding gegessen. Ich konnte einfach nicht genug davon bekommen. Ich erspare euch die Details, aber in dieser Nacht hat meine Mutter einen Eimer neben mein Bett gestellt.«

Ludo schlug mit der flachen Hand auf den Türrahmen und kicherte.

»Vanille«, fuhr Nick fort, »nur schon von dem Geruch wird mir schlecht.«

Ist mir gestern gar nicht aufgefallen, dachte Stefanie.

»Du hast gesagt, du magst den Geruch«, sagte Nick und wurde wieder ernst. »Und dass dir das Büro gefällt. Weil es dich an Marlene erinnert.«

Er legte eine Kunstpause ein.

»Das heißt aber noch lange nicht, dass ich deswegen tauschen will.«

Nick hob die Hände, als wollte er sich nicht auf eine alberne Diskussion einlassen.

»Okay, okay. Vielleicht habe ich voreilige Schlüsse gezogen. Und jetzt ruderst du zurück, nachdem du letzte Nacht schlecht geschlafen hast. Ich kann’s ja verstehen, ist ein schönes Büro. Sagen wir einfach, dass ich dich gestern falsch verstanden habe.«

Er seufzte, nahm den Karton mit Stefanies Sachen und holte den Glücksbambus heraus. Er hielt ihn einen Moment lang in den Händen und suchte nach einem Platz dafür. Stefanie konnte sich denken, was sonst noch in dem Karton war: Kugelschreiber, der praktische Kalender der Druckerei ExpertPrint und die Froschspardose, die ihr Marlene einmal geschenkt hatte.

»Absprache ist Absprache, und wenn Nick von der Vanille schlecht wird, kann er nicht arbeiten«, mischte sich Ludo verärgert und stirnrunzelnd ein.

»Ach komm, das ist doch Zeitverschwendung, wir haben weiß Gott Wichtigeres zu tun«, sagte Nick.

»Du hast vollkommen recht«, stimmte Ludo ihm zu. »Es ist kindisch, ein Angebot aus einer Laune heraus einfach wieder zurückzuziehen.«

Stefanie spürte Ludos Blick auf sich, und seine Erwartung, dass sie dieser Szene ein Ende setzte.

»Du kannst hierbleiben«, sagte sie. »Stell den Bambus zurück in den Karton.«

Nick setzte sich wieder hin.

»Bist du sicher … diesmal?«

Ludo lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen.

»Ja«, sagte Stefanie, »es ist … es ist okay.«

»Gut«, sagte Nick, steckte den Bambus zurück zwischen ihre anderen Sachen und wandte sich von ihr ab.

»Ich hole den Karton nachher ab … und meine Mappen.«

In dem Büro, das eigentlich Nicks hätte sein sollen, sank Stefanie auf den Schreibtischstuhl. Sie hörte von draußen das Stimmengemurmel der Männer, die sich leise miteinander unterhielten. Unverwandt starrte sie auf den leeren Fleck an der Wand, wo das Bild gehangen hatte, und es war, als würde sie auf die Leere in ihren eigenen Gedanken schauen.

Fluchend pulte sie an ihrem Brot. Sie öffnete Alex’ Textnachricht – Tut mir leid wegen heute Morgen – und antwortete: Salami, echt jetzt?

Alex hatte beim Aufstehen schlechte Laune gehabt. Missmutig hatte er ab und zu irgendwas vor sich hin gebrummelt, aber nichts gesagt, und vor lauter Ärger hatte er ihre Brote mit dem belegt, was sie am wenigsten mochte. So lief es öfter, wenn er seinen Willen nicht bekam. Kleine kindische Retourkutschen, um sein angekratztes Ego zu hätscheln. Sie war sich nicht sicher, was ihn mehr verletzt hatte: dass sie ihn im Bett abgewiesen hatte oder dass sie damit auch einmal mehr seine Zukunftswünsche und -pläne durchkreuzt hatte.

Sie steckten nicht etwa in einer Sackgasse, in die sie fast unbemerkt geraten waren, nein – es war ein Teufelskreis, in dem sie sich gegenseitig in ihrer Dickköpfigkeit bestärkten. Er war auf eine Zukunft fixiert, von der sie nicht wusste, ob sie noch den Mut dazu aufbrachte. Sie dagegen starrte auf eine Vergangenheit, deren Auswirkungen sie nicht mit ihm teilen konnte. Es erinnerte mehr und mehr an die Sache mit dem Huhn und dem Ei. War ihre Liebe zu Alex abgekühlt, weil er sich so verzweifelt eine Familie wünschte, oder war ihr eigener Kinderwunsch durch die Spannungen in ihrer Beziehung abgeflaut?

Sie wählte eine Nummer auf dem Festnetztelefon. »Hi, Emy, hast du Lust, mit mir zu Mittag zu essen?«

»Dazu habe ich doch immer Lust. Aber, äh …«

Stefanie schloss die Augen.

»Hast du schon etwas anderes vor?«

Emy kicherte.

»Ja, Nick hat mich zuerst gefragt.«

»Der lässt ja nichts anbrennen.«

»Er will meine Meinung über die Firma wissen. Ich sei ein wichtiger Faktor für das Image von Scherpereel, sagt er. Die erste Person, die die Kunden sehen oder hören. Er hat mich ›das Gesicht und die Stimme von Scherpereel‹ genannt. Schön gesagt, oder?«

»Definitiv.«

»Ludo hat mir noch nie so ein Kompliment gemacht.« Emy dämpfte ihre Stimme. »Ich erzähle dir nachher, wie es gelaufen ist.«

Auf Alex’ Broten kauend – die Salami hatte sie weggeworfen –, versuchte Stefanie, das Gespräch vom Vortag zu rekonstruieren. Hatte Nick das, was sie über die Waffeln von Daisy Bakeries gesagt hatte, zu ernst genommen? Ihre Gedanken schweiften zu dem Glücksbambus und dem Stab ab, der aus dem Karton lugte. Und zu dem Bild, das Nick in ihrem Büro wieder mehr oder weniger an den gleichen Platz neben dem Computerbildschirm gestellt hatte. Sonnenlicht fiel auf die Wand, und Stefanie fragte sich, wo sie eine Reproduktion von Monet kaufen könnte. Sie starrte auf das Lichtspiel der Reflexionen. Mit einem neuen Bild konnte sie die alten Zeiten vielleicht wieder aufleben lassen und den Raum gemütlich machen.

Und letztendlich mochte sie Vanille ja tatsächlich.

Vielleicht steckte sie im Alltagstrott fest. Das Gewohnheitstier in ihr hatte die kreative Stefanie allmählich aufgefressen und sich selbstzufrieden in ihrem Verhalten eingenistet. Sie sollte positiv denken und den Bürotausch als Neuanfang betrachten.

Dennoch nagte die Sache weiterhin an ihr. Sie hatte das Gefühl, zu schnell nachgegeben zu haben. Sie hatte sich überrumpeln lassen, wie eine Hausfrau, die auf die Floskeln eines Vertreters an der Tür hereinfällt. Es war ein seltsames Gefühl: Einerseits empfand sie es als Ungerechtigkeit, weil ihr etwas weggenommen worden war, doch andererseits war ihr klar, dass sie die Einzige war, die sich darüber Gedanken machte. Sie hatte wegen ihrer eigenen Unachtsamkeit den Kürzeren gezogen und wollte nicht wie ein bockiges Kind dastehen.

Dann kam die Mail.

Hallo, Ludo, hallo, Stephanie, heute Nachmittag um 15 Uhr kleines Get-Together im Großen Saal zu meiner Zukunftsvision und Marketingstrategie. Ich habe einen Blick in die Tagespläne geworfen, müsste für euch beide klappen, oder?

Bis nachher, N

Ist okay für mich, antwortete sie und dachte: Ich werde aber mit f geschrieben.

6

Er strahlte, balancierte auf seinen Fersen, die Hände vor seinem Schritt. Die erste Folie einer PowerPoint-Präsentation wurde an die Wand projiziert.

360° Marketing

A global view with local wins

Weiße Buchstaben auf blauem Grund; darunter eine weiße Weltkarte, die an das Logo eines amerikanischen Nachrichtensenders erinnerte.

Ludo trat ein und schüttelte Nick herzlich die Hand. Er machte einen Witz, über den beide Männer lachten, den Stefanie aber albern fand. Sie hatte sich oft gefragt, warum Männer bei der Arbeit immer Witze reißen mussten. Kein Gespräch kam ohne einen Scherz oder einen Seitenhieb aus, und wenn es einmal begonnen hatte, endete es normalerweise nicht, bis eine Frau sie zur Ordnung rief. Wie Duelle im achtzehnten Jahrhundert.

Ludo sah sich die Projektion an, hob zufrieden die Augenbrauen und setzte sich. Er nickte Stefanie kurz zu; es lag eine gewisse Distanz in seinem Blick.

»Ihr könnt ruhig zwischendurch Fragen stellen, wenn etwas nicht klar ist«, sagte Nick und wandte sich an Stefanie, »oder wenn du Anmerkungen hast.«

Nick sprach über Conversation Management, Strategic Brand Management und 360-Grad-Marketing »im Hinblick auf die Welt, aber immer mit Blick auf die lokale Realität«. Ludo hörte begeistert zu und lehnte sich immer weiter nach vorn. Stefanie musste zugeben, dass Nick gut erklären konnte. Er nannte überzeugende Beispiele, machte im richtigen Moment eine humorige Bemerkung, stellte eine rhetorische Frage, um einen Abschnitt zu beenden. Er hatte das offenbar schon oft durchgezogen, und zwar erfolgreich.

Doch der Inhalt von Nicks Präsentation war für Stefanie nichts Neues. Er bot eine Zusammenfassung der Trends der letzten Jahre, einen Schnellkurs in Kommunikations- und Marketingtheorie. Es klang schick und raffiniert – wie konnte es anders sein, da es von Marketing- und Werbeleuten stammte –, aber die Umsetzung in die Praxis stand auf einem anderen Blatt.

Als Nick nach der Präsentation begierig nach einer Reaktion seine Angel auswarf, fragte sie deshalb: »Und wie sollen wir das konkret umsetzen?«

Dieses charmante Lächeln, der intensive Blick, ein kurzes Innehalten, um die Spannung zu erhöhen.

»Mit dieser Frage habe ich gerechnet.«

Er öffnete eine zweite PowerPoint-Präsentation.

»Ein Neuanfang, der auf den Erfolgen der Vergangenheit aufbaut.« So beschrieb Nick die Richtung, in die er Scherpereel führen wollte. »Selbstbewusst, ehrgeizig und innovativ. Wir müssen den Blick über den Tellerrand wagen und neue Wege erkunden, um unsere Zielgruppe zu erreichen. Und um diese Bühne überhaupt betreten zu können, müssen wir zuerst an uns selbst arbeiten.«

Die nächste Folie zeigte nur zwei Worte:

Neues Logo

»Das Logo ist unser Gesicht. Jetzt, wo wir die Kommunikation auf ein höheres Niveau bringen, ist ein professioneller Look entscheidend. Deswegen müssen wir uns das Logo vornehmen. Die Falten, Pickel und Schönheitsflecken müssen weg.«

Er klickte die nächste Folie an:

Neue Corporate Identity

»Zusammen mit dem Logo wird eine moderne Corporate Identity entstehen, der alle Drucksachen angepasst werden. Überstunden für dich, Stefanie.«

Ludo lachte, und Nick fiel ein.

»Die aktuelle Corporate Identity ist kaum fünf Jahre alt«, erwiderte Stefanie. »Ich sehe keine Notwendigkeit, sie erneut zu ändern.« Sie wandte sich an Ludo. »Das wird eine Stange Geld kosten.«

»Man kann kein Omelett braten, ohne Eier zu zerbrechen«, bügelte Nick sie schroff ab. »Man findet immer praktische Einwände, wenn man sich gegen Veränderungen wehren will. Das aktuelle Logo und die Corporate Identity sind veraltet.«

»Ich würde beides eher als authentisch bezeichnen, passend zum Stil des Unternehmens. Heute ist es einfach wichtig für ein Unternehmen, Authentizität zu zeigen.«

Nicks Kiefermuskeln spannten sich an. Ludo forderte ihn mit einer Handbewegung auf weiterzumachen.

Neue Wege, hieß es auf der Folie mit dem Bild einer Kreuzung. Die Straße teilte sich, und die beiden Wegweiser zeigten Fragezeichen.

»Neben einem anderen Look and Feel müssen wir auch in neue Bereiche vordringen. Der erste davon ist das Sponsoring, ein idealer Weg, um die Markenbekanntheit zu erhöhen. Wer kannte früher schon Belkin oder Shimano?«

»Oder Festina«, ergänzte Stefanie. Nick ignorierte sie.

»Ein zweiter Bereich sind die sozialen Medien. Ludo, ich habe mit Entsetzen festgestellt, dass die Firma in diesem Bereich gar nicht vertreten ist. Wir brauchen einen Twitter-Account und eine Facebook-Seite, sodass wir mit unseren Kunden und Interessenten ins Gespräch kommen können.«

»Marlene und ich haben untersucht, ob solche Aktionen für uns einen Sinn ergeben«, erwiderte Stefanie, »und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es für Scherpereel von geringem Interesse ist. Wir haben nicht oft etwas Spannendes zu vermelden, und derartige Aktionen sind auch nicht von großem Nutzen für Business-to-Bus…«

»Die Inhalte müssen wir selbst erstellen, Stefanie«, erwiderte Nick und straffte den Rücken, »das fliegt uns nicht wie die gebratenen Tauben in den Mund. Social Media erfordern eine Menge Aufwand und Kreativität. Ein Unternehmen, das diesen Bereich vernachlässigt, handelt auf der Kommunikationsebene unprofessionell.«

»Ich habe es nicht negativ gemeint.« Doch Stefanie erhielt keine Chance, ihren Standpunkt näher zu erläutern.

»Das alles fügt sich in eine 360-Grad-Marketingstrategie ein, bei der wir im Leben der Kunden und Interessenten sowohl online als auch offline, above and below the line, präsent sind«, sagte Nick zum Abschluss seines Vortrags.

»Danke, Nick«, sagte Ludo. »Das war eine inspirierende Präsentation. Wir sind zu sehr mit dem Tagesgeschäft befasst, damit, Brände zu löschen und kurzfristige Aktionen zu planen. Wir benötigen eine breitere Perspektive, eine Politik. Das ist ein guter Anfang.«

»Ich werde Zeit brauchen, um diese Strategie weiter zu entwickeln. Aber ich schlage vor, Stefanie, dass wir gemeinsam schauen, wie wir das in die Praxis umsetzen können. Ich denke, es ist wichtig, dass jeder im Team eine gewisse Ownership übernimmt.«

»Gut«, sagte Ludo. »Von mir habt ihr grünes Licht. Ihr sprecht euch dann untereinander ab?«

Nick schaute auf die Uhr und neigte sich zu Ludo: »Ich muss jetzt dringend meine Tochter von der Schule abholen.«

»Ja, geh nur«, sagte Ludo mit einem Wink. Nick eilte davon, und es wurde still im Raum.

»Und? Was denkst du?«, fragte Ludo, während er aufstand.

Stefanie überlegte, was sie sagen sollte, doch Ludo wartete ihre Antwort gar nicht erst ab.

»Das ist genau das, was wir brauchen. Jemand, der mehr Weitblick hat, der eine Strategie für mehrere Jahre ausarbeitet. Nick ist ehrgeizig, und auch das brauchen wir. Von jetzt an wird allen viel abverlangt werden, aber es ist die richtige Entscheidung.«

»Er sagt interessante Dinge, aber es ist nicht notwendig, alles zu ändern. Als Unternehmen muss man doch auch seinem Stil treu bleiben.«

»Ich bin wirklich froh, dass jemand mit einer solchen Erfolgsbilanz für uns arbeitet«, unterbrach Ludo sie. Er stand auf. »Solche Leute sind selten, weißt du.«

Stefanie schwieg.

Ludo blieb in der Tür stehen.

»Wie nennt man so jemanden noch mal?«

Er zuckte mit den Schultern und ging. Stefanie sammelte ihre Papiere ein und erschrak, als Ludo noch einmal zurückkehrte.

»Einen weißen Raben.«