Der Putsch des alten weißen Mannes - Henning Liebeskind - E-Book

Der Putsch des alten weißen Mannes E-Book

Henning Liebeskind

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Beschreibung

Ein mysteriöser Anschlag gibt Rätsel auf. Er scheint einem wissenschaftlichen Institut gegolten zu haben. Dadurch, dass dessen Inhaber überlebt hat, gerät dieser in Verdacht, selbst dahinter zu stecken. Bis ein alter, russischer Oligarch eingreift und Antworten liefert. Noch ahnt niemand, wer oder was dieser Dr. Dimitrie Popov wirklich ist und worin seine wahren Absichten bestehen. Klar scheint lediglich, dass der Schlüssel zu allem in einer besonderen Frau verborgen liegt. Parallel gingen und gehen seltsame Dinge vor im Lande, die einen Professor für Biochemie den logischen Schluss ziehen lässt: Jemand ist dabei, einen Putsch vorzubereiten...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

1

Niemand schöpfte Verdacht, als der LKW unterwegs war. Auf der Autobahn fuhren viele davon. Er hatte keinen Anhänger, war kein Riese, aber auch kein Zwerg. Auf der Plane stand zu lesen:

ALLES FÜR DEN WEIHNACHTSMARKT.

Auch darüber wunderte sich niemand. Es war ja Vorweihnachtszeit, die Corona-Krise zu Ende, und es gab endlich wieder Weihnachtsmärkte. Wenn in überholenden Autos kleine Kinder waren, wurde gerufen, gewinkt und gelacht.

„Daaaa! Der Weihnachtsmann! Der Weihnachtsmann!!“

Der saß am Steuer und war auf der Reise zu einem Weihnachtsmarkt, um ihn zu besuchen und mit seinen Waren auszustatten. Er sah sehr freundlich aus und winkte zurück, nahm sogar die rote Mütze vom weißen Schopfe und wedelte mit ihr herum. Sein langer Bart ließ ihn wie einen gütigen, alten weißen Mann aussehen. Doch daneben saß ein finsterer Kerl. Der winkte nie. Der starrte stur und steif stets geradeaus. Die Kinder erschraken, wenn sie ihn entdeckten und fragten, wer das wohl sei. Und erhielten zur Antwort:

„Knecht Ruprecht! Der kommt Dich holen, wenn Du nicht artig bist!“

Gerade rechtzeitig, nachdem den Behörden die griechischen Buchstaben ausgegangen waren, um die immer neuen Varianten, Subvarianten und Subsubvarianten bezeichnen zu können, hatte es geheißen, DAS sei NICHT MEHR Sars-CoV-2! Sondern Sars-CoV-3!! Wogegen weder die vorhandenen Impfstoffe gewirkt hatten noch irgendwelche Medikamente oder durchgemachte Infektionen mit dem Vorgänger-Virus. Der GANZE Mist war wieder von vorne losgegangen. Während eines Lockdowns, der härter und länger war als alle bisherigen, hatten Impfhersteller fieberhaft geforscht und neue Impfstoffe entwickelt, die auf einer wieder völlig anderen, NIE dagewesenen Technologie basierten. Und landauf, landab war wieder das Mantra verkündet und sogar von den Kirchenkanzeln herabgepredigt worden, dass der EINZIGE Weg aus der Pandemie nur übers Impfen, Impfen, Impfen führe.

Ein Jenaer Professor für Biochemie, wiewohl längst emeritiert, hatte sich das irgendwann nicht mehr mit ansehen können und begonnen, gegen das endlose Massenimpfen zu wettern. Anfangs allein auf weiter Flur, war er der einzige namhafte Wissenschaftler gewesen, der sich gegen das Wettimpfen aussprach. Nach und nach hatten sich Fachkollegen angeschlossen. Zögernd zunächst, dann immer vehementer. Und auf einmal war das Maskentragen verboten worden und nur noch mit Ausnahmegenehmigung erlaubt, während ein Abstand zueinander von weiter als zwei Metern fortan als asozial galt. Plötzlich war die gegenseitige Ansteckung zur ersten Bürgerpflicht geworden und ein gegenseitiges Anniesen und Anhusten zum neuen Volkssport.

Wie bestellt gab es die ersten Wunderpillen. Nicht von Amerika, China, Indien oder sonst woher, sondern sage und schreibe: Aus Deutschland!! Von manch einem noch misstrauischer beäugt als zuvor die Spritze. Doch wurde es gar zu schlimm mit den Beschwerden, nahm man halt eine. Sie wirkten noch nicht perfekt, aber gut genug, um den emeritierten Professor in Verdacht geraten zu lassen, Aktien daran zu haben. Wohingegen von den Impf-Enthusiasten nie jemand verdächtigt worden war, Anteile an den Impfherstellerfirmen zu besitzen.

Alarmiert durch den neuen deutschen Sonderweg hatte man ringsherum den Kriegszustand ausgerufen. Doch allmählich setzte sich überall die Erkenntnis durch, selbst in China, dass es UNMÖGLICH ist, ein so mutationsfreudiges Virus durchs Impfen in den Griff zu kriegen. DIESES Rennen gewinnt nicht der Mensch. DIESES Rennen gewönne das Virus. Es ginge aus wie bei Hase und Igel. Nicht umsonst impft man ja auch nicht gegen Erkältungen. Es wäre, als ob man einem Drachen den Kopf abschlägt und ihm sogleich zwei Feuer speiende Köpfte nachwachsen.

Also blieb nur, dass jeder seine persönliche Bekanntschaft mit dem Virus zu machen habe. Weltweit wurden die Gelder in die Entwicklung einer perfektionierten Wunderpille umgelenkt, die zwar keine milden Verläufe garantierte, aber ganz schwere verhinderte. Die neue Strategie erwies sich als überraschend billig. Man brauchte keine Lockdowns mehr, keine Sondersendungen und panischen Politiker, auch keine hyperventilierenden Virologen als Talkshow-Dauergäste, keine Krisensitzungen, geschweige denn Ministerpräsidentenkonferenzen, keine Impfzentren. Nicht mal Krankenhäuser brauchte man mehr. Jedenfalls nicht für Corona. Es reichte, eine Tablette zu schlucken. Prophylaktisch, nach den ersten Symptomen oder irgendwann später. Das war’s... Die Wunderpille wirkte zuverlässig in jedem Krankheitsstadium.

Der einzige Wermutstropfen war, dass ein paar Firmen pleitegingen, die kaum anderes als Corona-Impfstoff hergestellt und sich auf eine immerwährende Goldgrube eingerichtet hatten. Aber so ist das halt im Krieg. Und wie immer im Krieg, gab es auch andere Technologiesprünge. Einiges, was ungenau, aufwändig, teuer und langwierig gewesen war, ist jetzt genauer, einfacher, billiger und schneller geworden. Manches wurde stolz ausgebreitet und öffentlich bejubelt und gefeiert. Manch anderes blieb eher geheim. Es gab auch Rückbesinnungen auf Altbewährtes. Der Erkenntnis folgend, dass Zentralisierung nicht immer förderlich sei. Aber auch alte Zöpfe lebten wieder auf. Sogar alte Absurditäten.

Doch momentan kümmerte das niemanden. Nicht nur, weil der wirkliche Krieg wieder aufgeflammt war und wieder ALLES überlagerte. Nachdem der russische Bär eine Zeitlang seine Wunden hatte lecken müssen, hatte er den strengen Frost genutzt, um neue, unzerstörbare Panzer zu schicken. Aber nicht mal das interessierte hier im Augenblick. Es war doch Vorweihnachtszeit. Ein jeder freute sich auf unbeschwerte Tage.

Selbst der freundlichste Weihnachtsmann braucht mal eine Pause. Und so fuhr er bei einbrechender Dunkelheit von der Autobahn ab, um im dunklen Rabensteiner Wald zu rasten. Er hatte heute schon unzählige Kilometer zurückgelegt. Und nun galt es, sich ausruhen. Auch der Tank war fast leergefahren und musste aufgefüllt werden. Nachdem das erledigt war, lenkte der Weihnachtsmann sein Gefährt auf eine der letzten freien Parkflächen, zog sich die Verkleidung aus und begab sich mit seinem Gefolge ins Restaurant. Alle mussten essen und trinken, während abwechselnd einer im LKW war, um Wache zu schieben.

Der erste hatte Hunger und Durst noch ein Weilchen auszuhalten. Doch das war kein Problem für ihn. Genauso wenig, wie es für die anderen ein Problem gewesen wäre. Nur Knecht Ruprecht kannte in diesem Punkt keinen Spaß. Mit Hunger im Bauch wurde der schnell noch viel finsterer, als er ohnehin schon war. Das wollte man vermeiden. Besonders er selber. Deswegen war es auch nicht er gewesen, der als erster zurückbleiben musste. Erst am späten Abend waren sie alle wieder vereint und legten sich zur Ruhe. Der LKW war ihr Schlafzimmer. Der morgige Tag würde noch anstrengend genug werden. Immer im Wechsel hielt einer Wache.

Auf diesem Rastplatz war er schon viele Male gewesen. Und nie zuvor hatte sich ein Raubzug frustrierender gestaltet. Schon viele Planen hatte er aufgeschnitten, schon viele Male erwartungsvoll ins Innere geleuchtet. Und wurde dann doch immer wieder enttäuscht. Entweder war es billiger Plunder, von dem man viel zu viel hätte umladen müssen, damit sich die Fahrt gelohnt haben würde. Oder die Ladungen waren zwar wertvoll, aber viel zu schwer, um sie allein bewältigen zu können. Er war schon drauf und dran, aufzugeben. Ohne Beute abzuziehen, würde eine bittere Prämiere sein. Zumindest hier, auf diesem Rastplatz. Hier gab‘s sonst immer was zu holen. Dann fiel sein Blick auf den Schriftzug ALLES FÜR DEN WEIHNACHTSMARKT. Matt beleuchtet von den Laternen. Weihnachten geht immer, dachte er.

Und wenn’s nur was für mich ist. Oder für die Liebste...

Er näherte sich dem neuen Opfer und umschlich es mehrere Male. Umsichtig und lautlos. So machte er das immer. Im LKW brannte kein Licht. Er blieb stehen und horchte. Es war ganz still... Der Fahrer schien zu schlafen. Kein Wunder, um diese Zeit mitten in der Nacht. Er besah sich nochmals die Plane mit dem verheißungsvollen Schriftzug, suchte eine gute Stelle aus und zückte das Messer. Trotz Kälte waren seine Hände warm. Er hatte sie die ganze Zeit in den Hosentaschen vergraben gehalten. Die Arbeit wäre kein Problem.

Nach bewährtem Muster zogen sich präzise Schnitte durch die Plane. Das Messer wurde weggesteckt und die Lampe hervorgeholt. Er hielt inne...

War da nicht was?

In solchen Momenten spielten ihm die Sinne oft einen Streich, indem er vor den eignen Geräuschen erschrak. Oder noch schlimmer: Vor dem eignen Schatten. Er verharrte sekundenlang und lauschte.

Nichts...

Er muss sich getäuscht haben. Wie so oft. Er hob ein loses Stück der Plane hoch und knipste das Licht an. Direkt vor ihm erschien etwas, das aussah, wie der Lauf einer Pistole. Auf ihn gerichtet! Nur komisch: Der Lauf war so lang und am Ende so seltsam verdickt. Er muss sich getäuscht haben. Ein Produkt seiner Einbildungskraft.

Oder soll das da ein Schalldämpfer sein?

Es war sein letzter Gedanke.

Der Weihnachtsmann und das Gefolge hatten es nicht eilig. Ihr Ziel musste erst gegen Abend erreicht sein. Und es war nicht mehr sehr weit. Die letzte Strecke würde nicht mehr lange dauern. Also nutzte man die Zeit, um auszuschlafen und in aller Ruhe zu frühstücken. Man blieb so lange im Restaurant sitzen, bis das Mittagessen fertig war. Auch das wurde noch eingenommen. Wieder musste immer einer im LKW bleiben und Wache halten. Der ungebetene Gast von gestern Nacht hatte sie darin bestärkt, auch tagsüber vorsichtig zu sein. Denn wer weiß, ob nicht ein besonders dreister Dieb den Weihnachtsmann sogar am helllichten Tag bestehlen will.

Dieser ständige Wachtwechsel zog den Aufenthalt im Restaurant natürlich in die Länge. Man konnte es sich leisten. Nicht leisten konnte man sich aber, dass jemand die Ladung sieht oder stiehlt. Während sie beisammensaßen, vermieden sie es, sich zu unterhalten. Und wenn, nur sehr leise. An den Nachbartischen sollte man nicht mitkriegen, woher sie waren. Ihre Sprache war hier früher oft zu hören gewesen, aber neuerdings nicht wohlgelitten.

Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Das sagte immer der Knecht Ruprecht. Der sprach als einziger ein akzentfreies Deutsch. Und wenn es etwas mit Fremden zu bereden gab, überließ man es ihm.

Irgendwann war es soweit. Zeit zum Aufbruch! Denn wer weiß, ob nicht noch Hindernisse auftauchen. Mit Staus muss man schließlich immer rechnen. Und die vielen Baustellen hier! Dass die Deutschen immer was zum Bauen haben! Also lieber jetzt schon losfahren. Lieber zu früh eintreffen, als nur ein kleines bisschen zu spät. Lieber am Ziel in Warteposition gehen und sich unauffällig niederlegen, als DAS MOMENTUM verpassen! Das durfte nicht passieren. Um keinen Preis...

Als der LKW den Weg nach Westen fortsetzte, herrschte im Institut des Dr. Woldemar Gold gerade ausgelassene Stimmung. Obwohl das Weihnachtsfest noch gut zwei Wochen von diesem Freitag entfernt lag, hatten fünfzehn seiner sechzehn Angestellten schon ab Montag Urlaub haben wollen und diesen auch zugesichert bekommen.

Der Grund für diese scheinbare Großzügigkeit könnte für Gold verdrießlicher nicht sein: Mangel an Arbeit. Und es sah nicht danach aus, als ob das Auftragsbuch bald mal wieder neue Einträge der üblichen Art zu sehen bekäme. Unter normalen Umständen wäre es unausweichlich geworden, Insolvenz anmelden zu müssen. Dass er das nicht längst getan, sondern den Laden am Laufen gehalten hatte, indem er Gelder aus dem Privatbereich zuschoss, hing damit zusammen, dass er die Grundlagenforschung nicht hatte eingehen lassen wollen, die zwar einiges an Renommee einbrachte, aber kein Geld. Dafür aber Geld kostete.

Ausgerechnet diese Grundlagenforschung sollte ihn nun vor der Pleite retten! Wer hätte das gedacht? Reiche Mäzene hatten ein großes Interesse am Forschungsfeld seines Instituts und boten ihm deshalb einen regelrechten Forschungsauftrag an. Ausgelegt auf mehrere Jahre und mit einem Volumen von 50 Millionen Euro. Pro Jahr! ENDLICH Planungssicherheit! Und Grundlagenforschung macht einem Wissenschaftler auch sehr viel mehr Spaß als stupide 0815-Analysen. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk als den Brief aus St. Petersburg hätte es gar nicht geben können. Zumal gleich darauf die angekündigte Anzahlung von einer Million erfolgt war. Damit konnte er sich über die Zeit retten.

Deshalb war Gold nicht nur genauso ausgelassen wie die fünfzehn Angestellten mit ihrem bevorstehenden Urlaub, er war sogar euphorisch. Und das schon seit zwei Wochen, nachdem er den Eingang dieser einen Million auf dem Geschäftskonto festgestellt hatte. X-mal hatte er die Nullen abgezählt. Immer wieder und wieder. Um ganz sicher zu sein. Wie ein Lottospieler, der nicht glauben kann, tatsächlich sechs Richtige zu haben, und der immer wieder die Zahlen vergleicht. So war er sich vorgekommen, als er auf diese Million gestarrt hatte. Dieses Angebot MUSSTE also seriös sein!! Es gab keinen Zweifel mehr. Er hatte deshalb nicht länger gezögert und seine Angestellten zu einem Festessen in die Noll eingeladen. Das MUSSTE einfach gefeiert werden!! Den Grund hierfür behielt er aber noch für sich. Den Brief aus St. Petersburg wollte er erst dort verlesen, weswegen er für die Feier einen separaten Raum reserviert hatte. Zuvor sollte es noch auf den Weihnachtsmarkt gehen, um sich mit Glühwein einzustimmen.

Das einzig Betrübliche war, dass ausgerechnet Dr. Johannes Drillhase nicht teilnehmen mochte. Er, der diese Grundlagenforschung jahrelang ganz allein verantwortet und betrieben hat. Ausgerechnet die Hauptperson wollte nicht mitfeiern. Nicht, dass Gold das überrascht hätte. Er kannte ihn seit vielen Jahren und wusste, dass Dr. Drillhase ungern in Gesellschaft ist. Wahrscheinlich hat niemand auf der ganzen Welt die Lockdowns während der Corona-Krise mehr genossen als DIESER besondere Mensch, der dadurch für sich bleiben konnte, ohne sich ständig rechtfertigen zu müssen. Es war ja staatlich angeordnet. Andere Leute gingen ihm meist einfach auf den Zeiger. Oft wusste er nicht, was er sich unterhalten sollte. Dinge, die sie interessierten, fand er öde und langweilig. Und wenn er sich doch einmal hinreißen ließ, über SEINE Interessen zu sprechen, die sich ausschließlich um seine Forschungsarbeit drehten, war ihm ein Gähnen seiner Zuhörer gewiss. Die konnten damit halt nichts anfangen. Ganz abgesehen davon, dass sie den Sinn seiner Arbeit auch gar nicht erst verstanden.

Doch Dr. Drillhase war nicht nur Golds sechzehnter Angestellter, sondern auch sein bester Freund. Insofern wusste er nur zu genau, dass Johannes zwar schon immer ein spezieller Typ war, dass er sich aber manch eine Marotte erst in den letzten Jahren zugelegt hat. In seiner Studentenzeit hat er durchaus auch mal Alkohol getrunken. Manchmal sogar ziemlich viel. Fast bis zur Grenze zum Besoffen-Sein. Trotzdem könnte man die Gelegenheiten, wo er wirklich mal über die Stränge geschlagen hatte, an den Fingern einer Hand abzählen. Bei Gold hingegen reichten tausend Hände nicht. Heute aber trank Johannes gar nicht mehr. Nicht einen Tropfen. Schon seit Jahren. Das hing natürlich mit seinem immer größer werdenden Wissen zusammen. Je mehr er über die Schädlichkeit verschiedener Stoffe wusste, desto konsequenter ging er ihnen aus dem Weg. Autoabgase und Zigarettenqualm mied er daher ganz besonders. Dabei wohnte er in einer vielbefahrenen Straße, weshalb er nur noch über die Hofseite lüftete. Aber auch nur dann, wenn nicht gerade ein Nachbar auf dem Balkon stand und meinte, rauchen zu müssen.

Gold überraschte es demzufolge nicht, dass Johannes keine Lust hatte, an der Feier teilzunehmen. Einen rauchfreien Weihnachtsmarkt gibt es ja noch nicht. Schon gar nicht in Jena. Er konnte es sogar nachvollziehen. Für jemanden, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, aus Prinzip keine schlechte Luft mehr einatmen zu wollen, und das unter keinen Umständen, für den stellt ein Weihnachtsmarkt ein Minenfeld dar. Dennoch hatte er vier Tage vor der Feier einen Versuch wagen wollen, ihn umzustimmen. Er hatte ihn in sein Büro gebeten und die Tür hinter ihnen zugemacht. Er hatte ihm angeboten, den Besuch des Weihnachtsmarktes wegzulassen und später in der Noll hinzuzustoßen.

„Wäre das nicht ein schöner Kompromiss?“

Darauf hatte er ihm den Brief aus St. Petersburg gezeigt. Ihm, als dem einzigen seiner Angestellten. Er hatte erzählt, dass die angekündigte Anzahlung tatsächlich auch schon eingegangen war und dass bald genügend Mittel zur Verfügung stehen werden, um die komplette Mannschaft mit der Grundlagenforschung befassen zu können. Ob er nicht einsähe, dass das groß gefeiert werden MUSS. Und dass er unbedingt teilnehmen müsse. Wenigstens an der Feier in der Noll. Das hatte die Bockigkeit bloß noch verschlimmert.

„WAS?!! Mit DENEN soll ich zusammenarbeiten?! Ist das Dein ERNST?! Wie stellst Du Dir das vor?!!“

Wutentbrannt war er hinausgestapft und hatte die Türe krachend hinter sich zufliegen lassen. Umso verblüffter war Gold, als Johannes just am Tage der geplanten Feier in sein Büro trat und verkündete, er habe es sich anders überlegt. Er käme nun doch mit. Auch mit auf den Weihnachtsmarkt. Zur Einstimmung.

„Wie kommt‘s denn?“

„Ich hatte ja Zeit, mich innerlich drauf einzustellen. Außerdem hast Du recht: Dieser Brief muss gefeiert werden.“

Gold freute sich.

„Wir werden schon was Essbares für Dich finden.“

Ja, ja, die Esserei war für Johannes ein weiteres Steckenpferd. Als Biochemiker kannte er sich bestens aus mit all den Substanzen in den Zutatenlisten der Lebensmittelverpackungen und wusste um die Auswirkungen auf den Organismus. Dass es der Lebensmittelindustrie überhaupt erlaubt sein darf, schädliche Stoffe einzusetzen, war etwas, das er nicht verstand. Aber wenn es nun einmal so ist, wie es ist, dann sollen ruhig alle anderen so etwas zu sich nehmen, wenn sie wollen. ER jedenfalls wollte das nicht.

Gold musste immer wieder in sich hineinschmunzeln, wenn er an die Begebenheit in Kiel dachte. Er und Johannes waren vor einem Jahr einer Bitte gefolgt, an der dortigen Uni einen Vortrag über ihre Grundlagenforschung zu halten. Die paar einleitenden Worte hatte Gold noch gesprochen, den eigentlichen Fachvortrag aber Johannes überlassen. ER war ja der Experte auf dem Gebiet. Danach waren sie von einem der Professoren privat zu sich nach Hause eingeladen worden. Seine Frau würde für den Abend was Feines kochen. Johannes, schon Schlimmstes ahnend, hatte begonnen, herumzumaulen. Und das nicht gerade leise. Gold hatte, die Situation retten wollend, den freundlichen Professor beiseite genommen und ihm halblaut erklärt, dass sein Begleiter zwar ein brillanter Wissenschaftler sei, aber im sozialen Umgang manchmal ein bisschen schwierig.

„Insbesondere, weil er nicht alles isst. Auf jeden Fall kein Fleisch. Damit fängt’s schon mal an.“

Der Kieler Professor hatte gelacht. Ja, das könne er sehr gut verstehen. Ganz ohne Zweifel wäre Dr. Drillhase so, nicht trotz, sondern WEIL er ein brillanter Wissenschaftler ist. Bei Louis Pasteur sei es ja ähnlich gewesen. Der hätte angeblich immer eine große Lupe bei sich gehabt.

„Wenn man ihm einen Teller vor die Nase setzte, holte er stets zuerst die Lupe aus der Tasche und unterzog das Essen zuerst einer kritischen Begutachtung, bevor er aß. Beziehungsweise: Manchmal aß er dann eben auch nicht. Ob daheim, in Gasthäusern oder bei privaten Einladungen... Wenn man ZU viel über die Dinge weiß, wird man halt so.“

Gold hatte gegrinst und war erleichtert gewesen über so viel Verständnis. Denn der Kieler Kollege hatte versprochen, die Frau daheim entsprechend zu instruieren. Nützte nur nichts: Die hatte ihren eigenen Kopf.

„Papperlapapp! Extrawürste braten?“

Das gab’s bei ihr nicht. Wenn Besucher aus dem Süden anreisen, sollen die gefälligst auch eine norddeutsche Spezialität kennenlernen. Deshalb hatte es ausgerechnet Labskaus gegeben. Die unausweichliche Folge dessen war gewesen, dass Johannes jedes einzelne Fleischfäserchen mit der Gabel auf den Tellerrand verschob, sowie alles das, was er für undefinierbar hielt. Und das war ziemlich viel. Am Ende war der Tellerrand rundherum vollgepackt gewesen mit aussortierten Sachen. Und in der Tellermitte? Ein trauriger kleiner, noch einigermaßen für essbar gehaltener Rest.

Die Köchin hatte pikiert und ihr Gatte amüsiert geguckt, während Johannes einfach nur genervt gewesen war, ihm eine derart komplizierte Nahrungsaufnahme zuzumuten, ohne satt werden zu können. Gold hingegen hatte den ganzen Abend lang gegen ein dringendes Lachbedürfnis ankämpfen müssen.

Nachdem Johannes Golds Büro verlassen hatte, schaute letzterer auf die Uhr. Kurz nach halb sechs. Noch etwa eine Stunde bis zur Abfahrt. Draußen war es längst dunkel geworden. Auf seinem Schreibtisch lag noch einiges zum Abarbeiten. Das vorläufig wichtigste für heute waren die fünfzehn Urlaubsanträge, die er zu unterschreiben hatte. Die unterzeichneten Originale würden gleich seine Leute zurückkriegen. Und die Durchschläge waren für ihn zum Abheften. So mittelalterlich lief das noch im renommierten Gold-Institut. Natürlich hätte er sich eine schlaue Software anschaffen können. Doch für nur sechzehn Angestellte? Warum sollte er? Mit seiner Methode war er in der Lage, Urlaubsanträge selbst dann zu bearbeiten, wenn der Strom ausfällt oder die Computer streiken.

Als Gold sich an die Arbeit machte, befand sich der Weihnachtsmann mit seinem LKW kurz vor Jena. Er war die heutige Strecke ziemlich gemütlich gefahren. Beinahe schon ZU gemütlich. Nur nichts auf den letzten Metern riskieren! Und er ließ sich ja auch gern überholen, um wieder winken und wedeln zu können, wenn Kinder ihn entdeckten. Doch nachdem es dunkel geworden war, hörte das auf. Das war auch gut. Er musste sich nun konzentrieren. Bloß die richtige Abfahrt nicht verpassen! Ein Navi besaß der Weihnachtsmann noch nicht. Das wäre bei ihm auch eine drollige Vorstellung. Stattdessen wurde er vom Knecht Ruprecht gelotst. Der kannte sich aus. Trotzdem hatte er jede Menge Karten dabei. Denn wer weiß, auf welch verschlungenen Pfaden sie noch in der Nacht den Heimweg anzutreten haben.

Als ob auf Kommando und viel eher als geplant begann ein großes Aufbrechen seiner Angestellten. Wie Gold beiläufig mitbekommen hatte, wollten sie Fahrgemeinschaften bilden, um nur für vier Autos Parkplätze finden zu müssen. KEINE Frage, dass Johannes außen vor blieb. Zum einen würde er niemanden bei sich einsteigen lassen. Zum anderen würde er bei keinem mitfahren. Er ekelte sich vor fremden Autos. Die waren ihm meist zu dreckig. In manchen sieht‘s ja wirklich aus wie in einem Müllcontainer. Oder klebende Türgriffe: Allein durch den Gedanken wurde ihm übel. So blieb EIN Platz in den vier Autos eben frei.

Während die fünfzehn anderen mit großem Hallo die Treppe hinunterliefen, verließ Gold zusammen mit Johannes als letzter das Institut. Auch sie beide würden getrennt unterwegs sein. Alle starteten zwar ungefähr zur gleichen Zeit, aber die Ankunftszeiten würden vom Parkplatzglück abhängen. Darum war schon im Vorfeld vereinbart worden, sich auf dem Kollegienhof zu treffen. Sich sonst wo wiederzufinden, geschweige denn auf dem Markt, wurde angesichts der Menschenmassen als zu schwierig erachtet. Es war erst kurz nach sechs, als Johannes endlich eintraf und ein Durchzählen die Zahl siebzehn ergab.

Während sich das Gold-Institut in geschlossener Formation zum Weihnachtsmarkt aufmachte, fuhr ein LKW mit der Aufschrift ALLES FÜR DEN WEIHNACHTSMARKT am Universitäts-Hauptgebäude vorbei. Er bog in den Fürstengraben ein, und jetzt ging es bergan. Knecht Ruprecht wies dem Weihnachtsmann mit einer Handbewegung den weiteren Weg. Der LKW kroch die Weigelstraße entlang, wendete auf dem Kirchplatz und fuhr rückwärts im Schritttempo die Rathausgasse nach hinten. Als er am Begrenzungspfosten ankam, hatten Gold und seine Leuten den Marktplatz soeben betreten.

Knecht Ruprecht öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Jeder, der das beobachtet hätte, würde geglaubt haben, dass nun die Entladung beginnt, um den Weihnachtsmarkt mit Nachschub zu beliefern. Doch der finstere Bursche dachte gar nicht daran, die Heckklappe herunterzulassen. Stattdessen lief er zielstrebig und mit raschen Schritten in eine bestimmte Richtung. Er hatte nur ein kleines schwarzes Etwas in der Hand, das aussah wie ein vorsintflutliches Handy.

Hätte jemand Notiz genommen, hätte er sich gewundert: SO ein großer LKW kommt SO WEIT daher gefahren, um nichts weiter auszuliefern als dieses schwarze Ding? Das kann sich niemals gelohnt haben. Aber es nahm niemand Notiz. Noch nicht einmal von dem exotischen Nummernschild. Es war doch Vorweihnachtszeit und Freitagabend. Alle wollten sich vergnügen. Und solche Nummernschilder waren in Jena so exotisch ja nun auch gar nicht mehr.

Wie zu erwarten, herrschte auf dem Markt ein noch größeres Gedränge. Im Gänsemarsch und im Zickzack bahnten sie sich ihren Pfad. Mit Gold als Anführer. Sein Ziel war ein zuvor ausgekundschafteter Glühweinausschank. Der war wenig frequentiert, sodass sie nur kurz warten mussten, um dranzukommen. Der vietnamesische Glühweinkoch freute sich über die zahlreiche Kundschaft und bat um etwas Geduld. Er müsse den Glühwein erst schnell noch neu zubereiten. Dafür wäre er aber auch ganz frisch und ganz heiß. Dies alles äußerte er in dem typischen und sympathischen Singsang seiner Landsleute. Die Wartezeit wurde direkt vorm Stand zugebracht, damit sich niemand vordrängeln konnte. Es glich einer Burgbelagerung.

Gold ließ seine Blicke schweifen... Der Platz war weihnachtlich beleuchtet. Leise Weihnachtsmusik war zu vernehmen. Überall stiegen Dampfwolken in die Kälte. Das Ganze vermischt mit Qualm von den vielen Rauchern hier. Wohl sehr zum Leidwesen von Johannes. In der Luft lag eine schwere Mischung aus dem Duft von Weihnachtsspezialitäten und Glühwein und aus dem Gestank nach Zigaretten. Golds Smartphone machte sich bemerkbar. Es musste eine Nachricht eingetroffen sein. Er holte das Gerät aus seiner Jackentasche.

Leave the market place at 18:30 at the latest! Your life depends on it.

Er hatte es nur überflogen und war schon dabei gewesen, das Smartphone wieder wegzustecken, da stoppte er und las den englischen Text noch einmal.

… Your life depends on it.

Ein Blick auf die Zeitanzeige. 18:18. Noch zwölf Minuten. Und dann? Das kann doch nur ein saublöder Scherz sein... Demonstrativ hielt er das Smartphone vor sich hin und demonstrativ las er die Nachricht ein drittes Mal. Danach sah er in das Gesicht eines jeden einzelnen seiner Angestellten. Kein einziger benahm sich verdächtig. Im Gegenteil: Sie waren alle derart in ihre Gespräche verstrickt, in die Witze, die sie rissen, und in ihr Gelächter, dass sie noch nicht einmal registrierten, gemustert zu werden.

Zum Schluss schaute er zu Johannes. Der stand etwas abseits und hatte sich an den Gesprächen nicht beteiligt. Nicht in der geringsten Weise. Was natürlich keine Überraschung war. Er fühlte sich offensichtlich unwohl. Ständig sah er sich um und rollte mit den Augen wie eine Kuh im fremden Stall.

Er hätte doch nicht mitgehen sollen. So ein Weihnachtsmarkt ist einfach nichts für ihn.

Gold kam plötzlich ein Gedanke.

Es wird doch wohl nicht etwa…

Ein viertes Mal besah er sich die Nachricht und suchte den Absender, fand aber keinen. Sie war anonymisiert abgeschickt worden. Sollte Johannes den Text vorbereitet haben für den Fall, dass es ihm unerträglich wird auf dem Markt? Und unerträglich ist es ihm schon jetzt! Man konnte es mit Händen greifen. Dann würde er die Nachricht nur noch heimlich abschicken müssen, und Gold, als verantwortungsbewusster Chef, würde seine Leute umgehend evakuieren. Sollte sich Johannes durch diesen Joker aus der Affäre ziehen wollen?

Na, dem werd ich was...!

Er steckte das Smartphone in die Jacke zurück. Der Vietnamese in seinem Stand war mit dem Kochen fertig geworden und begann damit, Tassen mit dampfendem Glühwein auszuteilen. Als Gold sich wieder Johannes zuwandte, war neben dem ein riesenhafter Kerl aufgetaucht. Praktisch aus dem Nichts. Ein regelrechter Gorilla, der eine grässlichste, giftrote Pudelmütze trug. Dass Männer heutzutage SOWAS Hässliches tragen müssen! Der gute Geschmack verkommt immer mehr. Es tat weh, nur hinzugucken, sodass Gold den Blick senkte und bemerkte, dass der Typ einen Glimmstängel zwischen den Fingern hatte. Den führte er zum Munde, und zwar so, als ob er nur darauf gewartet hätte, dass man das bemerkt, nahm einen gewaltigen Zug, neigte sich nach unten und blies den Qualm Johannes mitten ins Gesicht.

Hallo?! Und das muss DEM passieren?

Der reagierte, wie er immer reagiert: Er zog eine Grimasse und hielt die Luft an. In der Hoffnung auf Erlösung.

In Gold stieg ein böser Verdacht auf. Sollte der Typ von den anderen engagiert worden sein, um Johannes zu ärgern? Doch die verfolgten das Schauspiel nicht, sondern waren teils noch mit sich selbst beschäftigt und teils damit, Glühweintassen entgegenzunehmen. Rasch zum Pudelmützenmann zurückgeguckt: Offenbar gab’s nun die zweite oder dritte Ladung Zigarettenqualm für Johannes, bei dem sich die Farbe verändert hatte. Er hielt immer noch die Luft an. Es mit dem Riesen aufzunehmen, war mehr als hoffnungslos. Gold war ungeübt in körperlichen Kämpfen. Die mied er grundsätzlich. Es blieb nur eines:

Er stürzte sich auf Johannes, packte ihn am Ärmel und zerrte ihn fort. Ursprünglich wollte er ihn nur ein paar Meter wegziehen, doch dann entschied er sich um. Er war so schön in Fahrt, drängelte und pflügte sich weiter wie eine eiserne Schar durch die Menschenmassen hindurch mit ihm im Schlepptau, bis sie menschleeres Land erreichten. Denn was nützte es, in der Menge anzuhalten und anderen Rauchern vor den Glimmstängel zu laufen? Vor der Marktpassage war der wilde Ritt zu Ende. Er wollte den Freund gerade packen, ihn schütteln und rütteln und wieder zum Atmen bringen, da riss der zur Abwehr den Arm hoch.

„Hörst Du das?!“

Gold hörte nichts. Das sollte sich blitzartig ändern.

Schrille Schreie schnitten durch die duftschwangere Luft und widerhallten an den Gebäuden ringsherum. WARUM wurde SO geschrien? Man konnte es von der Stelle aus, wo sie jetzt waren, nicht sehen.

Es wurde umso gespenstischer, als alles Schreien und Reden verstummte, während die Weihnachtsmusik einfach weiterlief. Hälse wurden gereckt, doch nichts erkannt. Gold ging mit Johannes denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Nicht rennend, sondern quälend langsam. Alle wollten in dieselbe Richtung. Alle wollten wissen, was passiert ist. Sie befanden sich in einem unentrinnbaren Strom, in dem es immer enger wurde. Es war kein Platz mehr für alle. Gold wurde energisch und fuhr die Ellenbogen aus. Johannes hinter ihm bleibend. Schließlich versiegte der Sog. Denn HIER begann eine unbetretbare Zone. Ein Bereich, wo sich kaum einer weiterwagte.

Gold schlich trotzdem weiter und zog Johannes mit sich mit. Er betrat ein Schlachtfeld! Ein Schlachtfeld wie aus dem Mittelalter, wo Kriege noch mit Pfeil und Bogen ausgefochten worden sind. Das einzige, was nicht passen wollte, war, dass die Pfeile in modernen Kleidern steckten und nicht in den Rüstungen und Harnischen alter Ritter.

Johannes wankte. Im nächsten Moment würde er wegsacken, umkippen und diesen Niedergestreckten Gesellschaft leisten. Gold packte ihn.

Wohin mit ihm?

Er sah sich suchend um.

Die Glühweinbude!

Er führte ihn an reglosen Körpern vorbei oder darüber hinweg. Die Tür an der Giebelseite war halb offen. Er öffnete sie ganz und kam mit Johannes zwei Schritt weit rein. Gleich links in der Ecke stand ein stabiler Hocker. Der Vietnamese hatte sie gar nicht kommen hören. Der schaute erstarrt nach draußen durch sein großes, breites Fenster, als würde er auf Kundschaft warten. Dazu passte nicht, dass er eine Tasse hinhielt. Wie wenn er diese überreichen wolle. Es war aber niemand mehr da, der sie entgegennehmen könnte. Eine eingefrorene Szene wie bei Dornröschen.

Gold sprach ihn an, fragte, ob er seinen Freund HIER auf den Hocker DA setzen dürfe. Der Vietnamese drehte langsam den Kopf... und guckte her... dann schräg nach oben... Und riss die Hände hoch!!! Mit größtem Entsetzen im Gesicht!!! Und schrie wie am Spieß!!! Die Tasse flog krachend samt Inhalt irgendwo dagegen. Zwei Sekunden später rannte er schreiend und mit in der Luft wirbelnden Händen aus seiner Bude hinaus und ward nicht mehr gesehen. Auch vergaß er abzuschließen. Gold interpretierte letzteres als ein grundsätzliches okay und verhalf Johannes zum Sitzen. Angelehnt an die Budenwand.

Ein Glitzern fiel ihm ins Auge. Und ein Blick nach oben verriet ihm, was den Budenbesitzer zum Schreien gebracht hatte. Beinahe überall an der Budendecke waren Pfeilspitzen zu erkennen, deren blanker Stahl das Licht der Innenbeleuchtung reflektierte. Die Pfeile waren mit Wucht herniedergegangen, sodass sie das hölzerne Dach durchschlagen hatten, doch steckengeblieben waren. Kein Wunder, dass der Mann so gekreischt hatte. Er muss glauben, dass man es auf IHN abgesehen hat. Auf ihn persönlich.

Das Schwerste kommt jetzt, dachte Gold und ging wieder hinaus. Mit weichen Knien. Er muss nach seinen Leuten sehen, Inventur machen. Keiner stand mehr. ALLE lagen. Teils in absurden Verrenkungen. Allen steckten Pfeile in den bemützten Köpfen. Nicht nur einer. Gleich mehrere. Sie wirkten wie Könige mit überlangen Kronen. So etwas überlebt man nicht. Nie und nimmer... Die Pfeilspitzen im Budendach. So sieht es in deren Köpfen aus. Nur, dass die Spitzen nicht im Licht glitzern, sondern tief im Matsch stecken...

Ihm wurde speiübel. Die MÜSSEN alle tot sein. Es regte sich auch keiner mehr. Er wollte die Körper durchzählen, um sicher zu gehen. Fast alle lagen auf dem Bauch oder auf der Seite, drei auf dem Rücken. Nur nicht in die Gesichter blicken. Das würde er nie mehr loswerden... Die Inventur ergab siebzehn... Zwei mehr als seine Leute... MIT EINEM Schlag alle Mitarbeiter weg!

Hinter ihm begann ein Stöhnen von am Boden liegenden Menschen. DIE bewegten sich, wanden und krümmten sich vor Schmerzen. Die Wenigen, die sich in die unbetretbare Zone vorgewagt hatten, beugten sich herunter oder knieten sich neben den Verletzten hin.

Man hilft ihnen. Wie beruhigend...

Dann muss ER ja nicht. Nur weg... Nur weg von hier!!

Er saß im Auto, schaute heraus und erkannte sein Haus. Wann war er angekommen? Er wusste es nicht. Er hatte null Erinnerung. Die letzten Minuten waren ausgelöscht. So war es ihm schon einmal ergangen. Aber aus einem anderen Grund. Aus einem banalen Grund.

Nach einem langen Geschäftstermin in Bad Homburg war er spätabends nach Jena zurückgefahren und hatte sich ein Hörbuch eingelegt. WANN kommt denn das Kirchheimer Dreieck endlich, hatte er sich unterwegs irgendwann gefragt. Wegen der vielen Spurwechsel dort und des meist dichten Verkehrs musste man immer etwas konzentrierter sein. Bis es ihm gedämmert war: Das Kirchheimer Dreieck hatte er längst hinter sich gelassen. Er war derartig in das Hörbuch versunken gewesen, dass sein innerer Autopilot übernommen hatte. Er hatte das höchst erschreckend gefunden. So erschreckend wie heute. Er bemerkte seine Frau. Zwei Meter entfernt wartete sie auf ihn.

Wie lange schon?

Er stieg aus. Monika umarmte ihn lange und stumm, bevor sie sagte, sie sei im Internet gewesen und hätte von dem Anschlag genau in dem Moment gelesen, als sie sein Auto hörte. Sie wäre ihm unendlich dankbar dafür, dass er sofort nach Hause gefahren ist und ihr ein banges Warten in quälender Ungewissheit erspart hat. Er antwortete, dass bis auf Johannes alle seine Angestellten umgekommen sind. Nun nahm sie seine Hand und führte ihn ins Haus. Hilflos stand er im Flur. Er hat verlernt, sich die Jacke auszuziehen.

Wie ging das noch...?

Monika half ihm.

Auf einmal saß er auf der Couch, und die Hände fingen zu zittern an. Erst leicht, dann immer heftiger. Er versuchte, es zu unterdrücken. Er fasste sich selbst bei den Händen und setzte sich auf sie drauf. Es wurde nur schlimmer. Monika, die neben ihm gesessen hatte, lief fort. Und bald gab‘s ein Klirren, Klappern und Scheppern.

Nach einer Weile war sie wieder da und stellte zwei Gläser und eine Flasche auf den Tisch. Noch bevor er protestieren konnte, war die Flasche offen. Die Gläser wurden befüllt. Und Monika flößte ihm den Trunk ein wie einem Tattergreis. Danach trank sie den eigenen Schnaps. Die zweite Runde kam an die Reihe, dann die dritte. Die Medizin wirkte. Das Zittern ging weg.

Eigentlich herrschte im Hause Gold striktes Alkoholverbot. In der Anfangszeit des Instituts hatte es so viele Sorgen gegeben. Die Schulden hatten ihn gedrückt, während das Geschäft erst in Gang kommen musste. Außerdem quälte ihn noch etwas, damals wie heute, über das er nicht zu reden wagte. Jedenfalls hatte er Trost gesucht und in der Flasche gefunden. Eines Tages war es zu viel geworden. Monika hatte sich vor ihm aufgebaut und streng gesprochen:

„Woldemar!!“

Wenn sie ihn so ruft, verhieß das meist nichts Gutes.

„Du musst mit dem Trinken aufhören!“

„Aber ich brauche doch Trost.“

„ICH bin Dein Trost. Ich schwöre Dir hiermit, dass ich Dir jederzeit zur Verfügung stehen werde, wann immer Du willst. Ich werde Dich NIEMALS abweisen. Aber DAFÜR musst Du mit dem Trinken aufhören! Also, entscheide Dich jetzt: Täglicher Schnaps oder täglicher Sex?“

Obwohl er an jenem Tag schon tief in die Flasche geguckt hatte, war ihm genug Grips übriggeblieben, dass er begriff:

So ein Angebot krieg ich nie wieder!!

Er hatte eingeschlagen und es nie bereut.

Monika hatte alle Flaschen entsorgt. Nur der alte Nordbrand war verschont worden. Nach harten Verhandlungen. Denn er war ein Erbstück von seinem Großvater. Jahrzehnte alt und somit obendrein ein Kulturgut. Aber der Nordbrand sollte vorsichtshalber vor ihm versteckt werden. Und das unersetzliche Kulturgut ist heute aus dem Versteck befreit und angebrochen worden. WAS für eine Sünde! Er schlurfte in die Küche, weil er wissen wollte, wo sich das Versteck befunden hat. Ein Schrank, an dem er sich noch nie vergriffen hatte, stand offen, und sein Inhalt lag auf dem Boden zerstreut. Er bestaunte diese Utensilien, von denen er weder Bezeichnung noch Verwendungszweck wusste. Hier hätte er nie gesucht...

Was nun anfangen mit dem Abend? Für das Bett zu früh und für was Sinnvolles zu spät. Man entschied sich fürs Fernsehen. Es wäre ja auch interessant, was die Nachrichten so bringen. Parallel wurde die vierte Nordbrand-Runde eröffnet. Am Beginn des Journals teilte man mit, dass es in Jena einen Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt gegeben hätte. Genaueres wisse man noch nicht. Am Ende der Sendung viel Rätselraten über die diskriminierende Frage:

WARUM Jena? Warum SO eine kleine Stadt?

Gold fand das fast schon beleidigend.

Warum nicht Jena? Warum sollten wir es NICHT wert sein?

Zum Schluss noch der Anschlag in Zahlen: Siebzehn Tote und elf Verletzte waren zu beklagen. Wie viele Menschen einen Schock erlitten haben, sei nicht bekannt, hieß es. Das glaub ich gern, dachte Gold, mich hat keiner gefragt. Dafür war er ja auch viel zu schnell fort gewesen.

Während sie Hand in Hand ins Schlafzimmer wankten, überlegte er, wie es mit dem Sex bestellt sein würde. Seine Theorie: KEIN Sex, denn sie hatten ja Schnaps gehabt. Er lag richtig: Ohne anderweitige Anstalten begab sich Monika in die Horizontale, zog den imaginären Stecker aus ihrer imaginären Steckdose, und zack, war der Saft weg. Und sie war es auch. Der Nordbrand forderte seinen Tribut. Selbst Gold spürte, es würde besser klappen als sonst. Gevatter Schlaf breitete die weichen Arme aus, und er fühlte sich dorthinein fallen. Er schwebte kurz in dieser geheimnisvollen Zwischenwelt, wo man schon spinnt, es aber noch merkt. Dann schlief auch er...

Drei Stunden darauf fuhr er auf. Im Traum hatte er Johannes gesehen. Johannes, mit genervten Gesichtszügen in einer Marktbude hockend.

„Den hab ich ja total vergessen!!“

„Was...?“, murmelte Monika schlaftrunken, „was ist...?“

Gold sprang aus dem Bett und zog sich hastig an.

„Wie ich DEN kenne, hockt der da doch immer noch!!“

„Was?... Ach... Mist... Ich komm mit.“

Wären beide bei klarem Verstand gewesen, hätten sie die Absurdität dieser Vorstellung erkannt. Denn wenn die Polizei eintrifft, was sie ohne Zweifel getan haben wird, nimmt sie die Spurensicherung auf und würde dabei auch in die Marktbuden hineingucken. Und wenn sie da einen kleinen, straßenköterblonden Kerl antreffen sollte, würde der gefragt werden, was er da wohl zu suchen hätte. Johannes würde wahrheitsgemäß antworten, dass ihm angesichts der blutigen Umstände schlecht geworden sei. Er habe sich setzen müssen. Dann würde er noch gefragt werden, ob er irgendetwas zur Aufklärung des Verbrechens beizutragen hätte. Er würde verneinen und deswegen nach Hause geschickt werden. Die Wahrscheinlichkeit also, dass er sich so viele Stunden später dort noch aufhalten könnte, war gleich null. Ansatzweise ahnte es Monika. Als sie im Auto saßen, und bevor Gold den Zündschlüssel umdrehen konnte, fasste sie ihn am Ärmel.

„Vielleicht solltest Du ihn einfach mal anrufen.“

Drei Minuten lang ließ er es klingeln. Johannes ging nicht dran. Und auch hier: Wären sie bei klarem Verstand gewesen, hätten sie begriffen, dass es mitten in der Nacht nicht ungewöhnlich ist, wenn ein gewünschter Gesprächspartner nicht ans Telefon geht. Er könnte schlafen. Oder er könnte nicht geweckt werden wollen, das Smartphone auf stumm gestellt haben. Es soll ja auch Leute geben, die mit Ohropax ins Bett gehen. Johannes ist so einer. Der würde sich selbst in der Wüste das Wachs in die Löffel stopfen, um Ruhe vor der Stille zu haben. Das wusste Gold eigentlich. Doch er sah nur wieder den dreisten Pudelmützenmann vor sich, wie der dem Johannes grinsend den Qualm ins Gesicht bläst. Der hatte es auf ihn abgesehen. Und so gab Gold dem Affen Zucker und katapultierte sie mit Affenzahn ins Stadtzentrum. Die Angst um Johannes und der Nordbrand schlossen eine unheilige Allianz. In der Weigelstraße wurde das Auto derart abenteuerlich abgestellt, dass Monika rief:

„Mann!! Willst Du wirklich SO stehenbleiben?!“

Doch der Mann war längst zum Markt gelaufen. Als sie ihn einholte, stand er vor einem Flatterband.

Der Platz war menschenleer und still... Nur in der Ferne hörte man vereinzelt Autos fahren. Diese Stadt schlief nie richtig ganz, auch wenn die aus Frankfurt stammenden Mitarbeiter des Gold-Instituts häufig gewitzelt hatten, ab zwanzig Uhr würden in diesem Jena die Bürgersteige hochgeklappt werden. Was natürlich Quatsch ist.

Es wehte kein Wind. Das Flatterband tat seinem Namen keine Ehre. Am anderen Ende der Absperrung, und gerade noch inbegriffen, geruhte der Hanfried, der ehrwürdige Begründer der Universität, auf seinem Sockel zu stehen, und hielt sein Streitschwert in der Hand. Allerdings kehrte er dem Tatort unbeeindruckt den Rücken zu. Auch die aufgestellte Minimalversion einer Flutlichtanlage veranlasste ihn nicht, sich umzudrehen. Er schien mit dem Desaster nichts zu tun haben zu wollen. Im Zentrum des abgesperrten Bereichs stand der Glühweinausschank. Ein paar benachbarte Buden waren noch inbegriffen. Doch kein einziger Pfeil steckte auf deren Dächern. Dafür war das Dach des Vietnamesen regelrecht übersät und wirkte wie ein fossiler Riesenigel. Gold zeigte dorthin.

„Die Bude mit den vielen Pfeilen. Genau da waren wir. Deshalb sind alle meine Leute tot.“

„Was für ein Glück wir hatten. WAS FÜR ein Glück. Man kann das gar nicht glauben.“

„Unser Glück war, dass wir nicht mehr...“

„Was machen wir jetzt?“

„In die Bude hab ich Johannes gesetzt, als ihm schlecht wurde.“

„Es ist abgesperrt. Betreten verboten.“

„Ja, ich weiß. Aber…“

„Ruf nochmal an!“

Wieder dasselbe Resultat: Johannes ging nicht dran.

„Hörst Du das?“

Er hörte nichts.

„Doch. Da ist was... Ganz zart und schwach... Es klingt nach Bach.“

„Wenn es nach BACH klingt, ist es SEIN Klingelton!“

Monika schaute sich ein paar Mal um, hob das Flatterband hoch und kroch drunter weg.

„Ich denke: Betreten verboten?!“, rief Gold der Frau nach.

Die war schon unterwegs und folgte der Musik. Nun war er es, der hinterhertrotten musste.

Auf dem Pflaster tauchten dunkle Flecke auf. Je näher sie dem Glühweinausschank kamen, desto großflächiger wurden sie. Hätten sie den Nordbrand nicht intus gehabt, wären sie wohl zurückgewichen. So aber liefen sie einfach weiter und mühten sich bloß, da nicht unbedingt hineinzutreten. Zum Glück überdeckte der penetrante Geruch nach Glühwein den des Blutes doch ziemlich stark. Direkt vorm Ausschank aber setzte sich das Blut durch. Das Blut meiner Leute, dachte Gold entsetzt. Ihm wurde ganz flau. Und es gab keinen Zweifel: Bach kam aus der Bude. Und jetzt?

Da stand er also und traute sich nicht weiter. Aus Furcht, gleich etwas Furchtbares entdecken zu müssen. Monika war offenbar härter im Nehmen. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und leuchtete hinein.

„Er ist nicht hier! Und sein Smartphone auch nicht.“

„Aber es MUSS hier sein!“

Erst tapsten sie, dann krochen sie dem Geräusch hinterher. Bis sie es hatten: Das Smartphone lag links unterhalb des Budenfensters im Innern auf dem Boden. Vor der Bretterwand. Und unter einer Plane.

„Verstehst Du das? Wenn er es hier verloren hätte, würde es doch nicht UNTER der Plane liegen.“

Gold stopfte das gefundene Smartphone in die Jackentasche. Und sie verließen die Bude, um zum Auto zurückzukehren. Am Flatterband wurden sie bereits erwartet.

„Ich würde ja gute Nacht sagen, wenn das nicht so nach schlafen Sie gut klingen würde. Darum sage ich:

Guten Morgen!!“

„Einen schönen guten Morgen, Herr Polizeiobermeister.“

Gold war platt.

Woher weiß die, dass das ein Polizeiobermeister ist?

Der strahlte übers feiste Gesicht. Es kommt nicht oft vor, ja beinah NIE, dass er von Bürgern korrekt angeredet wird. Schon sehr viel freundlicher fragte er:

„Wissen Sie nicht, dass man einen polizeilich abgesperrten Bereich nicht betreten darf? Was wollten Sie denn da drüben in der Bude?“

„Mein Mann war mit seinem Freund hier, als der Anschlag passiert ist. Seinem Freund ist schlecht geworden. Die Toten und das viele Blut und so...“

„Kann ich gut verstehen.“

„Deshalb hab ich ihn gepackt, bevor er umfällt, und hab ihn in diese Bude gesetzt. Dann hab ich ihn vergessen. Ich stand ja selber unter Schock und bin heim zu meiner Frau.“

„Und DA haben Sie zwei beide erstmal tüchtig einen gebechert.“

Das Ehepaar Gold guckte sich an: Sie haben eine Fahne, und der Polizeiobermeister hat sie gerochen!

„Na, jedenfalls sind wir nach einer Weile ins Bett. In der Nacht bin ich plötzlich aufgeschreckt, weil mir im Traum mein Freund wieder einfiel.“

„Und deshalb sind wir hergekommen, um nachzusehen, ob er noch in der Bude sitzt“, ergänzte Monika.

„Aber das war doch ganz unnötig“, sprach der Polizeiobermeister in väterlichem Ton. „Sie können davon ausgehen, dass wir alles abgesucht haben. Hätte jemand in einer Bude gesessen, hätten wir ihn gefragt, ob er Hilfe braucht. Wenn, hätten wir uns um ihn gekümmert. Und wenn nicht, hätten wir ihn heimgeschickt. Eins von beiden.“

Das klang sehr einleuchtend... Nach einer kurzen Pause setzte er fort:

„Ich kann Ihre Sorgen nachvollziehen. Dennoch HABEN SIE eine Absperrung übertreten. Da beißt die Maus keinen Faden ab! Ich muss Sie also um Ihre Personalien bitten. Das ist meine Pflicht.“

Er ließ sich die Ausweise aushändigen und notierte sich die entsprechenden Daten. Danach wandte er um, und das sehr langsam, und begann, noch langsamer zu laufen. Dieses Manöver entfaltete eine unwiderstehliche Sogwirkung. Die Übertreter schlichen folgsam mit. Ausgerechnet vor ihrem Auto blieb der Freund und Helfer stehen. Gold dachte an Wilhelm Busch:

Dieses war der erste Streich, und der zweite folgt sogleich.

Der Polizeiobermeister ist nicht auf den Kopf gefallen. Er wird eins und eins zusammengezählt haben: Zwei Besoffene und ein SO unmöglich geparktes Kfz? Das kann KEIN Zufall sein. Oder hatte er sie aussteigen sehen? Gold sah sich schon ins Röhrchen pusten. Doch der Polizist wippte nur auf und ab, mit den Fäusten in den Hüften, und blinzelte in die Nacht hinein, als wenn er sich fragen würde:

Warum bin ich um DIE Zeit eigentlich nicht im Bett?

Monika ergriff die Initiative.

„Also wie manche Leute parken!“

Kopfschüttelnd zeigte sie auf den Protz-SUV. Der Polizist tat so, als ob er den erst dadurch wahrgenommen hätte.

„Oh ja!! In der Tat, Frau Gold. Das wird immer schlimmer. Die Leute können einfach nicht mehr Auto fahren. So!! Und NUN wünsche ich Ihnen wirklich eine gute Nacht.“

„Das wünschen wir Ihnen auch, Herr Polizeiobermeister, und dass Sie bald abgelöst werden.“

Wieder wurde gestrahlt und zusätzlich gnädigst genickt. Monika fasste ihren Mann bei der Hand und zog ihn schnell fort, bevor ihm noch irgendwas Dummes einfällt. Über den Eichplatz eilten sie diagonal nach oben gen Leutragraben.

„Also wie manche Leute parken“, äffte er es nach. „Jetzt müssen wir den ganzen Weg zurücklatschen.“

„Ich finde das gar nicht so schlecht. Hand in Hand durch die Nacht. Wann haben wir das das letzte Mal gemacht? Laufen wir an der Leutra entlang?“

„Wenn Du das möchtest...“

„Wir könnten bei der Gelegenheit nachgucken, ob bei Johannes Licht brennt.“

Schweigend streiften Sie den Jentower, überquerten den Leutragraben und den Abbeplatz, wo die großen Schrotthaufen, die angeblich Kunst sein sollten, immer noch vor sich hin rosteten.

„Der Polizist wusste genau, dass das unser Auto ist. Und er wollte uns zeigen, dass er es weiß. Trotzdem hat er mit Dir Theater gespielt und uns davonkommen lassen.“

„War das nicht nett von ihm?“

„Du hast ihn rumgekriegt, weil Du ihn mit Polizeiobermeister angesprochen hattest. Warum kennst Du Dich mit Dienstgraden aus?“

„Weil ich sie gelernt habe.“

„Und warum?“

„Damit ich weiß, wie ich Polizisten anzusprechen habe. Oder wie hättest DU ihn angesprochen?“

Gold überlegte. Herr Polizist hätte blöd geklungen.

„Gar nicht, wahrscheinlich.“

Gerade durchliefen sie den Durchgang, der zur Zeiss-Straße führte.

„Hier stand früher das Wohnhaus von Carl Zeiss, bis es für größere Fabrikgebäude weichen musste.“

Er wollte beweisen, dass er auch etwas weiß.

Sie erreichten die Gegend, wo die Leutra baumumsäumt offen fließt und wo es inmitten von Jena ländlich ist. Kurz vor der Katharinenstraße überwandten sie das Flüsschen über einem stählernen Steg. Und von hier war es nicht mehr weit bis zur Lutherstraße und bis zum historischen Haus, in dem Johannes wohnte.

„Alles dunkel“, stellte Gold fest, als sie davor anhielten. „Zumindest vorn. Mal sehen, wie es hinten aussieht.“

Hierfür schlüpften sie in einen kleinen Teil des Innenhofs des Gevierts. Vorne hui und hinten pfui. Diesem Motto gemäß war auf der straßenseitigen Fassade noch der individuelle Originalputz mit den Jugendstilelementen erhalten, während man hofseitig die ursprünglich rohen Backsteinwände sämtlicher Häuser der Reihe mehr oder minder einheitlich neu verputzt hatte. Womit es nicht leichter geworden war, die richtigen Fenster ausfindig zu machen.

„Da! Siehst Du das? Das Fenster, wo Licht brennt? Wenn mich nicht alles täuscht, ist das sein Schlafzimmer...“

Es war das einzige erleuchtete Fenster weit und breit.

„... Komisch eigentlich. Was treibt der noch? Komm, wir gehen nochmal rum.“

Nun waren sie wieder vorn. Vor der Haustür sogar.

„Wollen wir klingeln und das Smartphone abgeben?“

Monikas Fingerspitze lag schon auf dem Knopf.

„Nee, das mach ich morgen.“

Im Erdgeschoss ging Licht an.

„Der Hausdrache! Nichts wie weg!“

Nachdem sie zur Leutra zurückgekehrt waren und ihren Heimweg fortgesetzt hatten, ärgerte sich Gold.

„WIR sind vielleicht Deppen! Warum haben wir nicht als erstes in der Lutherstraße nachgesehen? Warum haben wir uns überhaupt die Nacht um die Ohren geschlagen? Der Polizist hat doch recht, dass das unnötig war.“

„Wären wir keine Deppen gewesen, hätten wir jetzt das Smartphone nicht.“

„Stimmt auch wieder, Schnuckelputz.“

Das brachte ihn auf einen Gedanken. Zu Hause schickte er sie schon mal vor.

„Ich komme gleich.“

Er setzte sich hin, angezogen wie er war, und nahm Johannes‘ Smartphone zur Hand. Er musste noch was nachgucken. Dass er seine zwei Anrufe in Abwesenheit fand, war keine Überraschung. So eine Warnung, wie er sie gekriegt hat, gab es hier nicht. Nach den Eingängen prüfte er die Ausgänge. Johannes ist NICHT der Absender. Andererseits könnte der die Warnung DOCH geschickt, aber später aus den Ausgängen gelöscht haben. Aber warum sollte er? Warum sollte er überhaupt erst auf den Markt gegangen sein, wenn er gewusst haben sollte, dass der Anschlag bevorsteht? Das wäre höchst riskant gewesen. Das hätte leicht schiefgehen können.

Nein, das ergab keinen Sinn. Die vorläufige Arbeitshypothese lautete: Irgendein Unbekannter wusste, dass der Anschlag stattfinden würde und wann. Aber warum sollte sich NUR er, Gold, in Sicherheit bringen? Dass auch Johannes überlebt hat, war Glück. Purer Zufall und ein Wahnsinnsglück! Ausgerechnet diesem paffenden Provokateur mit der hässlichen, roten Pudelmütze ist es zu verdanken.

Gold steckte das Smartphone zurück, zog sich die Jacke aus und folgte Monika nach. Sie schlief noch nicht, sondern hatte auf ihn gewartet. Sie wollte mit ihm nachholen, was zuvor ausgelassen worden war.

Der Brummschädel hielt sich in Grenzen, als er aufwachte. Wie gut, dass heute Samstag ist. Sie könnten beide in den Tag hineinbummeln. Monika war bestimmt schon unten, um das Frühstück vorzubereiten. Er blieb noch liegen und versuchte behutsam, sich die gestrigen Erlebnisse zu vergegenwärtigen.

WIE KNAPP das war!! Er hatte die Warnung nicht ernst genommen. Jedenfalls nicht so richtig. Er hatte sogar geglaubt, dass sie von Johannes stammt, um sich die Zeit auf dem Weihnachtsmarkt zu verkürzen. Der hatte sich ja auch sichtlich unwohl gefühlt. WIE KNAPP das war!! Ohne den Pudelmützenmann wäre er nicht mehr am Leben. Der Ritt übern Bodensee...

Hoffentlich bleibt mir das Schicksal des Reiters erspart. Lieber an was andres denken. Oder am besten: An gar nichts.

Er entfloh dem Bett, umarmte seine Frau und gab ihr den üblichen Guten-Morgen-Kuss.

„Seit wann bist Du auf?“

„Noch nicht lange.“

Auf dem Teller vor ihm lag schon was Essbares. In der Tasse dampfte der Kaffee. In Reichweite thronte die dicke Wochenendzeitung. Er würde sie aber nicht anfassen. Ihm war nicht danach. Er muss doch nachdenken. An gar nichts zu denken, wäre nicht zu schaffen. Und er wusste: Wenn er die Zeitung nicht anrührt, würde Monika ihn beim Nachdenken nicht stören...

Warum hatte er sich so verhalten, wie er sich verhalten hat? Der einzige, dem er geholfen hatte, war Johannes gewesen. Und der war noch nicht mal verletzt. Dem war nur schlecht geworden.

Er würde sich eigentlich als hilfsbereiten Menschen beschreiben. Doch wenn irgendjemand in echter Not ist und dem geholfen werden müsste, ist er nicht in der Lage dazu. Einmal hatte er beruflich in Bad Vilbel zu tun gehabt und war nach dem Termin noch in der Stadt bummeln gewesen. Da passierte es: Quasi direkt vor seinen Augen war ein Mofa-Fahrer urplötzlich mit dem Gefährt umgekippt und Funken sprühend über den Asphalt geschlittert. Sofort waren drei, vier Passanten hinzugestürzt. Einer hatte im Rennen das Handy gezückt und den Notruf gewählt. Und ER? Er hatte dagestanden wie angewurzelt, wie von einer Spontanlähmung befallen, und hatte sich unfähig gefühlt, auch nur den kleinen Finger zu krümmen. Er hatte sich tagelang geschämt. Doch er hatte nicht helfen können. Es war einfach nicht gegangen.

Als er Kind gewesen war, kam es vor, dass im Fernsehen Szenen liefen, die zeigten, wie der Gepard das Antilopenkitz jagt. Dieses schlägt Haken um Haken. Hängt den Jäger immer wieder ab. Aber der Abstand wird kleiner und kleiner. Und am Ende hat er es doch... Und hätte der Gepard keinen Erfolg gehabt, müssten seine eigenen Jungen sterben, indem sie verhungern. Warum muss die Welt SO eingerichtet sein?! WAS hat sich Gott dabei gedacht?! Was ist denn Gott nur für ein Mensch?! Heute guckt er sich so etwas grundsätzlich nicht mehr an. Er erträgt es nicht. Er wird die Bilder nicht mehr los. Er ist dünnhäutig geworden. Sensibel... Oder ist er einfach nur feige?

Nachdem er begriffen hatte, dass bis auf Johannes alle Angestellten niedergestreckt worden sind, war DAMIT die Sache für ihn erledigt gewesen. Er hatte NICHTS mehr mit ihnen zu tun haben wollen. Nur nicht hinsehen! Nur nicht zu genau hinsehen! Er würde die Bilder nicht mehr los. Nur weg...! Er beruhigte sein Gewissen, weil den Verletzten von anderen geholfen wurde. Man hatte ihn nicht gebraucht. Er wäre bloß im Weg gewesen. Außerdem war der Rettungsdienst ja sicherlich auch schon unterwegs. Also weg! WEG!! NUR weg!!! Ist er FEIGE?

Mutig oder feige?

Das erste Mal ist ihm diese Frage von seinem Großvater gestellt worden. Der wohnte in einer kleinen Stadt und in einem alten Haus. Als Gold acht Jahre alt war, durfte er in den Sommerferien einige Tage bei ihm verbringen. An einem dieser Tage fragte der Großvater ganz unvermittelt:

„Woldi, bist Du mutig oder feige?“

Was für eine Frage?

„Mutig natürlich!“

„Wenn das so ist, gehst Du mit mir in den Keller.“

Woldi bereute seine Antwort. Aber es war zu spät. Er hatte sich festgelegt. Während sie vom Obergeschoss die steile Treppe nach unten stiegen, erzählte der Großvater:

„Das Haus ist sehr alt. Doch der Keller ist noch sehr viel älter.“

Dass das Haus alt ist, wunderte den Woldi überhaupt nicht. Hier gab‘s noch Trockenklo. Das war für ihn wirklich alt. Etwas anderes wunderte ihn.

„Warum baut man denn einen Keller und erst sehr viel später das Haus drauf?“

Großvater lachte.

„Nein, nein... So hat man das nicht gemacht. Ein Haus wurde gleich mitgebaut. Doch es ist abgebrannt. Bestimmt beim großen Stadtbrand. Und danach hat man dieses Haus hier auf dem alten Keller wiederaufgebaut.“

Unter der steilen Stiege gab‘s eine große, hölzerne Klappe: Das Tor zur Unterwelt. Der Großvater hob die Klappe hoch, und tiefste Finsternis starrte sie an. Dem Woldi blieb keine Zeit zu erschauern. Er bekam eine Taschenlampe in die Hand gedrückt, und der Großvater ging mit der seinen voraus.

„So, jetzt Du.“

Im Keller war es kalt, und es roch muffig und feucht. Woldi leuchtete umher. Es war ein Gewölbekeller. Gebaut aus gelbbraunen Feldbruchsteinen. Überall hingen schmutzige Spinnweben rum. Und es war hier unten, abgesehen von einem Kohlenhaufen, vollkommen leer.

„Der Fußboden besteht aus gestampftem Lehm. So hat man das früher gemacht. Weißt Du, ich habe mich immer gefragt, warum der Keller so viel schmaler ist als das Haus. Wenn ich Rentner bin, habe ich mir immer gesagt, geh ich dem Rätsel mal auf den Grund.“

Der Großvater lief gebückt zu einer Wand, kniete sich hin und zog am Boden beginnend einen Stein nach dem nächsten heraus, bis sich ein größeres Loch auftat.

„Hinter dieser Mauer befindet sich noch ein Keller! DAS ist die Erklärung. Und da drüben habe ich etwas Interessantes entdeckt. Ich frage Dich nun ein zweites Mal: Bist Du mutig oder feige?“

Woldi antwortete wieder wie oben, aber es klang nicht mehr ganz so überzeugt. Der Großvater schob seine Lampe durchs Loch und kroch dieser hinterher.

„So, jetzt Du...“

Bevor sich Woldi auf der anderen Seite aufrichten konnte, wurde ihm die Lampe abgenommen. Es leuchtete nur noch die des Großvaters.

„Siehst Du das?“

„Ja, ein alter Krug. Was ist da drin?“

„Staub. Aber früher war da mal Wasser drin.“

Das Licht erlosch. Und als es wieder anging, fiel es viel weiter links auf einen Gegenstand, der unten in der gegenüberliegenden Wand steckte.

„Weißt Du, was das ist?“

„Ein verrosteter Ring.“

„Und das da?“

„Zerdrückte Ringe.“

„Das sind Kettenglieder... Und JETZT frag ich Dich zum dritten und zum LETZTEN Mal: Bist Du mutig oder feige?“

Die Antwort war nur noch ein Flüstern.

„Mutig...“

Und weiter wanderte langsam das Licht..., der schnurgeraden Kettengliedlinie folgend... Stück für Stück, Glied für Glied... ...

Woldi schrie auf.

„EIN SKELETT!!“

„Ganz ruhig, mein Junge... Der tut Dir nichts mehr. Der Mann ist vor sehr, sehr langer Zeit gestorben.“

„Woran?“

„Er ist verdurstet.“

„Woher weißt Du das? ... ... Aber er hatte doch Wasser. Großvater! Der Krug!“

„Woldi!! Guck genau hin!! Seine rechte Hand war an die Wand gefesselt! Und mit dem linken Arm hat er nach dem Krug gelangt! Siehst Du es?! Doch er konnte den Krug nicht erreichen... Der steht zu weit weg…“

Der Großvater nahm sich die Kappe ab, hielt sie vor sich wie zu einem Begräbnis und kratzte sich am kahlen Kopf.

„Der arme Mann. DER ARME Mann... Man ließ ihn verdursten im Angesicht des Wassers... Die Menschen können sehr grausam sein, Woldilein. Vergiss das NIE!!“

„Was ist?“

Er wurde aus den Erinnerungen geholt und blickte auf.

„In Dir läuft ein Film ab. Ich kann das sehen... Woran denkst Du?“

„An meinen Großvater. Er war ein lieber Opa, aber er hat mir das Fürchten gelehrt.“

Er erzählte Monika die Geschichte mit dem Skelett.

„Macht man sowas mit einem kleinen Kind?“

„Kleinen Kindern liest man grausame Märchen vor. Wo ist der Unterschied? Ich glaube, dass mir mein Großvater eine Botschaft mit auf den Weg geben wollte.“

„Und welche?“

„Traue jederzeit jedermann alles zu.“

„Und? Hast Du diese Botschaft immer beherzigt?“

„Was würdest DU sagen?“

„Nein, hast Du nicht...“

Er aß alles auf, was ihm als Frühstück zugedacht worden war, und trank auch seinen Kaffee aus.

„Heute bin ich schlauer. Heute fahre ich zuerst zu Johannes‘ Wohnung. Wenn ich ihn dort nicht antreffe, kann er eigentlich nur noch im Institut sein. Bei seinen Bakterien.“

„Und mit welchem Wagen willst Du fahren?“

„Oh, stimmt. Meiner steht ja in der Weigelstraße.“

„Und deshalb bringe ich Dich dorthin.“

Monikas Auto war ein uralter Polo. Doch sie liebte ihn heiß und innig und wollte ihn nicht hergeben. Gold stieg in den nur ungern ein. Das verhieß Rückenschmerzen danach. Er kam da so schlecht rein und noch schlechter wieder raus. Beim Fahren musste er eine gebeugte Haltung einnehmen. Je länger die Strecke, desto unbequemer.

In der Weigelstraße schälte er sich heraus wie aus einem viel zu engen Kleidungsstück. Und während er dem Polo nachsah, wie der von dannen fuhr, mühte sich Gold, seinen Rücken geradezubiegen, ohne dass dabei irgendwas einschnappte. Unterm Wischerblatt des SUV klemmte ein rötlicher Zettel.

Hätt mich auch gewundert, wenn nicht...

In Jena ist man mit so etwas schnell bei der Hand. Dieser Zettel war ihm jedoch tausend Mal lieber als eine Anzeige wegen Trunkenheit am Steuer. Er dachte an den dicken Polizisten von letzter Nacht. Wenigstens DER ist in Ordnung gewesen. Er hatte sie laufenlassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Gold stopfte das Knöllchen in die Hosentasche und fuhr in die Lutherstraße.

Am Haus mit den Jugendstilelementen drückte er den Klingelknopf neben Drillhase. Weder der Türöffner summte, noch sprach es aus der Gegensprechanlage. Johannes war nicht daheim. Eine Gardine wackelte... Der Hausdrache auf Wacht... Gold drehte sich um und lief zum Auto zurück. Weiter ging’s zum Institut.

*

Zwei Dinge sagten ihm, dass er Johannes auch im Institut nicht antreffen würde: Zum einen war die Tür doppelt abgeschlossen, und zum anderen sprang ihm ein chemischer Geruch entgegen. Wenn Johannes da wäre, hätte der längst durchgelüftet und diese Ausdünstungen aus Klebern und Spachtelmassen nach draußen befördert. Aus Sicherheitsgründen sind über Nacht alle Fenster zu. Das ist der Grund, warum sich die Ausdünstungen immer so ansammeln können. Ausgerechnet in einem Institut, das sich ja auch mit Schadstoffanalysen befasst, stinkt‘s beim Aufschließen wie die Pest. Das ärgerte Gold jedes Mal. Der Gestank will nicht weggehen, obwohl die Bauarbeiten schon Jahre zurücklagen. Daher ist die erste Amtshandlung eines jeden, der zuerst eintrifft, ordentlich durchzulüften. Nachdem das erledigt war, fragte er sich, was er nun beginnen soll.