Der Rausch der Jahre - Walburga Hülk - E-Book

Der Rausch der Jahre E-Book

Walburga Hülk

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Beschreibung

Paris, 2. Dezember 1851: Louis Napoleon, Neffe des großen Napoleon Bonaparte, putscht sich an die Macht. Mit ihm wird Frankreich zum Zentrum der Welt. Es ist die Zeit der Gegensätze: Dekadenz und Reichtum auf der einen Seite, Unterdrückung und unmenschliche Arbeitsverhältnisse auf der anderen. Inmitten dieser turbulenten Zeiten kämpfen die Brüder Goncourt mit der Zensur, Victor Hugo muss das Land verlassen, Flaubert treibt sich im Bordell herum und Baudelaire raucht Haschisch. George Sand macht sich Sorgen um das Klima. Neben wegweisender Kunst und Literatur der Moderne entstehen im Zweiten Kaiserreich auch ein gigantisches Eisenbahnnetz, Frachthäfen, Fabriken und Bergwerke, Boulevardpresse und Spekulationsblasen. Haussmann walzt das verwinkelte Paris nieder und durchzieht die Stadt mit großen Boulevards. Der Krimkrieg ist der erste nach modernen Maßstäben geführte Krieg, der Suezkanal verändert den Welthandel nachhaltig. Kurz: Alles ändert sich rasend schnell. Bis Napoleon III. sich 1870 von der »Emser Depesche« provozieren lässt ...

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Seitenzahl: 768

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Walburga Hülk-Althoff

Der Rausch der Jahre

Als Paris die Moderne erfand

Hoffmann und Campe

Für Eike Antonia, Malte Clemens, Henrike, Friederike

Inhalt

Vorwort

1851 Staatsstreich und erster Streich

Der Staatsstreich als Jüngstes Gericht

Der Staatsstreich als Zwangsversteigerung

Der Staatsstreich als Apokalypse

Der Staatsstreich als Verbrechen

1853 Projektemacherei und Fortschritt first

Sex and the City. Bohème zwischen Hedonismus und Start-up

Männer an Steilküsten. Die einen entschleunigen, die anderen drücken aufs Tempo

Das Paris-Projekt: die Neuerfindung der Hauptstadt

No-go-Areas und Grands Boulevards

Auf nach Algerien!

Krim, Krieg und Verdrossenheit

1855 Spektakel und Diplomatie

Gala und Diplomatie

Weltausstellung

Paris hat die Kunst

Baudelaire, der Kunstkritiker

Jacques Offenbach und das Amüsement

1857 Applaus und Aufschrei

Geisterstunden

Feste und Feiern

Fluten und Legenden

Flaubert auf der Bank für die Gauner

Baudelaire, allein im Gerichtssaal

Immer schneller, immer größer, immer mehr

Immer weiter

1858 Terror und Spiel

Attentate

Der Attentäter als Gentleman

Das erste Fotomodell

Holzwege und himmlische Erscheinungen

Japonisme

Paraden und Höllengalopp

1860 Große Erwartungen und Camp

Gemetzel

Garibaldi Superstar

Über das Mittelmeer

Auf nach Syrien

Und dann die ganze Welt

Daheim und unterwegs

1863 Gala und Bohème

Gala

Dîner Magny, Bobos und Bohème

Stress and the city

Skandal im Salon

1867 Vanity Fair: Wir schlafen nicht

Weltausstellung, Rausch und Exotismus

Der Tod Baudelaires

Arbeit

1869 Boulevard und Spleen de Paris

Späte Sonne

Maschine: Gott und Grauen

Massaker und Vandalismus

1870 Kanonen und Barrikaden

Krieg

Im belagerten Paris

In den Ruinen von Paris

Moderne Zeiten

Dank

Literatur

Zeugnisse, Berichte, Erinnerungen, literarische Texte

Berücksichtigte zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften

Sekundärliteratur (in Auswahl)

Personenregister

Endnoten

Biographie

Vorwort

Diesen Jahrestagstrick finde ich nebenbei ziemlich jämmerlich

Jules de Goncourt an Gustave Flaubert, 2. Dezember 1861

Dies ist ein Buch über Paris und zwanzig vibrierende Jahre, in denen die Moderne erfunden wurde und der Paris-Mythos entstand. Die Leser folgen Gustave FlaubertFlaubert, Gustave, Charles BaudelaireBaudelaire, Charles, Victor HugoHugo, Victor, George SandSand, George, den Brüdern GoncourtGoncourt, Edmond und Jules de und Émile ZolaZola, Émile in die Welt Napoleons III.Napoleon III.Bonaparte, Charles Louis NapoleonNapoleon III. Sie begegnen dem Establishment und der Bohème und entdecken unter Pomp und Plüsch eine entfesselte Wirtschaftswelt, einen raffinierten Jahrmarkt der Eitelkeiten und die Verwegenheit und Widersprüchlichkeit der Moderne. Das Buch erzählt von der Atmosphäre und dem Lebensgefühl, dem Sound und Echo der Jahre 1850 bis 1870 in Paris, in denen die französische Hauptstadt zur Welthauptstadt wurde.

Es waren die Jahrzehnte des Zweiten Kaiserreichs. Louis Napoleon BonaparteNapoleon III. hatte 1851 durch einen Staatsstreich die Macht an sich gerissen, wurde ein Jahr später Napoleon III.Napoleon III., Kaiser der Franzosen, und kapitulierte 1870 im Deutsch-Französischen Krieg. Trotz Zensur, Sicherheitsgesetzgebung und monarchischem Retrochic war Paris unter seiner Herrschaft das Epizentrum des Aufbruchs in die Zukunft. Keine Stadt atmete schneller, keine andere Stadt zog mehr junge Leute an, mehr Schriftsteller und Künstler, Touristen und Arbeitsmigranten. In keiner anderen Stadt der Welt waren die Vergnügungen zahlreicher, in keiner wurde mehr Geld ausgegeben. Nirgends wurde man schneller reich oder blieb länger arm. Die Öffentlichkeit, der Lebensstil, die Literatur- und Kunstszene wurden von einer Lust auf Neues erfasst, deren Faszinationskraft augenblicklich und über weltgeschichtliche Brüche und Verschiebungen hinweg bis heute eine einzigartige kulturelle Energie ausstrahlt.

Napoleon III.Napoleon III. war ein rastloser Projektemacher mit Instinkt für Zukunft und Globalisierung. Er versuchte, auf Galas und Weltausstellungen ebenso wie in Krisen- und Katastrophengebieten eine gute Figur zu machen, und für seine spektakuläre Politik nutzte er die avanciertesten Medien seiner Zeit. Sein Eifer brachte Gewinner und Verlierer hervor. Wer schnell reagierte und keine Skrupel hatte, profitierte vom Aufbruch. Andere wurden abgehängt und erlebten den Fortschritt als Verhängnis. Viele sahen in dem neuen BonaparteNapoleon III. einen Dahergelaufenen und Hasardeur, ja einen Verbrecher, der seiner Macht zuliebe Blut vergossen hatte.

Die Projekte Napoleons III.Napoleon III. reichten bis nach Afrika und Übersee, es waren die Jahre des imperialistischen Wettlaufs. Sein unerhörtestes Projekt aber war Paris. In einem einzigartigen urbanistischen Gewaltakt ließ er, gemeinsam mit dem Präfekten Georges-Eugène HaussmannHaussmann, Georges-Eugène, die alte Stadt abreißen und eine ganz neue aus dem Boden stampfen. Diese wurde zum Labor der Moderne – das galt für die Wirtschaft und für das alltägliche Leben in der Metropole ebenso wie für den Literatur- und Kunstmarkt. Schon vor der glorreichen Belle Époque, zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg, wurde Paris zur Ville Lumière, und in der paradoxen Kombination von Nostalgie und Zukunftsmusik, Unterdrückung und Widerstand konnte hier ein öffentlicher Raum des kritischen Denkens und des freizügigen Lebensstils entstehen. Bis heute ist Paris die Zentrale des savoir-vivre und der Unbotmäßigkeit. Seit den 1920er Jahren fanden amerikanische Schriftsteller und Künstler an den Ufern der Seine und im Jardin du Luxembourg eine geistige dépendance, die sie der puritanischen Heimat vorzogen. Die Existenzialisten, die während des Zweiten Weltkriegs und danach so viele traditionelle Lebensformen und Weltanschauungen in Frage stellten, diskutierten und schrieben in den heute berühmten Cafés auf den Boulevards. Für die Filmemacher der Nouvelle Vague in den 1960er Jahren waren die breiten Straßen ein privilegierter Drehort und für die rebellische Generation der Achtundsechziger die öffentliche Bühne für ästhetisches und intellektuelles Vergnügen, Demonstrationen und Liebesgeschichten. Und wenn es wichtig ist, kommen noch heute Millionen von Menschen an der Place de la République zusammen, um ein Zeichen der Freiheit zu setzen.

Damals, zwischen 1850 und 1870, herrschten komplexe und widersprüchliche Stimmungen und Dynamiken. Dichter und Künstler, darunter HugoHugo, Victor, FlaubertFlaubert, Gustave, BaudelaireBaudelaire, Charles, SandSand, George, die Brüder GoncourtGoncourt, Edmond und Jules de und ZolaZola, Émile, mussten sich irgendwie zu der neuen Lage verhalten. Anpassung oder Protest, Karrierebewusstsein oder Marginalität, Trivialität oder Stil und die Grauzonen zwischen allem, das gab es damals genauso wie heute. Der Weg zum Ruhm war gewunden, ein Skandal konnte nützlich sein. Und ebenso ein Label, das auf »-ismus« endete. Vieles, was die Zukunft bringen sollte, lag in der Luft und wurde in den Jahrzehnten zwischen 1850 und 1870 freigesetzt und vorangetrieben. Doch ein Rausch bringt immer das Risiko eines Katers mit sich. 150 Jahre später schauen wir mit Staunen und Skepsis auf das Paris dieser Jahre.

1851Staatsstreich und erster Streich

Ein Putsch im Winter. Tragödie oder Farce? Paris im Ausnahmezustand. Die Bonapartes sind wieder da. Edmond und Jules de Goncourt, Gustave Flaubert, George Sand und Victor Hugo sind wortgewandt: der Staatsstreich als Jüngstes Gericht. Als Zwangsversteigerung. Als Apokalypse. Als Verbrechen. Hugo geht ins Exil. Die Goncourts stehen vor dem Weltenrichter. Flaubert versteigert Dessous und bringt Blumen ins Bordell. Sand glaubt weiter an das Gute im Menschen. Charles Baudelaire driftet ab, und Émile Zola ist noch ein Kind.

 

 

Am Nachmittag des 2. Dezember 1851 verließen Edmond und JulesGoncourt, Edmond und Jules de de GoncourtGoncourt, Edmond und Jules de ihre Wohnung in der Rue Saint-Georges und wanderten durch die Straßen von Paris. Sie sammelten und teilten Bilder und Stimmen, wie an allen Tagen davor und danach, und sie waren sich auch heute einig. Zurzeit hatten sie mehrere Gründe, aufgeregt zu sein. Der wichtigste war, dass just an diesem Tag ihr erstes Buch erscheinen sollte.

Zur gleichen Zeit streunte Charles BaudelaireBaudelaire, Charles durch die große Stadt, allein und hellwach wie immer. Im Rhythmus seiner Eindrücke ließ er sich durch das Viertel zwischen dem Marais und dem Canal Saint-Martin treiben, doch seine übliche Melancholie schlug in diesen Stunden in eine abgrundtiefe Verdrossenheit um. Das war der »Ennui«, er kannte ihn gut.

Auch Gustave FlaubertFlaubert, Gustave befand sich in Paris und nicht in seinem Landhaus in Croisset. Er wohnte im Hôtel Du Helder im 9. Arrondissement in der Nähe der GoncourtsGoncourt, Edmond und Jules de, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, und las den ganzen Tag. Alexander von HumboldtsHumboldt, Alexander vonAnsichten der Natur machten ihm eine Riesenlust auf die Ferne und die großen Savannen Südamerikas. Wenige Tage vor seinem 30. Geburtstag, schon tief in einer Midlife-Crisis steckend, erinnerte er sich auch an die Verlockungen Kairos, denen er ein Jahr zuvor verfallen war, und prophezeite seinem »schrecklichen« Vaterland eine traurige Zukunft.

George SandSand, George hielt sich, was in den Wintermonaten mit einiger Regelmäßigkeit geschah, in ihrem Stadthaus Hôtel de Narbonne im Quartier Latin, Rue de la Harpe, auf. Nach reiflicher Überlegung packte sie ihre Koffer mit den Männerkleidern, die sie trug, wenn sie abends und nachts unterwegs war und nicht behelligt werden wollte. Zwei Tage später nahm sie eine Kutsche und verließ Paris in Richtung Nohant südlich der Loire, wo ihre Familie ein großzügiges Anwesen besaß.

Victor HugoHugo, Victor war niemals untätig, und jetzt erst recht nicht. Im Rathaus des 10. Arrondissements versammelte er eine Gruppe von Aktivisten um sich und verfasste einen Appell zum bewaffneten Aufstand, dann floh er mit einem falschen Pass nach Brüssel.

Émile ZolaZola, Émile war an diesem 2. Dezember erst zehn Jahre alt, lebte bei seiner Mutter in Aix-en-Provence und ging wie gewohnt mit seinem Freund Paul CézanneCézanne, Paul zur Schule. Niemand ahnte, dass er das große Panorama der Ära schreiben würde, die an diesem Tag anbrach.

 

Am 2. Dezember 1851 erwachte Paris anders als sonst. Noch ein Jahr zuvor und sogar im Verlauf des jetzt zu Ende gehenden Jahres hatte nichts auf eine neue Ära hingedeutet. Nicht einmal die wachsamsten Beobachter hatten mit großen oder gar grundstürzenden Veränderungen gerechnet. Es war Dienstag, ein trüber, kalter Frühwintermorgen, das Thermometer stand noch unter Null, zum Mittag würde es aufklaren. Nur auf den ersten Blick herrschte Normalität in der geschäftigen Stadt. Zwischen sieben und acht Uhr eilten Arbeiter und Angestellte zu ihren Werkstätten, Geschäften und Büros, die Bäckereien hatten bereits geöffnet. Aber die großen Straßen und Avenuen des Zentrums waren doch leerer als an anderen Tagen zu dieser Stunde, und es schien, als würde sich gerade eine bleierne Stille über sie legen. Die Cafés hatten geschlossen, die meisten Zeitungen waren nicht erschienen. Die Glocken hatten nicht geläutet, und Absperrbänder flatterten auf den Champs-Élysées, der Place de la Concorde und rund um den Tuilerienpalast. An den Ufern der Seine patrouillierten bewaffnete Soldaten, ebenso vor Bahnhöfen und Postämtern. Sie bewachten auch die Pferdeställe, sodass keine Kutsche ausfahren konnte, und natürlich auch die Kasernen der republikanischen Nationalgardisten, damit niemand von ihnen auf die Idee verfallen konnte, die Bevölkerung durch Trommelwirbel zu alarmieren.

In manchen Vierteln und Faubourgs hingegen summte es vor Bewegung: Menschengruppen, zumeist Männer, standen in Gassen und Hauseingängen beisammen und tauschten flüsternd Neuigkeiten aus. In Windeseile verbreiteten sich Gerüchte und erste Nachrichten. Der eine hatte von Razzien gehört, der andere gesehen, wie ein Nachbar verhaftet wurde. Noch fehlten genaue Informationen, aber eines wussten inzwischen alle: In einer Nacht- und Nebelaktion hatte ein Staatsstreich stattgefunden. Anzeichen hatte es keine gegeben, nicht eine einzige undichte Stelle, und die Stunde des Wolfes hatte den Schlag in absolute Finsternis gehüllt. Noch in der Nacht hatten Polizisten die Druckereien besetzt, den Druck Zehntausender Plakate überwacht und die Druckmaschinen der meisten Zeitungsverlage angehalten. Im Morgengrauen prangten an allen Mauern und Toren, wie von Geisterhand hinterlassen, mehrere Erlasse und die Proklamation »An das Volk«. Der Präsident der Republik, Louis NapoleonNapoleon III. Bonaparte,[1] hatte den Ausnahmezustand verhängt, befahl Ruhe und Ordnung als oberste Bürgerpflichten und bat die Franzosen um Unterstützung für seine große Mission. Viele Bewohner der Stadt blieben zu Hause und warteten ab. Diejenigen aber, die es dort nicht hielt, schauten sich vorsichtiger um als sonst. Nur die Mutigsten riefen zu Versammlungen auf, verteilten subversive Flugblätter aus Druckereien, die den staatlichen Häschern entgangen waren, und bauten Barrikaden. Wieder andere, wie Victor HugoHugo, Victor und die Brüder GoncourtGoncourt, Edmond und Jules de, setzten sich augenblicklich hin und schrieben auf, was sie sahen und dachten. Noch war kein Blut geflossen. Aber die Stimmung in Paris heizte sich rasch auf, wurde explosiv und entlud sich schließlich: Zwei Tage später wurde geknüppelt und geschossen, es gab zahlreiche Tote, unter ihnen auch Frauen und Kinder.

Der 2. Dezember ist nicht irgendein Tag in der unruhigen Geschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert, ebenso wenig wie in der Erinnerung anderer europäischer und außereuropäischer Länder. Der 2. Dezember, und nicht nur derjenige des Jahres 1851, ist ein Tag der Bonapartes, des einen und anderen Napoleon. Am 2. Dezember 1804 hatte sich NapoleonNapoleon I.BonaparteBonaparte, Napoleon Siehe Napoleon I., legitimiert durch eine Volksabstimmung des männlichen Teils der Bevölkerung, selbst zum Kaiser der Franzosen gekrönt, ein Jahr später besiegte er am 2. Dezember 1805 in der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz den habsburgischen Kaiser Franz I.Franz I. von Österreich und den russischen Zaren Alexander I.Alexander I. Zar von Russland Er war der erste Bonaparte, der erste NapoleonNapoleon I. auf dem französischen Thron. Louis NapoleonNapoleon III. Bonaparte war sein Neffe. Für seinen Endspurt zur Macht wählte er dieses legendäre Datum: Am 2. Dezember 1851 erfolgte der Staatsstreich, am 2. Dezember 1852 die Proklamation zum Kaiser. BonaparteNapoleon III. war wieder da.[2]

Frankreich erhob nun erneut Anspruch auf die Führung in Europa und baute den wirtschaftlichen und politischen Einfluss auch jenseits der Meere und Ozeane, von Afrika bis in den Nahen Osten, von China bis nach Mexiko gewaltig aus. Zuerst aber war es Paris, das sich verwandelte. Die Stadt veränderte sich atmosphärisch, wie jede Stadt nach einem Putsch, wenn sich alle entscheiden müssen, für Jubel, Widerstand oder Stillschweigen; wenn jeder erste Blick ein kurzer Check des Gegenübers – dafür oder dagegen? – ist und ein Riss durch Familien und Freundeskreise geht; und wenn dann am Ende doch bei den meisten die große Verdrängung einsetzt oder aus Verdrossenheit und Müdigkeit der Wunsch aufkommt, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Die Verdüsterung der Stimmung war eine langsame, schleichende Bewegung, wie die eines großen Schattens. Die Stadt veränderte sich jedoch auch als öffentlicher Raum, durch Großprojekte, Investitionen und architektonische Umwälzungen. Sie machten Paris zum Hotspot von Globalisierungsprozessen und zur Welthauptstadt des Spektakels. Das alles ging sensationell schnell – Sinne, Herz und Verstand konnten kaum folgen.

 

An jenem 2. Dezember 1851 konnten sich die Alten noch an die Siege und Niederlagen des »großen« NapoleonNapoleon I. erinnern, die Jungen hatten romantische Bilder und Erzählungen im Kopf, von der »Weltseele«, die der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich sah, als der junge Korse zu Pferde in Jena einzog, und vom Schrecken Europas, dem erst im russischen Kriegswinter Einhalt geboten werden konnte.

Doch sein Neffe Louis NapoleonNapoleon III. Bonaparte war kein Mann für heroische Mythen, sondern für Operetten. Er wurde am 20. April 1808 in Paris geboren und lebte seit dem endgültigen Sturz seines berühmten OnkelsNapoleon I.1815 im Exil. In Augsburg besuchte er die Lateinschule St. Anna und verbrachte einige Zeit in Konstanz und im Schloss seiner Mutter Hortense de BeauharnaisBeauharnais, Hortense de in Arenenberg am Schweizer Ufer des Bodensees. Als Absolvent der Artillerieschule in Thun und Mitglied der Schweizer Armee erhielt er die Schweizer Staatsbürgerschaft. Noch bei seinem Tod 1873 im Londoner Bezirk Chislehurst trug er nicht den französischen, sondern den Schweizer Pass bei sich.

Hortense de BeauharnaisBeauharnais, Hortense de hatte 1817 das zauberhafte Anwesen Arenenberg inmitten von Reben und Obstwiesen hoch über dem See gekauft. Sie gestaltete die Gartenanlagen, führte im verschlafenen Kanton Thurgau die Geselligkeit ein und stilisierte Arenenberg zu einem napoleonischen Gedächtnisort. Hier verbrachte sie mit ihren Söhnen den Sommer, im Winter gingen sie nach Italien. Der junge Louis NapoleonNapoleon III. trug in Arenenberg alemannische Tracht und sprach Alemannisch, aber vom Springbrunnen des Gartens aus schaute er entschlossen in Richtung Frankreich. Das tat er auch, wenn er bei seinen Besuchen in Baden-Baden die Rheingrenze sondierte. 1836 äußerte HortenseBeauharnais, Hortense de gegenüber Vertrauten, ihr Sohn sei außerordentlich liebenswürdig, bereite ihr aber Sorgen. Sie lebten im Exil, er aber habe Großes vor, sei überzeugt von seinem guten Stern und vertraue nur sich selbst.[3] Das mütterliche Gefühl betrog sie nicht. Arenenberg wurde zur Zentrale früher Verschwörungspläne. Zweimal versuchte Louis NapoleonNapoleon III., unterstützt durch einen mondänen und halbseidenen Kreis, einen Putsch gegen die Julimonarchie, beide Male vergeblich. 1836 wurde er gefangen genommen und ins Exil in die USA geschickt. Am 21. November reiste er an Bord der Fregatte Andromeda über Rio de Janeiro nach New York, kehrte jedoch ein Jahr später an das Sterbebett seiner MutterBeauharnais, Hortense de zurück. Frankreich verlangte vergeblich seine Ausweisung. Louis NapoleonNapoleon III. setzte nach England über, kehrte aber immer wieder in den Thurgau zurück und ließ als Fortschritts- und Techniknarr, der er war, in das Schlösschen am See eine Klingelanlage einbauen, die man noch immer in allen Etagen und Zimmern hört. Gleichzeitig verfasste er Traktate über napoleonische Ideen.

1840 scheiterte ein zweiter Putschversuch. Diesmal wurde er interniert, doch sechs Jahre später gelang ihm eine spektakuläre Flucht. Wieder ging er nach England. Seinen vielen, wenngleich oft unfreiwilligen Reisen verdankte er ein gewisses kosmopolitisches Flair. Auch sprach er ausgezeichnet Deutsch, Englisch und Italienisch. Im Februar 1848 brach in Paris die Februarrevolution aus und beendete die Julimonarchie der Bourbonen. Die Zweite Republik wurde ausgerufen, der Bürgerkönig Louis-PhilippeLouis-Philippe von Frankreich musste ins Exil nach England. Karikaturisten zeichneten ihn als Birne,[4] und Spötter nannten ihn den bourgeoisen »Henri QuatreHeinrich IV. von Navarra (Henri Quatre) mit Regenschirm« und dickem Bauch. Er war der letzte französische König. Kurz nach seiner Absetzung kam es zu Straßenschlachten, Paris versank in einem Blutrausch. Die Zweite Republik war durch diese Gewalt ihrer Anfänge befleckt, die Politik gespalten.

Für Louis NapoleonNapoleon III. Bonaparte eröffnete die Revolution ungeahnte Möglichkeiten. Er konnte nach Frankreich zurückkehren und wurde erst Abgeordneter, dann Präsident der Zweiten Französischen Republik – ein gewählter Präsident mit autokratischen Vorlieben. Das neue Jahrzehnt begann ohne größere Vorkommnisse, viele Franzosen hofften auf ruhigere Zeiten. Mit einem Staatsstreich rechneten sie nicht. Am 2. Dezember 1851 jedoch putschte der neue BonaparteNapoleon III. und machte sich zum Prinz-Präsidenten, ein Jahr später ließ er sich in einer Volksabstimmung zum Kaiser wählen. Gekrönt wurde er nicht, doch er war, was sein Onkel gewesen war – Kaiser der Franzosen. Er war Napoleon III.Napoleon III.

Zwar mochte er ein schlechter Redner sein, von schmächtiger Statur und instabiler Gesundheit, aber er war umtriebig, und viele bescheinigten ihm Charme und den Appeal der Weltläufigkeit. Sein Knopfloch schmückte ein Veilchenbund, das nostalgisch verklärte Symbol der Bonapartes. Und tatsächlich gab es nicht wenige Franzosen, die froh darüber waren, dieses Symbol wiederzusehen. Napoleon II.Bonaparte, Napoleon FranzNapoleon II.Napoleon II., Sohn des ersten NapoleonNapoleon I. und König von Rom, hatte 1815 lediglich zwei Wochen regiert, rein titularisch, denn er war zu jener Zeit vier Jahre alt. Er ist nicht mehr als eine Fußnote der Geschichtsschreibung, die Welt hat ihn vergessen, nur in der Popmusik lebt der King of Rome nach.[5]

Die Weltgeschichte aber, so schrieb Karl MarxMarx, Karl1852 in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, einen Gedanken HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich pointierend, vergisst vieles nicht und ereignet sich häufig zweimal: zunächst als große Tragödie, sodann als lumpige Farce. Frankreich erlebte 1851 und 1852 ein seltsames Déjà-vu und trat in sein zweites Kaiserreich ein, das »Second Empire«. Dieses hatte nicht mehr die Aura der Jugendlichkeit und den Zauber des radikalen, volksnahen Anfangs, wie das Empire des ersten Bonaparte. Der dritte NapoleonNapoleon III. schien weniger Schwung zu haben als der erste, seine Symbolik war rückwärtsgewandt. Seinem Staatsstreich haftete gar der Ruch der Feigheit an. Aber wer so dachte und spottete, übersah doch, dass Napoleon III.Napoleon III. ein Meister der Inszenierung war, ein virtuoser Mediennutzer und ein umtriebiger Projektemacher, der sich Nostalgie und Retrochic zunutze machte. Zum einen wegen seiner Eitelkeit, zum anderen, um das Volk zu beruhigen und zu unterhalten. Zugleich verschrieb er sich sofort dem unbedingten, hemmungslosen Fortschritt. Die Kulissen zeigten noch das Alte, aber der Bühnenboden hatte sich bereits aufgetan und trieb das neue Paris aus sich heraus. Viele Zeitgenossen verdammten den rasanten Lauf auf die Zukunft, wir Heutigen teilen ihre Skepsis immer mehr.

Der 2. Dezember 1851 war ein denkwürdiger Tag auch für das literarische und künstlerische Leben in Paris. Manche Schriftsteller und Künstler reagierten unmittelbar auf die Geschehnisse, andere verzögert oder erst nach vielen Jahren. Ihre Zeugnisse haben Geschichte geschrieben. Die Brüder GoncourtGoncourt, Edmond und Jules de, BaudelaireBaudelaire, Charles und FlaubertFlaubert, Gustave waren junge Männer, als die neue bonapartistische Ära begann, ZolaZola, Émile war noch ein Kind. Als das Zweite Kaiserreich im Deutsch-Französischen Krieg als Fiasko endete, waren sie tot, desillusioniert oder mit großen, epochalen Projekten über die Zeit des Zweiten Kaiserreichs beschäftigt.

Victor HugoHugo, Victor und George SandSand, George, beide zu Beginn des Jahrhunderts geboren und erfüllt vom republikanischen Geist, waren um die fünfzig Jahre alt, als Louis NapoleonNapoleon III. die Macht ergriff. HugoHugo, Victor war längst ein erfolgreicher Dichter, George SandSand, George eine unermüdliche Autorin, Briefschreiberin und Fürsprecherin junger Künstler und die einzige Frau, die im 19. Jahrhundert vom Schreiben leben konnte. Die beiden sollten das Zweite Kaiserreich und den Kaiser selbst überleben und noch die Anfänge der Dritten Republik kritisch kommentieren. Alle diese Schriftsteller lieferten klarsichtige und starke Bilder der Geschehnisse und der Atmosphäre während der Herrschaft Napoleons III.Napoleon III. Ihr Temperament, ihre Karrieren und Lebensumstände, ihr Stil und Sound waren ganz unterschiedlich, ihre Worte und Werke aber sind allesamt zu Klassikern geworden. Sie führen uns durch den Tag des Staatsstreichs und durch den Rausch der zwanzig Jahre, aus dem wir vielleicht noch immer nicht erwacht sind.

Der Staatsstreich als Jüngstes Gericht

Mit dem Datum des Staatsstreichs setzt ein großes schriftstellerisches Unternehmen ein, das Journal von Edmond und JulesGoncourt, Edmond und Jules de de GoncourtGoncourt, Edmond und Jules de, das erst 1896 mit dem Tod Edmonds endet. Anekdoten und Klatsch, die Dinge des Lebens und die großen und kleinen Begebenheiten und Träume, die hier wie in jedem Tagebuch aufgezeichnet sind, bergen unter der Oberfläche der Beiläufigkeit zugleich einige tiefe Wahrheiten über die französischen Verhältnisse. Am 2. Dezember 1851 erfolgte der erste Eintrag ins Journal. Mémoires de la vie littéraire.

Der Staatsstreich war eine Erschütterung für die beiden BrüderGoncourt, Edmond und Jules de, obwohl sie keineswegs die Leidenschaft Victor HugosHugo, Victor oder George SandsSand, George für die nun abgeschaffte Republik oder jedwede Herrschaft des Volkes teilten. Sie waren vielmehr höchst kühle und ironische Beobachter der rasanten Veränderungen und zähen Gewohnheiten, die sie in Paris mit eigenen Augen und in Echtzeit studieren konnten. Tag für Tag und Nacht um Nacht führten sie fortan Buch und notierten das, was sie sahen und erlebten, und das, was ihnen zugetragen wurde. So positionierten sie sich als Zeitzeugen und als Agentur für Erzählungen und Gerüchte, deren aktuelle und generelle Macht sie richtig einzuschätzen wussten. Manche ihrer Einträge haben die Länge eines Tweets, andere ähneln Essays oder kleinen Reportagen. Am 2. Dezember 1851 war Edmond de GoncourtGoncourt, Edmond und Jules de neunundzwanzig und Jules, der Federführende, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Er, der Jüngere, würde im Juni 1870 sterben und das Ende des Zweiten Kaiserreichs nicht mehr erleben.

© Die Brüder Edmond und Jules Huot de Goncourt, undatierte Fotografie von Felix Nadar. Mit freundlicher Genehmigung von Wikimedia Commons.

Edmond hatte nachweislich schon früher den Plan für ein Tagebuch gefasst und sich dazu besonders im Revolutionsjahr 1848 verstreute Notizen gemacht. Für den ersten Eintrag wählten die BrüderGoncourt, Edmond und Jules de jedoch den Tag des Staatsstreichs:[6] In einer Traumvision vom Jüngsten Gericht werden ihre Seelen von großen Engeln vor den göttlichen Richterstuhl geführt. Gottvater sieht mit seinem mächtigen weißen Bart aus wie auf Kirchenfresken. Er sitzt inmitten seiner himmlischen Heerscharen, die »wie Gendarmen schlafen« und ihre »weißbehandschuhten Hände über den Säbeln« kreuzen. Der Weltenherrscher befragt die Brüder nach ihren Taten und zuletzt nach ihrer Zeugenschaft grausamer Tierkämpfe in der Arena. Als er sie aushorcht nach Stieren und Bären, die Hunde zerfleischen, und nach großen ausgehungerten Doggen, die mit ihren Fangzähnen einen alten hilflosen Esel zerreißen, da bekennen sie, etwas viel Schlimmeres gesehen zu haben: einen Staatsstreich.

Beim Aufwachen glauben sie zu träumen, als sie hören, dass eine Revolution im Gange ist. Also nichts wie raus auf die Straße und fürs Erste vorbei am Bordell gegenüber. Überall hängt die Proklamation aus, und in der Rue Saint-Georges bewachen Soldaten das Verlagsgebäude der Zeitung National. Aber die lächerlich kleinen Barrikaden der Republikaner werden so schnell geräumt, dass die tapferen Soldaten ihre Gewehre schon zu Pyramiden aufgeschichtet haben und diese hier und da mit Karacho aufs Pflaster fallen. Schon mittags räkelt sich die Heldenschar am Seineufer im siegreichen »Sonnenschein von Austerlitz« und gönnt sich nach dieser ganzen Hatz einen Festschmaus. So viel Fleisch, Wein, Wurst und so viele Fässer haben die trinkfesten GoncourtsGoncourt, Edmond und Jules de selten gesehen: Paris als »gepökeltes Schlaraffenland«. Um sie herum sind alle so benebelt und beschwipst, dass die beiden sich fragen, ob die Gesellschaft noch zu retten ist. Wohl nicht. Eines aber empfehlen sie für kommende Staatsstreiche: Plätze, Logen und Parkett. Die große Vorliebe der Pariser, die Schaulust, müsse berücksichtigt werden. Denn diesmal sei es doch so gewesen, bemängeln sie, dass alles schon vorbei war, als der Vorhang gerade aufging. Alles ging viel zu leise vonstatten, ganz ohne Trommelwirbel. Welch eine Verachtung des Publikums! Welch schlecht geschriebenes und mies aufgeführtes Stück für einen »geschulten Kritiker« – auch wenn im Nachhinein doch noch Gewehrschüsse ins Publikum abgefeuert werden, Fußtritte von Polizisten und Ladungen der Kürassiere Menschen in die Brust treffen, die »Vive la République!« rufen.

Was für eine kuriose und zündende Vision der geschichtlichen Wende und der kommenden achtzehneinhalb Jahre: als Traum des Endes aller Zeiten, als schlechtes Theaterstück. Und welch famoser Einfall für den Anfang des großen intimen und moralistischen Projektes des Journal, das hernach wie kein anderes Persönliches, Berufliches und Poltisches miteinander verbinden wird. Für dieses Projekt sammelten die BrüderGoncourt, Edmond und Jules de, »die Farbpalette in der Hand«, Beobachtungen, Eindrücke und Gespräche und mischten sie zu einem schillernden Zeitgemälde. Freunde und Konkurrenten, Schmeichler und Neider, Streber und Tagträumer, öffentliche Personen und Charaktere der Straße, sie alle erscheinen auf der Bühne der GoncourtsGoncourt, Edmond und Jules de. Die große und kleine Politik blitzt auf im Gewande der Kommunikation und des Geselligen, im Tratsch, in Plaudereien und Zoten, und auch in den Notizen zur Materialität des gesellschaftlichen Lebens. Ohne die Stoffprobe eines Kleides, ohne die Speisekarte eines Abendessens gibt es keine lebendige Erinnerung an eine Zeit, vermerkt das Journal am 22. Juni 1859. Und es rauschte viel prachtvoller Stoff, es wurde ausgiebig geschlemmt im Zweiten Kaiserreich. Denn viele wurden reich in dieser Zeit, und andere ließen sich aushalten. Im Mai 1872, während eines Aufenthalts am Schliersee in Bayern, schrieb Edmond ein kurzes Vorwort, das nach dem Tod des BrudersGoncourt, Edmond und Jules de zunächst als Schlusswort des gemeinsamen Projekts gedacht war.[7] Das Journal, so heißt es dort, sei die »allabendliche Beichte«, die »von einem auf den nächsten Tag fortgeführte Autobiographie« der beiden »unzertrennlichen Leben« und »Zwillingsdenkweisen« gewesen. Diesen war für die Verwirklichung des gemeinsamen Arbeitens nur eine begrenzte Zeit, eben diejenige des Zweiten Kaiserreichs, gewährt.

Der Auftakt des Journal verbindet sich nicht nur mit dem Staatsstreich. Denn der 2. Dezember 1851 ist zugleich der Tag, an dem die BrüderGoncourt, Edmond und Jules de mit ihrem ersten vollendeten Projekt, En 18 …, roman fantaisiste et excentrique, an die Öffentlichkeit treten wollten. Doch aufgrund des Staatsstreichs, des Belagerungszustandes und der Flut von Aushängen, Anweisungen und Verordnungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, konnten die schon gedruckten Plakate mit den Namen der aufstrebenden jungen Schriftsteller nicht angeschlagen werden. Nicht ihrer Erzählung wegen, so heißt es selbstironisch im Journal, geriet die Welt also an diesem Tag aus den Fugen, ach, sie wusste ja nicht einmal, dass gerade zwei neue Stars am Pariser Literaturhimmel aufgingen. Wie sehr wünschten die beiden sich, ihre heitere venezianische Geschichte und nicht der unselige Staatsstreich würde die Welt bewegen! Nun aber erschien das Buch, dieses »erste Kind, liebkost und umhegt, nach mehr als einjähriger Arbeit«, ganz ohne Vorankündigung am 5. Dezember im Selbstverlag.

Den Titel En 18 … assoziierten die BrüderGoncourt, Edmond und Jules de sogleich scherzhaft mit dem 18. Brumaire, gerade so, als wollten sie Karl MarxMarx, Karl einen Wink geben. Das konnte dieser freilich nicht ahnen, als er 1852 in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte den 2. Dezember 1851 als Menetekel einer »neuen Weltgeschichtsszene« deutete, die geisterhaft entlehnte »Namen, Schlachtparolen, Kostüme, altehrwürdige Verkleidung und erborgte Sprache« aufführt.[8] Ihrem ersten Roman war zum großen Kummer der hochmotivierten BrüderGoncourt, Edmond und Jules de wenig Erfolg beschieden, und ebenso erging es ihren Projekten in den folgenden Jahren. Die Kritiker äußerten sich, wenn überhaupt, herablassend, und am Ende würde der gealterte Edmond selbst im Vorwort zum Journal den literarischen Erstling verwerfen wie eine unreife Frucht.

Für die frischgebackenen Autoren war die erste Erfahrung mit dem Literaturmarkt bitter, sie verkauften gerade einmal sechzig Exemplare. Doch sie träumten weiter und »bauten Luftschlösser«, und das venezianische Cappriccio war, so gesehen, das stimmige Debüt einer ebenso extravaganten wie symbiotischen Kollaboration, einer machtvollen, nirgends je in dieser Intensität vor- oder nachgelebten Doppelkarriere. Allen Gewohnheiten und Ritualen des literarischen Lebens in Frankreich – Feuilletons, Kritik, öffentliche Auftritte, Freundschaften und Konkurrenzen, Patronage und Klientelismus, Konsekration und Schulenbildung – waren die Zwillingssterne Jules und EdmondGoncourt, Edmond und Jules de fortan gemeinsam unterworfen. Sie schrieben vierhändig aus einer Feder und mit einer Stimme. Sie schrieben nicht »Wir«, sondern »Ich«, und bis 1870 versuchte niemand, ihre Texte dem einen oder anderen zuzuordnen oder ihr Leben zu entzweien. Ein solches Unterfangen wäre im Übrigen ganz und gar vergeblich gewesen, auch wenn es einen, nur einen einzigen, kritischen Moment geben sollte: Im Jahr 1867 würde EdmondGoncourt, Edmond und Jules de, nicht jedoch Jules, vom KaiserNapoleon III., den sie beide verachteten, zum Offizier der Ehrenlegion ernannt werden. Und bald sollte er alle Fäden der literarischen Welt in der Hand halten.

Der Staatsstreich als Zwangsversteigerung

Die Reaktion der Brüder GoncourtGoncourt, Edmond und Jules de auf den 2. Dezember 1851 gehörte zu den ersten in der literarischen Welt. FlaubertFlaubert, Gustave hingegen ließ sich Zeit, viel Zeit, bevor er ein ähnlich bizarres Bild von den Ereignissen lieferte. Zum einen war er ein Zauderer, er prokrastinierte gern. Jahrelang überarbeitete er alle seine Projekte, käute sie wieder und wieder, bevor er sie veröffentlichte. Manches erschien nie, wie der Roman Sous Napoléon III, zu dem sich nur verstreute schrullige Ideen in den Arbeitsheften finden, darunter Notizen über die Erniedrigung des Mannes durch die Frau sowie Skizzen zu einem schicken Begräbnis und einem Ausritt auf einem Esel im mondänen normannischen Seebad Trouville.[9] Hinzu kam, dass es FlaubertsFlaubert, Gustave erklärtes Prinzip war, literarisch Distanz zu wahren und seinen Blick aus großer Höhe auf die Weltläufte fallen zu lassen, so wie Gott es mit dem Universum hielt. Dieser Grundsatz galt auch für die Ereignisse des Jahres 1851, obwohl er bald mit übellaunigen und kauzigen Bemerkungen durchblicken ließ, was er von den jüngsten Geschehnissen und von Frankreich überhaupt hielt.

Achtzehn Jahre später ließ FlaubertFlaubert, Gustave die Geschehnisse im Roman L’Éducation sentimentale in großem Stil Revue passieren. Dieser Roman ging auf ein unvollendetes Projekt gleichen Namens aus den 1840er Jahren zurück. Damals konnte er, natürlich, vom 2. Dezember 1851 noch nichts wissen. Als dann jedoch 1869 die neue Fassung erschien, war dieses Datum zum literaturwürdigen Schicksalstag geworden.

Im Roman versammelt sich am Morgen des 1. Dezember, dem Vortag des Putsches, am Pariser Börsenplatz eine Menschenmenge zu einem Ereignis, dem die mondäne und halbmondäne Welt mit Spannung entgegensieht: Im Auktionshaus wird der Hausstand des Kunsthändlers Arnoux versteigert. Der hatte den Handel »Industrielle Kunst« geführt, war mit Drucken, Kopien, Fälschungen, Souvenirs und Devotionalien reich geworden und hatte sich dann verzockt, ein Hallodri, der in der Pariser High Society und in den Theatern, Salons und Boudoirs ein- und ausging. Unter die Gaffer hat sich auch Frédéric MoreauMoreau, Gustave gemischt. Er ist neunundzwanzig Jahre alt, hat sein Jurastudium aufgegeben und verfolgt stattdessen nun sehr vage Projekte, Malen oder Schreiben, irgendetwas mit Kunst. Und Lieben. Elf Jahre lang, seit der ersten Begegnung mit Marie Arnoux, hat er es nicht geschafft, die Ehefrau Arnoux’ und schwärmerisch verehrte Dame seines Herzens zu verführen und unverhüllt zu sehen, zu schwach seine Triebe, zu keusch ihr Gemüt, dazu noch eine Serie widriger Zufälle. Frédéric schaudert, als das Klavier von Marie Arnoux unter den elfenbeinernen Hammer kommt, dazu die Schlafzimmermöbel, Perlen und Colliers, alle ihre Kleider und ihre ganze Wäsche, Kaschmir aus Indien, so viel Seide, so viel Spitze. Jeder, der Geld ausgeben will oder der Auktion aus Schaulust oder Schadenfreude beiwohnt, kann Marie Arnoux nun nackt sehen, anfassen und weiterreichen. Übelkeit erfasst Frédéric, ein morbider, kalter Schwindel fällt ihn an. Dies ist der letzte Tag seiner Jugend und, wie er einen Tag später wissen wird, der letzte Tag der jungen Republik, die 1848 nach einer blutigen Revolution überstürzt und unvollkommen gebildet worden war.

Zur gleichen Zeit, in diesen traurigen Stunden, in denen die Leser der Éducation sentimentale in Frédérics aufgewühltes Gehirn schauen, täuschen jenseits des Romans die Verschwörer um den Prinz-Präsidenten Louis NapoleonNapoleon III. Bonaparte Normalität vor. Sie zeigen sich in der Öffentlichkeit und scheinen ihren Geschäften nachzugehen. Am Abend findet im Élysée-Palast ein Empfang mit anschließendem Ball statt. Die mondäne Welt schickt sich an, die Nacht durchzutanzen, Paris feiert. Charles, Graf von MornyMorny, Charles de, ein Halbbruder Louis NapoleonsNapoleon III., die graue Eminenz des Regimes und in Émile ZolasZola, Émile Augen ein Bandit und Boulevardkomödiant, besucht ganz entspannt die Aufführung von Le Château de Barbe-Bleue in der Komischen Oper[10] und geht danach zum Kartenspiel in den Jockeyclub. Niemand bemerkt, dass er vorher die »Operation Rubicon« auf den Weg gebracht hat. So lautete der Codename für den Putsch.

FlaubertFlaubert, Gustave wählte in seinem Roman den 1. Dezember 1851, um Frédéric Moreaus Lehrjahre der Gefühle, die »Geschichte eines jungen Mannes« und seiner Generation zu einem ersten frustrierenden Ende zu bringen. Es ist dies auch die Geschichte der »Generation Flaubert«. Er selbst äußerte sich in einem wahrscheinlich auf den 15. Januar 1852 zu datierenden Brief an seinen Onkel François ParainParain, François, Juwelier in Nogent-sur-Seine, direkt zu den Ereignissen. Er habe sie, schrieb er, aus nächster Nähe miterlebt, ohne »mit dem Säbel niedergestochen, ohne erschossen oder kantoniert worden zu sein«. Die Vorsehung kenne ihn als Liebhaber des Pittoresken und schicke ihn offenbar zu den Erstaufführungen, soweit sie sich lohnten. Glücklicherweise sei er diesmal nicht bestohlen worden.

Bereits am 8. Dezember 1851 hatte er in einem Brief an seine Bekannte Henriette CollierCollier, Henriette eine große, an Frankreich nagende Verdrossenheit beklagt. Er sah die Heraufkunft einer traurigen Epoche, der er selbst sich angleiche. Während er sich nun für viele Jahre, schuftend »wie ein Nashorn«, an seine großen Buchprojekte begab, ließ er seinen Protagonisten Frédéric lange und weit reisen, in fernen Ländern Liebe suchen und alles Begehren verlieren. Für all das brauchte er nur zwölf lichte Zeilen seines umfangreichen Romans.[11]

Als Frédéric zurückkehrt in das mondäne Leben, das die Pariser le monde nennen, ist es 1867, das Zweite Kaiserreich dauert noch immer an und feiert heftiger denn je. Einmal, während sich Paris im Glanz der Weltausstellung und der neuen Boulevards sonnt, stattet Madame Arnoux ihm einen überraschenden Besuch ab und hinterlässt ihm eine weiße Haarsträhne. Zu diesem Zeitpunkt mag niemand das baldige Ende des Zweiten Kaiserreichs voraussagen. Frédéric passt sich an, »schlägt«, wie so viele andere, »die Zeit tot«, und im Taumel der Vergnügungen geht ihm das Zeitgefühl überhaupt abhanden. Politik aber ist das Allerletzte, das ihn interessiert. Darin gleicht er nicht nur seinem Autor FlaubertFlaubert, Gustave, sondern auch BaudelaireBaudelaire, Charles, der 1848 noch auf den Barrikaden gestanden hatte und sich nach dem Staatsstreich für »entpolitisiert« erklärte – was übrigens sein einziger direkter Kommentar zu den Ereignissen blieb.[12]FlaubertFlaubert, Gustave jedoch hatte in all diesen Jahren, anders als Frédéric, viel Erfolg. Die Éducation sentimentale erschien 1869, als das Zweite Kaiserreich spürbar für alle seinem Ende entgegen ging.

Der Roman schließt mit einem Gossip: Frédéric MoreauMoreau, Gustave kehrt als alter Knabe nach Nogent-sur-Seine zurück, wo ihm eine Anekdote wieder zu Ohren kommt. 1837, in einer nun weit zurückliegenden Zeit vor dem Beginn der erzählten Geschichte, hatte der damals fünfzehnjährige Frédéric sich ein Herz gefasst und sich zusammen mit seinem Freund Deslauriers ins Bordell aufgemacht. Der ersten Prostituierten seines Lebens überreichte der Jüngling, oh, si mignon, einen Blumenstrauß und ergriff augenblicklich die Flucht, als das ganze Bordell laut auflachte und die prachtvollen Frauen sich schier bogen vor Vergnügen und Wonne. Sex und Klatsch als nachgeholter Vorspann zu dem großen Gesellschaftsroman, als burleske Dorfgeschichte über eine missglückte Initiation, die Frédéric und sein Freund zum Besten erklären, was sie je erlebt hatten. Jetzt, dreißig Jahre später, erzählen sie sich das alles mit viel Sentiment und ironischem Bewusstsein. Frankreichs Schicksalsjahre enden im Bordell-Tratsch, das ist FlaubertsFlaubert, Gustave ätzende Bilanz.

Der Staatsstreich als Apokalypse

Auch George SandSand, George, beste Freundin, Geliebte oder auch la mère Sand, jedenfalls aber die einzige Dame inmitten aller Freundeszirkel und Herrenrunden, war am 2. Dezember 1851 in Paris. Sie bezeichnete diesen seltsam ruhigen Tag später, in ihren Souvenirs, als »Apokalypse«. Als sie von dem Staatsstreich hörte, war sie zunächst erleichtert über das Ende einer Oligarchie, die das fadenscheinige Etikett einer Republik getragen hatte. Sie war leidenschaftliche Republikanerin und hatte nach der Februarrevolution gejubelt, als Louis NapoleonNapoleon III. Bonaparte erst Parlamentarier und dann Präsident wurde. Damals glaubte sie noch an seine freiheitlichen Absichten und ließ sich von der Aura seines Namens blenden. Umso enttäuschter war sie, als die autokratischen Tendenzen immer offener zutage traten. Es fehlten dem neuen BonaparteNapoleon III. eben doch das Genie des ersten NapoleonNapoleon I. und das Herz von Jesus!

George SandSand, George hatte politisch und privat viel erlebt. Dazu zählten eine turbulente Ehe und zahlreiche Liebschaften. Zu ihren Erfahrungen gehörten aber auch die unruhigen politischen Jahrzehnte: die Wirren der napoleonischen Ära, die Restauration, die Revolution von 1830 und die Julimonarchie, die Revolution von 1848, die Zweite Republik und zuletzt der Staatsstreich. Seit Mitte November 1851 hielt sich die Schriftstellerin, die unter ihrem nom de plume, ihrem maskulinen Autornamen bekannt ist, in der Hauptstadt auf, um die Proben und Inszenierungen ihrer Stücke, die auf dem Spielplan der Theaterhäuser standen, mitzuerleben und zu begutachten. Sie hatten das Pech, in diese unglückliche Saison zu fallen, in der kulturelle Ereignisse angesichts der politischen Lage untergingen.

Am 2. Dezember wachte George SandSand, George spät auf. Es war schon 10 Uhr, als die Bediensteten ihr endlich die Neuigkeiten der vergangenen Stunden mitteilen konnten. Zunächst verstand sie gar nichts und wähnte sich noch immer in einem der chaotischen und barocken Träume, in die Schlafende vorrangig in den Morgenstunden verfallen. Was geschehen war, glaubte sie erst, als sie die Proklamation las. Zuversichtlich wie sie in jeder Situation war, versuchte sie, sich selbst und andere von der Harmlosigkeit der Ereignisse zu überzeugen. Sie schrieb ihrem Sohn MauriceSand, Maurice nach Nohant, sie würde wetten, dass man in der Provinz glaube, in Paris fließe Blut und alles stünde in Flammen. Das aber sei ein Irrtum. Ihre Einschätzung stimmte leider nur für den Augenblick. Am 4. Dezember, als viel Blut floss, die Kutschen aber trotz der Schusswechsel fuhren, kehrte sie auf ihr Anwesen in der anmutigen Landschaft des Berry zurück und nahm sich vor, in den kommenden Jahren nur noch zu besonderen Anlässen nach Paris zu reisen. Nohant, abseits der so »plötzlichen und merkwürdigen Ereignisse« denkbar ruhig, war der Rückzugsort, die Heimat ihrer weitläufigen, auf AugustAugust II. gen. der Starke den Starken von Sachsen zurückgehenden Familie. Wer einen solchen Vorfahren hatte, den konnten der Luxus, die Vergnügungen und Exzesse späterer Herrscher nicht mehr beeindrucken. Doch dieser barocke Vorfahr hatte ihr auch eingebrockt, dass sie gern als robuste Deutsche geneckt oder auch beschimpft wurde. Wenigstens aber kann der verschwenderische Sachse nicht direkt als Ideengeber für Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich herangezogen werden, der George SandSand, George in seiner Götzen-Dämmerung eine »Milchkuh mit schönem Stil« nannte.

© George Sand, Fotografie von Felix Nadar, 1864. Mit freundlicher Genehmigung von Wikimedia Commons.

Eine Alma Mater war George SandSand, George tatsächlich über viele Jahrzehnte und Regierungswechsel hinweg, aber ebenso eine grande dame und eine ganze Künstleragentur in persona. Denn in Nohant und in ihrem Pariser Stadtpalais, dem Hôtel de Narbonne, versammelte sie Schriftsteller und Künstler um sich und unterstützte sie großzügig, vor allem, wenn sie Romantiker waren. Dem jungen, noch mittellosen Eugène DelacroixDelacroix, Eugène richtete sie in Nohant ein Atelier ein, den Dichter Alfred de MussetMusset, Alfred de, der viel zu früh verstarb, liebte sie wie einen Sohn und die Opernsängerin Pauline ViardotViardot, Pauline wie eine Tochter. Franz LisztLiszt, Franz stellte ihr Frédéric ChopinChopin, Frédéric vor, und der Virtuose wurde ihr Liebhaber. Einen ganzen Winter verbrachten die beiden auf Mallorca. Das war ein Skandal! Denn schließlich waren sie nicht verheiratet und gingen nicht zur Kirche. Zurück in Paris kaufte sie zwei Pleyel-Flügel und ließ einen in ChopinsChopin, Frédéric Wohnung und einen in ihre eigene stellen. Sie war Kettenraucherin und schlief wie eine Bohemienne auf einem Matratzenlager, manchmal bis nachmittags um vier. An den Wänden hingen Bilder von DelacroixDelacroix, Eugène.[13]ChopinsChopin, Frédéric Wohnung befand sich in der Rue Tronchet, dort, wo FlaubertFlaubert, Gustave in der Éducation sentimentale ein missglücktes Rendezvous zwischen Frédéric MoreauMoreau, Gustave und Marie Arnoux situiert. Es ist nicht belegt, ob dies eine Anspielung auf die glamouröse Liaison sein sollte, jedenfalls aber kannte FlaubertFlaubert, Gustave George SandSand, George gut: Sie erwählte ihn in ihren letzten Lebensjahren zu ihrem »Troubadour« und schrieb ihm viele Briefe.

Als die 1850er Jahre anbrachen, hatten sich die Turbulenzen ihres Liebeslebens gelegt, und SandSand, George besann sich auf ihre Rolle als Mutter. Am 4. Dezember 1851, dem »schwarzen Tag«, nahm sie traurig und voller Sorge um ihre Freunde Abschied von Paris. Unter ihren Fenstern liefen bereits die Vorbereitungen für Straßenkämpfe und sie fürchtete, dass sich auch auf dem Land Katastrophen anbahnten. Das aber hieß für sie, nicht lange zu überlegen und »ihre Kinder zu retten – erste Pflicht einer Frau, erstes Bedürfnis einer Mutter«. Sie fügte hinzu, dass ihre Zeit zu sterben noch nicht gekommen sei und sie doch, wäre sie ein Mann, niemals aus Paris fortgegangen wäre.[14] Denn dann hätte sie die Aufständischen unterstützt und sich Victor HugoHugo, Victor angeschlossen, der sie in den Wirren von 1848 als »Mann« belobigt hatte.

Als Frau hingegen, die im Krönungsjahr NapoleonNapoleon I. Bonapartes geboren wurde und dem ersten Kaiser der Franzosen in ihren jungen Jahren Briefe geschrieben hatte, fühlte sie sich nun, als fast Fünfzigjährige, erneut zur Mahnerin berufen, diesmal zur Mahnerin des NeffenNapoleon III.. Der Despot war ihr zwar nicht verpflichtet, musste aber unter den gegebenen Umständen entschieden daran erinnert werden, dass sie mit ihm bereits während der Julimonarchie korrespondiert und ihn unterstützt hatte, als er 1840 nach seinem zweiten Putschversuch, zu lebenslanger Haft verurteilt, in der Festung Ham, sechzig Kilometer entfernt von Amiens, einsaß. Damals teilten die beiden ein Interesse für frühsozialistische Ideen und die Liebe zum Theater, zu Abenteuern und Büchern. Louis NapoleonNapoleon III. hatte das mehrfach unter Beweis gestellt. 1846 konnte er, obwohl er als berühmter Gefangener unter besonderer Bewachung stand, aus dem Gefängnis fliehen: Er verkleidete sich als Arbeiter und trug ein Brett seines Bücherregals über der Schulter, um sein Gesicht zu verbergen. In den Jahren zuvor hatte er nicht nur Gedichte, sondern auch einen Traktat mit dem Titel Extinction du paupérisme verfasst. George SandSand, George hatte das Büchlein nach seinem Erscheinen 1844 gelobt und sah nun dessen eingängige sozialreformerische Ideen durch den Putsch, durch Drohungen und Verfolgungen rüde verraten.

Sie beschloss, sich direkt an Louis NapoleonNapoleon III. zu wenden. Schon immer war sie engagiert gewesen, das entsprach ihrem Temperament und ihrem Gemeinsinn. Von nun an aber intensivierte sie ihren ehrenamtlichen Einsatz und kämpfte mit der ganzen Kraft ihres Wortes und Herzens um ihre politischen »Träume«. Im Januar begann sie, dem Prinz-PräsidentenNapoleon III. Bittbriefe zu schreiben, den längsten am 20. Januar 1852. Darin zog sie alle Register ihrer Redekunst und Menschenkenntnis. Sie bat ihn, Milde walten zu lassen gegenüber ihrer in alle Himmelsrichtungen verstreuten Familie, zu der sie die Verwandten, die Freunde ihrer Jugend und ihres Alters sowie die »Adoptivkinder« zählte, alle, die sich gegen seine Machtergreifung aufgebäumt hatten und nun von Gefängnis, Exil oder der Deportation in die Lager auf der Teufelsinsel oder in Algerien bedroht waren. Trotz ihrer »angeborenen Schüchternheit, ihrer schlechten Gesundheit und ihrer Angst, dem Herrscher unverschämt zu erscheinen«, müsse sie in vollkommener Uneigennützigkeit an sein großes Herz appellieren: »Amnestie, ganz bald Amnestie, mein PrinzNapoleon III.!«

Briefe waren das bevorzugte Medium dieser Politikerin der Herzen, die stets eine Feder zur Hand hatte und ihrer Familie, ihren zahlreichen Freundinnen und Freunden sowie Personen des öffentlichen Lebens ihre Erlebnisse und Empfindungen mitteilte, wo immer sich ein Schreibtisch, ein Pult oder auch nur eine provisorische Schreibunterlage fand. Louis NapoleonNapoleon III. schätzte zwar, wie er mit dem Ausdruck der Aufrichtigkeit und mit freundlichen Grüßen an einen ihrer Schützlinge schrieb, das Talent der Schriftstellerin, nicht aber ihre politischen Überzeugungen. Von ihren Träumen wollte er überhaupt nichts wissen. Daran änderten auch die beiden Audienzen nichts, um die sie gebeten hatte und die er ihr zu einem Datum ihrer Wahl im Élysée-Palast gewährte.[15]

Später, als das Kaiserreich längst ausgerufen war, der Kaiser geheiratet hatte, in den Tuilerien und in Saint-Cloud Hof hielt und in Compiègne verschwenderische Jagdfeste ausrichtete, suchte George SandSand, George nach neuen Gelegenheiten zur Kontaktpflege. Ihre Hartnäckigkeit war bekannt, auch durch die Reserviertheit des KaisersNapoleon III. ließ sie sich nicht entmutigen. Eingeladen wurde sie jedoch nicht mehr, der Kaiser blieb stur. Dennoch gelang es ihr gleich mehrfach, eine engere Beziehung zum Kaiserhaus herzustellen: Mit Napoleon Joseph Charles Paul BonaparteBonaparte, Joseph Charles Paul Napoleon (Plon-Plon), genannt »Plon-Plon«, dem liberalen und kunstsinnigen Cousin des Kaisers und Bruder der glamourösen Princesse MathildeBonaparte, Mathilde, nahm sie eine jahrzehntelange Korrespondenz auf. Zweimal bekam sie in Nohant Besuch von ihm, er wurde Taufpate ihrer Enkeltochter AuroreSand, Aurore und sollte seine Brieffreundin am 10. Juni 1876 auf ihrem letzten Weg begleiten.

Lebenslang äußerte George SandSand, George furchtlos und höchst einfallsreich ihre Kritik am politischen System, wenn es ihr notwendig schien. Schrieb sie hingegen Freunden vertrauliche Mitteilungen, bediente sie sich, da die Post überwacht wurde, eines Geheimcodes. Sie unterzeichnete dann mit den Initialen »A.D.« als Teil ihres Geburtsnamens Amantine Aurore Lucile Dupin de FrancueilSand, GeorgeDupin de Francueil, Amantine Aurore LucileSand, George, die nur zufällig mit dem Jahr des Herrn, anno domini, übereinstimmten. Sie verlegte das Datum der Niederschrift von Briefen in die Zeit vor dem Staatsstreich; sie adressierte den einen oder anderen Freund als Freundin und maskierte Namen und Geschlecht der Mächtigen, über die sie sprach. So konnte der Kaiser auch schon einmal als »diese Dame« in Erscheinung treten.[16]

Dem Geschick der unermüdlichen Briefschreiberin ist es zu verdanken, dass sie auch mit der Kaiserin eine lockere Interessengemeinschaft zu ausschließlich karitativen Zwecken aufbauen konnte. EugénieEugénie de Montijo kannte Frankreich. Sie hatte als kleines temperamentvolles Mädchen auf StendhalsStendhal Knien gewippt und wurde mit einem kurzen Auftritt im Roman La Chartreuse de Parme bedacht. Prosper MériméeMérimée, Prosper, der Autor der unsterblichen Carmen, hatte sie in der Rue du Bac zum Eisessen eingeladen. Ungeachtet einiger übler Gerüchte ihren früheren Lebenswandel betreffend war sie in tiefkatholischer spanischer Tradition gefestigt und zugleich wegen ihrer Jugend und Schönheit eine Ikone in Fragen von Mode und Stil. Sehr genau beobachtete George SandSand, GeorgeEugéniesEugénie de Montijo Verführungskünste, zu der die geschwungene Taille, die Freude am Spiel mit dem Fächer, die theatralische Hingabe und die Sehnsucht nach Stierkämpfen ebenso zählten wie Güte und Nächstenliebe. Dass diese Eigenschaften Einbildungskraft, Herz und Sinne der Männer anregten, kam ihr für ihre eigenen Zwecke gelegen. Denn die Kaiserin war eine treue Leserin der Romane SandsSand, George. In ihrer neuen Position, deren Machtbefugnisse sie von Jahr zu Jahr weiter ausbauen konnte, unterstützte sie die Schriftstellerin gern darin, hier und dort ein unverdientes Elend, eine kleine Ungerechtigkeit zu lindern, solange diese nicht die Politik berührten.

Mitte der 1860er Jahre, als FlaubertFlaubert, Gustave mit der Éducation sentimentale rang und das Journal der GoncourtsGoncourt, Edmond und Jules de zu einem voluminösen Notizenberg angewachsen war, zog George SandSand, George eine erste Bilanz der Jahre unter Napoleon III.Napoleon III. In einer Rezension seines Buches Histoire de Jules César, das 1865 bei Michel LévyLévy, Michel, ihrem eigenen Verleger und auch demjenigen FlaubertsFlaubert, Gustave, erschien, äußerte sie sich in gänzlich anderem Tonfall als bei Erscheinen seines Traktats über den Pauperismus. Damals hatte sie den aufständischen Louis NapoleonNapoleon III. Bonaparte als »edlen Gefangenen« adressiert, der »wie das Volk in Ketten liege« und nicht wie sein Onkel den Ruhm, sondern den Schmerz des Volkes verkörpere. Jetzt aber, nach allen Erfahrungen mit seiner kaiserlichen Herrschaft, konnte sie in ihm nur mehr den Abglanz des großen Cäsar erkennen, der er immer sein wollte. In der 13-seitigen Buchbesprechung fragte SandSand, George beherzt, ob Cäsar für die Herstellung von Ordnung zu danken sei, wo doch die Unordnung allgemeiner Sittenlosigkeit herrsche. Sie fragte weiter, ob er ein göttliches Wesen sei, wenngleich er »das Volk gekauft, ihm geschmeichelt, sein niederstes Laster, die Käuflichkeit des Gewissens, geweckt habe und durch Korruption herrsche«. Ein Satz aber aus dieser mutigen Rezension liest sich wie eine Sentenz auf das Zweite Kaiserreich: »Wenn man die Ruhe in den Straßen hergestellt hat, hat man noch nicht den Frieden in den Häusern geschaffen, und wenn man in denselben Straßen die Bacchanalien des Vergnügens entfesselt hat, hat man dort noch nicht der Freude freien Lauf gelassen.«[17]

Der Staatsstreich als Verbrechen

Während George SandSand, George auch bei schärfster Kritik den Konversationston gepflegter Briefkultur niemals aufgab, verschaffte sich der knapp fünfzig Jahre alte Victor HugoHugo, Victor mit einem Pamphlet Gehör. Nur der geharnischte Ton einer Schmähschrift schien ihm geeignet, seiner Meinung zum Zweiten Kaiserreich Ausdruck zu verleihen. HugoHugo, Victor war um 1850 längst ein Jahrhundertdichter, ein öffentlicher Intellektueller und das republikanische Gewissen der Nation. Er hatte als Abgeordneter der gerade zu Ende gegangenen Zweiten Republik mit Reden Aufsehen erregt, in denen er die Verantwortung der Politiker für das Volk einklagte. Nach dem fatalen 2. Dezember 1851 und der Flucht sollte er auch im Exil seine Stimme erheben, um sie durch das ganze Zweite Kaiserreich schallen zu lassen. Noch am Tag des Staatstreichs entfernte er zahlreiche der klammheimlich plakatierten Regierungserlasse. Dann legte er die Schärpe in den Farben der Tricolore an, die Abgeordnete der Nationalversammlung bei offiziellen Anlässen trugen, und setzte sich an die Spitze eines Protestzugs durch den Faubourg Saint-Antoine, das Viertel der Revolutionäre und Arbeiter östlich der Bastille. Weder durch Regen und Kälte noch durch Soldaten- und Polizeitrupps ließen sich die Demonstranten beirren, doch ihr Widerstand war vergeblich, sie erreichten gar nichts. Am nächsten Abend griff HugoHugo, Victor zur Feder und begann mit dem Artikel »Le crime du 2 décembre«.[18] Zur gleichen Zeit wurden drei demonstrierende Studenten verhaftet, erschossen und in die Seine geworfen. Am darauffolgenden Tag brachen die Straßenkämpfe aus, mehrere hundert Aufständische wurden getötet, Tausende verhaftet. Niemals würde HugoHugo, Victor vergessen, dass am Kaisermantel des neuen BonaparteNapoleon III. Blut klebte, sogar das von Frauen und Kindern. Das Pamphlet, zu dem er ausholte, nannte er voller Zorn, Hohn und Verachtung Napoléon le Petit.

HugosHugo, Victor Abrechnung mit dem neuen Herrscher der Franzosen erschien am 8. August 1852 in Brüssel. Niemand konnte wagen, es in Paris zu drucken. Nur weil zahlreiche Exemplare einer kleinformatigen Sonderedition in Heuballen und Sardinendosen, in Korsetten und Zigarren sowie in Gipsbüsten des Despoten nach Frankreich geschmuggelt wurden, konnte die Schrift auch dort gelesen werden. Offiziell wurde sie erst dreißig Jahre später von HugosHugo, Victor Verleger HetzelHetzel, Pierre-Jules & Cie. herausgegeben. Da das Pamphlet, ein work in progress, aus der Feder HugosHugo, Victor stammt, ist es angereichert mit starken poetischen Bildern: Der Erzähler wandert durch die Straßen von Paris, die dem Inferno Dantes gleichen. Das letzte Kapitel, »La Chute«, entstand erst nach 1870. Da scheint es dem Wanderer, als schwebe der Racheengel über dem Tal in den Ardennen, um mit seinem Schwert das »monströse Abenteuer« des Zweiten Kaiserreichs zu bestrafen, das mit einem Blutbad begann und im Gemetzel des Deutsch-Französischen Krieges endete.

HugoHugo, Victor, der sich zum Missfallen vieler Republikaner während der Julimonarchie zum Pair de France, zu einem Paladin, hatte adeln lassen, hatte 1848 die Präsidentschaft Louis NapoleonNapoleon III. Bonapartes unterstützt. Seinen Staatsstreich aber nannte er sofort und ohne Umschweife ein »Verbrechen«, den Urheber einen »Banditen«, seine Helfer »hinterlistige Heuchler« und seine Mission einen Ausdruck »mörderischer Zivilisation«.

Einer der ersten Pariser Leser von Napoléon le Petit war der Titulierte selbst. HugoHugo, Victor hatte ein Exemplar direkt an Louis NapoleonNapoleon III. Bonaparte geschickt und ärgerte sich kurz darauf über dessen unerwartet geistreiche Reaktion, die im Regierungsblatt Le Moniteur universel vom 23. August vermerkt wurde: »Seht her, meine Herren, hier ist Napoleon der Kleine von Victor Hugo dem Großen.« Offizielle Stellungnahmen gab es keine, und vielleicht war das Ganze ohnehin der Einfall von Journalisten, die trotz ihrer Regierungsnähe irgendwie Esprit hatten.

Am 11. Dezember verließ HugoHugo, Victor als »Jacques-Firmin Lanvin, Schriftsetzer« mit dem Nachtzug das Land und ließ sich in Brüssel nieder, noch bevor am 9. Januar 1852 weitere 65 Repräsentanten des Volkes ins Exil gehen mussten, unter ihnen der Historiker und Herder-Übersetzer Edgar QuinetQuinet, Edgar sowie Adolphe ThiersThiers, Adolphe, der 1871 erster Präsident der Dritten Republik werden sollte. Niemand verließ das Land gern.

Nach Erscheinen des Pamphlets wurde HugoHugo, Victor von der belgischen Regierung aufgefordert, das Land zu verlassen. Er selbst und seine Freunde rechneten nicht damit, dass er bald nach Frankreich zurückkehren würde, seine Feinde hofften, niemals. In Paris war bereits im Juni sein gesamtes Mobiliar versteigert worden: das Bett mit Salomonischen Säulen, der Arbeitstisch, Sessel um Sessel, Vorhang um Vorhang, japanisches Porzellan, Chinoiserien, Gläser aus Böhmen, alte Tapisserien, »Reliquien, eine ganze Welt aus Rätseln, ein häusliches Gedicht«.[19] Für Victor HugoHugo, Victor begann unterdessen die lange Zeit des Exils auf den englischen Kanalinseln, zuerst auf Jersey, dann auf Guernsey.

In der Abgeschiedenheit des Inseldaseins, den Blick über das Meer nach Frankreich gerichtet, fand HugoHugo, Victor zurück zur Dichtung und verfasste Les Châtiments. Seinem Verleger kündigte er diese »Sammlung fern aller reinen Dichtung« als Waffe eines Kämpfers an. Und HetzelHetzel, Pierre-Jules, auch er ein Aktivist, druckte 1853 in Brüssel die zürnenden und anklagenden Gedichte.

Gleich im ersten Gedicht der Sammlung, »Nox«, ist die Nacht eisig und Frankreich ein Dunkelland. Sittenlosigkeit und Gewalt zerrütten das Leben aller, gerade so, als sei Paris das Rom unter NeroNero, mit der ganzen Verkommenheit dieser Zeit, die einst der spätantike Dichter JuvenalJuvenal in seinen Satiren geschildert hatte. »Nox« endet mit dem Anruf an die »Muse Empörung«. Ein anderes Gedicht, »Souvenir de la nuit du 4«, betrauert einen siebenjährigen Jungen, dessen Schädel am Tag des Massakers im Kugelhagel zertrümmert wurde. Er hatte nicht einmal »Vive la République!« gerufen. Nun näht die Großmutter sein Leichentuch. Der Tod hat sie, die Alte, übersehen und holt sich stattdessen die Kinder.

Natürlich ließ es sich HugoHugo, Victor auch nicht nehmen, den trockenen Witz des »kleinen Bonaparte« – und gut war die Reaktion auf die Schmähschrift allemal – in einem Gedicht zu kontern: »L’homme a ri«. Er hoffte, dieses Lachen für alle Zeiten ersticken zu können. Doch Louis NapoleonNapoleon III. schwieg, das war seine hervorstechendste Kommunikationsform. Sie begleitete seine gesamte Amtszeit, irritierte die Gegner und brüskierte die Getreuen. Der Historiker Alexis de TocquevilleTocqueville, Alexis de, der ebenfalls nach dem Staatsstreich verhaftet worden war, schrieb später in seinen Souvenirs, dass alle Worte, die man an den KaiserNapoleon III. richte, wie Steine seien, die man in einen Brunnen werfe: Man hörte den Krach, wusste aber nicht, was aus den Steinen wurde.[20]

Das Schweigen schluckte auch die Redeflut des Dichters. HugoHugo, Victorblieb allein mit seinen Fragen, die er sich selbst und den Zeitgenossen in Napoléon le Petit stellte: Wie kann ein unbedeutender Mann so viel Erfolg haben, wie konnte aus dem Citoyen Louis NapoleonNapoleon III. Bonaparte, der 1848 den Eid auf die Verfassung geschworen hatte, der Usurpator eines freien Landes werden? Ist sein marmornes Herrscherbild nicht nur aus Gips? Was treibt er, wenn er sich totstellt? Und was begehrt er außer Pferden, Mädchen und der respektvollen Anrede »Monseigneur«?

Niemand antwortete HugoHugo, Victor auf diese Fragen. Sie beunruhigten ihn, trieben ihn um, ließen ihn nicht schlafen, weckten Gespenster. Sie riefen, hochromantisch, einen monströsen Tyrannen auf und konterkarierten ihn gleich wieder: Usurpator und nichtiger Mann, Marmorbild und Gips. Immer und immer wieder spitzten sie das Anstößige, Skandalöse dieser Herrschaft zu. Es wurde ihm zur Obsession. Hugo dämonisierte seinen Gegner, den kleinen, dummen, erbärmlichen NapoleonNapoleon III., und ließ ihn damit auf paradoxe Weise zu einem Riesen anwachsen.

Napoléon le Petit ist mit seiner anschwellenden Empörungsrhetorik der erste Aufschrei der modernen Mediengesellschaft. Victor HugoHugo, Victor wollte es so, er sprach selbst von einem cri und wählte den Modus des overstatement,[21] um den Gegner niederzuzwingen und die Erstarrung der französischen Nation zu lösen, die er im Dunkel der Nacht mitten im Schlummer überwältigt und zum Beischlaf gezwungen sah. Als Großdichter aller literarischen Genres, als Beobachter und Erzähler, Politiker und Geschichtsschreiber ließ er den Schrei im ganzen Repertoire seines Furors und Könnens nachhallen: in dramatischen Szenen, Notizen über Erlebtes und Gesehenes, choses vues, in narrativen und lyrischen Sequenzen, ätzenden Satiren, polemischen Zuspitzungen ad personam und mythischen und allegorischen Figuren voller Finsternis und Pathos. Napoleón le Petit ist eine schaurige Geschichtsvision voller Monster. »Ich schreie jetzt, und zweifelt nicht daran, das universelle Gewissen der Menschheit wiederholt es mit mir, Louis Napoleon hat Frankreich ermordet! Louis NapoleonNapoleon III. hat seine Mutter getötet.« So schrieb und schrie HugoHugo, Victor es heraus. Das war stark, aber nicht stark genug, noch fehlte die Heilsgeschichte: Louis NapoleonNapoleon III. war nicht nur NeroNero, sondern zugleich das Kreuz, das die Nation in der Nachfolge Christi trug, er war der elende Soldat, der Jesus den Lanzenstoß versetzte und ihn in seiner Gottverlassenheit aufschreien ließ, er war der stumme Handlanger der Vorsehung, die Opfer fordert. Aber am Ende würden die Humanität über die Tyrannei und das Gewissen über die Skrupellosigkeit siegen, weil sie siegen müssen. So wie der gerade Weg niemals der längste sein kann und 2 plus 2 nicht 5 ergeben, selbst wenn eine überwältigende Mehrheit es behauptet. Einen Victor HugoHugo, Victor ohne Hoffnung auf Läuterung und Erlösung gab es nicht, niemals. Und nie war sein Pathos peinlich.

1853Projektemacherei und Fortschritt first

Ein Jahr der Widersprüche. Paris bei Tag und Nacht. Sex and the City: Bohème zwischen Hedonismus und Start-up. Szenen aus dem Pariser Kulturbetrieb: Hungerkünstler, Hipster, Stars und Netzwerker. Männer an Steilküsten: Die einen entschleunigen, die anderen drücken aufs Tempo. Das Paris-Projekt: Haussmannisierung, Fortschrittsidee und Zukunftsvision. No-go-Areas und Boulevards. Bereichert Euch! Übers Mittelmeer nach Algerien! Die »zivilisatorische« Mission. Krim, Krieg und Verdrossenheit.

 

 

Die GoncourtsGoncourt, Edmond und Jules de waren im Januar 1853 mit mehreren Projekten beschäftigt und bekamen wegen eines frivolen Zeitungsartikels Probleme mit Zensurbehörde und Justiz. Dessen ungeachtet feierten sie die Nächte durch. BaudelaireBaudelaire, Charles ärgerte sich darüber, dass nur wenige seiner Gedichte gedruckt wurden, und wenn eines angenommen wurde, dann meistens von alternativen Zeitungen, die kein Geld hatten und deshalb auch nichts zahlen konnten. FlaubertFlaubert, Gustave feierte das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel zusammen mit seiner Mutter in Croisset. Er quälte sich mit