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Die wahre Geschichte eines Genies. Vor der farbenprächtigen Kulisse Venedigs im 16. Jahrhundert entfaltet sich die tragische Geschichte des großen Mathematikers Niccolo Tartaglia. Obwohl er eines der Genies seiner Zeit ist, nehmen ihn weder die Zunftkollegen noch die hochmütigen Venezianer ernst, denn er stottert. Manisch ehrgeizig und vom Spott verletzt, stürzt er sich auf mathematische Probleme, die als unlösbar galten. An der Schwelle zum Erfolg wird er in einen der vehementesten Gelehrtenstreite der Geschichte verwickelt, und nur die schöne wie intelligente Jüdin Sara, seine heimliche Geliebte, warnt ihn am Ende vor einer falschen Entscheidung... Ein opulent erzählter historischer Roman über die faszinierende Welt der Gleichungen und das Wunderwerk des Sprechens.
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Seitenzahl: 554
Die wahre Geschichte eines Genies
Mit diesem opulent erzählten Roman um den venezianischen Rechenmeister Niccolo Tartaglia ist dem Autor ein faszinierender Einblick in die Geschichte gelungen. Tartaglia war eines der Genies des 16. Jahrhunderts, wurde aber von seinen Zunftkollegen nicht ernst genommen, weil er stotterte. Der große Mathematiker führt nicht nur in die Welt der Dreiecke und Kuben. Wir entdecken mit ihm auch das Wunderwerk des Sprechens und den Glanz der Worte.
»Ein imposantes Bild vom Venedig des 16. Jahrhunderts …« Das Magazin
»Ein spannender historischer Wissenschaftsthriller …« Südkurier
Dieter Jörgensen
Der Rechenmeister
Roman
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Erster Teil
12ter Februar 1534 venetianischer Zeitrechnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
27ster April 1535
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
23ster Juli 1535
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
17ter Januar 1535 venetianischer Zeitrechnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Zweiter Teil
9ter Mai 1536
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
16ter September 1537
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
24ster Januar 1537 venetianischer Zeitrechnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
6ter März 1538
Kapitel 1
Kapitel 2
13ter März 1538
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
2ter September 1538
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Dritter Teil
18ter Dezember 1538
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
17ter Februar 1538 venetianischer Zeitrechnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
18ter März 1539
Kapitel 1
Kapitel 2
21ster Oktober 1540
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
8er März 1541
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
26ster Mai 1545
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
13ter Februar 1546 venetianischer Zeitrechnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
7ter Mai 1548
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
10ter August 1548
Anhang
Über Dieter Jörgensen
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Die Pferde standen noch nicht still, da sah Tartaglia bereits die vielen Menschen am Fährboot. Es schien, als würde jeder lange aufgehalten, bevor man ihn in das Schiff einsteigen ließ.
Tartaglia konnte den Blick nicht abwenden, und seine linke Hand umklammerte die Haltestange des Reisewagens. Das Schiff war leer. Beinahe leer. Drei erst saßen auf den Bänken, und von dem viereckigen braunen Segel konnten nicht mehr als zwei verdeckt sein. Und keiner stieg ein. Gut zwanzig, die warteten. Aber kein einziger von ihnen schickte sich an, ins Schiff zu klettern.
Fieberhaft zählte sich Tartaglia alle denkbaren Ursachen herunter. Dann wußte er es. Es konnte nicht anders sein. Ein jeder mußte ausführlich reden vor der Überfahrt. Einer nach dem anderen. Der am Schiffsrand – man sah es jetzt genau –, der erklärte gerade etwas, begleitet von heftigen Gebärden. Und alle Umstehenden hörten zu. Alle hörten sie zu.
Was sollte es dort zu sprechen geben? An einem Fährboot gab es nichts zu sprechen. Durfte es nichts zu sprechen geben.
Seit Verona, die ganze lange Reise über, hatte keiner etwas bemerkt. Und für Fra Agostino drüben in Venedig, für den hatte er einen Empfehlungsbrief. Der Pater sollte ein hilfreicher, freundlicher Mensch sein. Den Weg zu ihm würde er mit dem Zettel erfragen. Mit großen schönen Buchstaben hatte er des Paters Kloster draufgeschrieben, San Guistina im Stadtteil Castello. Jeder zweite Venezianer könne lesen, hatte Palluzi gesagt. Und nun, so kurz vor dem Ziel, ein Fährboot, an dem man reden mußte.
Tartaglia stieg eilig vom Wagen herab. Die anderen waren inzwischen hinten an der Ladepritsche, suchten nach ihren Gepäckstücken. Er drängte sich zwischen sie. Gleich wurden seine Bewegungen hastig. Er zerrte einen Sack mit Weizen beiseite, um schnell an seine Ledertasche und sein geknotetes Bündel heranzukommen. An der beschädigten Ladekante des Wagens begann der Sack zu kippen. Körner rutschten auf den Weg, wenigstens zwei Schaufeln voll, sicher drei. Tartaglia versuchte die verschütteten Weizenkörner wieder einzufüllen. Aber der Regen hatte den Boden aufgeweicht. Mit dem harten Ende der großen Ledertasche schob er den Alten aus Cordano beiseite. Dabei war der Alte doch so freundlich zu ihm gewesen unterwegs. Auch dem Wagenlenker keinen Abschiedsgruß, nicht den leichten freundlichen Schlag auf den Oberarm als Anerkennung. Zwei lange Tage hindurch hatte der Fuhrmann all die Schwierigkeiten der Reise klug und umsichtig gemeistert, geduldig ohne Widerrede zugehört, als sie ihn wegen der gebrochenen Radspeiche beschimpften, Tartaglia hatte ihn bewundert. Und jetzt rannte er davon mit seinem Gepäck, als kenne er den Mann gar nicht.
Die vierzig Schritte zum Anlegeplatz. Zweimal stolperte er, am Hang rutschte er fünf Fuß weit im nassen, glitschigen Gras, verlor beinah das Gleichgewicht.
Es mußten immer noch an die fünfzehn oder siebzehn sein, die da anstanden vor dem Schiff. Tartaglia konnte die Worte ganz vorn nur undeutlich verstehen. Da wollte er näher heran an den Fährmann, drängte sich zwischen den anderen hindurch. Doch einige fluchten gleich lauthals los über ihn, bestanden auf der Reihenfolge, vielleicht könne das Schiff ja gar nicht alle mitnehmen, herrschten sie ihn an. Er mußte wieder zurück mit seinen schweren Sachen und versuchte jetzt von dort hinten, es an den Lippen des Fährmanns abzulesen. Damit er endlich herausbekam, was es war.
Der Fährmann fragte. Stellte jedem Fragen. Und die Fragen ergaben lange Antworten. Das Bezahlen der Überfahrt konnte es nicht sein. Bezahlen hätte keiner langen Antworten bedurft.
Nach jedem, der dann endlich in das Schiff kletterte, hörte Tartaglia den Fährmann deutlicher. »Von was wirst du in Venedig leben? Welches Handwerk? Das glaube ich dir nicht. Wieviel Monate willst du bei der Flotte rudern? Ich seh dir doch an, daß du lügst. Zeig mir deine Ersparnisse. Hast du Verwandte drüben?«
Eine kurze Antwort müßte es sein. Möglichst nur ein Wort. Wenige Silben. Die alles sagen können. Aber was wird ein Fährmann schon begreifen.
Vier standen jetzt noch zwischen Tartaglia und dem Fährmann. Drei von ihnen waren Bauern. Bei jedem ihrer Schritte auf den Fährmann zu hoben und wuchteten sie ihre Körbe und Säcke vorwärts. Tartaglia hielt seine Gepäckstücke nach wie vor verkrampft in den Händen. Der nasse aufgeweichte Lehmboden. Er wagte es erneut mit dem Vordrängen und war dann zwei Armlängen vom Fährmann entfernt.
Und Tartaglia begann auf einmal und völlig unerwartet seine ganze Aufgeregtheit zu vergessen. Vergaß sogar seine zittrige Angst vor dem Augenblick, da er der Vorderste sein würde. Beinahe hätte er gedankenlos sein Bündel und seine Ledertasche in den Lehm fallen lassen. Alles, was er noch beachtete, war der Mund des Fährmanns.
Denn der Fährmann sprach die Worte nicht. Er sang sie nicht einmal. Er ließ sie einfach hinausströmen in die Welt. Der Mund des Fährmanns stand immerzu offen bei seinem Sprechen, es schien, als brauche er niemals Atem zu schöpfen dabei, und dennoch flutete aus dem massigen Seemannskörper dieser unaufhörliche Luftstrom hervor, voller Kaskaden und Wirbel, Tartaglia glaubte alles richtig glitzern und branden zu sehen, und als er noch länger hinsah, vermochte er wirklich jedes einzelne der Wörter zu erkennen, wie sie ganz schwerelos tanzend mitten auf diesem kraftvollen Atemstrom heraus ans Tageslicht kamen und sich draußen dann gleich spielerisch nach allen Seiten verneigten.
Tartaglia hörte nicht, was der Bauer vor ihm denn antwortete. Beachtete gar nicht, wie er ins Schiff einstieg mit seinem Korb. Er konnte nicht wegsehen. Alle seine Sinne horchten und schauten und fühlten und streckten sich nach dem herrlich sprechenden Mund des Fährmanns.
Dann war das Wunder zu Ende. Der Fährmann hatte einfach aufgehört zu sprechen, musterte prüfend Tartaglias Gesicht. Dies sei jetzt die Wirklichkeit, sagte der Verstand. Ja, das mußte sie wieder sein, die Wirklichkeit, und sie wollte nichts weiter von ihm, als daß auch er jetzt spreche. Mathematiker. Braucht fünf Anläufe, und ein Fährmann kennt das sowieso nicht. Die Angst kam zurück. Rechenmeister. Läuft besser, und er hat das vielleicht schon einmal gehört. Das Zittern kam wieder. Also Rechenmeister. Zappelig sahen Tartaglias Augen nach rechts und nach links. Inzwischen waren alle heruntergekommen vom Reisewagen. Standen um ihn herum. Auch dieser Geck, der seit Vicenza mitgereist war. Sie würden es mitanhören. Und dann würden sie tuscheln und spotten und lachen über ihn. Wo er es doch die ganze Reise über hatte verheimlichen können vor ihnen. Er hätte sie vorlassen sollen. Hätte als letzter dann allein mit dem Fährmann sprechen sollen. Er spürte das Kullern der großen Schweißtropfen auf seinem Rücken, dort, wo das Hemd nicht anlag.
Er blieb in der vierten Silbe stecken. Mußte den Rest mühsam herausquälen.
»Was ist das, Rechenmeister? Arbeitest du mit den Händen?«
Die Furche zwischen den Augen des Fährmanns.
»Nur langsam. Sprich ganz langsam. Laß dir Zeit, die Sonne steht noch hoch.«
Er soll seine dummen Ratschläge lassen. Ein Fährmann.
»Rechenmeister? Wie viele Soldi nimmst du jeden Tag ein?« Keine Ungeduldsfurche mehr.
Am besten nennt er das, was Antonio Scaino ihm in Verona für den Tag gezahlt hatte, warum war er nicht dort geblieben, in Verona kannte ihn doch jeder, weshalb ließ er sich von seinem albernen Ehrgeiz nach jenem fremden Venedig verschleppen, wo sie ihm schon jetzt am Ufer der Lagune alle ins Gesicht starrten.
»Das geht. Ja, das geht. Ich darf dich doch nur mitnehmen, wenn du ohne Almosen auskommst drüben in unsrer Serenissima. Drei Soldi das Hinübersegeln. Du mußt wissen, für jeden Bettler, den ich bringe, prügeln sie mich einmal zum Rialto. Gib mir zwei Soldi und steig ein.«
Der Pelzkragen hatte nichts genutzt, der Fährmann hatte du zu ihm gesagt, hatte dem Krüppel auch noch den Übersetzpreis nachgelassen.
Der Raum maß bestenfalls zwölf mal fünfzehn Fuß. Die Lichtöffnung befand sich ganz oben, fast unter der Decke. Keine Tür in den Angeln. Fünf krummgeschmolzene Kerzen. Herabgelaufenes Wachs auf dem Steinboden. Der Putz in tellergroßen Stücken von den Wänden gebrochen. Dahinter die blaßroten Mauersteine.
Fra Agostino hatte einen zweiten Strohsack für ihn an die Wand neben der Türöffnung legen lassen. Auf dem anderen Lager sah Tartaglia eine Schnurrolle, ein Beil, einen Nagelziehhammer, eine Richtlatte, anderes Werkzeug noch. Die hingeworfenen Gerätschaften eines Zimmermanns.
Ein übergroßes Winkelscheit, dessen Kanten vom häufigen Gebrauch eingeschlagen und zerfasert waren. Vorsichtig hob er es an einer Ecke an, ja, das Dreieck war einfach riesig. Und ohne es recht zu bemerken, ließ sich Tartaglia niedergleiten. Seine Knie spürten die Kälte der Steine, ganz schnell kam sie durch das Leinen der Hose. Seine klammen Finger nahmen das Winkelscheit hoch. Erst in Brusthöhe. Dann vor seine Augen. Seine Handflächen begannen auf die Außenseiten der Kathetenbretter zu drücken. Immerzu etwas stärker, das zerschrammte Holz grub sich in die kalte Haut ein. Die Summe der drei Innenwinkel soll stets ein Halbkreiswinkel bleiben. Sagt Euklid.
Und da glaubte Tartaglia zu sehen, wie seine Hände die lange Grundseite des Winkelscheits langsam kürzer und kürzer stauchten. Nein, er täuschte sich nicht. Noch ein paar tiefe Atemzüge, ein wenig mehr an Kraft, und die Grundseite war nur mehr halb so lang. Ganz gewiß spielte nur seine Müdigkeit mit ihm, doch jetzt besaß die Grundseite kaum mehr ein Drittel ihrer Anfangslänge. Es konnte wirklich nur die Müdigkeit sein, die sich diese Sensation ausdachte für ihn, aber er sah ganz deutlich, da war kein Zweifel, er sah, wie sich zwischen seinen beiden Händen nach und nach ein hohes, pfeilspitzes Dreieck zusammenschob. Dessen Grundseite nicht einmal mehr fingerbreit war. Derart herrlich aufregend war die Müdigkeit lange nicht mehr gewesen. Und es ging immer weiter, soviel Kraft konnten seine Hände doch nicht haben, die beiden Kathetenbretter legten sich schließlich stöhnend aneinander, die Grundlinie war verschwunden. Er hatte Euklids drei Innenwinkel zu einem Nichts zerdrückt.
Seine Schultern sackten herab. Es war alles Trugschluß, alles nur Traum. Die Winkelsumme im Dreieck mußte gar nicht dem Halbkreiswinkel gleich sein. Dummer Aberglaube war das. Er wußte es ohnehin seit langem. Und Euklid selbst hatte es auch gewußt. Doch schon Euklid wagte nicht, es zu sagen. Keiner wagte es. Bis heute. Weil sie alle Angst hatten davor.
»Was tust du da?«
Tartaglia riß den Kopf herum. Da stand einer im Türrahmen, hatte ihm zugesehen. Vielleicht schon lange Zeit. Warum bloß hatte er nicht besser achtgegeben. Seine Vermieterin in Verona kannte ihn ja bereits, wenn so etwas passierte. Sie hatte nur noch gelächelt, verächtlich oder bewundernd – das wußte man nie genau –, wenn sie manches Mal neben ihm stand und er sie wieder nicht bemerkte, weil er vielleicht gerade in Luca Paciolis Summa spazierenging.
Aber dieser Fremde. Der Fremde mußte ihn für verrückt halten. Kniet auf dem Boden, starrt ein hölzernes Winkelscheit an. Womöglich hatte er sogar laut geredet dabei.
Falls dies der Zimmermann war, konnte es schlimm werden. Denn dann mußten sie jetzt etwas sprechen miteinander. Woher und wie lange und diese Dinge. Und er würde ihn auch noch mit seinem Stottern erschrecken müssen.
Falls dies wirklich der Zimmermann war, dann durfte dem keiner böse sein, wenn er seine Sachen nahm und Fra Agostino wegen eines anderen Schlafplatzes belästigte. Wer wollte denn mit einem Verrückten nächtigen, der zudem abscheulich stotterte, wer mochte im selben Raum schlafen mit einem, bei dem man nicht wissen konnte, womit er noch des Nachts aufwartete.
»Das Winkelscheit habe ich seit langem. Es gehörte schon meinem Vater. Ich kann mir kein neues kaufen, verzapfte Winkelscheite aus syrischem Zedernholz, die kosten beinah vier Dukate.«
Tartaglia begann seine Fragen zusammenzustückeln nach dem Namen und nach dem Woher. Weil er den Mann nicht kannte, wurden manche der Sprechpausen quälend lang, und seine Grimassen während der besonders schwierigen Silben sahen sicherlich wieder angsterregend aus. Tartaglia beobachtete den Zimmermann voller Argwohn. Würde es so schrecklich enden wie mit Scarlatti damals, er liefe davon.
Doch es geschah nichts. Der Zimmermann sah nicht einmal beiseite, seine Augen suchten nicht die Fensteröffnung dort oben, sie begannen nicht Tartaglias Habseligkeiten auf dem Strohsack zu zählen, und sie blickten auch nicht vor sich auf die Steine des Fußbodens, wie es die erschreckten Augen der meisten getan hätten. Der Zimmermann sah ihm einfach ins Gesicht. Und sein wartender Blick nahm jede der Silben, die Tartaglia schließlich herausbrachte, entgegen, als ob es einfach so sein müsse.
Er hieß Ludovico und kam aus Legnano.
»Zum zweitenmal war ich heute bei den Arsenalbürokraten. Sie wollen mir zwei Probezeiten auferlegen. Eine Woche keinen Lohn wie ein Lehrling, drei Monate als Geselle für dreieinhalb Dukate. Und ich bin seit fünf Jahren Meister. Seit fast zwanzig Jahren habe ich an Schiffen gearbeitet. Ich weiß alles über den Schiffbau, besser als die meisten anderen. Und heute wieder diese Wichtigtuer.«
Der Zimmermann bildete die Worte ganz vorne im Mund. Lippen und Zunge waren ständig beschäftigt miteinander. Daß dadurch die Konsonanten etwas zu lang gerieten, gab seinem Sprechen eine schöne Selbstsicherheit.
Wenn er so sein könnte. So sprechen könnte. Morgen in der Merceria. Die Ladenbesitzer waren gewiß noch schlimmer als die Arsenalvorsteher.
Jetzt war der Zimmermann dran mit der Frage nach dem Woher. Verona war ein herrliches Wort, Tartaglia bekam es ganz schnell heraus.
»Nach Verona hinauf machten wir zwei oder drei Mal jedes Jahr. Da hätte ich dich seinerzeit schon treffen können. Aber wir waren meist nur in den Eisenwarenläden und dann in den Kneipen an der Steinbrücke. Wir mußten die kleinsten Boote nehmen, immer rudern, segeln ging kaum flußaufwärts. Die Untiefen oben in der Etsch. Wie viele Jahre hast du in Verona gelebt?«
Wie Ludovico es sprudeln lassen konnte, von den Eisenwaren zu den Untiefen, alles durcheinander und dennoch verständlich. In die Kneipen hätte er auch gehen sollen, er hatte sich in Verona nie in eine hineingetraut.
Vierzehn Jahre.
»Da mußt du ja während des großen Fiebers in Verona gewesen sein. Wo warst du vorher? Woher stammst du?«
Die riesigen Äxte, mit denen sie durch die splitternden Portalflügel hereinstürmten, mit denen spalteten sie gleich auch die Schädel der Männer im Dom.
Weg hier. Hinausrennen aus der Zelle. Warum war er nicht wachsam gewesen. Er hätte das Herumgeplauder des Zimmermanns rechtzeitig wenden können, hätte spüren müssen, daß wieder einmal alles auf diesen verfluchten Namen zutrieb. Nur durch seine Dummheit waren sie jetzt bei diesem Namen gelandet.
Und wirklich wurde sein Herumgestotter dann auch derart scheußlich, daß selbst der Zimmermann an seinem Blusenbändel herumzunesteln begann. Und als Tartaglia die drei Silben zusammenhatte, schwitzend und spuckend und ein paarmal quäkend wie ein Tier, da war das Ganze schließlich dermaßen unverständlich geworden, daß der Zimmermann den Namen beim besten Willen nicht verstehen konnte. Es mußte alles von vorn beginnen.
Als er es gesagt hatte, saßen sie beide eine Weile stumm auf ihren Strohsäcken.
»Brescia kenne ich nicht«, sagte der Zimmermann dann ganz langsam.
Wieder saßen sie viele Atemzüge lang da und schauten auf den Steinboden.
Weshalb er nach Venedig gekommen sei, fragte Tartaglia schließlich den Zimmermann.
Er wollte überhaupt nicht wissen, weshalb der Zimmermann nach Venedig gekommen war. Aber weil Ludovico das gerade mit ihm durchgestanden hatte, zumindest so tapfer wie Aldo Stella damals in Verona, da wollte er ihm mit den paar Frageworten, die er sorgsam geprüft und vorsortiert hatte, während sie stumm auf den Boden schauten, und die er dann wirklich auch beinah flüssig sagen konnte, da wollte er Ludovico mit solch einer schön gesprochenen Frage zeigen, daß er nicht bloß ein stammelnder und spuckender Idiot war.
»Es war das Holz. Nur das Holz. In Legnano wurden seit jeher Flußschiffe und Küstenboote gebaut. Auch nach Venedig haben wir immer gut verkauft. Aber dann kamen sie sogar von Ancona herüber und haben unsere Wälder leergeschlagen. Und als wir die Eichen nur noch ganz oben fanden, meist schon im Schnee, da kam das Arsenal. Das Arsenal holt alle Eichen. Für die Flotte ihrer Serenissima, sagen sie. Die Strafen wurden immer höher, wenn wir für uns noch Eichen schlugen. Die meisten Werften in Legnano sind aufgelassen. Nun bin ich hier. Und mit mir viele andere.«
Wenn er sich aufregte, ließ er Hände und Arme mitreden, daß sie die halbe Zelle brauchten.
»Ja, noch was.« Ludovico hatte kaum Atem geholt, da sprudelte es wieder heraus aus ihm. »Alle zwei Jahre soll ich eine Reise auf einer Kriegsgaleere mitrudern. Ein oder zwei Schiffszimmerleute wollen sie immer an Bord haben. Ältere dürfen auf eine Kaufmannsgaleere.«
Der Zimmermann ließ Zeit vergehen. Und Tartaglia wußte, daß es jetzt kommen mußte. Doch die Angst davor war nicht mehr so groß. Vor einem, der jenen Namen mit ihm durchgestanden hatte, vor so einem durfte er es wagen.
Es dauerte noch.
Schließlich sagte es der Zimmermann. »Und womit willst du dir in Venedig das Geld fürs Überleben schaffen?«
Es war vollends dunkel geworden. Tartaglia ging Feuer holen für die fünf Kerzenstümpfe.
Und er erzählte dem Zimmermann vom zusammengesetzten Zins, mit dem er sich das Geld fürs Überleben verdienen wolle, und sein Sprechen begann zu laufen, er brauchte kaum noch darauf zu achten, konnte ganz an den zusammengesetzten Zins denken, und es gelang ihm, diese sonst so verzwickte Rechnung ganz durchsichtig und von solch geringer Schwierigkeit zu machen, daß sie wurde wie das Aufnageln, nein, da gab es nichts zu lachen, das war jetzt ganz fraglos der rechte Vergleich, sie wurde wirklich so einfach wie das Aufnageln einer Schiffsplanke.
Tartaglia hatte die Handelsgasse noch nicht gefunden, die sie die Merceria nannten. Immerzu gegen Westen laufen, hatte Fra Agostino gesagt, orientieren am höchsten Campanile, dem im Südwesten. Doch über fünf Wasserkanäle hatte er sich mühsam und umständlich eine Brücke suchen müssen und dabei die Richtung verloren. Auch sollte der Weg von San Guistina zehn Minuten dauern, er aber lief sicherlich schon dreimal so lange in den Gassen umher.
Da sah Tartaglia die Bäckerei. Warum eigentlich nicht, selbst in Verona hatte jeder gewußt, welch verrückte Machenschaften die Venezianer mit dem Brotgewicht trieben, um ihre Armen ruhig zu halten.
Er blieb auf der gegenüberliegenden Gassenseite stehen und versuchte durch die schmutzigen Fenster etwas zu erkennen. Die Gasse war ja kaum fünf Menschen breit. Sechs. Zwischen ihm und dem Brotladen schleppten die Lastenträger die Tuchballen, die bauchigen Säcke, wie mit Körnern gefüllt, die kantigen Säcke, als ob Klötze drin seien, manche zogen Karren, einer hatte den Karren voll eimergroßer Brocken aus weißem Kerzenwachs. Tartaglia drückte sich in das offene Hoftor, bis die vier schreienden Bettler vorüber waren. Der rote Hut eines Juden, Kinder, die froren und große Augen hatten mit dunklen Ringen.
Tartaglia verharrte bewegungslos. Und wie jedesmal vor seinen Gefechten waren es auch heute diese unwichtigen Äußerlichkeiten, die sich ihm aufdrängten: 907, die Zahl über der Ladentüre, daß der Sturzbalken des Türrahmens zu kurz war, zwei Drittel des rechten Stützpfostens waren ungenutzt, daß der Sprung in der Scheibe, die im Sommer zum Brotverkauf hochgebunden wurde, von links unten nach rechts oben ging, die zwei Betteljungen an der Türe.
Dort mußte er hinein. In diese Bäckertüre. Das tiefere Atemholen, die an die Handballen gepreßten Fingerspitzen, der erste entschlossene Schritt, alles war schon da. Als diese Glocke zu klingen anfing.
So lange warten dürfen, bis sie ausschwingt. Nur so lange noch.
Es war eine einzelne Glocke. Mitteltief, sicher fünf Fuß Spannweite am Schlagring. Tartaglia blickte nicht nach oben, nur hören wollte er sie. Der Turm mußte ganz nah sein, irgendwo links hinten über ihm. Er stand und horchte. Und jedes neuerliche Anschlagen des Schlegels an den Ring, gefolgt von dem zitternden Hinausschweben des weichen Klanges, das war ein Aufschub für ihn, das wurde ihm eine kleine Insel der Geborgenheit vor dem Gefecht.
Selbst hinter Glockengeläut versteckte er sich vor ihnen. Doch die paar Schläge jetzt noch, außer ihm merkte ja keiner etwas von seiner Feigheit.
Irgendwo rechts droben begann ein dröhnendes Geläute. Wenigstens zwei Siebenfußglocken und eine Vierfuß waren das. Tartaglia hörte die seine nicht mehr. Da ging er hinüber.
Vor dem Verkaufstisch zwei Frauen, lange Schultertücher um sich gepackt, ein abgemagerter Alter, er schien nur um sich aufzuwärmen im Bäckerladen herumzustehen. Die beiden Betteljungen waren mit hereingeschlüpft und lauerten jetzt, wohl, weil sie ihn noch nie gesehen hatten und etwas Besonderes erwarteten wegen des Pelzkragens.
Tartaglia gab sich unbeteiligt, sah durch das zersprungene Fenster in die Gasse hinaus.
Er könnte hinausrennen.
Er trat ganz nah an das Fenster und tat, als beobachte er etwas Wichtiges in der Gasse. Die Frauen sollten erst ihr Brot nehmen und dann weggegangen sein. Auch dem Alten würde die Wärme irgendwann genügen.
Er könnte immer noch flüchten.
Doch die Frau hinter dem Verkaufstisch sprach ihn an. Über die anderen hinweg.
Meister. Bäcker. Vielleicht Bäckermeister. Es war zu plötzlich gekommen. Tartaglia begann wirbelnd die Worte zu sortieren. Welches bekam er unauffällig heraus vor sechs erwartungsvollen Menschen. Keines von allen.
Die Frau riß die Augen auf und starrte auf seinen Mund. Nach der ersten herausgequetschten Silbe suchte sie den Blick der jüngeren Frau, neben der Tartaglia stand. Beide schauten sich hilfesuchend an, während er mühsam seine Frage zu den Brotregalen hin beendete. Einer der Betteljungen hatte sich halb vor ihn gestellt, sah herauf und ahmte ihn leise nach.
»Was wollt Ihr von dem Bäcker?«
Einfach, daß es wichtig sei.
Der Blick der Frau wurde sicherer. Mit beiden Händen stützte sie ihren schweren Oberkörper auf dem Verkaufstisch ab, ihr Mund wurde beim Luftholen beinah kreisförmig, ihre Lippen stellten sich richtig auf.
»Antonio.«
Das A und das Luftausstoßen waren eins, sie hatte überhaupt nicht gezögert dabei.
Alle schauten sie jetzt auf Tartaglia. Er wagte nicht aufzusehen von den gestapelten Broten. Siebzehn.
Dumpfe Geräusche. Dann Schritte. Ein Riese. Den Kopf auf die Brust gedrückt, so kam er durch die niedrige Tür, Tartaglia sah zuerst den kahlen Schädel statt des Gesichtes.
Die Frau ließ ihren Kopf hochschnellen und wies mit ihrem runden Kinn auf Tartaglia.
»Was wollt Ihr?« sagte der Bäcker.
Eine so hohe Stimme aus diesem Riesenleib.
Daß seine Rechnung besonders genau sei, sagte Tartaglia. Auch bei ungerader Erhöhung des Weizenpreises werde er ihm jedesmal das richtige Brotgewicht errechnen. Dann stammelte er noch den Satz von den Brotkontrolleuren der Regierung daher, der sollte dem Bäcker ein wenig Angst einjagen. Bei Pietro Longhi in Verona hatte er das einmal aufgeschnappt.
Der Bäcker beobachtete Tartaglias Gesicht während des Umherstotterns, lachte aber nicht. Bekam auch diese Furche zwischen den Augen nicht.
»Was verlangst du dafür?«
Zwei Brote jedesmal. Da konnte er auf eines gehen.
»Unsere Gilde hat einen, der rechnet für alle Bäcker im Stadtteil. Kriegt drei und einen halben Brotlaib für uns alle. Und wir sind fünf in San Marco.«
Ob seiner auch auf Hirsegemisch umrechnen könne.
»Wo kommst du bloß her? Du weißt von nichts. Erst wenn sie halb verhungert sind, essen sie in Venedig Hirsebrot.«
Er würde die ersten drei Mal ohne Lohn rechnen.
Von oben herab musterte der Bäcker ausgiebig den Pelzkragen. Dann Tartaglias Mütze. Sein Grinsen war nicht einmal triumphierend, als er in langgedehnter fistelnder Sprechweise zurückgab: »Das will ich dir noch sagen, Stotterer. Der Mann meiner Schwester gehört zu den Bürgerlichen. Und er tut Dienst bei den Brotkontrolleuren. Und jetzt geh.«
Als ob ihn auch draußen jeder anstarre, hastete Tartaglia blindlings die Gasse hinauf. So trieb es ihn immer davon nach den Niederlagen. Einer, den er nicht gesehen und angerempelt hatte, drohte mit der Faust und rief ihm ein Schimpfwort nach. Tartaglia hetzte weiter.
Der Bäckerladen war schon lange außer Sichtweite, als der Verstand sagte, sie bräuchten nicht weiter zu rennen, es verfolge sie ja keiner, auch die Betteljungen seien im Laden geblieben. Tartaglia glaubte es ihm und wurde Schritt für Schritt langsamer. Die Einzelheiten der Gasse begannen sich zusammenzufügen vor seinen Augen, und alles nahm wieder Umrisse an: der kleine niedrige Pfandleihladen da rechts drüben, die Winterrobe des Adeligen, der vor ihm herstolzierte, die dunkle Wasserträgerin gegenüber, ihre Haare am Hinterkopf geknotet, man konnte ihre kleinen Ohren sehen. Ein paar Schritte noch. Tartaglia blieb stehen.
Er war drinnen gewesen. Er war in einem Laden in Venedig gewesen. Er hatte nicht an der Türe kehrtgemacht, er hatte der Angst nicht nachgegeben, während die Glocke läutete, er war hineingegangen. Er war einfach hineingegangen.
Und Tartaglia setzte seine nächsten Schritte bedachtsam hinten an der Ferse seiner biegsamen Schuhe an. Zu Beginn jedes Schrittes ließ er die Fußspitze hoch nach oben zeigen. Langsam, damit er das Abrollen der Fußsohlen genüßlich auskosten konnte, ganz langsam führte er zuerst den Fersenballen, dann den Mittelfuß, darauf den Zehenballen und die Zehen über das Pflaster. Zum Ende der Bewegung hin, wenn er spürte, wie jeder einzelne seiner Zehen fest den Boden berührte, da hob sich bei jedem Schritt der Kopf Tartaglias ein klein wenig mehr, und nach zwanzig Schritten begann er sich einzureden, daß er immerhin mutiger sei als die anderen.
Einem dieser schreienden Bettler jetzt eine Münze geben. Hatte er noch niemals getan, wäre purer Übermut. Die Blinden schrieen immer am lautesten. Drei Dukate und fünf Lire betrugen seine Ersparnisse noch. Dem ohne Hände dort in der Toreinfahrt vielleicht einen silbernen Soldo. Der kreischte nicht so aufdringlich. Weswegen sie ihm die Hände abgehackt hatten, das hätte er schon wissen wollen, aber womöglich verspottete ihn der Bettler nur, wenn er die Frageworte nicht herausbrachte. Hundertvierundzwanzig mal drei, dazu fünf mal zwanzig Soldi. Zwei Tausendstel seines Vermögens. Der Bettler ohne Hände sagte Exzellenz zu ihm. Mit tiefer, sicherer Stimme.
Die Gasse mit der Bäckerei hatte unmittelbar auf die Merceria geführt. Sogleich war Tartaglia das Schneidergeschäft aufgefallen. Die Kleider waren außen am Straßenbalken ausgehängt, jetzt im Februar. Wertvolle Stücke. Die allermeisten aus venezianischem Tuch genäht, die oberen Einsätze an den Frauenkleidern scharlachrot gekrempelt. Signora Scaino hatte so etwas getragen, als er damals die vielen Nachmittage in Antonio Scainos Haus rechnete. Und wie sie darin geduftet hatte, wenn sie ihm manchesmal über seine Schulter zusah an seinem Rechentisch. Das waren Kleider für die Reichen.
Drinnen war es dämmrig und leer. Einige Zeit blieb Tartaglia stehen. Ein Laden ohne Kunden. Er genoß es ein paar Atemzüge lang. Dann rief er. Er mußte zweimal rufen.
Durch die hintere Türe des Ladens kam einer mit langsamen Schritten. Schmale Lippen. Ein fragendes Gesicht, ein wenig zerfahren sah es aus.
Das Futtertuch. Seine Rechnung bringe ihm den kleinstmöglichen Verlust – warum nickt der denn nach jedem zweiten Wort –, den kleinstmöglichen Verlust an Futtertuch.
Der Schneider wollte ihm helfen mit seinem Nicken, das mußte es sein.
Wenn er beispielsweise zwanzig Ellen Gewandtuch eingekauft habe, zweieinviertel Ellen breit, dann berechne er ihm genauestens, wieviel Ellen vom Futtertuch er dazukaufen müsse, falls dieses nur eindreiviertel Ellen breit liegt – dieses ewige Nicken –, und es wird kein Schnipsel zuviel sein.
»Ich habe einen gehabt, der hat mir das Futter jedesmal gerechnet. Das ist vorbei. Jetzt brauche ich keinen mehr.«
Er bewältigte beide Oktaven. Zwischen den dünnen farblosen Lippen kam ein Wunder an Klängen heraus. Dieser Mickerling konnte seine Silben über die volle Tonleiter gleiten lassen, eigentlich noch darüber hinaus. Zweimal war er in die Obertöne gekommen. Aber wie müde diese Stimme daherkam, alles müßte viel kräftiger sein.
Ob er rechnen gelernt habe.
»Nein, ich kann das nicht selber rechnen«, sein halbes Lächeln, »aber ich brauche kein Futter mehr. Ich muß mein Schneidergeschäft aufgeben. Meine neun Schneider sind schon weg.«
Seine Kleider seien wunderschön.
»Zu teuer sind sie, meine wunderschönen Kleider. Seit zwölf Jahren habe ich hier in Venedig Kleider entworfen, Kleider genäht, Kleider verkauft. Immer aus Tuch mit dem Siegel der Regierung. Doch es geht nicht mehr. Höre ich jetzt nicht auf, dann werde ich in zwei Jahren ruiniert sein.«
Verarmte Kundschaft?
»In keiner Weise. Die vielen Deutschen in Venedig kaufen. Das meiste Geld bringt der Adel, der aus Pavia und Mailand fliehen mußte. Und jetzt auch die Türken«, wie er die Mundwinkel herunterzieht, die obere Hälfte einer Ellipse, »selbst ihre Frauen tragen die venezianischen Kleider in ihren Wohnungen und manchesmal maskiert bei Festen.«
Was es sei?
»Zu viele kaufen bei den Juden.«
Die dürfen doch nur gebrauchte Kleider anbieten.
»Sie schneidern Tag und Nacht im Getto, beschmutzen die Kleider ganz vorsichtig, und dann wird zur Hälfte meiner Kosten verkauft. Und die Regierung tut kaum etwas dagegen. Die Regierung hält zu den Juden.«
Seine Arbeitsabläufe müßten gestrafft werden. Er könne ihm Schablonen berechnen, die das Zuschneiden für alle Größen in der halben Zeit zulassen.
»Ihr kennt anscheinend die Gilden in Venedig nicht«, er setzt wieder sein allwissendes Lächeln auf, »meine Schneider wurden zwangsweise in die Handwerksrolle eingeschrieben, als sie vom Festland kamen. Ich durfte sie nicht einmal selbst aussuchen, die Gilde wies sie mir zu. Selbst die Qualität der Säume und der Nähte wird von der Gilde bestimmt, abends muß ich die Schlamperei«, er holt keine Luft mehr, »mit Sonderlohn ausbessern lassen. Ich gebe das Kapital, ich trage das Risiko, ich muß verkaufen, aber die Gilde legt die Löhne und die Schneider«, er atmet schon lange nicht mehr, »und die Arbeitstage fest und wie zugeschnitten wird, und die Regierung tut nichts, die Regierung liebt die Gilden.«
Dieser mundfaule Schneider. Sein lustlos zischelndes Venezianisch. All seine wunderbaren Klänge vergeudete er, weil er sie zu zaghaft durch die Lippen ließ. Wie herrlich könnte er sprechen mit dieser Stimme, Aufschwünge, Abschwünge, jubeln lassen sollte er es mit diesen Himmelstönen, mit weitem Mund müßte er es klingen lassen gegen die Regierung.
Doch jetzt reichte es. Er mußte gehen. Es war vertane Zeit. Hier gab es kein Geld zu verdienen. Er mußte in den nächsten Laden. Aber es war so schön, sein Sprechen lief so gut vor diesem seltsamen Schneider, wann hatte er zuletzt mit einem Menschen so ohne Angst geplaudert, es war beinah, als gehöre er zu ihnen. Doch wenn er jetzt nicht ging, dann war das einfach Leichtsinn, er brauchte ein Einkommen in Venedig.
Tartaglia ging nicht. Ob er sein Schneiderkapital vielleicht in den neuen Einlagen bei der Münzanstalt anlegen wolle, fragte er. Neun Prozent für eine wählbare Zeit. Stirbt der Anleger vor Ablauf, fällt es an die Regierung, deshalb die hohe Rendite. Das wußte er alles von Fra Agostino, dessen Ordensbrüder legten dort die Klosterkasse an. Er könne ihm den Zufall seines Todes ausrechnen, sagte Tartaglia, damit er die richtige Zahl der Jahre wählen könne.
»Ihr sucht für alles eine Lösung, und Ihr findet sie. Mit Euch zusammen hätte ich gewiß jedesmal drei Dutzend Ellen Futtertuch zusätzlich eingespart«, wie er sich über seinen mühsamen Scherz freut und wie verlegen er gleichzeitig wird darüber, man mußte ihn mögen, diesen Lahmredner, »nein, mein Geld werde ich nicht in die Münze geben. Seit der Gewürzhandel über Lissabon läuft, wird Gewinn nur noch in der Tuchherstellung erzielt. In Smyrna ist venezianisches Tuch mit dem Regierungssiegel schon verkauft, ehe die Schiffe richtig festgemacht haben. Alle in Venedig investieren in die Manufakturen, keiner mehr in den Handel, meine Teilhaber und ich werden hier in Venedig Tuch herstellen, feinstes Tuch, das die Regierung siegeln wird.«
Das ginge alles nicht, sagte Tartaglia. Es gäbe keine Bäche in Venedig, keine Flüsse. Also keine Mühlen. Ohne Mühlen keine Walkhämmer. Ohne Walken kein Tuch. Das wußte er von Battista Sfondrato in Verona.
Tartaglia drehte sich halb um und machte zwei Schritte zur Ladentüre hin. Doch wieder blieb er stehen. Es war zu schön. Es war, als gehöre er wirklich zu ihnen, wenn er hier so beinah fließend diese gescheiten Dinge sagen konnte, die er erst kürzlich bei Sfondrato mitbekommen hatte. Dabei war es der reine Übermut, und die Tuchfabrikation interessierte ihn sowieso nicht. Er mußte weiter. Er brauchte Geld fürs Überleben.
»Es ist alles ganz einfach, mein Freund. Wir werden das Tuch zum Walken nach Treviso bringen. Um das Siegel der Regierung zu erhalten, muß es hier in Venedig nur gewaschen worden sein, das genügt den Bürokraten.«
Treviso und zurück, sagte Tartaglia, das sei der Kostenteil, der den Schneider und seine Teilhaber dann aus dem Rennen werfe. Diese Kosten habe die Festlandkonkurrenz nicht, die werde auch das Siegel der Regierung nicht ausgleichen können beim Verkauf in Smyrna. Das konnte man sich doch ganz schnell ausrechnen.
»Lieber Freund, es gibt keine Festlandkonkurrenz mehr. Mailand liegt in Ruinen und Elend. In Florenz steht alle Produktion still. Brescia verlor schon durch das Gemetzel der Franzosen seine blühende –«
Mit ihren vom Töten der Männer blutverschmierten Händen rissen sie sich als erste die halbwüchsigen Mädchen hinunter auf die Steinplatten des Doms.
»– was ist mit Euch?«
Tartaglia war erstarrt. Seine Augen bewegten sich nicht. Seine Arme hoben sich ein Stück wie in Abwehr, fielen dann herunter. Aus allen Poren der Schweiß. Sein Mund stand offen, doch er brachte nicht ein Wort mehr heraus, er brachte nicht eine Silbe mehr heraus.
Da füllte sich auch das Gesicht des Schneiders mit Ratlosigkeit und mit Angst.
So standen sie einander gegenüber.
Und ein Schwall aus bitterer Wut brach in Tartaglias hilflose Sprechversuche. Nackt mußte er jetzt dastehen vor einem wildfremden Menschen. Als verängstigter Idiot im Pelzkragen. Sein Mund eine zitternde Öffnung, seine Augen sicher tierisch rund vor Schreck, sein Körper ein bebendes Bündel aus Anstrengung und aus Vergeblichkeit. So mußte er sich anschauen lassen von diesem Schneider. Lächerlich die Rechenkünste, dumme Sfondrato-Sprüche.
Er hätte doch längst wieder draußen sein können. Nur von seiner eitlen Sprechlust hatte er sich in diesem ausgeräumten Laden festhalten lassen, weil es plötzlich so herrlich fließend ging.
»Bleibt stehen.« Der Schneider hastete zur hinteren Türe. Er kam mit Feder und Papier zurück und einem Schreibbrett, denn es waren keine Tische mehr im Verkaufsraum.
Er stellte sich vor Tartaglia und hielt ihm das Schreibbrett. Wollte alles erklärt haben. Als Tartaglia die vier Worte geschrieben hatte, da drehte der Schneider das Brett nicht zu sich herum, sondern legte es auf den Boden. Er hatte von oben mitgelesen.
»Wie alt wart Ihr?«
Unwillig und zögernd sagte Tartaglia dreizehn.
Der Giacomettoplatz sei vierzig Schritte nach der Brücke zu finden. Nicht zu verfehlen, nur diese eine Brücke führe über den großen Kanal. Dort am Giacomettoplatz residierten die richtigen Kaufleute, hatte Fra Agostino erklärt, diejenigen, die mit Amsterdam und Augsburg Handel trieben, und mit der Levante natürlich. Die Juden seien zwanzig Minuten weiter hinten, aber auf der anderen Seite des Kanals.
Tartaglia erreichte die kleine Kirche. Die enge Gasse lief an den Kirchenmauern entlang und endete dann vorn an der Ecke in diesen hellgleißenden schmalen Spalt. Der in der Februarsonne liegende Marktplatz. Mit jedem Schritt sah man jetzt mehr davon. Er mußte es sein. Alles war so, wie Fra Agostino es beschrieben hatte.
Im allerletzten Häuserschatten der Gasse, direkt an der vorderen Kirchenecke, blieb Tartaglia überrascht stehen. Das hatte er nicht erwartet. Der Platz, den sie Rialto nannten, hatte dieselbe Größe wie der Platz der Signori in Verona. Es mußte sogar derselbe Schnitt sein, das Verhältnis der Breite zur Länge. Auch die Größe der rötlichen Steinplatten stimmte überein, und wie in Verona lagen die zerbrochenen an den Rändern des Platzes.
Und doch war es so anders. Es mußte das viele Glas sein und das Licht und die Farben, ähnliches hatte er in Verona niemals erlebt. Und die Gebäude rundherum waren viel niedriger und alle waren sie langgestreckt. Es gab keine Wehrtürme dazwischen, keine abweisend behauenen Granitquader wie in Verona, hier war alles glatt und farbig, mit nah aneinandergesetzten Fenstern aus funkelndem Glas, da hielten Dutzende von geschmeidigen Arkadenbogen gleich zwei lange Fensterreihen über sich im Gleichgewicht, so leichthin taten sie das, als ob sie mit ihnen nur spielten, und die Scheiben der Fenster waren seltsam schmal und hoch, wie es Tartaglia sonst nirgendwo gesehen hatte, und auf den Fassaden schräg gegenüber lag jetzt die Mittagssonne und färbte das Mauerwerk um die Fenster auch noch richtig karmesinrot.
Womöglich waren die Gläser und die Farben aber gar nicht das eigentlich andere. Tartaglia blieb lange auf demselben Fleck stehen. Da war etwas Rätselhaftes, das er durchdringend zu spüren glaubte, das ihn beunruhigte, weil er es nicht sehen konnte, ein wenig ärgerte es ihn sogar schon, weil er es trotz allen Bemühens nicht begreifen konnte.
Dann begann er es zu entdecken. Es mußte der Widerspruch sein. Das, was er sah, und das, was er hörte, paßte nicht zusammen. Und plötzlich wußte er, weshalb dieser Marktplatz so ganz anders war als alle Plätze, die er kannte. Auf diesem Rialtomarkt nämlich drängten sich ein paar hundert Menschen, doch gleichzeitig lag über dem gesamten Platz eine geheimnisvolle Stille.
Gleich neben ihm begann die lautlose Geschäftigkeit. Die kleine Kirche besaß ein etwa zwanzig Fuß herausragendes Vordach, gestützt von gestuften Säulen aus hellem Marmor, vier oder fünf, er konnte es von der Seite aus nicht genau sehen, und dort, im dunklen Schatten des Vordaches, waren zwei Türflügel mit Viertelbogen. Nun wäre es aber unmöglich gewesen, in die Kirche hineinzugelangen, das sah er sofort. Denn unter dem Vordach standen die Tische der Geldwechsler und der Bankleute. Zusammengedrängt, daß manche der Tischkanten aneinander anstießen und sich kurze Tischreihen bildeten. Einige Tische ragten aus der Vorhalle heraus, derart eng ging es zu, ein paar mußten ganz im Freien stehen. Und um jeden der Tische drängten sich wohlgekleidete Männer. Keiner aus der Mitte des Platzes, keiner der Wanderhändler, keins der Fischweiber oder gar einer der Bettler wagte sich an die Banktische vor dem Kirchenportal heran.
Und es sah aus, als kannten sie sich alle, die hier mit Geld umgingen. Wohl nur deshalb konnten sie so vertraulich nah beieinanderstehen beim Sprechen. Sie redeten miteinander in einem leisen Murmelton, manchmal war es nur ein Flüstern.
Tartaglia ging langsam auf die sonnenbeschienene Seite hinüber. Quer über den Marktplatz. Die vielen Hurenfrauen in ihren auffälligen gelben Umhängetüchern. Auf seinem Weg zwischen den Marktständen hindurch zeigten ihm zwei ihre Brüste, obwohl es doch so kalt war, und sagten ihm, daß es jedesmal fünf Soldi koste, wenn man zwischen ihre Schenkel wolle. Ihr Sprechen war leise und schön.
Drüben dann, unter den Arkaden, die im Sonnenlicht lagen, dies mußten die eigentlichen Kaufleute sein, so hatte Fra Agostino sie ihm heute morgen beschrieben. Die Männer standen in Gruppen eng beisammen, oder falls sie ein wenig Raum fanden, schlenderten sie, miteinander tuschelnd, umher. Auch hier nur die Roben der Adeligen und die Topfhüte und die Halskrausen der bürgerlichen Venezianer. Und deutsche Kaufleute in ihren unten geschnürten Hosen. Und die Türken.
Horchend und beobachtend und lauernd und spähend schob sich Tartaglia um den Platz herum. Immer ganz nah an den Arkaden entlang, immer an der Grenze zwischen arm und reich, mit einem einzigen Blick sah man, wo diese unsichtbare Grenze verlief. Nach jedem fünften Schritt blieb er stehen. Kam er einmal den Geschäftsleuten zu nah, weil er etwas von ihrem Handel einfangen wollte, dann wurde er mit einem strengen Aufblicken hinweggescheucht.
San Pietro, durchfuhr es Tartaglia, ja, warum nicht, diese Arkaden hier, die im Sonnenlicht lagen, sie waren die Peterskirche des Welthandels. Und er wird bis zum Altar vordringen.
Auf der anderen Seite des Marktplatzes angelangt, drängte Tartaglia sich in den hinteren Teil der Arkaden. Hier auf der Schattenseite des Platzes waren all die Geschäfte der Handwerker und Kleinkaufleute. Und drüber die Wirtsstuben. Zwischen zwei Goldschmiedeläden führte eine Treppe zu einer Taverne, die auch eine Herberge betrieb. ›Campana‹ hatte er unten gelesen.
Sie schenkten nur Wein aus, und deshalb mußte er dem Wirt seine Frage stellen, bevor er aus dem Becher trank. Ganz wenig Wein schon vervielfachte seine Mühsal beim Sprechen.
»In vier Tagen wird mein kleinster Schlafraum oben im Hinterbau frei. Falls du ihn nehmen willst, dann mußt du mir zehn Lire Kaution dalassen.«
Der Verstand begann sofort, die zehn Lire in Anteile seiner Ersparnisse umzurechnen. Doch Tartaglia gab dem Verstand nicht nach und zählte dem Wirt die schönen großen Münzen auf den Tisch. Mochte es der Zimmermann heute abend lautstark als Irrsinn bezeichnen und Fra Agostino bestürzt lächeln.
Und morgen würde er zu einem Drucker gehen.
Schon ganz früh am vierten Tag schleppte Tartaglia seine Reisetasche und sein Bündel in die Campana. Er konnte gar nicht schnell genug hinaufgelangen in seinen neuen Schlafraum. Aber er mußte in der Schankwirtschaft warten, bis endlich der verschlafene Wirt erschien. Wertvolle Zeit verstrich. Dann begann das Verrechnen der Wochenmiete mit der Kaution. Zwei winzige Subtraktionen, nichts weiter. Die umständliche Schwätzerei des Wirtes dabei war ganz und gar unnötig und nochmals unermeßlich zeitraubend. So waren sie. Selbst wenn ihnen der Schlaf noch halb die Augen verklebte, sie mußten sich reden hören. Der geringste Anlaß war ihnen recht für ihr wichtigtuerisches Sprechen. Statt daß sie gleich zugaben, Lira nicht in Soldo umrechnen zu können. Und die Bewegungen des Hausdieners, als der ihn dann schließlich über die Treppen und die Stiege hinaufbegleitete und den Raum aufschloß, auch die waren fraglos viel zu gemächlich in Anbetracht dessen, was jetzt wartete.
Oben in dem Verschlag schien Tartaglia nichts wirklich wahrzunehmen. Nur das Einrasten des Türschlosses prüfte er. Eilends stellte er seine Ledertasche vor sich auf den Boden, genau in die Mitte des kleinen Raumes, und kauerte sich ganz nah neben die Tasche.
Mit einem Mal und von einem Atemzug zum nächsten war all seine Hast und Ungeduld verflogen, wurden seine Bewegungen langsam und gemessen. Mit geradezu bedächtigem Behagen zog er die fünf Verschlußriemen aus ihren Schnallen heraus und legte sie, einen nach dem anderen, sorgfältig nach außen. Er schob beide Hände in den Schlitz der Tasche hinein und hielt die Öffnung mit den Unterarmen auf. Seine Finger suchten einige Zeit im Inneren der Tasche herum. Dann faßten sie zu. Ganz kurz schloß Tartaglia die Augen, um sich des gleichmäßigen Andrucks aller seiner zehn Fingerkuppen zu vergewissern. Er sah einen Augenblick hoch, um eine geeignete Ablage zu finden. Stuhl oder Tisch gab es nicht. Also das Bett. Langsam zog er das Stoffbündel heraus. Alles, was über dem Bündel gepackt gewesen war, fiel kreuz und quer in die Tasche zurück. Tartaglia stand auf, das Bündel in beiden Händen, trat gezielt und kräftig gegen die Reisetasche, damit sie aus dem Wege rutschte. Das Bett war nur ein niederer Kasten, er mußte auf beide Knie hinunter, um das Bündel dort abzulegen. Es war aus dickem Leinen, grau und stellenweise schwarz vor Schmutz. Und als ob er jemandem beibringen wolle, wie das Auseinanderpacken des Bündels zu bewerkstelligen sei, so nahm er jetzt eine Stoffbahn nach der anderen in die Finger beider Hände und legte jede von ihnen ganz sanft, beinahe andächtig, beinahe zärtlich nach außen. Mit den letzten beiden Bahnen ging er besonders behutsam um. Dann, immer noch vor dem Bett kniend, verschränkte Tartaglia so richtig selbstgefällig die Arme über der Brust. Sein Lächeln war jetzt beides, zufrieden und glücklich. Er hatte Luca Paciolis Summa de Arithmetica, Geometrica, Proportioni e Proportionalità ausgepackt. Gedruckt zu Venedig 1494.
Wie hatte er sich auf diese Minute des Auspackens gefreut. Seit Verona hatte er die Summa nicht mehr in den Händen gehabt. Dort hatte sein erster Blick bei jedem Erwachen ihr gegolten. Manches Mal, wenn er einmal nicht damit arbeitete, hatte er das Buch auch nur angesehen, wie es so auf dem Tisch lag. Er war dann sogar zurückgegangen bis zur Zimmertüre und hatte sich aus der Ferne am Anblick der himmlisch dicken Schwarte geweidet.
Schon heute morgen hatte die Vorfreude auf das Leinenbündel ihn beim Abschied in San Guistina begleitet. Auch der Zimmermann zog weg aus dem Kloster, ins Arsenal, die riesige Schiffswerft und Rüstungsschmiede der Venezianer. Er bekam dort den leerstehenden Schlafraum eines Kalfaterers, der auf einer Galeerenreise ruderte.
Fra Agostino hatte viel geredet, mehr als sonst. Das Arsenal sei zehnmal sorgfältiger bewacht als das nächtliche Getto, sie hätten sogar eigene Bäcker für die vielen Familien im Arsenal, und genug Weizen sowieso, wenn manches Mal ganz Venedig hungern müsse, für ihre Arsenalottis schaffe die Regierung alles herbei, denn das Geschützgießen und die Galeerenfabrikation dürfe niemals stillstehen und brauche zufriedene und wohlgenährte Arbeitskräfte – Fra Agostino berichtete übers Arsenal, als habe er sich dieses Wunderwerk selbst ausgedacht, und schaute beim Sprechen auffallend oft hinüber zu den eckigen Türmen, sehnsüchtig war sicher übertrieben, Neid durfte man ihm auch nicht unterstellen, vielleicht war es nur sein Stolz darüber, daß sein stilles Kloster so nah am pochenden Herz der Weltmacht stand.
Für Tartaglia hatte Fra Agostino ein Abschiedsgeschenk. Er wolle ihm zu einer Wohnung in jenen neuen Mietshäusern verhelfen, die bei Sansalvatore gebaut wurden, nur dreihundert Schritte vom Rialto, der Kapellan dort sei ein Ordensbruder. Was Fra Agostino sonst noch sagte, hatte Tartaglia nicht mehr richtig gehört, denn schon Minuten vor dem Abschied hatte er fieberhaft nach einem anderen Wort gesucht für das Danke, das er immer so schlecht herausbrachte. Doch es gab keinen Ersatz, er fand nur lächerliche Redensarten, und als es dann soweit war, hatte sich natürlich seine Zunge eine Ewigkeit lang gegen die Zähne gepreßt, und er bekam die Lippen nicht auseinander. Da hatte Fra Agostino sich vor ihm auf die Zehenspitzen gestellt und ihn einfach umarmt.
Der Lesefaden. Er hing aus der Summa heraus. Tartaglia schlug das Buch auf. Der Lesefaden lag noch immer zwischen folio 217 links und 217 rechts. Und auf dem leeren Außenrand, bei Paciolis Aufgabenlösungen Nummer 145 bis 149, da stand es immer noch. Ganz leicht, mit dünnem Kohlestift: ›Error di Luca Pacioli‹. In jener Nacht voller Aufregungen und Zweifel hatte er es hineingeschrieben, damals in Verona. Und daß es später verschmiert war, beruhigte ihn jedesmal, denn das bewies, daß es wieder ungeschrieben gemacht werden konnte. Dennoch, es konnte keinen Zweifel geben, die Lösungen der Warentauschaufgaben Nummer 145 bis 149 von Luca Pacioli waren einfach nicht richtig.
Wenn man ehrlich sein wollte, hätte man zugeben müssen, daß es meist nur ein und dasselbe langweilige Rechenmuster war. Zwei Kaufleute wollen tauschen. Der eine hat Stoff, der andere Wolle. Derjenige, der den Stoff besitzt, sagt, eine Rute meines Stoffes ist in vier Monaten 50 Soldi wert, aber im Tausch kostet sie 60 Soldi. Derjenige, der die Wolle besitzt, sagt, der Zentner meiner Wolle ist in sieben Monaten 41 Soldi wert. Es ist dann die Frage, was die Wolle beim Tausch in vier Monaten kostet. Luca Pacioli hatte die unabsehbare Zahl dieser Art von Aufgaben mit dem wunderbaren Kunstgriff gelöst, daß keiner bei einem Handel übervorteilt werden dürfe, und hatte deshalb für die fehlenden drei Monate den passenden Zins hineingerechnet.
Die meisten Geschäfte des Antonio Scaino ließen sich nach diesem einfachen Muster Paciolis erledigen, und so hatte Tartaglia damals kaum aufs Rechnen zu achten brauchen und jedesmal mit Leichtigkeit weitergeschrieben, wenn die köstlich duftende Signora Scaino den Kopf über seine Schulter schob und ihre Wange an die seine legte.
Nicht mehr langweilig war es, wenn das Bargeld hinzukam. Hier war selbst Luca Pacioli gestrauchelt. Denn viele Kaufleute wollten nicht nur, daß der Tausch zu verschiedenen Terminen erfolgte, sondern sie wollten auch einen Teil des Tauschwertes in Bargeld ausbezahlt haben. Jetzt sagt der mit dem Stoff, die Rute meines Stoffes kostet 50 Soldi bar und kostet 80 Soldi beim Tausch. Und er macht einen Termin von 10 Monaten aus. Außerdem will er ein Viertel in bar und drei Viertel in Wolle. Der Zentner jener Wolle kostet bar 110 Soldi und wird nach 12 Monaten 130 Soldi wert sein. Und die Frage ist, welchen Teil der mit der Wolle von dem mit dem Stoff verlangen kann, wenn der Tausch ehrlich sein soll.
Es hatte Tartaglia acht lange Nächte gekostet, Luca Paciolis Gedankenfehler bei der Lösung der Termin-Bargeld-Variante herauszufinden. Dabei war es am Ende ganz einfach gewesen. Pacioli hatte zwar alle Preise und das Bargeld auf den gleichen Termin bezogen, den Zinssatz jedoch nicht.
Dann aber kam jene neunte Nacht. Die Schuldgefühle, die Zweifel. Weshalb war es nicht anderen passiert, auf diesen Fehler Luca Paciolis zu stoßen, solchen, die ihn weniger liebten. Aber vielleicht gab es die gar nicht. Sicherlich liebten sie Pacioli alle genauso, wie er ihn liebte. Und dann war er stundenlang ziellos durchs dunkle Verona gelaufen, die Nachtwächter hatten ihn schon seltsam angesehen, als er zum fünften Mal an ihnen vorüberkam. Luca Pacioli korrigieren. Luca Pacioli belehren. Luca Pacioli demütigen. Ganz frech etwas Neues hineinkritzeln in die Summa. Das stand einem Tartaglia gewiß nicht zu. Ohne Frage, so etwas war der reine Frevel.
Am Morgen hatte er all seinen Mut zusammengenommen und mit dem Kohlestift sein ›Error di Luca Pacioli‹ neben die Aufgabenlösungen Nummer 145 bis 149 geschrieben. Ganz vorsichtig. Fast ohne den Stift richtig aufzudrücken.
Dieser Lesefaden in folio 217 hatte die alten Erinnerungen mit nach Venedig geschleppt. Jetzt aber wollte Tartaglia endlich blättern und streicheln. Also blieb er eine Ewigkeit lang vor dem niederen Bettkasten knien. Und bei jedem Umblättern strich er liebevoll über die Drucklettern in der Summa. Seine gierigen Finger verließen keine Seite, ohne zuvor ein paar Stellen des Druckbildes zärtlich abgetastet zu haben. Es waren diese winzigen Unebenheiten, die das Papier durch das Eindrücken der Lettern erfahren und für ihn aufbewahrt hatte, sie erzeugten die prickelnde Wollust in seinen darübergleitenden Fingerspitzen. Und er genoß die Wollust mit Andacht. Er genoß sie mit aneinandergepreßten Kiefern. Er genoß sie mit geschlossenen Augen. Manchmal mit angehaltenem Atem. Und es gab noch Steigerungen. Die betörendsten Empfindungen entlockte er dem bedruckten Papier, wenn er die Gleitgeschwindigkeit seiner Finger immerzu ein wenig veränderte. Oder er variierte geringfügig den Andruck in den Fingerkuppen. Am schönsten war es natürlich, wenn ihm beides gleichzeitig gelang. Dann mußte er die Augen wirklich fest zusammenpressen, um die verrückt gesteigerte Wollust überhaupt aushalten zu können.
Er lehnte sich an eine der Säulen. An eine jener sechs dicken Säulen ganz hinten am Rialtomarkt, auf der Gegenüberseite von Giacometto. Das Kirchlein wirkte von hier aus noch kleiner. Tartaglias Blick kam nicht mehr los von den Einzelheiten der Kirchenfassade, er sah auf die Farben und auf die Glasstücke und in die dunklen Rechtecke unten zwischen Säulen und auf die Ziffern der weißen Riesenuhr, die nur noch Striche waren.
Doch in Wirklichkeit sah er das alles ja gar nicht. Er sah nur, daß Giacometto diese zwei Gesichter in der Fassade hatte.
Er rutschte ein Stück um die Säule herum mit seinem Rücken, er mußte den Schatten des Daches suchen, denn ihm war immer noch heiß unter dem Mantel, überall auf der Haut, von der Stirn bis zu den Füßen, überall war er naßgeschwitzt. Und Tartaglia spürte, wie sich mehr und mehr die Müdigkeit in seinem Körper breitmachte. Aber einigemal zwischendurch fühlte er jetzt auch die Erleichterung. Und ein wenig den Stolz darüber, daß er es überhaupt getan hatte. Er hatte seine bedruckten Zettel an den Tischen vor der Kirche verteilt und dann an die Männer drüben unter den Arkaden.
Elf der Zettel waren übriggeblieben. Und oben in seinem Schlafraum lagen die sechzig anderen. Die für die Juden. Die würde er morgen verteilen. Der Drucker hatte ihm gesagt, daß die Lettern hebräisch sein müßten. Zuerst hatte er es ihm nicht geglaubt. Doch, hatte der Drucker gesagt, italienische Sprache mit hebräischen Buchstaben, die jüdischen Kaufleute können die lateinischen Lettern nicht lesen. Deswegen hatten ihn die Zettel für die Juden auch zweieinhalbmal mehr gekostet als die für die Christen und Türken. Und alles in allem war er damit seine Ersparnisse an einen venezianischen Drucker losgeworden.
Tartaglia preßte seinen Rücken fester an die Säule, denn er wußte genau, was jetzt mit ihm geschehen würde. Es war immer dasselbe, wenn er eines dieser Gefechte geführt hatte. Der Glückstaumel über sein bißchen Mut und den günstigen Ausgang der Schlacht hielt nie lange an, und eine bleierne Melancholie fragte immer lauter, ob denn soviel Aufregung um Selbstverständliches nicht lächerlich sei.
Dabei war es besser gegangen, als die Ängste der letzten Nacht ihm vorgespielt hatten. Er hatte dieselbe gewichtige Miene aufgesetzt, die er zuvor den Kaufleuten aus der Entfernung abgeschaut hatte. Und dann hatte er jeden der Männer entschlossen angeblickt. Alle hatten sie seine Zettel entgegengenommen. Vielleicht hatte der Pelzkragen mitgeholfen.
Sein Herz hatte ihm im Halse geschlagen dabei, und er hätte kein Wort herausgebracht, falls ihn einer angesprochen hätte. Deshalb hatte er es so hastig tun müssen. Und jetzt lehnte er erschöpft an einer Säule, und sein höchstes Glück waren ein paar ruhige Atemzüge.
Er hatte sich wieder vor ihnen verbergen müssen. Diesmal hinter den bedruckten Zetteln, und, wie jedesmal, hinter dieser aufgeregten Wichtigtuerei. Es sollte ja wirken, als ob er kaum Zeit habe für das Verteilen. Dabei hätte er alle Zeit der Welt gehabt.
Wie wäre da ein anderer Rechenmeister vorgegangen, einer, der gleich beim Heranschlendern einer der Ihren war, weil er ja nichts zu verbergen hatte. Dieser hätte den Kaufleuten mit einer eleganten Handbewegung die Zettel präsentiert, auf denen in stolzen Lettern zu lesen stand, was er bewerkstelligen konnte. Wäre bedächtig vor den Männern stehengeblieben, hätte sie erwartungsvoll angeschaut, ein paar toskanisch gedrechselte Sätze mit ihnen gesprochen, mit einigen wichtigen und klugen Worten darin, hätte dann gelächelt und sich verbeugt. Und wäre gemessenen Schrittes zum nächsten gegangen.
Er war nur aufgeregter Ängstling gewesen.
Es würde mühsam werden beim Welthandel, das zeigte schon der erste Tag. Luca Pacioli war zu den Franziskanern gegangen, noch bevor er dreißig Jahre alt war. Vielleicht hatte er seine Summa in einer Klosterzelle geschrieben, mit einem Fenster, durch das die Sonne schien, hatte sich nicht herumgebalgt mit Bäckern und Schneidern, wurde nicht geduzt von Fährleuten und Tavernenwirten, brauchte nicht hastig zu tun vor ein paar Gewürzkaufleuten.
Die kleine Kirche dort gegenüber hatte wirklich zwei Gesichter in ihrer Fassade. Ein frohes Gesicht mit offenem Mund, das war das obere: die beiden senkrechten Ellipsenfenster unter den drei Glocken, das waren die Augen, die runde Uhr der Mund, ein großer offener Mund. Das traurige Gesicht, das sah unten heraus: die beiden waagrechten Ellipsenfenster und der halbe Fenstermund darunter.
Die hohen Fassaden. All die zugemauerten Fenster. Die kleine Brücke hinüber zu ihrem Tor. Die aus dicken Bohlen gezimmerten Torflügel, mit denen man sie des Nachts einschloß. Jetzt mußte er noch durch dieses lange dunkle Nadelöhr der Eingangsgasse, angefüllt mit tappenden Menschen, die einen wollten hinein, andere schon wieder heraus, manche drückten ihn einfach zur Seite, niemand wollte warten, keiner nahm Rücksicht. Dann Helligkeit. Der weite Platz. Er war endlich drinnen in ihrem Getto.
Tartaglia war sofort entmutigt. Die Läden rund um den Gettoplatz waren ja regelrecht belagert von Kunden, und daß das alles Christen waren, die da warteten, sah auch jeder. Wie sollte er denn hier nur herankommen an die jüdischen Kaufleute, für die er seine sechzig Zettel hatte drucken lassen.
Vor drei Läden herrschte ein besonders auffälliges, dichtes Gedränge, weit in den Platz hinein, alle drei hatten sie den gemeißelten Löwen von San Marco über sich im Mauerwerk. Tartaglia wühlte sich zwischen die wartenden Menschen unter dem ersten Löwen gleich zehn Schritte rechts von der Gasseneinmündung, spähte zwischen ihnen hindurch zum offenen Schiebefenster mit dem Juden dahinter. Einer der Geldverleiher war das, seine Zinssätze hatte er auf eine Schreibtafel neben dem Fenster gemalt. Und er sah viel zu gescheit aus, der Geldverleiher, so einer brauchte selbst für den zusammengesetzten Zins gewiß keinen Rechenmeister.
Tartaglia erkundete Geschäft um Geschäft, taxierte Händler um Händler hinter ihren geöffneten Verkaufsfenstern oder halb heruntergeklappten Türen. Die letzten sieben nur noch mit kurzen Blicken. Dann hatte er seine Runde vollführt um den Gettoplatz.
Das waren sie alle nicht, die er suchte, jetzt wußte er es. Neunzehn Altwarenhändler, perfekt durchsortiert vom Hochzeitskleid bis zur Hundepeitsche, die sich jedesmal umständlich das herunterhandeln ließen, was sie gewiß zuvor dem Preis zugeschlagen hatten. Und drei Geldverleiher, denen ärmliche Christen ihre Pfänder übers Brett schoben. Wo waren sie nun, die wirklichen Kaufmannsjuden, Fra Agostino hätte ihm sagen sollen, daß die hier nicht öffentlich herumstanden wie die christlichen Kaufleute auf ihrem Rialto.
Seine wertvollen Lire und seine schönen Soldi waren fast alle draufgegangen fürs hebräisch buchstabierte Italienisch. Was fing er jetzt an mit den schönen Zetteln, er konnte doch nicht rundherum an die Haustüren klopfen und nach den Großkaufleuten fragen, er hätte ja nicht einmal die hebräischen Buchstaben fürs Fragezettelchen gewußt. Vielleicht gab es sie auch gar nicht, vielleicht waren jüdische Großkaufleute nur eine Erfindung irgendwelcher mißgünstiger Christen. Und Fra Agostino glaubte ihnen alles, weil er sich im Geschäftsleben sowieso nicht auskannte.
Wie schön sie ist. Tartaglia starrte sie an, daß es gleich peinlich war, sein ganzer Körper drehte sich mit, während sie an ihm vorüberging und er ihr mit den Augen folgte. Der Frauenumhang in Lila und Blau erinnerte ihn sofort an Signora Scainos ausgefallene Kleidungsstücke. Eine Jüdin war sie, unter ihrem glänzenden rotbraunen Haar, das da so lustig wippte im Rhythmus ihres Gangs, lugte ein Stück des kreisrunden gelben Flecks auf ihrem Halstuch hervor, und auch der Diener trug den roten Hut. Es mußte ein Diener sein, ihr Mann war das gewiß nicht, genauso wie die Diener bei den reichen Christen lief er wohlerzogen hinter ihr her, trug dieses Schnürpaket für sie, doch selbst wenn er neben ihr gelaufen wäre – um schon einen Mann zu haben, dafür war sie einfach zu jung. Die Leute auf dem Platz traten einen Schritt beiseite, wenn sie ihr im Wege standen, und es sah aus, als erwarte sie das von ihnen. Sie mußte von dort hinten, von dem größeren Gettoeingang, hergekommen sein, deshalb hatte er sie so spät erst bemerkt, ihr Gesicht nur Augenblicke lang zu sehen vermocht, und konnte ihr jetzt kaum eine halbe Minute lang nachblicken, denn drüben, auf der nördlichen Seite des Platzes, trat sie schon in eine Haustür, der Diener hinterher. Es schien, als hätten sich die Türflügel geöffnet, bevor sie ganz dort gewesen war.
Was für Frauen Gott erschaffen konnte.
Eine ganze Weile waren die Türflügel geschlossen – Tartaglia starrte noch immer zu ihnen hinüber. Es dauerte lang, bis er zu sich kam und schließlich glauben mußte, was der Verstand mit schneidender Stimme behauptete und was bei jedem Wiederholen ungeduldiger klang. Daß der Lauf der Welt weiterginge.
Und der Verstand wendete natürlich alles gleich wieder ins Praktische. Diese Altwarenhändler rundherum, konnten die solche Töchter haben, nicht einmal bei den drei Geldverleihern sei das doch vorstellbar, trotz ihrer Löwen obendrüber.
Er solle es tun, sagte der Verstand. Der Pelzkragen würde mithelfen. Wenn überhaupt, dann wohne einer der gesuchten Großkaufleute in jenem vielstöckigen Haus dort drüben, in das sie gerade hineingegangen war mit ihrem Diener, da drin mußte zweifellos einer der richtigen Kaufmannsjuden residieren. Wo sonst. Und selbst wenn es sich nur als das Haus eines der reichgewordenen jüdischen Ärzte herausstellte, selbst dann sei solch eine Verrücktheit doch immer noch besser, als wenn er seine gedruckten Zettel – diese teuren, hebräisch buchstabierten sechzig Kostbarkeiten – später wegwerfen mußte, weil er keinen Kaufmann dafür gefunden hatte.
Und Tartaglia begann loszugehen. Machte kurze Schritte, die fühlten sich immer so sicher an. Ließ seine Fußsohlen abrollen, daß sie beinah zu Halbkreisen wurden, das gab einen tiefen Atem. Das Haus war das höchste am ganzen Gettoplatz, das merkte er jetzt beim Näherkommen, und als der Diener die Tür öffnete, da packte Tartaglia ihm den ganzen dicken Zettelstapel in die Hände. Ließ den Diener damit im Türrahmen stehen und ging wortlos davon.