Der Ring - Paul Melko - E-Book

Der Ring E-Book

Paul Melko

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Beschreibung

Das dunkelste Geheimnis der Menschheit

Nachdem sich neunzig Prozent der Menschheit aus dem Staub gemacht haben, um in eine andere Realität überzuwechseln, wurde ein gigantischer künstlicher Ring um die Erde errichtet. Die übrig gebliebenen Erdenbewohner wurden genetisch zu neuen Einheiten zusammengefasst. So auch Apollo Papadopulos, der insgesamt aus fünf verschiedenen Teenagern besteht, die darauf programmiert wurden, wie ein Mensch zu denken, zu fühlen und zu handeln. Bei einem Einsatz stößt Apollo auf einen Saboteur, und schnell wird klar: Die Gefahr ist größer, als bisher angenommen ...

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Seitenzahl: 510

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DAS BUCH

Die goldenen Zeiten der Erde sind vorbei: Nur noch zehn Prozent der Menschheit bewohnen den blauen Planeten. Für sie unzugänglich umspannt ein gigantischer künstlicher Ring den Planeten – das letzte Mahnmal der einst so hochkultivierten Zivilisation. Unter den verbliebenen Erdenbewohnern befinden sich auch Strom, Meda, Quant, Manuel und Moira. Das genetisch modifizierte Quintett bildet die personelle Einheit Apollo Papadopulos, die darauf programmiert ist, wie ein einziger Mensch zu denken, zu fühlen und zu handeln. Dazu ausgebildet, Sternenschiffe zu lenken, sieht sich Apollo bei seiner jüngsten Mission plötzlich Mächten gegenüber, die weit mehr vorhaben, als diesen Einsatz zu sabotieren. Der Kampf gegen unbekannte Gegner führt Apollo nicht nur quer durch Süd- und Nordamerika, sondern schließlich zu dem sagenumwobenen Ring – und damit zum dunkelsten Geheimnis der Menschheit …

DER AUTOR

Paul Melko, geboren 1968, gehört zu den renommiertesten Science-Fiction-Autoren der USA und wurde für seine Kurzgeschichten sowie für Der Ring bereits mehrfach ausgezeichnet. Sein Roman Die Mauern des Universums erschien 2010 im Wilhelm Heyne Verlag. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Ohio.

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDER AUTORWidmung1 - STROMCopyright

Titel der amerikanischen Originalausgabe SINGULARITY’S RING Deutsche Übersetzung von Ulrich Thiele

Natürlich für Stacey

1

STROM

Ich bin Kraft.

Intelligent bin ich nicht; Moira ist intelligent. Ich kann mich nicht ausdrücken wie Meda, ich habe keinen Sinn für Mathematik wie Quant, ich bin nicht so geschickt wie Manuel.

Wer steht mir am nächsten? Wenn überhaupt jemand, dann Manuel – sollte man meinen: In seinen Händen, seiner Fingerfertigkeit liegt seine große Stärke. Doch er besitzt auch einen messerscharfen Verstand und speichert Informationen für uns, ganz banale Dinge, die er in unsere Erinnerungen einwebt.

Aber nein, Moira steht mir am nächsten, vielleicht sogar deswegen, weil sie mein exaktes Gegenteil ist. Für mich ist sie genauso schön wie Meda, selbst als Singleton wäre sie etwas Besonderes. Ohne mich wäre der Pod auch nicht schlechter dran. Ohne mich wäre der Pod immer noch Apollo Papadopulos und auf dem besten Weg, Captain eines Raumschiffs zu werden. Denn dafür wurden wir konstruiert. Jeder von uns ist ein eigener Mensch, ein Individuum mit eigenen Gedanken, aber zusammen sind wir etwas anderes, Besseres. Wobei mein Beitrag nicht mit dem der anderen zu vergleichen ist.

Ich schirme die Gedanken gegen die anderen ab, aber Quant hat mir schon einen Blick zugeworfen. Hat sie meine Zweifel gerochen? Ich lächle und hoffe, dass sie darauf hereinfällt, berühre ihr Handgelenk und lege mein Pad auf ihres. Unsere Gedanken mischen sich, und ich schicke ihr eine chemische Erinnerung: Moira und Meda in ihrer Kindheit, wie sie lachen und Händchen halten. Sie sind drei oder vier Jahre alt; der Pod hat sich also schon verbunden, aber wir leben noch in der Krippe, das Dritte Stadium steht uns noch bevor. Die beiden haben kastanienbraunes Haar, das ihnen in langen Korkenzieherlocken um die Köpfe baumelt. Moira lächelt nicht ganz so breit wie Meda, weil sie sich gerade das Knie aufgeschürft hat. Dann nimmt Meda Quants Hand, Quant Manuels, Manuel meine, und auf einmal spüren wir alle, wie sich Meda über den Anblick des Eichhörnchens auf der Wiese gefreut hat, und wie sich Moira ärgert, es durch ihren Sturz vertrieben zu haben. Im Hier und Jetzt, in den Bergen, kommt unser Konsens kurz ins Stocken, als sich jede und jeder die Erinnerung aus ferner Vergangenheit vergegenwärtigt.

Moira lächelt, aber Meda bleibt ernst. »Wir haben zu tun«, sagt sie.

Ich weiß, natürlich weiß ich das. Das Blut schießt mir ins Gesicht. Obwohl wir dicke Anoraks tragen, spüre ich, wie sich meine Scham in der Luft verteilt. Die anderen fühlen mit mir, auch ohne die Pads an meinen Handgelenken zu berühren.

Tut mir leid. Ich forme die Worte mit den Fingern, während sich der Gedanke zwischen uns ausbreitet.

Wir sind irgendwo in den Rocky Mountains, nahe der Baumgrenze, wo uns die Lehrer mit dem Aircar abgesetzt haben. Unsere Aufgabe: fünf Tage überleben in der Wildnis. Mehr haben sie nicht gesagt. Wir hatten eine halbe Stunde, um unsere Ausrüstung zusammenzusuchen.

Unsere Klassenkameraden und wir befinden uns in der achten Woche unseres Überlebenstrainings. Lernen, wie man in der Wüste überlebt, im Wald und im Dschungel – Herausforderungen, die sich im All mit Sicherheit nicht stellen werden. Dort wird uns nur ein Klima begegnen, tödliches Vakuum, und damit kennen wir uns aus. Aber diese Aufgaben müssen wir nun mal bewältigen, wenn wir gewinnen wollen, und dem Sieger winkt das Kommando über die Consensus. Dafür wurden wir konstruiert, wir und die anderen.

Am ersten Tag des Trainings hat sich Theseus, unser Lehrer, vor uns aufgebaut und uns mit bellenden, abgehackten Stimmen angebrüllt. Theseus ist ein Duo aus zwei Individuen, die simpelste Stufe eines Pods.

»Ihr seid hier, um zu lernen, wie man denkt!«, schrie der linke Theseus.

»Ihr seid hier, um zu lernen, wie man sich auf ungewohntem Terrain bewegt! Wie man großem Druck standhält! Unter extremen Bedingungen!«, fuhr der rechte Theseus fort.

»Ihr wisst nicht, was euch erwartet!«

»Ihr wisst nicht, was euch helfen kann, zu überleben! Und was euch umbringen wird!«

Nach zwei Wochen Vorbereitung in der Klasse haben sie uns dann jede Woche in eine andere Vegetationszone gebracht, wo wir vor Ort lernen sollten, wie man sich in der Natur durchschlägt. Aber Theseus war immer irgendwo in der Nähe. Erst jetzt, in unserer letzten Woche, sind wir ganz auf uns gestellt. Ein Haufen Schüler mitten in den Bergen.

Plötzlich stand einer von Theseus in der Tür zu unserem Zimmer. »Apollo Papadopulos! Überleben in Eis und Schnee! Zwanzig Kilo pro Podmitglied! Los!«

Wir hatten Glück, die Anoraks hingen gleich im Schrank, und wir konnten sogar noch ein Polymerzelt einstecken. Elliott O’Toole trägt nur einfache Baumwollmäntel ohne Wärmeisolation, das haben wir auf dem Flug mitbekommen. Der Arme.

Zwanzig Kilogramm sind nicht viel. Sechzig Kilo habe ich mir aufgeladen, den Rest an meine Podpartner verteilt. Im Aircar ist uns aufgefallen, dass Hagar Julian und Elliott O’Toole ihr Gepäck gleichmäßig aufgeteilt haben. Sie achten nicht auf ihre individuellen Stärken.

Strom!, ermahnt mich Meda ein zweites Mal. Schnell lasse ich Manuels und Quants Hände los, doch die Schampheromone riechen sie so oder so, in der eisigen Luft breitet sich der chemische Beweis meiner Verlegenheit unaufhaltsam aus. Wie zuvor bemühe ich mich, meinen angestammten Platz im Konsens des Pods einzunehmen, ein unverzichtbarer Teil des Ganzen zu werden. Ich muss mich konzentrieren. Gemeinsam sind wir unschlagbar.

Chemische Gedanken kreisen zwischen uns, im Uhrzeigersinn und gegen den Uhrzeigersinn – Vorschläge, Listen, spontane Einfälle. An meiner üblichen Position zwischen Moira und Quant versuche ich, einen sinnvollen Beitrag zu leisten. In dieser Reihenfolge können wir am besten denken, aber manchmal stellen wir uns anders auf, dann nehme ich Manuels Hand oder Moiras und Medas Hände, um den Prozess in eine andere Richtung zu lenken. Ab und zu hilft uns das weiter.

Ich fühle mich wie ein bloßes Verbindungsstück, während die Ideen der anderen an mir vorüberschwirren. Manchen ist eingeprägt, von wem sie stammen. So weiß ich, dass Quant die sinkende Temperatur und steigende Windgeschwindigkeit registriert hat, was uns veranlasst, die Priorität von Unterschlupf und Feuer zu erhöhen. Allmählich bildet sich ein Konsens heraus.

Vor Einbruch der Dunkelheit müssen wir das Zelt aufbauen und Feuer machen. Wir müssen etwas essen, wir müssen eine Latrine graben. Die Liste wandert vom einen zum anderen, eine Entscheidung nach der anderen wird getroffen. Mir geht das alles viel zu schnell, über manches werde ich mir nicht so rasch klar. Aber ich tue, was ich kann, und ansonsten vertraue ich dem Pod. Der Pod und ich, wir sind ein und dasselbe.

Da wir die Handschuhe ausgezogen haben, um besser denken zu können, frieren wir an den Händen. Hier in den Rocky Mountains ist es so kalt, dass sich unsere Gefühle – die Pheromone, die unsere chemischen Gedanken verstärken – in Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, doch manchmal vertreibt der Wind eine Emotion, ehe wir sie richtig erfassen können. Und wenn wir die Handschuhe über die Handgelenke und die Anoraks über die Nasen und Halsdrüsen ziehen, können wir nicht mehr klar denken. Dann ist es fast so, als wären wir allein – bis wir eine untergeordnete Aufgabe erledigt haben, die Handschuhe ausziehen und uns zu einem schnellen Konsens vereinigen.

»Strom, geh Feuerholz sammeln«, erinnert mich Moira.

Wo breite Schultern gefragt sind, bin ich zuständig. Ich entferne mich einen Schritt von der Gruppe, und plötzlich bin ich wirklich allein. Keine Berührung mehr, kein Geruch. Einsamkeit will geübt sein. Natürlich wurden wir allein geboren, doch unsere ganze Kindheit und Jugend über, vom Ersten bis zum Vierten Stadium, haben wir uns bemüht, ein kollektives Wesen zu bilden. Und jetzt üben wir uns wieder im Alleinsein, denn auch das ist eine wichtige Fähigkeit. Ich werfe einen schnellen Blick zurück auf die anderen vier: Quant nimmt Moiras Hand und schickt ihr einen Gedanken, sie vertraut ihr etwas an, und ich spüre einen Stich der Eifersucht. Aber warum habe ich solche Angst? Wenn es etwas Wichtiges war, werde ich es später, im nächsten Konsens, sowieso erfahren. Aber jetzt muss ich alleine weiter.

Als Lagerplatz haben wir uns eine mehr oder weniger flache Stelle in einem kümmerlichen Wäldchen windgekrümmter Kiefern ausgesucht. Unter uns fällt der steinige Hang sanft ab und bildet eine flache, V-förmige Schlucht, in der sich Wind und Schnee fangen, begrenzt von einem steilen, felsigen Abhang. Darunter muss das lang gezogene Tal liegen, das wir vom Aircar aus gesehen haben, eine breite Senke voller Bäume und Schneeverwehungen. Über uns erhebt sich eine schroffe, von massiven Schnee- und Eisformationen gekrönte Felswand. Der Gipfel ist von hier aus nicht zu erkennen, dafür sind wir noch viel zu tief. Die weißen Seiten der gezackten Bergketten, die sich zu beiden Seiten erstrecken, glänzen in der Nachmittagssonne. An ihren westlichen Spitzen stauen sich die Wolken.

Hier liegt so wenig Schnee, dass wir schnell zur harten Erde vorstoßen können. Die Bäume werden uns vor dem Wind schützen, und an ihren Ästen können wir hoffentlich die Zeltschnüre befestigen.

Am Rand der Kiefernreihe laufe ich die flache Schlucht hinunter.

Weil wir keine Axt dabeihaben, kann ich nur herumliegende Äste und Zweige aufklauben. Was natürlich alles andere als optimal ist, denn mit halbverrotteten Scheiten lässt sich kein ordentliches Feuer anfachen. Ich speichere das Problem für einen späteren Konsens ab.

Immerhin finde ich einen losen, harzverklebten Kiefernast vom Umfang meines Unterarms. Ich frage mich, ob er wohl brennen wird, während ich ihn die Schlucht hinauf zum Lager schleppe. Plötzlich fällt mir etwas auf: Hätte ich weiter oben nach Holz gesucht, könnte ich es jetzt bequem nach unten schleifen. Eigentlich ganz einfach, und wenn ich die Frage im Konsens eingebracht hätte, wäre es auch ganz einfach gewesen.

Auf der Lichtung, die die anderen freigelegt haben, lasse ich den Ast fallen und fange an, die Feuerstelle vorzubereiten. Ich ordne einige Steine U-förmig an, mit dem offenen Ende in Richtung des Windes, der vom Berg herabweht. So bekommt das Feuer genug Luft, und auf der Umrandung können wir kochen.

Strom, da soll doch das Zelt hin!

Ich fahre hoch und begreife, dass ich auf Grundlage eigener Entscheidungen gehandelt habe, ohne Konsens.

Tut mir leid.

Rasch räume ich das Zeug weg, verwirrt und peinlich berührt. Ich fürchte, ich bin nicht ganz auf dem Damm, aber ich unterdrücke das Gefühl, während ich Schnee beiseite wische, um Platz für eine neue Feuerstelle zu schaffen.

Wir beschließen nachzusehen, wie die anderen vorankommen. Also laufe ich den Pfad hinauf, der über die Baumgrenze in die Höhe führt. Außer uns nehmen noch vier Schüler am Überlebenstraining teil. Wir kennen uns seit Jahren, als Klassenkameraden und Konkurrenten, und unser Verhältnis ist seit jeher dasselbe: Wir wollten schon immer wissen, wie sich die anderen machen.

Als ich die Baumgrenze erreicht habe, entdecke ich einen halben Kilometer weiter westlich Elliott O’Toole. Sein Zelt steht schon, der Pod hat sich bereits im Inneren versammelt. Im Osten, in ein paar Hundert Metern Entfernung, sehe ich Hagar Julian, der sich nicht für einen felsigen Abhang, sondern für ein Schneefeld entschieden hat. Er gräbt sich gerade in eine Verwehung ein, vielleicht will er sich in einer Eishöhle verkriechen. Da kann er lange graben, denke ich, denn das Loch muss für fünf Personen reichen. Ein enormer Energieaufwand, und noch dazu kann er da drinnen kein Feuer machen.

Megan Kreighton und Willow Murphy, die beiden anderen Pods, stecken wahrscheinlich irgendwo zwischen den Bäumen hinter Hagar Julian. Von hier aus kann ich nicht erkennen, wie sie vorankommen, aber erfahrungsgemäß werden Julian und O’Toole sowieso unsere schärfsten Konkurrenten sein. Nur einer wird die Ehre haben, die Consensus durch das Rift zu steuern.

Ich kehre zu den anderen zurück, um meine Beobachtungen zu teilen.

Inzwischen haben wir das Zelt großteils aufgebaut; die Schnüre haben wir an den Kiefern befestigt, weil wir wegen der Gewichtsbegrenzung keine Heringe mitnehmen konnten. Wir haben vieles zurückgelassen, um unser Gepäck unter zwanzig Kilo pro Podmitglied zu drücken, aber auf Streichhölzer wollten wir nicht verzichten. Ich gehe in die Knie, um das Feuer zu entzünden.

Strom!

Selbst im scharfen Wind ist der Geruch unverkennbar. Der Pod ruft mich, er wartet auf mich. Ich soll helfen, die letzten Zeltschnüre festzuzurren und an den Ästen zu verknoten. Zu dieser Entscheidung sind sie ohne mich gekommen, eigentlich nichts Ungewöhnliches, wenn es die Situation erfordert. Und ich verstehe sie ja – sie brauchen mich nicht, um zu einem gültigen Konsens zu gelangen.

Als wir die Spinnenseidefäden festziehen, richtet sich das Zelt wie von Geisterhand auf. Eine kleine, blasenförmige Zuflucht, weiß auf weiß, Polymer auf Schnee. Endlich haben wir ein Zuhause in der Wildnis! Die Luft füllt sich mit Freude über unseren Erfolg.

Schnell schlüpft Quant ins Innere und kommt mit einem breiten Lächeln auf den Lippen wieder heraus. »Wir haben es geschafft!«

Jetzt wird erst mal gegessen, meint Manuel.

Zu essen gibt es kleine Tüten mit kaltem, zähem Fisch. Sobald wir das Feuer in Gang gebracht haben, können wir uns was Richtiges kochen, aber jetzt müssen wir damit vorliebnehmen. Wären wir wirklich allein im Gebirge, sende ich, müssten wir uns unser Essen selbst jagen. Dazu schicke ich ein Bild von mir mit einem riesigen Elchkadaver auf den Schultern herum. Moira muss lachen, und ich hatte wirklich einen Witz machen wollen, aber als ich unsere Vorräte an Trockenfleisch und -obst durchgehe, kommen mir tatsächlich ernsthafte Bedenken. Wir werden hier noch ziemlich hungern müssen, überlege ich und fühle mich sofort schuldig, weil wir nur so wenig eingepackt haben. Schließlich bin ich für die Sicherheit des Pods zuständig.

»Noch ein Test«, sagt Quant. »Sie wollen uns schon wieder testen, nur diesmal im Gebirge. Als ob wir uns jemals in den Bergen rumtreiben müssten. Als ob sie daraus irgendwelche Rückschlüsse auf unsere wahren Fähigkeiten ziehen könnten.«

Wir wissen, was sie meint. Manchmal fühlen wir uns wirklich wie Versuchskaninchen. Eine Prüfung nach der anderen, so geht das schon seit Ewigkeiten. Dabei gibt es gar keine Niederlagen, nur Siege, wiederholte Siege, bis sie vollkommen bedeutungslos geworden sind. Wir dürfen überhaupt nicht scheitern. Das wäre eine Katastrophe.

Ich will den Gedanken noch zurückhalten, aber er ist mir schon entkommen.

»Wir werden nicht scheitern«, sagt Meda, und ich laufe wieder rot an.

Quant schüttelt den Kopf, bevor sie im Anblick des flackernden Lichts auf der Zeltwand versinkt.

»Wir könnten uns den Sonnenuntergang anschauen«, schlage ich vor.

Im Zelt haben wir unsere Kapuzen und Handschuhe gelockert, obwohl die Temperatur selbst hier nur knapp über dem Gefrierpunkt liegt. Als wir ins Freie treten, ist der Unterschied zwischen drinnen und draußen noch deutlicher zu spüren als zuvor, denn die Sonne ist mittlerweile hinter den Gipfeln im Westen versunken. Es ist ein farbloser Sonnenuntergang. Das Licht, noch immer klar und weiß, spiegelt sich an der Unterseite des Rings und lässt den schmalen Orbitaltorus heller glänzen als zur Mittagszeit. Wolkenfetzen gleiten rasch über den Himmel, und ich warne die anderen: Es könnte Schnee geben. Im Lauf unserer fünf Tage im Gebirge wird es sicher noch schneien, und vielleicht schon heute Abend.

Brandgeruch weht zu uns herüber; offenbar ist es Elliott O’Toole gelungen, Feuer zu machen. Der Wind trägt Grillduft an unsere Nasen.

»Verdammt!«, ruft Quant. »Bei dem gibt’s Steak!«

Brauchen wir nicht.

Will ich aber!

»Hier geht es ums Überleben, nicht um irgendwelchen Luxus«, schalte ich mich ein.

Quant starrt mich wütend an. Ich spüre ihren Ärger, und dass sie nicht die Einzige ist, die so empfindet. Angesichts dieses Teilkonsenses knicke ich sofort ein und entschuldige mich, obwohl ich eigentlich nicht weiß, wofür. Meda meinte einmal, ich sei konfliktscheu. Aber ist das nicht normal? Wir sind fünf, ich bin nur einer. Ich muss mich dem Kollektiv unterwerfen, genau wie wir alle. Nur so kommen wir zu guten Entscheidungen.

Gegessen haben wir, und bald wird es dunkel. Zeit, die letzten Arbeiten zu erledigen, die noch im Freien zu tun sind: eine Latrine graben und falls möglich ein Feuer machen. Die Feuerstelle übernehmen Manuel und ich. Wir ordnen Steine an, bereiten Zunder vor und schichten eine Pyramide aus Brennholz auf. Noch während wir damit beschäftigt sind, wird mir klar, dass es heute Abend zu windig ist. Eigentlich ist das Plateau ein optimaler Campingplatz, aber der Wind, der in den Zeltschnüren singt, peitscht nur so den Abhang hinunter.

Auf einmal bemerken wir Angstgeruch in der Luft, kindliche Angstpheromone. Instinktiv denke ich, eine von uns sei in Gefahr – bis wir genauer riechen und den fremden Duft erkennen. Es ist einer von unseren Klassenkameraden. Als der Wind für einen Moment nachlässt, hören wir dumpfe Schritte: Jemand rennt schwer atmend durch den Schnee.

Wie in jeder kritischen Situation sammelt sich der Pod um mich. Wir fassen uns an den Händen und vereinigen uns, aber unser Konsens ist nicht viel wert, da wir nur nach fremden Pheromonen und ein paar vereinzelten Geräuschen urteilen können.

Ich löse mich aus der Gruppe. Wer auch immer in Gefahr ist, ich muss helfen. Der Duft des Pods mahnt mich zur Vorsicht, doch ich ignoriere ihn. Ich habe keine Wahl, ich muss helfen. Manchmal zögern wir zu lange, manchmal suchen wir zu lange nach einer Entscheidung, und dann ist es zu spät. Ein Gedanke, den ich ganz sicher nicht mit den anderen teilen möchte, niemals.

Es ist eine von Hagar Julian. Nur eine. Ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie kommt mit entblößtem Kopf angerannt, ihre Kapuze schlenkert nutzlos um den Hals. Mich sieht sie gar nicht, aber ich fange sie auf und halte sie fest. In ihrer blinden Panik wäre sie wahrscheinlich unmittelbar an uns vorbeigelaufen, in die Dunkelheit und vielleicht direkt in den felsigen Abgrund.

Sie riecht fremd. Mit Gewalt zerre ich ihr die Kapuze über die Haare. Bei extremer Kälte muss man unbedingt den Kopf bedeckt halten, weil er am meisten Wärme abstrahlt – den Kopf und auch die Hände. Vielleicht haben die Lehrer deshalb beschlossen, unsere letzte Prüfung in den Bergen abzuhalten, wo die Organe, die uns erst zum Pod werden lassen, praktisch nutzlos sind.

»Was ist los?«, frage ich sie. »Was ist passiert?«

Sie hechelt vor sich hin, sie verströmt pure Angst. Ich weiß nicht, was ihr in diesem Moment mehr zu schaffen macht, die Abspaltung von ihrem Selbst oder was auch immer gerade vorgefallen ist. Aber ich weiß, dass Julian ein sehr eng verbundener Pod ist, der sich nur im absoluten Notfall trennt.

Um uns herum ist tiefschwarze Nacht, ich kann weder O’Tooles Feuer noch Julians Eishöhle erkennen. Kaum zu glauben, dass sie es bis hierher geschafft hat.

Ich hebe sie hoch, lege sie über die Schulter und trage sie vorsichtig durch die Schneedünen bis zu der Lichtung um unser Zelt. Sie zittert am ganzen Leib. Die vielen Fragen meines Pods ignoriere ich einfach, dafür ist jetzt keine Zeit. Quant schlägt die Plane vor dem Eingang zurück.

Aus den Handschuhen der Fremden rieselt Schnee. Blaue Hände kommen zum Vorschein, über die ich schnell meine eigenen Handschuhe stülpe. Auch ihre Stiefel und ihren Anorak befreie ich sorgfältig vom Schnee. Über meinen Pod, der sich augenblicklich um uns versammelt, kann ich auf Informationen über Erste-Hilfe-Maßnahmen zugreifen.

Hypothermie.

Zittern, Orientierungsschwierigkeiten, keine Reaktion auf Ansprache – lauter Symptome einer starken Unterkühlung. Die Desorientierung könnte allerdings auch mit der Trennung von ihrem Pod zusammenhängen.

Sie muss ins Krankenhaus.

Eine von uns schaut auf das Funkgerät in der Ecke. Jetzt die Lehrer zu rufen, wäre ein Eingeständnis der Niederlage.

Ich blicke der Fremden in die Augen. »Wo sind die anderen von dir?«

Sie sieht mich nicht mal an.

Also schnappe ich mir eine Spule Spinnenseide und knote das eine Ende an meinen Anorak.

Nein!

Doch. »Irgendwer muss nachschauen, was mit dem Rest passiert ist.«

Wir dürfen uns nicht trennen. Nicht jetzt.

Ich will hierbleiben, ich will mich mit meinem Pod vereinigen, einen Konsens suchen. Und einfach auf Rettung warten.

Aber das geht nicht. Ich muss los. »Passt auf, dass sie nicht auskühlt. Am besten, ihr wärmt sie mit euren Körpern. Aber wärmt sie nicht zu schnell auf.«

Schnell öffne ich den Zeltausgang, klettere ins Freie und versiegele die Plane wieder. Quant schlüpft mit mir nach draußen.

»Sei vorsichtig. Es fängt an zu schneien«, mahnt sie, während sie mir das andere Ende der Schnur abnimmt und an einen der D-Ringe an unserem Zelt bindet. Der Faden verdreht sich zu einer Kordel und näht sich automatisch zusammen. Ich bin froh, dass sie das für mich erledigt hat, denn so muss ich meine nackten Hände nicht aus den Anoraktaschen nehmen.

»Ich bin immer vorsichtig.«

Der Wind treibt mir Schnee ins Gesicht, ich spüre eiskalte Nadelstiche auf den Wangen. Zusammengekrümmt versuche ich, die Spuren der Fremden zu verfolgen. Aber ich muss mich beeilen, die ersten Stiefelabdrücke sind bereits halb verschüttet. Durch die dahinjagenden Wolken scheint ein fahler Mond, der die Gebirgslandschaft in ein graues Licht taucht. Grau in grau. Weiter, sage ich mir, konzentrier dich auf deine Aufgabe. Und denk nicht daran, dass du deinen Pod zurückgelassen hast. Trotzdem zähle ich meine Schritte, damit ich immer weiß, wie groß der Abstand zwischen uns schon geworden ist. Schritte zählen, das wäre typisch Quant. Ein beruhigender Gedanke.

Als ich kurz aufschaue, um die Fährte nicht zu verlieren, schlägt mir frostige Luft ins Gesicht und vereist meine Nasenlöcher. Die Kälte tut weh, wie ein penetranter Kopfschmerz, und der Wind trägt keinen Geruch mit sich, keine Nachrichten von Hagar Julian.

Ich stoße auf ein geborstenes Schieferplateau. Hier muss sie entlanggekommen sein, denn die Fußabdrücke enden unmittelbar vor der kantigen Steinplatte. Jetzt kann es nicht mehr weit sein. Als ich Julian vom Hang aus beobachtet habe, war er höchstens fünfhundert Meter entfernt.

Für einen Moment kehre ich dem Wind den Rücken zu und ziehe die Kapuze weit über den Kopf, doch der Schnee zwängt sich durch die Spalten und in meine Augen. Und das Wetter verschlechtert sich weiter. Ich harre noch ein paar Sekunden aus, um dieses Gefühl – die stechende Kälte, das Rauschen der Luft – für später abzuspeichern. Als ich mir vorstelle, mein Abenteuer in ein paar Minuten mit dem Pod zu teilen, wird mir wieder etwas wärmer.

Weiter. Ich stapfe über den glatten Schiefer, einmal rutsche ich aus und lande auf dem Knie. Plötzlich endet das Plateau in einem Fluss aus grauem Schnee. Ich kann mich nicht erinnern, diese Formation vorhin gesehen zu haben. Kein Wunder, begreife ich im nächsten Moment, vor kurzem gab es sie noch gar nicht. Eine Lawine hat Hagar Julian unter sich begraben.

Trotz der beißenden Kälte bleibe ich einfach stehen. Was jetzt?

Als ich einen Fuß auf die grauweiße Fläche setze, kracht es unter meinem Stiefel. Noch vor einer Stunde war hier eine freie Senke, nun ist sie angefüllt mit Eis und Felsbrocken. Ich frage mich, ob ich mit einem weiteren Lawinenabgang rechnen muss, doch in dem Schneegestöber ist die Felswand über mir nicht zu erkennen.

Es geht leicht bergauf. Zehn Meter weiter entdecke ich einen halb verschütteten Stofffetzen. Sofort zerre ich daran, aber er bewegt sich keinen Millimeter.

»Julian!« Die wirbelnden Flocken dämpfen meine Stimme. »Julian!«

Keine Antwort. Ich hätte sie wohl sowieso nicht gehört, es sei denn, Julian hätte mir direkt ins Ohr gebrüllt.

Ich nehme die Hände aus den Taschen, um die Pads an meinen Handgelenken freizulegen. Vielleicht spüre ich ja etwas, zumindest den Hauch eines Pheromons? Nein, nichts, nur beißende Kälte. Ein Kokon aus Eis und Schnee umgibt mich, ich bin vollkommen isoliert. Wie die eine von Julian, die es zu unserem Lager geschafft hat.

Es hilft nichts. Allein und ohne entsprechende Ausrüstung werde ich Julians Leichen nie finden. Und Überlebende hat es sicher nicht gegeben, wie auch? Bis auf die eine.

Als ich mich abwende, entdecke ich einen schwarzen Fleck auf dem verwischten Grau. Ein kleiner Fleck, fast hätte ich ihn übersehen.

Ich drehe mich um, gehe einen Schritt darauf zu – und erkenne einen Arm. Sofort lasse ich mich fallen und kratze an Eis, Schnee und Steinen. Ich hoffe, ich bete, dass der Arm zu einem lebendigen Menschen gehört.

In großen Brocken räume ich den Schnee beiseite und kippe ihn hinter mich, den Hang hinunter. Bald habe ich den Oberkörper freigelegt, kurz darauf den Kopf, der in eine Kapuze gehüllt ist. Ich fasse den Verschütteten unter den Achseln und ziehe mit aller Kraft, aber die Beine wollen sich nicht bewegen. Nachdem ich kurz durchgeschnauft habe, klappe ich die Kapuze zurück. Es ist ein männlicher Teil von Julian. Stirn und Wangen sind übersät von rosa Flecken, die Augen geschlossen, aber die Flocken vor seinem Mund bewegen sich. Heißt das nicht, dass er atmet? Sicher bin ich mir nicht. Ich lege meine Pads an seinen Hals, schmecke aber keine Pheromone, nichts. Ich taste nach dem Puls.

Nichts.

Verzweifelt versuche ich, mich an das korrekte Vorgehen bei Herzstillstand zu erinnern. Moira wüsste Bescheid, Quant auch, sie alle wüssten, was jetzt zu tun ist. Nur ich weiß gar nichts. Wie immer.

In meiner Panik packe ich ihn einfach am Oberkörper und zerre noch einmal mit aller Kraft. Irgendwie muss ich ihn aus dem Schnee herausbekommen, aber was ich auch tue, es hilft nichts. Halbherzig wische ich ihm ein paar Flocken von den Hüften. Das hat doch alles keinen Sinn. Ich bin nutzlos. Meine Kraft ist nutzlos.

Ich weiß nicht mehr weiter.

Immerhin habe ich ihn mittlerweile bis zu den Knien freigelegt. Als ich ein letztes Mal ziehe, schießt er in einem Schauer aus Schnee und Geröll aus dem Loch. Um ein Haar wäre ich nach hinten umgekippt.

Ich knie mich neben ihn und krame wieder in meinem Gedächtnis. Was tut man bei Herzstillstand? Frustriert stopfe ich meine roten, brennenden Hände in die Taschen. Allein ist mit mir nichts anzufangen. Moira an meiner Stelle …

Auf einmal weiß ich, was zu tun ist – als hätte Moira mir eine komprimierte Erinnerung geschickt. Druck auf das Brustbein ausüben und Mund-zu-Mund-Beatmung. Die Atemwege frei machen, fünfmal drücken, einmal beatmen, fünfmal, einmal, und immer so weiter.

Also lege ich die Hände auf die Jacke des Fremden und presse, ohne zu wissen, ob ich durch die dicke Kleidung hindurch überhaupt etwas ausrichten kann. Als Nächstes schließe ich ihm die Nase mit den Fingern und beuge mich über ihn. Der Mann ist kalt, so kalt wie ein toter Fisch. Mein Magen dreht sich um, aber ich atme ihm trotzdem in den Mund, bevor ich die Herzdruckmassage fortsetze. Eins, zwei, drei …

Ich wiederhole die Prozedur. Wenn ich ihn beatme, hebt sich die Brust jedes Mal ein Stückchen. Nach einer Minute halte ich inne und taste nach dem Puls. Da ist etwas, glaube ich – und weiß plötzlich nicht mehr, ob ich noch weitermachen soll. Bewegt sich das Zwerchfell von selbst, oder strömt die Luft, die ich ihm in die Lungen gepresst habe, nur langsam wieder aus, wie aus einem Blasebalg?

Nein, ich darf jetzt nicht aufhören. Weiter!

Ein Husten, ein Zucken, und diesmal bin ich mir sicher: Er atmet.

Ich habe es geschafft!

Der Puls ist schwach und flattrig, aber er ist eindeutig vorhanden.

Darf ich den Julian bewegen? Kann ich ihn zum Aufwärmen ins Zelt bringen oder ist das zu gefährlich?

Auf einmal höre ich das Surren eines Aircars. Hilfe naht, ich muss ihn nicht zu unserem Lager schleppen. Erleichtert lasse ich mich in den Schnee fallen. Ich habe es geschafft!

Das Surren schwillt immer weiter an, bald sehe ich die Lichter des Aircars über dem Tal. Es wird lauter, immer lauter, zu laut. Ich frage mich, wie stabil der Schnee auf dem Grat über uns ist, ob das Kreischen des Antriebs eine weitere Lawine auslösen könnte.

Aber ich habe keine Wahl, ich kann nur hierbleiben und warten. Das Aircar gleitet bis zum Rand unseres Lagers und landet im Schatten der Bäume.

Langsam verklingt das Surren, aber der Krach lässt nicht nach. Und diesmal kommt er aus der Höhe. Oben auf dem Hang sehe ich ein Blitzen, das ich für den Suchscheinwerfer eines weiteren Aircars halte – bis mir auffällt, dass der Lärm überhaupt nicht nach dem Surren einer Wasserstoff verbrennenden Turbine klingt. Auf einmal erhebt sich ein dumpfes Grollen, und dieses Geräusch ist eindeutig: Die Schneemassen über mir haben sich in Bewegung gesetzt. Die erste Lawine hat sie gelockert, und nun geht es wieder los.

Ich stehe auf. Was jetzt?

Im nächsten Moment sehe ich die weiße Sturzflut. Im Scheinwerferlicht des ersten Aircars rast sie den Hang hinunter, direkt auf unser Lager zu.

»Nein!« Ich renne ein paar Meter in Richtung meines Pods, bleibe aber gleich wieder stehen. Wenn ich ihn zurücklasse, wird dieser Julian sterben.

Die Lawine flutet die Lichtung um unser Zelt und schwappt an den Bäumen hoch, die flirrenden Lichter des Aircars werden nach oben gerissen. Mein Pod! Mein Puls beschleunigt, meine Muskeln spannen sich. Ich gehe noch einen Schritt weiter.

Das Grollen steigert sich zu einem mächtigen Dröhnen. Mein Blick schnellt hinauf zu den Schneeverwehungen über uns, vielleicht wird das Eis gleich mich und den Julian unter sich begraben. Nein – die erste Lawine hat einen kantigen Felsvorsprung freigelegt, der uns vor dem zweiten Abgang schützt. Zwanzig Meter weiter rauscht der Sturzbach ununterbrochen in die Tiefe, aber er kommt nicht näher. Dabei hätte ich nichts dagegen gehabt, mit in den Tod gerissen zu werden. Mein Hals schnürt sich zusammen, bis ich kaum noch atmen kann. Mein Pod ist tot.

Auf einmal sehe ich eine schlängelnde Bewegung unter mir, und für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, der Schnee wolle mich den Hang hinauftreiben. Bis es mich plötzlich von den Füßen reißt.

Erst als ich über Eis und Geröll geschleift werde, begreife ich, dass der Spinnenseidefaden noch immer an meinem Anorak befestigt ist, sich um meine Taille schlingt – während das andere Ende an unserem Zelt hängt. Fünf Meter, zehn, zwanzig, immer schneller zieht es mich den Hang hinunter. Ich versuche, den Knoten zu lösen, ich taste nach der Schlinge, die die verzwirbelten Fäden entwirrt, aber meine aufgescheuerten, tauben Hände rutschen immer wieder ab.

Die Schnur zerrt mich herum, ich krache aufs Gesicht, irgendetwas donnert gegen meine Nase. Die nächsten paar Meter bekomme ich kaum mit, aber ich begreife noch, dass der Sturzbach aus Schnee nicht mehr weit sein kann. Weiter oben hatte ich noch gedacht, er werde sich allmählich verlangsamen, aber aus der Nähe hat die Flut aus Stein und Eis nichts von ihrer Gewalt verloren.

Verzweifelt rapple ich mich auf, falle hin, rapple mich wieder auf und hechte in Richtung Lawine, um den Faden zu lockern. Dann renne ich nebenher, bis ich einen Baum entdecke, einen Baum neben dem Sturzbach. Schnell stolpere ich darauf zu und schwinge mich einmal, zweimal um den Stamm. Die Schnur ist gesichert.

Mit zusammengebissenen Zähnen halte ich mich fest. Sofort spannt sich die Spinnenseide, bis sie maximal gedehnt ist.

Meine Beine pressen sich gegen den Stamm, ich stemme mich dagegen und klammere mich an die Rinde, um nicht mit meinem Pod in den Abgrund gerissen zu werden.

Für einen Augenblick gewinnt die Panik die Oberhand. Wäre das so schlimm?, flüstert sie mir ins Ohr. Was ist besser, mit dem Pod zu sterben oder allein weiterzuleben, als nutzloser Singleton? Noch vor ein paar Minuten hätte ich mich am liebsten in die Lawine geworfen.

Nein, ich darf nicht aufgeben. Julian, ein Teil von Julian, braucht mich noch. Also kralle ich mich fest und warte, bis das Grollen nachlässt.

Die Sekunden verstreichen. Eine Minute, zwei. Ich klammere mich noch immer an den Stamm. Schließlich kommt die Schneeflut ins Stocken, ich spüre, wie der Druck auf meine Arme nachlässt. Trotz der eisigen Luft sind meine Wangen nass vom Schweiß, während meine Hände vor Erschöpfung zittern. Als sich die Schnur endlich lockert, lasse ich mich fallen und bleibe regungslos liegen, an den Baum gelehnt. Ich kann nicht mehr. Erst nach ein paar Minuten bringe ich die Kraft auf, den Knoten an meinem Anorak zu lösen, aber die Spinnenseide will sich einfach nicht aufzwirbeln. Mit meinen zerschundenen, zittrigen Fingern brauche ich ewig, um die Fäden zu entwirren.

Als ich aufstehe, falle ich sofort wieder hin.

Ich reibe mir Schnee ins Gesicht, um mich zu kühlen, ehe ich begreife, dass ich es dadurch nur noch schlimmer mache. Beim nächsten Versuch gelingen mir ein paar Schritte, bevor meine schlotternden Beine wegknicken.

Der Schnee ist schön weich. Wie ein Federbett. Ich beschließe, mich ein bisschen auszuruhen. Nur ganz kurz.

Wie leicht es wäre, jetzt einzuschlafen. Nichts leichter als das.

Aber ich schlafe nicht ein, denn der Julian braucht mich noch. Jetzt sind wir beide Singletons, und ohne mich ist er verloren. Ich bin stark, ich kann ihn den Berg hinunter tragen.

Bevor ich gehe, werfe ich einen letzten Blick auf die Schnur. Am anderen Ende hängt mein Pod, aber wie soll er die Sturzflut überlebt haben? Trotzdem setze ich einen Fuß auf das Trümmerfeld, das die Lawine hinterlassen hat – doch ein Schwall Schnee lässt mich sofort zurückweichen. Die Düne weiter oben ist noch äußerst instabil. Mit nackten Fingern reibe ich mir die Augen, wende mich ab und folge dem Pfad, den ich gepflügt habe, als ich den Hang hinuntergeschleift wurde. Eine Blutspur zieht sich durch das Weiß. Als ich mich an Lippen und Nase berühre, sind meine Finger rot.

Der Julian hat sich nicht von der Stelle bewegt. Ob er noch atmet? Ja! Ich heule laut auf und flenne wie ein kleines Kind. Ich bin Kraft? Von wegen.

Mit einem Mal schlägt er die Augen auf und sieht mich an. Seine Zähne klappern. »Warum … warum … weinst du?«

»Weil wir noch am Leben sind.«

»Gut«, meint er und lässt den Kopf in den Schnee fallen. Seine Lippen sind blau angelaufen, seine Zähne klappern immer lauter. Selbst ich weiß, was das zu bedeuten hat: Er steht kurz vor der Hypothermie. Wir müssen ihn dringend ins Krankenhaus bringen. Wir …

Immer noch denke ich wie ein Pod. Aber Manuel wird mir nicht helfen, ihn zu tragen, Quant wird mir nicht helfen, die optimale Route ins Tal zu finden. Ich bin allein. »Wir müssen los.«

»Nein.«

»Du musst dich aufwärmen, du brauchst einen Arzt.«

»Und mein Pod?«

Ich zucke mit den Schultern. Was soll ich ihm schon sagen? »Die anderen sind irgendwo unter uns begraben.«

»Ich kann sie riechen. Hören.«

Ich schnuppere. Ja, vielleicht liegt der Hauch eines Gedankens in der Luft. Vielleicht auch nicht. »Wo?«

»Ganz in der Nähe. Ich muss sie finden. Hilf mir auf.« Der Julian streckt einen Arm aus, ich ziehe ihn hoch, er kommt ächzend zum Stehen. Auf mich gestützt macht er einen unsicheren Schritt nach vorne und deutet auf etwas.

Auf den halbverschütteten Stofffetzen, den ich zuvor entdeckt hatte.

Immerhin hat er einige Minuten unter dem Schnee überlebt. Es wäre also durchaus denkbar, dass sein Pod noch irgendwo in der Tiefe gefangen ist, vielleicht in einer Luftblase oder in der Eishöhle, die sie ausgehoben hatten.

Ich gehe in die Knie und schaufle den Stofffetzen frei. Der Julian rollt sich neben mich, um mir zu helfen, sackt aber bald nach hinten und sieht an einen Schneehügel gelehnt zu.

Nach einiger Zeit entpuppt sich der Stofffetzen als Ecke einer Decke, die vertikal in der Tiefe verschwindet. Unter der obersten Schicht stoße ich auf Eis, das ich mit meinen tauben Fingern kaum aufbrechen kann. Hand für Hand schaufle ich es aus dem Loch, bis ich auf einmal das Gröbste hinter mir habe und deutlich leichter vorankomme.

Dicke Schneeklumpen prasseln auf meine Kapuze. Was, wenn sich gleich die nächste Lawine löst? Bevor ich weitergrabe, räume ich das Gebiet um uns herum frei.

Als der Schnee nach zwei weiteren Ladungen nachgibt, blicke ich plötzlich in eine Höhle aus Eis und Segeltuch – und entdecke eine junge Frau und einen jungen Mann. Zwei von Julian. Sie atmen, beide, er ist sogar wach. Schnell zerre ich sie an die Oberfläche und lege sie neben ihren Podpartner.

Die beiden männlichen Julians, die bei Bewusstsein sind, klammern sich sofort aneinander und schnappen gemeinsam nach Luft. Plötzlich bin ich zu Tode erschöpft; am liebsten würde ich mich in die Eisgrube fallen lassen und schlafen.

Stattdessen überprüfe ich die beiden Neuankömmlinge auf Knochenbrüche, Prellungen und Symptome der Hypothermie. Die bewusstlose Frau zuckt zusammen, als ich sie bewege; offensichtlich ist ihr Arm gebrochen. Glücklicherweise habe ich ein Stück Seil dabei, ausnahmsweise nicht aus Spinnenseide, sondern aus einem dickeren Material. Ich binde es rasch zu einer Schlinge, um den Arm zu stabilisieren.

»Wach auf«, sage ich, »komm schon.« Keine Reaktion. Ich gebe ihr einen Klaps auf die Wange. Mit einem Mal reißt sie die Augen auf, fährt hoch und keucht, als sie den stechenden Schmerz in ihrem Arm spürt. Sofort sammelt sich ihr Pod um sie – beziehungsweise das, was davon übrig geblieben ist.

Ich weiche zurück, lasse mich in den Schnee plumpsen und blicke hinauf in den Himmel. Aber kaum liege ich auf dem Rücken, stelle ich fest, dass die Schneeflocken erheblich dichter fallen als zuvor. Ich stehe wieder auf und gehe zu den drei Julians. »Wir müssen runter ins Tal.« Falls ein zweites Aircar kommt, um uns zu suchen, wird es eine weitere Lawine auslösen. Und eine weitere Lawine wäre unser sicherer Tod.

Statt zu reagieren, klammern sich die drei mit schlotternden Gliedern aneinander.

»Wir müssen runter ins Tal!«

Verzweiflung überschwemmt die Luft, gefolgt vom Gestank widersprüchlicher Emotionen. Der dezimierte Pod steht unter Schock.

»Kommt schon!«, rufe ich und reiße einen von ihnen hoch.

»Nein … das geht nicht … unser Pod …« Zwischen die Worte drängen sich chemische Gedanken, die ich nicht deuten kann. Der Pod zerfällt.

»Wir müssen los, sonst sterben wir hier oben. Wenn wir nicht bald irgendwo unterkommen, erfrieren wir alle.«

Keine Antwort. Trotzdem weiß ich, was sie denken: Sie würden eher sterben, als ihren Pod aufgeben.

»Ihr seid noch zu dritt«, sage ich. »Ihr seid fast vollständig. « Drei von fünf ist besser als einer von fünf, das müssen sie doch einsehen.

Die drei blicken sich an und verströmen den typischen Geruch des Konsenses, bis sich einer wütend abwendet. Der Konsens ist gescheitert. Sie können es nicht mehr.

Ich plumpse zurück in den Schnee, lasse den Kopf auf die Brust sinken und starre auf die wirbelnden Flocken zwischen meinen Beinen. Früher war ich fünf, denke ich, jetzt bin ich einer. Erschöpfung und Trauer überwältigen mich, ich spüre, wie meine Augen feucht werden.

Normalerweise weine ich nicht, nie, aber jetzt ist mein Gesicht nass. Jetzt weine ich um meinen Pod, den der Schnee unter sich begraben hat. Wo die salzigen Tränen über meine Wangen rollen, brennt die Haut wie Feuer. Ein Tropfen löst sich und verschwindet im Weiß der Lawine.

Es ist vorbei. Wir werden hier oben einschlafen und nie wieder aufwachen.

Mein Blick wandert hinüber zu den drei Julians. Ich muss sie ins Tal bringen, aber wie? Instinktiv frage ich mich, wozu Moira raten würde. Sie wüsste, wie man die drei retten kann.

Ja, sie sind immer noch drei. Wie Mother Redd, wie unsere Lehrer. Sogar der Premier des Overgovernment ist ein Trio. Die drei Julians sind nicht schlechter dran als unsere besten Köpfe, und trotzdem weinen sie. Dazu haben sie kein Recht. Ich habe ein Recht dazu, nicht sie.

Ich richte mich auf. »Auch ich habe meinen Pod verloren, und ich bin nur noch einer! Wenn hier einer heulen darf, dann ich. Ihr seid immer noch drei. Und jetzt steht auf! Steht auf, alle drei!«

Sie betrachten mich wie einen Wahnsinnigen.

Mir reicht’s. Ich trete einen von ihnen in die Seite. »Aufstehen!«

Langsam rappeln sie sich auf.

Ich starre sie an, ein irres Grinsen im Gesicht. »Wir schaffen es runter ins Tal. Mir nach!«

An der Spitze der Gruppe stapfe ich durch den Schnee bis zu der Schneise, die die zweite Lawine geschlagen hat, und weiter bis zum Baum. Mit dem Nanomesser an meinem Universalwerkzeug schneide ich ein Stück von der Schnur ab, die etwas weiter unten in der Tiefe verschwindet. Am anderen Ende wartet mein toter Pod. Ich frage mich, ob ich ihn wie Hagar Julian ausgraben könnte, und mache einen tastenden Schritt auf die weißgraue Fläche. Sofort grollt es unter mir, der Boden unter meinen Füßen regt sich, über mir kommt Bewegung in den Berg. Der Schnee hat sich noch nicht gesetzt, und es kann jederzeit weiterer fallen. Das Risiko ist zu groß. Und ich darf mir nichts vormachen – ich würde sowieso zu spät kommen. Kein Zweifel, die Luft ist ihnen längst ausgegangen. Wäre ich ihnen sofort zu Hilfe geeilt, hätte ich mich sofort an der Schnur entlanggehangelt, nachdem der Sturzbach zum Stillstand gekommen war, hätte ich sie vielleicht noch retten können. Doch daran habe ich nicht gedacht, und Quant konnte mich nicht auf die mangelnde Logik meiner Entscheidungen hinweisen. Eine Welle der Verbitterung überflutet mich, aber ich schüttle sie ab. Ich habe eine Aufgabe zu erledigen, muss mich um die drei Überlebenden kümmern.

Ich binde uns mit der Spinnenseide aneinander und übernehme wieder die Führung, den Hang hinunter ins Tal. Bis auf das fahle Mondlicht, das stellenweise durch die Wolkendecke dringt und vom Schnee reflektiert wird, ist es stockdunkel. Der seitliche Abhang und vereinzelte gähnende Abgründe sind leicht auszumachen, aber wir müssen auch mit tückischen Felsspalten rechnen. Trotzdem, auf den Beinen zu bleiben ist immer noch besser, als im Schnee einzuschlafen.

Als wir auf einen jähen Absturz stoßen, mache ich sofort kehrt und schlage einen anderen Weg ein, damit die drei gar nicht erst in die verlockende Tiefe blicken können.

Langsam frage ich mich, ob es überhaupt einen Weg ins Tal gibt. Vielleicht ist diese Gegend nur aus der Luft zu erreichen, schließlich wurden wir heute Morgen per Aircar hierhergebracht. Ja, vielleicht werden wir nie einen gangbaren Pfad finden. Oder, schlimmer noch, wir kommen einer Lawine in die Quere und ersticken ebenfalls.

Mittlerweile schneit es ununterbrochen, manchmal versinken wir bis zu den Hüften im Schnee. Aber die Anstrengung tut gut, sie wärmt uns auf. Bewegung heißt Leben, anhalten und schlafen wäre der Tod.

Ein Baum gleicht dem anderen. Hoffentlich stolpern wir nicht im Kreis herum, denke ich, aber eigentlich müssten wir doch irgendwann ins Tal kommen, wenn wir immer weiter bergab gehen. Auf dem Boden sind keine Spuren zu erkennen, weder von Mensch noch von Tier. Bis wir hindurchtrampeln, ist der Schnee makellos glatt.

Ein Ruck an der Schnur. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass die Letzte in unserer Reihe hingefallen ist, die Julian mit dem gebrochenen Arm.

Ich laufe zurück und lege sie mir über die Schulter. Verglichen mit dem Schmerz in meinem Inneren ist ihr Gewicht bedeutungslos. Sechzig Kilo, was ist das schon? Dennoch kommen wir jetzt nicht mehr so schnell voran.

Und trotzdem fallen die anderen beiden ständig zurück. Ich lasse sie ab und zu ausruhen, treibe sie aber immer wieder an, ehe sie einschlafen. Bis ich selbst so müde bin, dass ich kurz die Augen schließe.

Aber nur für einen Moment, dann bin ich wieder hellwach. Schlafen ist der Tod. Ich scheuche die drei hoch, es geht weiter.

Die drei. Für mich sind sie kein Pod mehr, sondern eine Zahl. Und wie denken sie über mich? Was bin ich für sie? Ein Singleton? Der Alleinstehende? Ein Trio hat noch gewisse Chancen, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Ein Singleton nicht.

Nach dem Exodus der Community, nach ihrer plötzlichen und endgültigen Abkehr vom Ring und von der Erde, haben die Pods die Kontrolle übernommen. Bis heute kümmern sie sich um unseren Planeten, auch um die verbliebenen »normalen« Menschen, die Singletons, lauter rückwärtsgewandte Maschinenstürmer. Nur die Pods, früher eine Minderheit, nichts anderes als das Ergebnis eines biologischen Experiments, haben den Kataklysmus, die alles zerstörende Katastrophe, unbeschadet überstanden. Aber ich bin kein Pod mehr. Ich bin ein Singleton, der sich nur noch in eine Singleton-Enklave flüchten kann. In der Podgesellschaft kann ein Einzelner nicht funktionieren. Was könnte ich schon zum Wohl der Allgemeinheit beitragen? Ich blicke auf die drei Julians. Doch, eines kann ich noch beitragen: Diese drei sind nach wie vor ein Pod, eine Einheit. Und ich kann sie in Sicherheit bringen.

Ich raffe mich auf. »Gehen wir.« Meine Stimme klingt sanfter als vorhin, denn meine Schützlinge sind zu erschöpft, um noch wirksamen Widerstand zu leisten. Bevor wir aufbrechen, zeige ich ihnen, wie man Schnee an die Lippen führt und trinkt, sobald er geschmolzen ist. »Wir müssen weiter«, sage ich dann. Die Julian mit dem gebrochenen Arm meint, sie könne selbst laufen, aber ich stütze sie sicherheitshalber an der unverletzten Seite.

Der Wald wandelt sich, die Kiefern weichen dicht stehenden Laubbäumen. Ich friere nicht mehr ganz so sehr, obwohl die Temperatur kaum gestiegen sein kann. Wahrscheinlich bilde ich mir nur ein, dass es wärmer geworden ist, weil den Bäumen wärmer zu sein scheint. Außerdem fällt hier weniger Schnee. Vielleicht lässt der Sturm langsam nach?

»Dieser Berg«, fange ich an, »ist keine sieben Kilometer hoch. Sieben Kilometer zu laufen ist kein Problem für uns, nicht mal bei diesen Temperaturen. Und wenigstens geht’s dauernd bergab.«

Kein Lacher. Nicht mal eine Antwort.

Kurz darauf ist der Wind vollständig abgeflaut, und es fällt auch kein Schnee mehr. Der Himmel ist zwar grau wie zuvor, aber den Sturm haben wir offensichtlich überstanden. Zum ersten Mal schöpfe ich Hoffnung. Vielleicht haben wir doch eine Überlebenschance?

Aber dann gerät der Letzte in unserer Reihe zu nah an den Rand eines Felsspalts, und im nächsten Moment ist er verschwunden. Der Zweite, der sich nicht von der Schnur befreien kann oder will, schlittert ebenfalls in die Tiefe. Hilflos starre ich auf die Spinnenseide, die zu meinen Füßen über den Boden schießt.

Schon wieder, denke ich, schon wieder will mich diese verdammte Schnur mit sich reißen! Ich löse den Knoten und sehe zu, wie der Faden vom Abgrund verschluckt wird. Die weibliche Hagar Julian neben mir hat überhaupt nichts mitbekommen.

Wie sich herausstellt, ist der Felsspalt nur drei Meter tief, mit steilen, aber glücklicherweise nicht senkrecht abfallenden Wänden. Auf dem Grund entdecke ich die beiden Julians, doch von hier oben aus kann ich ihnen nicht helfen. Also muss ich da runter.

Wieder lege ich die Verletzte über die Schulter. »Vorsicht.« Ich versuche, sie mit dem einen Arm zu halten, während ich mich mit dem anderen ausbalanciere, und lasse mich mit angewinkelten Beinen in die Tiefe rutschen.

Hoffentlich verfangen wir uns nicht in irgendwelchem Gestrüpp, denke ich noch, als wir schon auf dem Grund aufkommen.

Die beiden anderen liegen am Rand eines kleinen Bachs, der nicht mal zugefroren ist. Das Wasser muss diese Rinne vor langer, langer Zeit in den Fels gegraben haben.

Im nächsten Moment stelle ich fest, dass die Verletzte über meiner Schulter wieder das Bewusstsein verloren hat; ihr Gesicht ist grau, die Atmung flach. Ich zucke zusammen. Wie schlimm ist der Bruch, und was habe ich eben zusätzlich angerichtet? Manuel hätte bestimmt eine bessere, elegantere Möglichkeit gefunden, die Frau auf den Grund des Felsspalts zu transportieren.

Hier unten, in diesem Hohlraum, ist die Luft merklich wärmer. Egal, ob oben die Sonne herunterbrennt oder ein Schneesturm wütet, ein paar Meter unter der Oberfläche bleibt die Temperatur konstant. Ich knie mich hin und lege eine Hand auf den Boden: um die fünf Grad.

»Hier können wir rasten.« Ja, hier könnten wir sogar schlafen, denke ich. Mit Erfrierungen müssten wir jedenfalls nicht rechnen, ja nicht mal mit nassen Füßen, denn dafür ist der Bach viel zu flach.

Ich gehe den Wasserlauf entlang, bis ich ein paar Meter weiter auf eine Einbuchtung im Stein stoße. Unter dem Überhang ist es schön trocken. Vorsichtig trage ich die Verletzte hierher, bette sie unter die Wurzeln, die von der Felsdecke herabhängen, und gehe die anderen beiden holen. »Schlaft ein bisschen.«

Die drei dämmern sofort weg, während ich nicht einschlafen kann, obwohl mein Körper völlig entkräftet ist. Ich kann einfach nicht.

Die weibliche Hagar Julian befindet sich offenbar wieder im Schockzustand. Erneut frage ich mich, wie sehr ich ihre Verletzung durch mein Ungeschick verschlimmert habe. Ihr Gesicht ist kreideweiß, wahrscheinlich hat sie innere Blutungen.

Aber ohne mich, tausend Meter weiter oben im verschneiten Gebirge, wäre sie schon längst tot.

Es sei denn, sie hätten ein weiteres Aircar geschickt.

Ich sitze da und starre ins Leere. Mein Herz ist vereist.

Schon als Kind war ich immer der Starke, schon vor unserem ersten Konsens. Ich war größer, kräftiger, schwerer als die anderen. Das war mein Vorteil, meine Besonderheit, und jeder hat es auf den ersten Blick gesehen. Ich bin kein Experte für Täuschungsmanöver, auch nicht für Erinnerungen, logisches Denken oder Geschicklichkeit. Doch, wenn es hart auf hart kommt, kann ich rasch die richtigen Entscheidungen treffen. Aber besonders geschickt bin ich nicht.

Nie hätte ich gedacht, dass ich meinen Pod überleben könnte. Dass ich als Einziger zurückbleiben könnte.

Mein Inneres sträubt sich gegen diese Gedanken. Ich stehe auf und hole mein Messer raus, säge zwei Baumschösslinge ab, die im Bachbett Wurzeln geschlagen haben, und binde sie mit dem Seil zu einem einfachen Schleppgestell für die verletzte Hagar Julian zusammen.

»Du hättest uns oben lassen sollen.«

Ich drehe mich um. Der Erste, den ich unter dem Schnee gefunden habe, ist aufgewacht.

»Das ist doch Zeitverschwendung«, fährt er fort. »Wir sind ein defekter Pod.«

Ich schweige, gebe ihm aber im Stillen Recht.

»Aber das kannst du ja nicht wissen. Wo dir doch deine ganzen denkfähigen Bestandteile abhandengekommen sind.«

Ich verstehe ihn, ich verstehe seine Wut und seine Verzweiflung. Ich kann ihm keinen Vorwurf machen. Also nicke ich nur.

»Wahrscheinlich kapierst du nicht mal, was ich sage.«

»Du hast Recht. Ich bin Kraft, sonst nichts.« Gleichzeitig frage ich mich, was er eigentlich will. Will er einen Kampf provozieren? Sicherheitshalber füge ich noch einen Satz hinzu. »Aber ich habe dir das Leben gerettet.«

»Und? Soll ich mich jetzt bei dir bedanken, oder was?«

»Nein. Aber du stehst in meiner Schuld. Und deshalb werden wir morgen früh gemeinsam ins Tal gehen. Danach sind wir quitt. Wenn ihr euch dann umbringen wollt, meinetwegen. «

»Sturkopf.«

»Stimmt.« Auch da kann ich ihm nicht widersprechen.

Ein paar Sekunden später ist er wieder eingeschlafen, und diesmal dämmere ich ebenfalls weg.

Am nächsten Morgen wache ich steif und verfroren auf. Aber immerhin sind wir noch am Leben, denke ich. Ein paar Sekunden bleibe ich auf den Steinen hocken und lausche in die Stille, doch das leise Plätschern des Wassers übertönt alles andere. Vom Surren irgendeines Rettungsaircars oder den Rufen irgendwelcher Suchtrupps ist nichts zu hören. Hier würden sie uns wahrscheinlich sowieso nicht finden, so weit entfernt von unserem Startpunkt. Es geht nicht anders, wir müssen allein weiterziehen.

Aus dem Nichts überflutet mich eine Welle des Zweifels. Der Konsens des Einzelnen ist stets falsch oder fehlerhaft, lautet ein Grundsatz des Podbewusstseins – und meine Entscheidungen haben uns tatsächlich in eine aussichtslose Lage gebracht. Nur wären wir oben im Gebirge vermutlich noch früher gestorben. Dann hätten die drei ihren Willen bekommen. Und vielleicht haben sie Recht.

Ich habe Hunger. Nacheinander klopfe ich meine Taschen ab, obwohl ich weiß, dass ich nichts Essbares eingesteckt habe. Schließlich wollte ich gleich zu meinem Pod zurückkehren, mit einer langen Reise durch Eis und Schnee hatte ich nicht gerechnet. Als Nächstes taste ich die Taschen der Verletzten ab, aber sie hat auch nichts dabei.

»Hast du was zu essen?«, frage ich den, mit dem ich gestern Abend gestritten habe. »Wie heißt du eigentlich?«

»Hagar Jul…« Er verstummt und starrt mich wütend an. »Nein, nichts zu essen.«

Ich knie mich neben ihm auf den Boden. »Wenn ich euch wieder da rauf bringe, könnt ihr mir dann verzeihen, dass ich euch gerettet habe?«

»Gerettet? Darüber lässt sich streiten.«

Ich nicke. »Wie heißt du?« Obwohl wir uns schon seit zehn Jahren regelmäßig im Unterricht sehen, kenne ich seinen persönlichen Namen nicht. Wir haben immer nur als Pods kommuniziert, nie als Individuen.

Nach langem Schweigen ringt er sich zu einer Antwort durch. »David.«

»Und die anderen?«

»Die mit dem gebrochenen Arm heißt Susan, der andere Ahmed.« Die beiden schlafen noch.

»Vielleicht hat der Rest von euch irgendwie überlebt«, versuche ich ihn aufzumuntern. Währenddessen wird mir klar, dass ich damit nur meinen eigenen Wunsch ausspreche. Dabei habe ich doch gesehen, wie mein Pod von der Sturzflut in die Tiefe gerissen wurde.

David räuspert sich, um das Zittern in seiner Stimme zu überspielen. »Wir haben Alia und Wren zurückgelassen.«

Ich wende mich ab, weil ich ihn nicht in Verlegenheit bringen will. »Eine von ihnen ist bei uns am Zelt aufgetaucht. Vielleicht hat sie es geschafft.«

»Das war Wren. Alia war bei mir.«

»Vielleicht hat ein Rettungstrupp sie …«

»Hast du einen Rettungstrupp gesehen?«

»Nein.«

»Mit genügend Luft kann ein Verschütteter eine Stunde lang überleben.« Er klingt verbittert. »Ohne Luft sind es nur zehn Minuten. Da unten war es wie in einem Meer aus Öl. Wie in einem Traum, in dem man ganz langsam am Öl erstickt.«

In diesem Moment regen sich die beiden anderen.

»David.«

Ahmeds Stimme. David streckt die Hand aus und zieht ihn zu sich, der scharfe Geruch des Konsenses dringt an meine Nase. Die beiden hocken sich neben Susan auf die Erde und verharren einige Minuten schweigend, um gemeinsam nachzudenken. Ich freue mich für sie, laufe aber lieber ein paar Meter den Bach entlang. Ich will nicht ständig an früher erinnert werden. Seit gestern bin ich ein Singleton.

Der Bach schlängelt sich den Hang hinunter. Als ich mich über eine halbverrottete Kiefer schwinge, regnen braune Nadeln auf mich herab. Mein Atem kondensiert in der kühlen Luft. Aber es ist wärmer geworden, und ich fühle mich, als wäre ich selbst aufgetaut.

Ein Stück weiter ergießt sich der Bach aufschäumend in ein von Felsen gesäumtes Becken, das den Blick auf das dunstige Tal freigibt. Trotz des dichten Nebels erkenne ich, wie sich der Wasserlauf einen Kilometer weiter mit einem Fluss vereinigt. Die Strecke bis dorthin ist steinig und uneben, also nicht leicht zu bewältigen, aber wenigstens liegt kaum Schnee auf den Wurzeln und Felsbrocken. Und es ist hier längst nicht mehr so steil wie oben.

Das Basislager, wo wir vor dem Aufbruch in die Berge kampiert hatten, lag an einem Fluss. An diesem Fluss dort unten, nehme ich an. Sollte ich Recht haben, müsste er uns direkt zum Lager führen.

Das muss ich den anderen sagen.

Inzwischen haben sich die drei voneinander gelöst, offenbar ist ihr Konsens abgeschlossen. Als ich auftauche, lädt sich David das Schleppgestell mit der verletzten Susan auf.

Ich schaue sie erwartungsvoll an. »Fertig?«

Mir fällt auf, wie entspannt die drei auf einmal wirken. Aber das ist kein Wunder, schließlich haben sie gerade den ersten Konsens seit Zerfall ihres Pods zustande gebracht – und damit bewiesen, dass sie es auch zu dritt schaffen können. Ein gutes Zeichen.

David ergreift die Initiative. »Wir kehren um. Wir müssen Alia und Wren finden.«

Im ersten Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll. Die drei sind zu einem falschen Konsens gelangt – obwohl wir darin geschult wurden, falsche Entscheidungen augenblicklich zu erkennen und zu verwerfen. Der Verlust der Podpartner muss ihr Denkvermögen beeinträchtigt haben.

David, der mein Schweigen anscheinend als Zustimmung deutet, fängt an, Susan am Bachlauf entlangzuschleifen.

Ich kann mich noch immer nicht rühren. Einem gültigen Konsens kann ich mich nicht widersetzen, ich kann sie nicht aufhalten. Zuerst gehe ich einen Schritt in ihre Richtung, als wollte ich mich ihnen anschließen. Dann bleibe ich stehen.

»Nein!«, rufe ich. »Ihr habt keine Chance.«

Die drei drehen sich um und sehen mich so ausdruckslos an, als wäre ich irgendein Felsbrocken. Nein, das ist kein falscher Konsens – das ist ein instabiler, durchgeknallter Pod. Das ist der helle Wahnsinn.

»Wir müssen das Ganze wieder zusammenfügen«, erklärt David.

»Nein! Euer Konsens ist falsch!«

»Woher willst du das wissen? Du kannst doch gar keinen Konsens mehr eingehen.«

Seine Worte treffen mich hart, aber als die drei weitergehen, renne ich ihnen trotzdem hinterher und lege David eine Hand auf die Schulter. »Wenn ihr da raufgeht, werdet ihr sterben. Glaubt mir, ihr habt keine Chance.«

»Wir müssen zu Alia und Wren.« Ahmed stößt meine Hand weg.

»Wer war euer Ethiker? Wren? Seid ihr deshalb zu dieser falschen Entscheidung gelangt? Denkt doch mal nach! Ihr habt keine Chance. Ihr werdet sterben, genau wie Alia und Wren.«

»Wir hatten gar keinen Ethikexperten«, erwidert Ahmed.

»Ich war eben am Ende der Schlucht. Weiter unten mündet der Bach in den Fluss, ich hab’s selbst gesehen. Es ist nicht mehr weit zum Basislager. Und wenn wir jetzt umkehren, finden wir sowieso nicht zurück. Wir müssten die Nacht in den Bergen verbringen. Ohne Essen, ohne Unterschlupf. Das überleben wir nicht.«

Statt zu antworten, gehen die drei weiter bergauf.

Ich stoße David vor die Brust, er knickt ein, das Schleppgestell kracht auf den Boden, und Susan schreit auf.

Deutsche Erstausgabe 03/2011 Redaktion: Ursula Kiausch

Copyright © 2008 by Paul Melko Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-06480-8

www.heyne-magische-bestseller.de

www.randomhouse.de

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