Der Rithmatist - Brandon Sanderson - E-Book

Der Rithmatist E-Book

Brandon Sanderson

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Beschreibung

Abenteuer, Magie und unheimliche Kreidemonster

Wie wird man Magier, wenn man nicht zaubern kann? Mit diesem Problem kämpft Joel tagtäglich, denn nichts wünscht er sich sehnlicher, als ein Rithmatist, ein berühmter Kreidemagier, zu werden. Doch so sehr er sich auch bemüht, seine Kreidefiguren bleiben leblos – bis zu dem Tag, an dem plötzlich das Schicksal aller Rithmatisten auf Joels Schultern ruht. Einem Tag, an dem eine lange verborgene Gabe in ihm erwacht …

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Seitenzahl: 465

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DAS BUCH

Seit die Menschen vor vielen Hundert Jahren die Vereinigten Inseln besiedelt haben, mussten sie gegen magische Wesen kämpfen. Diese Wesen, Kreidlinge genannt, existieren nur in zwei Dimensionen, doch sie haben Macht über Menschen – und einige besonders begabte Menschen haben Macht über sie. Jene Menschen heißen Rithmatisten, und mit ihren Kreidezeichnungen und magischen Berechnungen kämpfen sie gegen die Kreidemonster. Joel, ein junger Schüler an der Armedius-Akademie für Rithmatisten, weiß alles über Magie, Kreide und Geometrie. Nur eines fehlt ihm – die magische Begabung, seine Zeichnungen zum Leben erwecken und in den Kampf gegen die wilden Kreidlinge schicken zu können. Als einige der Rithmatik-Schüler spurlos verschwinden, steht für Joel fest: der Entführer hat es nicht nur auf die Kinder, sondern auf die Zukunft aller Rithmatisten abgesehen! Gemeinsam mit seiner Freundin Melody macht er sich auf die Suche nach dem unheimlichen Entführer. Aber weder die Polizei noch die Professoren der Armedius-Akademie glauben ihnen, und schon bald müssen Joel und Melody feststellen, dass sie in noch größerer Gefahr schweben, als sie geahnt haben. Ein lebensgefährliches Abenteuer beginnt …

DER AUTOR

Brandon Sanderson, 1975 in Nebraska geboren, schreibt seit seiner Schulzeit fantastische Geschichten. Er studierte Englische Literatur und unterrichtet Kreatives Schreiben. Sein Debütroman »Elantris« avancierte auf Anhieb zum Bestseller. Seit dem großen Erfolg seiner Romane »Steelheart« und »Der Weg der Könige« gilt Brandon Sanderson auch in Deutschland als einer der neuen Stars des fantastischen Abenteuers. Der Autor lebt mit seiner Familie in Provo, Utah.

Mehr Informationen zu Brandon Sanderson und seinen Romanen auf:

www.brandonsanderson.com

www.heyne-fantastisch.de

twitter.com/HeyneFantasySF

Von Brandon Sanderson sind

im Wilhelm Heyne Verlag erschienen:

Elantris

Sturmklänge

Die Seele des Königs

Steelheart

Der Rithmatist

DIE KINDER DES NEBELS-SAGA

Kinder des Nebels

Krieger des Feuers

Herrscher des Lichts

Jäger der Macht

DIE STURMLICHT-CHRONIKEN

Der Weg der Könige

Der Pfad der Winde

Die Worte des Lichts

Die Stürme des Zorns

BRANDON

SANDERSON

DER

RITHMATIST

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Jürgen Langowski

Die Originalausgabe ist unter dem Titel

The Rithmatist bei Tor Teen,

Tom Doherty Associates, New York, erschienen.

Copyright © 2013 by Dragonsteel Entertainment, LLC

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Karte und Illustrationen: Ben McSweeney

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung eines Motivs von Arcangel and Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-15418-9V004

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

www.heyne-fliegt.de

Für Joel Sanderson,

dessen Begeisterung nie nachlässt

PROLOG

Lillys Lampe ging aus, als das Mädchen den Flur hinunterlief. Sie warf die Laterne weg. Das Öl spritzte an die bemalte Wand und den schönen Teppich. Die Flüssigkeit glitzerte im Mondlicht.

Das Haus war verlassen. Totenstill, wenn man von ihren panischen Atemzügen absah. Sie hatte das Schreien aufgegeben, weil es anscheinend sowieso niemand hörte.

Es war, als sei auf einen Schlag die ganze Stadt gestorben.

Sie stürmte ins Wohnzimmer und hielt ratlos inne. In einer Ecke tickte eine Standuhr, auf die durch die breiten Fenster das Mondlicht fiel. Draußen erkannte sie die Silhouette der Stadt. Einige Gebäude hatten zehn oder mehr Stockwerke, dazwischen verliefen die Linien der Federbahn. Jamestown, seit ihrer Geburt vor sechzehn Jahren ihre Heimatstadt.

Gleich sterbe ich, dachte sie.

Verzweiflung und Angst rangen miteinander. Sie stieß den Schaukelstuhl in der Mitte des Raumes zur Seite und rollte rasch den Teppich zusammen, um den Holzboden freizulegen. Aus dem Beutel, der mit einer Schlinge am Rock befestigt war, zog sie ein Stück Kreide.

Dann kniete sie sich auf die Dielen, starrte den Boden an und ordnete ihre Gedanken. Konzentriere dich.

Sie setzte die Spitze des Kreidestücks an und zeichnete um sich selbst einen Kreis auf den Boden. Dabei zitterte ihre Hand so sehr, dass die Linie recht wacklig wurde. Professor Fitch wäre über eine so unordentliche Wehrlinie sehr ungehalten gewesen. Sie musste lachen. Es war ein verzweifelter Laut, fast ein Schluchzen.

Schweißtropfen perlten von ihrer Stirn herab und hinterließen dunkle Flecken auf dem Holz. Mit bebender Hand zeichnete sie mehrere gerade Linien in den Kreis hinein – Sperrlinien, die den Verteidigungskreis stabilisieren sollten. Die Matson-Verteidigung … wie ging sie noch gleich? Zwei kleine Kreise mit Bindungspunkten, um Formlinien anzubringen …

Ein Kratzen.

Lilly riss den Kopf hoch und blickte den Flur hinunter zu der Tür, die zur Straße hinausführte. Draußen vor der matten Scheibe bewegte sich ein Schatten.

Jemand rüttelte an der Tür.

»Oh Meister«, flüsterte sie unwillkürlich. »Bitte … bitte …«

Das Rütteln hörte auf. Einen Moment lang war alles still, dann sprang die Tür auf.

Lilly wollte schreien, doch der Laut blieb ihr in der Kehle stecken. Vom Mondlicht umrahmt, stand nun eine Gestalt im Eingang, eine Melone auf dem Kopf, die Schultern mit einem kurzen Cape bedeckt. Eine Hand hatte der Mann auf einen Gehstock gestützt.

Im Gegenlicht war das Gesicht nicht zu erkennen, doch die Gestalt mit dem leicht geneigten Kopf und dem im Schatten liegenden Antlitz hatte etwas unglaublich Finsteres an sich. Aus der tintenschwarzen Dunkelheit blickte sie ein Augenpaar an.

Die Wesen strömten links und rechts an ihm vorbei in den Raum. Wütend krochen sie über den Boden, die Wände und die Decke. Die totenbleichen Figuren schienen im Mondlicht beinahe zu glühen.

Alle waren so flach wie ein Blatt Papier.

Alle waren mit Kreide gezeichnet.

Jede war ein winziges, einzigartiges Ungeheuer mit Reißzähnen und Klauen. Völlig geräuschlos schwärmten sie im Flur aus. Es waren Hunderte, die es, lautlos zitternd und bebend, auf das Mädchen abgesehen hatten.

Endlich fand Lilly die Stimme wieder und schrie.

Teil EINS

KAPITEL01

Langweilig?«, fragte Joel empört und blieb wie angewurzelt stehen. »Glaubst du wirklich, das Duell zwischen Crew und Choi im Jahre 1888 sei langweilig gewesen?«

Michael zuckte mit den Achseln, blieb ebenfalls stehen und blickte zu Joel zurück. »Keine Ahnung. Ich habe nach der ersten Seite mit Lesen aufgehört.«

»Du hast einfach nicht genug Fantasie.« Joel schloss zu seinem Freund auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Die andere Hand hielt er vor sich, um mit einer großen Geste die ganze Umgebung einzubeziehen – vor allem die grünen Rasenflächen der Armedius-Akademie – und die Arena heraufzubeschwören, in der das Duell stattgefunden hatte.

»Stell es dir nur vor«, erklärte Joel. »Es ist das Ende des Turniers, des größten rithmatischen Ereignisses im ganzen Land. Paul Crew und Adelle Choi sind die letzten übrig gebliebenen Duellanten. Wider alle Wahrscheinlichkeit hatte Adelle überlebt, nachdem ihr ganzes Team schon in den ersten paar Minuten zerpflückt worden war.«

Einige andere Schüler blieben in der Nähe auf dem Gehweg stehen, um eine Weile zu lauschen, bevor sie den nächsten Kurs besuchten.

»Und?« Michael gähnte.

»Und? Michael, es war das Finale! Stell dir vor, wie alle anderen schweigend zugeschaut haben, als die beiden letzten Rithmatisten das Duell aufnahmen. Stell dir vor, wie nervös Adelle gewesen sein muss! Ihr Team hatte noch nie ein Turnier gewonnen, und nun stand sie vor einem der fähigsten Rithmatisten ihrer Generation. Pauls Mannschaft hatte ihn im Zentrum der Gruppe abgeschirmt, sodass die schlechteren Spieler zuerst ausfielen. Sie wussten, dass sie ihn damit praktisch unversehrt bis zum letzten Kampf durchbringen konnten, und tatsächlich war sein Verteidigungskreis fast makellos. In diesem Duell trat der Favorit gegen die Außenseiterin an.«

»Langweilig«, wehrte Michael ab. »Sie haben doch nur dort gesessen und gezeichnet.«

»Du bist ein hoffnungsloser Fall«, meinte Joel. »Du besuchst eine Schule, auf der Rithmatisten ausgebildet werden. Interessierst du dich denn überhaupt nicht für sie?«

»Es gibt genug Leute, die sich für sie interessieren«, entgegnete Michael mit finsterer Miene. »Sie bleiben sowieso lieber unter sich, und das soll mir ganz recht sein. Von mir aus müssten sie gar nicht hier sein.« Ein Windstoß zauste seine blonden Haare. Sie standen inmitten der grünen Hügel und der stattlichen Gebäude auf dem Campus der Armedius-Akademie. In der Nähe ging ein Federwerkskrebs leise seiner Arbeit nach und stutzte das Gras, damit die Rasenfläche eben blieb.

»So würdest du nicht denken, wenn du es wirklich verstehen würdest«, behauptete Joel und zückte ein Stück Kreide. »Hier, stell dich da hin und schau es dir an.« Er winkte seinem Freund, die gewünschte Position einzunehmen, kniete nieder und zeichnete rings um ihn einen Kreis auf den Gehweg. »Du bist Paul. Siehst du, das ist der Verteidigungskreis. Wenn er durchbrochen wird, verlierst du das Duell.«

Joel zog sich ein paar Platten weit zurück, kniete abermals nieder und zeichnete einen zweiten Kreis. »Adelles Abwehr war bereits an vier Stellen beinahe durchbrochen. Sie wechselte rasch von der Matson-Verteidigung zu … Ach, weißt du was, das ist viel zu technisch. Es reicht zu wissen, dass ihr Kreis geschwächt war, während Paul in einer starken, dominanten Position war.«

»Wenn du meinst.« Michael lächelte Eva Winters zu, die, ein paar Bücher vor dem Bauch haltend, gerade vorbeiging.

»Also«, fuhr Joel fort, »Paul griff ihren Kreis mit Wirklinien an, und ihr war klar, dass sie ihre Verteidigung nicht schnell genug umstellen konnte, um sich zu erholen.«

»Was für Linien? Was für ein Angriff?«, fragte Michael.

»Wirklinien«, antwortete Joel. »Die Duellanten haben sich gegenseitig damit beschossen. Darauf kommt es an – damit durchbricht man den Kreis.«

»Ich dachte, sie hätten kleine Kreidedinger gemalt. Kleine Wesen.«

»Das auch«, bestätigte Joel. »Man nennt sie ›Kreidlinge‹. Aber nicht deshalb erinnert man sich auch nach über zwanzig Jahren noch an das Turnier von 1888. Wichtig waren die Linien, die sie abgefeuert haben. Normalerweise hätte man erwartet, dass Adelle einfach so lange durchhält wie möglich, das Ende hinauszögert und eine möglichst gute Figur dabei macht.«

Er setzte die Kreide vor seinem Kreis an. »Das hat sie aber nicht getan«, flüsterte er. »Sie hatte etwas bemerkt. Paul hatte hinten in seinem Kreis eine kleine geschwächte Stelle. Die einzige Möglichkeit, dort anzugreifen, bestand allerdings darin, den Schuss von drei unterschiedlichen Linien, die andere Duellanten erzeugt hatten, abprallen zu lassen. Das war ein unglaublich schwieriger Schuss. Sie hat es trotzdem versucht und eine Wirklinie gezeichnet, während Pauls Kreidlinge ihre Verteidigung zerstörten. Sie löste den Schuss aus und …«

Hingerissen vollendete Joel die Wirklinie vor seinem Kreis und hob triumphierend die Hand. Überrascht stellte er fest, dass sich gut und gern dreißig Schüler versammelt hatten, um ihm zuzuhören. Sie hatten den Atem angehalten und rechneten schon halb damit, dass die Zeichnung zum Leben erwachte.

Das tat sie natürlich nicht. Joel war kein Rithmatist. Seine Zeichnungen waren nichts als gewöhnliche Kreidestriche. Das wusste jeder, und Joel selbst natürlich am besten, aber in diesem Moment brach der Bann der Geschichte. Die anderen Schüler entfernten sich und ließen ihn, mitten im Kreis kniend, zurück.

»Lass mich raten.« Michael gähnte schon wieder. »Ihr Schuss drang durch?«

»Allerdings.« Auf einmal kam Joel sich sehr albern vor. Er stand auf und steckte die Kreide weg. »Der Schuss hat funktioniert, und sie hat das Turnier gewonnen, obwohl ihr Team die schlechtesten Aussichten von allen hatte. Dieser Schuss war wunderschön. Das sagen uns jedenfalls die Berichte von damals.«

»Du wärst sicher gern dabei gewesen.« Michael verließ den Kreis, den Joel für ihn gezeichnet hatte. »Beim Meister, Joel, ich möchte wetten, wenn du die Zeitreise beherrschtest, dann würdest du diese Fähigkeit darauf verschwenden, rithmatische Duelle anzusehen.«

»Ja, ich denke schon.« Kaum hatte er die Kreide weggesteckt, da musste er einem Fußball ausweichen, der knapp an ihm vorbeiflog. Gleich darauf kam Jephs Daring hinter dem Ball hergerannt. Jephs winkte Michael und Joel im Vorbeilaufen zu.

Joel und Michael wanderten weiter über den Campus. Auf den lieblichen grünen Hügeln blühten die Bäume, an den Gebäuden kletterten grüne Ranken empor. Die Schüler eilten, ganz unterschiedlich mit Kleidern oder Hosen ausgestattet, zwischen den Lehrsälen hin und her. Die meisten Jungen hatten sich an diesem warmen Spätfrühlingstag die Ärmel hochgekrempelt.

Nur die Rithmatisten mussten Uniformen tragen. Dadurch hoben sie sich von den anderen ab. Gerade wanderten drei zwischen den Gebäuden entlang. Die anderen Schüler wichen ihnen wie selbstverständlich aus, die meisten würdigten sie nicht einmal eines Blickes.

»Hör mal, Joel«, sagte Michael. »Hast du dich schon mal gefragt, ob du … du weißt schon, ob du vielleicht zu viel über solche Dinge nachdenkst? Über die Rithmatisten und so weiter?«

»Ich finde das sehr interessant«, entgegnete Joel.

»Ja, schon, aber … ich meine, es ist doch etwas seltsam, wenn man bedenkt …«

Michael musste es nicht aussprechen, Joel verstand es auch so. Er war kein Rithmatist und würde nie einer sein. Er hatte seine Gelegenheit verpasst. Aber warum sollte er sich nicht für das interessieren, was sie taten?

Michael kniff die Augen zusammen, als die drei Rithmatisten in den grauen und weißen Uniformen vorbeiliefen. »Es kommt mir so vor …«, begann er leise. »Es kommt mir so vor, als stünden sie und wir auf unterschiedlichen Seiten, verstehst du? Lass sie in Ruhe, damit sie tun können, was sie tun müssen, Joel.«

»Es gefällt dir einfach nicht, dass sie Dinge tun können, zu denen du nicht fähig bist«, erwiderte Joel.

Das trug Joel einen empörten Blick ein. Vielleicht, weil es zum Teil sogar der Wahrheit entsprach. Michael war der Sohn eines Rittersenators. Ein Sohn aus vornehmem Hause. Er war nicht daran gewöhnt, dass man ihn bei irgendetwas einfach ausschloss.

»Wie auch immer.« Michael wandte sich ab und lief weiter den belebten Gehweg hinunter. »Du kannst keiner von ihnen sein. Warum verbringst du trotzdem deine ganze Freizeit damit, über sie zu reden? Das ist sinnlos, Joel. Denk nicht weiter über sie nach.«

Ich kann auch keiner sein wie du, Michael, dachte Joel. Genau genommen hätte er nicht einmal diese Schule besuchen dürfen. Armedius war unglaublich teuer, und man musste bedeutend, reich oder ein Rithmatist sein, um aufgenommen zu werden. Alle drei Eigenschaften lagen für Joel in unerreichbarer Ferne.

An der nächsten Wegkreuzung blieben sie stehen. »Hör mal, ich habe jetzt Geschichte«, sagte Michael.

»Ja«, antwortete Joel. »Ich habe eine Freistunde.«

»Hilfst du wieder als Bote aus, um einen Blick in einen Klassenraum der Rithmatisten werfen zu können?«, fragte Michael.

Joel errötete, aber es entsprach der Wahrheit. »Bald kommt der Sommer«, sagte er. »Willst du wieder nach Hause?«

Michaels Laune besserte sich sichtlich. »Ja. Vater hat mir erlaubt, ein paar Freunde einzuladen. Angeln, Schwimmen, spärlich bekleidete Mädchen am Strand. Hm …«

»Klingt schön.« Joel bemühte sich, nicht zu hoffnungsvoll zu erscheinen. »So etwas würde ich gern mal erleben.« Michael nahm jedes Jahr eine Gruppe von Schülern mit. Bisher war Joel noch nie dabei gewesen.

Aber dieses Jahr … nun ja, er war nach der Schule oft mit Michael zusammen gewesen. Michael brauchte Hilfe in Mathematik, und Joel konnte ihm alles erklären. Sie hatten sich gut verstanden.

Michael scharrte mit den Füßen. »Hör mal, Joel«, begann er. »Ich meine … es ist schön, wenn wir hier zusammen sind. Hier auf der Schule. Aber zu Hause, das ist eine ganz andere Welt. Ich habe da vor allem mit meiner Familie zu tun, und Vater hat so hohe Erwartungen …«

»Oh ja, sicher, verstehe«, antwortete Joel.

Michael lächelte. Schlagartig war das ganze Unbehagen aus seiner Miene verschwunden. Unverkennbar, er war der Sohn eines Politikers. »So ist es richtig.« Er tätschelte Joels Arm. »Bis dann.«

Joel sah Michael nach, als dieser sich im Laufschritt entfernte. Unterwegs begegnete Michael Mary Isenhorn und begann sofort, mit ihr zu flirten. Marys Vater besaß eine riesige Federnfabrik. Als Joel an der Wegkreuzung stand, konnte er Dutzende Angehörige der Elite des Landes erkennen. Adam Li war direkt mit dem Kaiser von Joseon verwandt. Geoff Hamiltons Familie konnte drei Präsidenten vorweisen. Wenda Smiths Eltern gehörten die Hälfte aller Rinderfarmen in Georgiabama.

Und Joel … er war der Sohn eines Kreidemachers und einerPutzfrau. Na ja, dachte er. Also werde ich den Sommer wohl wieder allein mit Davis verbringen. Seufzend machte er sich auf den Weg zur Verwaltung.

Zwanzig Minuten später eilte Joel wieder über den Gehweg und lieferte in seiner Freistunde Nachrichten auf dem ganzen Campus aus. Da die meisten anderen Schüler am Unterricht teilnahmen, waren die Gehwege fast menschenleer.

Sobald er die auszuliefernden Botschaften gesehen hatte, war die Niedergeschlagenheit im Nu verschwunden. Es waren nur drei gewesen, die er rasch überbracht hatte. Das bedeutete …

Die vierte hielt er in der Hosentasche in der Hand. Er hatte sie heimlich selbst hinzufügt. Da er sich vorher beeilt und etwas Zeit herausgeholt hatte, konnte er nun noch zur Wehrhalle laufen, einem Lehrgebäude der Rithmatisten.

In dieser Stunde unterrichtete dort Professor Fitch. Joel betastete den Brief in seiner Tasche, den er nach einigem nervösen Zaudern an den Dozenten adressiert hatte.

Dies ist vielleicht meine einzige Chance, dachte Joel und unterdrückte die Nervosität. Fitch war ein umgänglicher, freundlicher Mann. Es gab keinen Grund zur Sorge.

Joel huschte die lange Treppe vor dem mit Ranken bedeckten grauen Backsteinbau hinauf und trat durch die Eichentür. Nun stand er ganz oben im Hörsaal, der wie ein Amphitheater mit stufenförmig angeordneten Sitzreihen gebaut war. An den gekalkten Wänden hingen Zeichnungen von rithmatischen Verteidigungen. Die gepolsterten Sitze waren dem Podium ganz unten zugewandt.

Als Joel eintrat, drehten sich einige Schüler zu ihm um. Professor Fitch ließ sich nicht beirren. Er nahm die Zustellungen aus der Verwaltung kaum zur Kenntnis und setzte den weitschweifigen Vortrag fort, ohne zu bemerken, dass ein Zuhörer gar nicht seinem Kurs angehörte. Das störte Joel nicht im Geringsten. Er setzte sich voller Erwartungen auf die Treppe. Der heutige Vortrag drehte sich anscheinend um die Easton-Verteidigung.

»… der Grund dafür, dass diese Verteidigung eine der besten überhaupt ist, wenn man sich gegen aggressive Angriffe aus mehreren Richtungen zugleich behaupten will«, sagte Fitch unten. Mit einem roten Stock deutete er auf den Boden, wo er einen großen Kreis gezeichnet hatte. Von ihren erhöhten Plätzen aus konnten die Schüler die rithmatischen Zeichnungen gut sehen.

Nun zeigte Fitch auf die Sperrlinien, die er an den Bindungspunkten des Kreises angebracht hatte. »Die Easton-Verteidigung zeichnet sich vor allem durch die große Zahl kleinerer Kreise aus, die an den Bindungspunkten hinzugefügt werden. Es erfordert eine gewisse Zeit, neun weitere Kreise anzubringen, doch aufgrund der verbesserten Verteidigungsfähigkeit ist es der Mühe wert. Ihr erkennt hier, dass die inneren Linien ein unregelmäßiges Neuneck bilden. Die Linien, die ihr auslasst, definieren den Platz, der euch zum Zeichnen bleibt, zugleich sind sie aber auch entscheidend für die Stabilität der Figur. Wenn ihr eine aggressivere Verteidigung wählen wollt, könnt ihr an den Bindungspunkten natürlich auch Kreidlinge einsetzen.«

Was ist mit den Wirklinien?, dachte Joel. Wie verteidigt man sich dagegen?

Joel stellte die Frage nicht laut, um nicht die Aufmerksamkeit des Professors zu erregen. Dann hätte Fitch womöglich nach der Botschaft gefragt, und Joel hätte keinen Vorwand mehr gehabt, weiter zuzuhören. Also hörte Joel schweigend zu. Die Verwaltung rechnete vorläufig nicht mit seiner Rückkehr.

Er beugte sich vor und hoffte, einer der anderen Schüler werde nach den Wirklinien fragen, doch niemand tat ihm den Gefallen. Die jungen Rithmatisten lümmelten auf ihren Plätzen, die Jungs trugen weiße Hosen, die Mädchen weiße Röcke, beide Geschlechter waren dazu mit grauen Pullovern bekleidet. Die Farben waren gut geeignet, den allgegenwärtigen Kreidestaub zu verbergen.

Professor Fitch trug ein dunkelrotes Gewand aus schwerem Stoff mit gestärkten Manschetten und hohem Kragen, dessen Saum ihm fast bis auf die Füße fiel. Der weiße Anzug, den er darunter trug, war kaum zu erkennen. Wegen der geraden Linien und Riemchen auf den Schultern wirkte das Gewand ein wenig militärisch, als trüge der Dozent Rangabzeichen. Der rote Talar war das Amtsgewand eines Ordinarius der Rithmatik.

»Deshalb ist die Keblin-Verteidigung der Easton-Verteidigung in den meisten Situationen unterlegen.« Professor Fitch wandte sich lächelnd an die Zuhörer. Er war ein älterer, spindeldürrer Mann, an den Schläfen bereits ergraut. Dennoch verlieh ihm der Talar eine große Würde.

Begreift ihr überhaupt, was euch hier geschenkt wird? Joel ließ den Blick über die gelangweilten Schüler wandern. Sie waren fünfzehn bis sechzehn Jahre alt und damit etwa in Joels Alter. Trotz ihrer vornehmen Herkunft benahmen sie sich … nun ja, wie Jugendliche.

Fitch war bekanntermaßen kein sehr strenger Lehrer, was viele Schüler ausnutzten, indem sie überhaupt nicht zuhörten, sondern mit Freunden tuschelten oder die Decke anstarrten. Einige in Joels Nähe schienen sogar zu schlafen. Die Namen wusste er nicht; die meisten Schüler der Rithmatik waren ihm unbekannt. Normalerweise ließen sie ihn abblitzen, wenn er mit ihnen plaudern wollte.

Als niemand etwas sagte, kniete Fitch nieder und hielt die Kreide auf die Zeichnung, die er gerade angefertigt hatte. Wenige Sekunden danach verpuffte sie auf Geheiß ihres Schöpfers in einer kleinen Staubwolke.

»Nun denn.« Er hob die Kreide. »Wenn es keine Fragen mehr gibt, können wir vielleicht darüber reden, wie man eine Easton-Verteidigung überwindet. Die Klügeren unter euch haben sicher bemerkt, dass ich keine Wirklinien erwähnt habe. Der Grund dafür ist, dass man sie besser aus der Sicht des Angreifers behandelt. Falls wir nun …«

Mit einem Knall flog die Tür des Hörsaals auf. Fitch richtete sich auf, hielt die Kreide mit zwei Fingern und zog, während er sich umdrehte, die Augenbrauen hoch.

Ein großer Mann schritt in den Hörsaal und veranlasste einige lümmelnde Schüler, abrupt die Köpfe zu heben. Der Neuankömmling trug einen grauen Talar, wie es einem Rithmatikdozenten von niedrigem Rang zustand. Er war jung, hatte hellblondes Haar und marschierte mit energischen Schritten herein. Der Talar stand ihm gut; das Kleidungsstück war bis unters Kinn zugeknöpft, saß an den Beinen aber etwas locker. Joel kannte ihn nicht.

»Ja?«, fragte Professor Fitch.

Der Neuankömmling schritt bis zum Podium des Hörsaals, ging an Professor Fitch vorbei und zückte ein Stück rote Kreide. Dann drehte er sich um, kniete nieder und setzte die Kreide auf den Boden. Einige Schüler begannen zu tuscheln.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Fitch. »Habe ich etwa schon wieder die Stunde überzogen? Aber die Schuluhr habe ich nicht gehört. Es tut mir schrecklich leid, falls ich Ihnen Unterrichtszeit weggenommen habe!«

Der Neuankömmling hob den Kopf. Joel fand seine Miene selbstgefällig. »Nein, Professor«, entgegnete der Mann. »Dies ist eine Herausforderung.«

Fitch war wie vor den Kopf geschlagen. »Ich … Oh je. Das ist …« Der ältere Mann leckte sich nervös über die Lippen und rang die Hände. »Ich bin nicht sicher, wie ich … Ich meine, ich sollte jetzt doch …«

»Bereiten Sie sich vor und zeichnen Sie, Professor«, forderte ihn der Neuankömmling auf.

Fitch blinzelte. Dann hockte er sich mit stark zitternden Händen auf die Knie und setzte ebenfalls die Kreide an.

»Das ist Professor Andrew Nalizar«, flüsterte ein Mädchen, das nicht weit von Joel entfernt saß. »Er hat den Professorenrock erst vor drei Jahren an der Maineford-Akademie erworben. Angeblich hat er die letzten zwei Jahre in Nebrask gekämpft.«

»Er sieht gut aus«, sagte das Mädchen auf dem benachbarten Platz und zwirbelte ein Stückchen Kreide zwischen den Fingern hin und her.

Unten begannen die beiden Männer zu zeichnen. Joel beugte sich aufgeregt vor. Er hatte noch nie ein echtes Duell zwischen zwei richtigen Professoren beobachtet. Das war womöglich mindestens so gut wie das Turnier!

Beide Männer zeichneten Kreise um sich herum, mit denen sie die Angriffe des Gegners abwehren wollten. Das Duell war zu Ende, sobald einer der Kreise durchbrochen wurde. Vielleicht, weil er gerade noch darüber gesprochen hatte, entschied Professor Fitch sich für die Easton-Verteidigung. Er malte neun kleinere Kreise, die den größeren an den Bindungspunkten berührten.

Es war kein guter Ausgangspunkt für ein Duell, so viel konnte selbst Joel erkennen. Er war enttäuscht. Vielleicht würde es doch kein guter Kampf. Professor Fitch hatte seine Verteidigung wundervoll gezeichnet, doch sie war zu stark. Die Easton-Verteidigung setzte man am besten gegen mehrere Gegner ein, die einen umzingelt hatten.

Nalizar entschied sich für eine Spielart der Ballintain-Verteidigung. Sie war rasch zu konstruieren und verfügte nur über einfache Verstärkungen. Als Professor Fitch noch die inneren Linien zeichnete, konnte Nalizar bereits einen aggressiven Angriff vortragen und entwarf die ersten Kreidlinge.

Kreidlinge. Sie wurden aus Formlinien entwickelt und bildeten den Kern jedes rithmatischen Angriffs. Nalizar zeichnete schnell und zielstrebig und erschuf Kreidlinge, die an kleine Drachen erinnerten. Sie besaßen Flügel und hatten biegsame Hälse. Sobald er den ersten vollendet hatte, erwachte er bebend zum Leben und flog über den Boden zu Professor Fitch.

Das Wesen stieg nicht in die Luft empor. Kreidlinge waren, genau wie alle anderen rithmatischen Linien, zweidimensionale Geschöpfe. Die Schlacht spielte sich am Boden ab, die Linien griffen andere Linien an. Immer noch zitterten Fitchs Hände, oft hob er nervös den Kopf, als könne er sich nicht recht konzentrieren. Joel zuckte innerlich zusammen, als der Professor einen der äußeren Kreise schief aufmalte. Das war ein schwerer Fehler.

Die Zeichnung, die er vorher zu Lehrzwecken erstellt hatte, war viel, viel präziser gewesen. Schiefe Kurven waren leicht zu brechen. Fitch hielt inne, betrachtete die schlecht gezeichnete Kurve und schien an sich selbst zu zweifeln.

Machen Sie schon, Professor! Joel ballte die Hände zu Fäusten. Das können Sie doch viel besser!

Ein zweiter Drache zog über den Boden. Fitch fing sich wieder und setzte eilig die Kreide an. Die versammelten Schüler sahen schweigend zu, und sogar diejenigen, die vorher gedöst hatten, richteten sich auf.

Fitch malte eine lange Wellenlinie. Eine Wirklinie. Sobald die Zeichnung fertig war, schoss sie über den Boden und traf einen der Drachen. Eine Staubwolke entstand, und die Hälfte des Wesens war zerstört. Der Drache wand sich und zog in die falsche Richtung davon.

In dem Raum waren nur das Scharren der Kreide auf dem Boden und Fitchs schnelle, fast panische Atemzüge zu hören. Joel biss sich auf die Lippe, als der Kampf hitziger wurde. Fitch hatte die bessere Verteidigung, doch er war überstürzt vorgegangen und hatte einige Abschnitte zu schwach konstruiert. Nalizars spärliche Abwehr ließ ihm die Freiheit, aggressiv vorzugehen, und Fitch hatte alle Mühe, dem Angriff etwas entgegenzusetzen. Der ältere Professor malte weiterhin Wirklinien und zerstörte die Kreidewesen, die über den Boden auf ihn zuflogen, doch es waren zu viele, um sie alle auszuschalten.

Nalizar war gut, einer der besten Kämpfer, die Joel je gesehen hatte. Trotz der Anspannung blieb Nalizar geschmeidig, entwarf Kreidling auf Kreidling und ließ sich nicht davon beeindrucken, dass Fitch die meisten sofort zerstörte. Wider Willen war Joel beeindruckt.

Er hat vor Kurzem in Nebrask wilde Kreidlinge bekämpft,dachte Joel, als ihm einfiel, was das Mädchen gesagt hatte. Er ist daran gewöhnt, unter Druck zu arbeiten.

Gelassen schickte Nalizar ein paar Spinnen-Kreidlinge auf die Reise. Sie krochen zur Seite und zwangen Fitch, auch die Flanken im Auge zu behalten. Dann sandte Nalizar seinerseits Wirklinien aus. Die Wellenlinien schossen über den Boden und lösten sich auf, sobald sie etwas trafen.

Endlich konnte Fitch einen eigenen Kreidling produzieren. Es war ein wundervoll gearbeiteter Ritter, den er an einen der kleinen Kreise band. Wie kann er nur so gut und doch so schnell zeichnen?,überlegte Joel. Fitchs Ritter war ein kleines Kunstwerk, die Rüstung war detailliert ausgeführt, und er besaß ein mächtiges Zweihandschwert. Mühelos konnte die Figur Nalizars zahlreiche, aber viel einfacher konstruierte Figuren besiegen.

Sobald der Ritter in Aktion trat, konnte Fitch seinerseits zum Angriff schreiten. Nalizar sah sich gezwungen, einige Kreidlinge zu seiner Verteidigung zu zeichnen – einfache Kleckse, die sich den Wirklinien in den Weg warfen.

Ganze Armeen von Kreaturen, Linien und Wellen wanderten über den Boden. Ein weißer Sturm kämpfte gegen einen roten, Kreidlinge verpufften, Linien prallten auf Kreise und rissen Stücke aus den schützenden Linien. Die beiden Männer kritzelten hektisch.

Joel stand auf und machte, ohne es selbst recht zu bemerken, einen Schritt hinab zum vorderen Teil des Hörsaals. Wie gebannt schaute er zu. Nun konnte er auch Professor Fitchs Gesicht beobachten. Der Dozent war außer sich und hatte große Angst.

Joel blieb wie angewurzelt stehen.

Die Kontrahenten zeichneten weiter, doch Joel dachte nur noch über Fitchs besorgte Miene nach. Diese Verzweiflung, die in den Bewegungen zum Ausdruck kam, die Angst, das schweißüberströmte Gesicht.

Dann begriff Joel, was hier wirklich im Gange war. Es war kein Duell, das dem Vergnügen oder dem Training diente. Der Neuankömmling hatte Fitchs Autorität herausgefordert – der Streit drehte sich um die Frage, ob Fitch die Professorenstelle zu Recht bekleidete. Falls er verlor …

Eine von Nalizars roten Wirklinien prallte geradewegs gegen Fitchs Kreis und zerbrach ihn beinahe. Sofort wanderten alle Kreidlinge, die Nalizar gezeichnet hatte, in diese Richtung. Es war ein rasender, chaotischer Ansturm roter Figuren auf die geschwächte Verteidigungslinie.

Fitch hockte einen Moment lang reglos am Boden und schien überwältigt. Dann schüttelte er sich und machte weiter, aber es war bereits zu spät. Er konnte sie nicht mehr alle aufhalten. Einer der Drachen kam an dem Ritter vorbei, bearbeitete wütend den geschwächten Teil von Fitchs Kreis und setzte das Zerstörungswerk fort.

Eilig begann Fitch, einen zweiten Ritter zu zeichnen, doch der Drache brach durch die Grenzlinie.

»Nein«, rief Joel und machte einen weiteren Schritt hinab.

Lächelnd hob Nalizar die Kreide und richtete sich auf. Er staubte sich die Hände ab, während Fitch noch zeichnete.

»Professor«, sagte Nalizar. »Professor!«

Fitch hielt inne. Erst jetzt bemerkte er den Drachen, der das Loch vergrößerte und erweiterte, bis er ins Zentrum des Kreises vorstoßen konnte. In einem echten Kampf hätte er nun bald den Rithmatisten selbst angegriffen. Dies war jedoch nur ein Duell, und die Entscheidung war gefallen, weil Nalizar den Ring des Gegners durchbrochen hatte.

»Oh.« Fitch ließ die Hand sinken. »Oh ja, verstehe …« Er drehte sich benommen um und betrachtete die versammelten Schüler. »Ah, ja. Dann … dann werde ich jetzt einfach gehen.«

Er sammelte seine Bücher und Notizen ein. Joel sank auf eine Steinstufe. Den Brief, den er für Fitch geschrieben hatte, hielt er in der Hand.

»Professor«, sagte Nalizar. »Ihr Talar?«

Fitch blickte an sich nach unten. »Ah, ja, natürlich.« Er löste die Knöpfe des langen roten Umhangs und zog ihn aus. Darunter trug er eine weiße Weste, dazu Hemd und Hosen. Er schien niedergeschlagen. Fitch hielt den Talar noch einen Moment in den Händen, ehe er ihn auf das Dozentenpult legte. Sobald er die Bücher eingesammelt hatte, floh er aus dem Hörsaal. Mit leisem Klicken fiel hinter ihm die Tür des unteren Zugangs ins Schloss.

Joel saß wie vor den Kopf geschlagen da. Einige Schüler applaudierten zaghaft, die meisten sahen nur mit großen Augen zu und waren anscheinend unsicher, wie sie reagieren sollten.

»Nun denn«, verkündete Nalizar knapp. »In den letzten Tagen bis zum Ende des Semesters werde ich den Unterricht in dieser Klasse übernehmen, und ich werde ebenfalls den freiwilligen Kurs leiten, den Fitch im Sommer angesetzt hat. Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Leistungen einiger Schüler in Armedius entsetzlich sind, und diesbezüglich hat sich wohl besonders diese Gruppe hervorgetan. Ich erlaube keinerlei Nachlässigkeit in meinem Unterricht. Du da auf der Treppe.«

Joel hob den Kopf.

»Was sitzt du da auf der Treppe herum?«, fragte Nalizar gebieterisch. »Warum trägst du nicht deine Uniform?«

»Ich bin kein Rithmatist, Herr Professor.« Joel stand auf. »Ich besuche die öffentliche Schule.«

»Wie bitte? Was in Himmels Namen hast du in meinem Klassenraum zu suchen?«

Dein Klassenraum? Es war Fitchs Klasse. Oder … sie sollte es sein.

»Nun?«, drängte Nalizar.

»Ich habe hier eine Nachricht für Professor Fitch, Herr Professor.«

»Dann gib sie mir«, verlangte Nalizar.

»Sie ist für Professor Fitch persönlich.« Joel stopfte sich den Brief wieder in die Tasche. »Es geht gar nicht um den Unterricht.«

»Nun, dann hinaus mit dir.« Mit einer Geste entließ er Joel. Der rote Kreidestaub auf dem Boden sah aus, als sei dort Blut geflossen. Nacheinander löste der junge Professor seine Schöpfungen auf.

Joel wich zurück, eilte die Treppe hinauf und öffnete die Tür. Draußen auf dem Rasen waren viele Menschen unterwegs, von denen die meisten die weiße und graue Kleidung der Rithmatisten trugen. Eine Figur hielt sich abseits von allen anderen. Joel sprang die Treppe zum frühlingsgrünen Gras hinunter und holte Professor Fitch rasch ein. Der Mann lief mit hängenden Schultern, das große Bündel mit Büchern und Notizen hatte er sich unter den Arm geklemmt.

»Professor?«, sagte Joel. Joel war groß für sein Alter, er überragte sogar Fitch um einige Zentimeter.

Der ältere Mann fuhr erschrocken auf. »Äh, ja?«

»Wie geht es Ihnen?«

»Oh, äh, ach, der Sohn des Kreidemachers! Wie geht es dir, Junge? Solltest du nicht im Unterricht sein?«

»Ich habe jetzt eine Freistunde.« Joel nahm ihm hilfsbereit zwei rutschende Bücher ab und trug sie für ihn. »Professor, wie geht es Ihnen nach dem, was gerade geschehen ist?«

»Dann hast du es beobachtet?« Professor Fitch machte eine traurige Miene.

»Können Sie denn nichts tun?«, fragte Joel. »Er kann Ihnen doch nicht die Klasse wegnehmen! Vielleicht können Sie mit Rektor York sprechen?«

»Nein, nein«, wehrte Fitch ab. »Das wäre ungehörig. Das Recht der Herausforderung geht auf eine sehr ehrenwerte Tradition zurück. Es ist wirklich ein wichtiger Teil der rithmatischen Kultur.«

Joel seufzte, schlug die Augen nieder und dachte an den Brief in seiner Tasche. Eine Bitte, die er an Fitch richten wollte. Er wollte den Sommer über bei Fitch lernen und so viel wie möglich über die Rithmatik erfahren.

Doch Fitch war kein ordentlicher Professor mehr. Spielte das eine Rolle? Joel war nicht sicher, ob der Mann überhaupt einen Nichtrithmatisten als Schüler annehmen würde. Vielleicht hatte Fitch aber mehr Zeit für den Einzelunterricht, wenn er kein Ordinarius mehr war. Bei diesem Gedanken bekam Joel sofort Schuldgefühle.

Beinahe hätte er den Brief gezückt und dem Mann übergeben. Doch Fitchs niedergeschlagene Miene hielt ihn davon ab. Vielleicht war es kein guter Augenblick dafür.

»Ich hätte es kommen sehen müssen«, sagte Fitch. »Dieser Nalizar. Er ist viel zu ehrgeizig. Das dachte ich schon, als wir ihn letzte Woche eingestellt haben. Es gab in Armedius seit Jahrzehnten keine Herausforderung mehr …«

»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Joel.

»Nun«, begann Fitch, als sie über den Weg wanderten und in den Schatten einer Roteiche mit mächtigen Ästen traten, »nun ja, die Tradition verlangt, dass ich Nalizars Platz einnehme. Man hat ihn als Nachhilfelehrer für die Förderung der Schüler eingestellt, die in diesem Jahr nicht versetzt wurden. Ich denke, das wird jetzt meine Aufgabe sein. Vielleicht sollte ich mich sogar darüber freuen, dass ich eine Weile nicht mehr im Klassenraum stehen muss und Zeit habe, meinen Seelenfrieden zu finden.«

Er zögerte und blickte zum Hörsaal der Rithmatisten zurück. Das Gebäude war geformt wie ein Kasten und besaß dank der diamantförmig angeordneten grauen Ziegelsteine dennoch eine künstlerische Note.

»Ja«, sagte Fitch. »Wahrscheinlich werde ich nie wieder in diesem Klassenraum unterrichten.« An den letzten Worten erstickte er fast. »Entschuldige mich.« Er zog den Kopf ein und stürmte davon.

Joel hob eine Hand, ließ ihn jedoch ziehen, obwohl er noch zwei Bücher des Professors in Händen hielt. Schließlich seufzte Joel und wanderte über den Rasen zum Verwaltungsgebäude.

»Tja«, sagte er leise, als er wieder einmal an das zerknüllte Papier in der Hosentasche dachte. »Das war mal eine schöne Katastrophe.«

KAPITEL02

Die Büros befanden sich in einem kleinen Tal zwischen dem rithmatischen und dem allgemeinen Campus. Wie die meisten Gebäude der Armedius-Akademie war auch die Verwaltung aus Ziegeln gemauert, die in diesem Fall jedoch rot waren. Das einstöckige Gebäude war mit erheblich mehr Fenstern versehen als die Hörsäle. Joel hatte sich schon immer gefragt, warum die Büroangestellten im Gegensatz zu den Schülern einen so guten Ausblick nach draußen genießen durften. Beinahe konnte man meinen, die Verantwortlichen hätten Angst davor, den Schülern einen allzu umfassenden Blick auf die Freiheit zu erlauben.

»… gehört, dass er buchstäblich alles als Herausforderung betrachtet«, sagte jemand, als Joel das Büro betrat.

Florence, die Sekretärin, hatte die Bemerkung geäußert. Sie saß auf dem Schreibtisch statt auf dem Stuhl und redete mit Exton, dem zweiten Angestellten. Exton trug wie gewohnt Weste und Hose, eine Fliege und Hosenträger. Damit sah er, obwohl eher stattlich gebaut, ziemlich elegant aus. Die Melone hing hinter dem Schreibtisch an einem Haken. Florence dagegen trug ein leichtes gelbes Sommerkleid.

»Eine Herausforderung?« Exton schrieb mit einem Federkiel und sprach, ohne den Kopf zu heben. Joel hatte noch nie jemanden wie Exton gesehen, der zugleich schreiben und ein Gespräch führen konnte. »Das ist lange nicht mehr vorgekommen.«

»Ich weiß!«, antwortete Florence. Sie war jung, erst Anfang zwanzig, und unverheiratet. Einige konservative Professoren hatten sich darüber empört, dass Rektor York eine Frau für die Verwaltung eingestellt hatte, doch so etwas kam in der letzten Zeit immer häufiger vor. Jeder sagte, da man das zwanzigste Jahrhundert schrieb, müssten alte Überzeugungen eben weichen. York hatte die Ansicht vertreten, er könne selbstverständlich eine Sekretärin einstellen, wenn in Nebrask weibliche Rithmatisten kämpften und der Monarch eine Frau als Redenschreiberin eingesetzt hatte.

»Solche Herausforderungen gab es früher, als der Krieg in Nebrask gerade begonnen hatte, viel öfter«, erklärte Exton, ohne mit dem Beschreiben des Pergaments innezuhalten. »Jeder ehrgeizige Professor mit einem neuen Talar wollte gleich bis ganz nach oben springen. Es waren recht chaotische Zeiten.«

»Hm«, machte Florence. »Er sieht übrigens ganz gut aus.«

»Wer?«

»Professor Nalizar«, sagte sie. »Ich war dabei, als er heute Morgen mit Rektor York über die Herausforderung sprach. Er kam einfach hereingestürzt und sagte: ›Rektor, ich halte es für angebracht, Sie darüber zu informieren, dass ich an dieser Akademie bald eine volle Professorenstelle bekleiden werde.‹«

Exton schnaubte. »Und was hat York darauf erwidert?«

»Er war alles andere als erbaut und hat versucht, Nalizar die Sache auszureden, aber der wollte nichts davon wissen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete Exton.

»Bist du gar nicht neugierig, wen er herausfordern wollte?«, fragte Florence. Sie bemerkte Joel, der etwas abseits wartete, und zwinkerte ihm zu.

»Ich bin absolut sicher, dass du mich meine Arbeit sowieso nicht fortsetzen lässt, solange du mir nicht alles haarklein erzählt hast«, antwortete Exton.

»Professor Fitch«, berichtete sie.

Exton hielt inne, endlich hob er den Kopf. »Fitch?«

Sie nickte.

»Dann wünsche ich ihm viel Glück.« Exton kicherte. »Fitch ist der Beste auf unserer Akademie. Er wird den Schnösel so schnell in Stücke reißen, dass sich der Kreidestaub noch nicht einmal gelegt hat, wenn das Duell vorbei ist.«

»Nein«, warf Joel ein. »Fitch hat verloren.«

Die beiden verstummten.

»Was?«, fragte Florence. »Woher weißt du das?«

»Ich war dabei.« Joel trat an den Schalter vor den beiden Mitarbeitern. Das Büro des Rektors war weiter hinten durch eine Tür abgetrennt.

Exton drohte Joel mit dem Federkiel. »Junger Mann, ich kann mich genau erinnern, dass ich dich zu den Geisteswissenschaften geschickt habe.«

»Den Auftrag habe ich längst erledigt«, entgegnete Joel sofort. »Genau wie die anderen, die Sie mir gegeben haben. Ich bin auf dem Rückweg an Fitchs Lehrsaal vorbeigekommen.«

»Auf dem Rückweg? Der Raum liegt auf der anderen Seite des Campus!«

»Ach, sei doch still, Exton«, sagte Florence. »Der Junge interessiert sich eben für die Rithmatisten. Damit ist er doch nicht der Einzige auf dem Campus.« Sie schenkte Joel ein Lächeln. Allerdings war ihr zuzutrauen, dass sie sich einzig und allein auf seine Seite schlug, weil sie Exton ärgern wollte.

Exton grollte irgendetwas und nahm sich wieder seine Akten vor. »Man kann es einem Schüler ja kaum vorwerfen, wenn er freiwillig zusätzliche Unterrichtsstunden besucht. Wir haben genug Ärger mit den anderen, die sich davor drücken wollen. Trotzdem, diese Faszination für die verdammten Rithmatisten … das ist nicht gut für einen Jungen.«

»Sei nicht so langweilig«, klagte Florence ihn an. »Joel, stimmt es wirklich, dass Fitch verloren hat?«

Joel nickte.

»Und … was heißt das jetzt?«

»Das bedeutet, dass Fitch und Nalizar in der Hierarchie die Plätze tauschen«, entgegnete Exton. »Fitch verliert den Rang des Ordinarius. In einem Jahr kann er Nalizar seinerseits herausfordern, und bis dahin darf niemand sonst einen der beiden zum Duell fordern.«

»Der arme Mann!«, sagte Florence. »Das ist so ungerecht. Ich dachte, das Duell sei reine Angeberei.«

Exton arbeitete weiter.

»Nun ja«, fuhr Florence fort. »Ob er gut aussieht oder nicht, jetzt mag ich diesen Nalizar wieder etwas weniger. Fitch ist so ein liebenswerter Mann, und er geht völlig in der Lehre auf.«

»Er wird es überleben«, wandte Exton ein. »Und er hat immer noch Arbeit. Joel, ich nehme an, du hast dich lange genug in dem Hörsaal herumgetrieben, um das ganze Duell verfolgen zu können?«

Joel zuckte mit den Achseln.

»Wie ist es denn gelaufen?«, wollte Exton wissen. »Hat Fitch sich wenigstens gut geschlagen?«

»Er war ziemlich gut, seine Figuren waren wunderschön«, berichtete Joel. »Aber er … nun ja, er hat anscheinend nicht viel Erfahrung mit Duellen.«

»Was für eine brutale Art, ihre Angelegenheiten zu regeln!«, sagte Florence. »Sie sind doch Akademiker und keine Gladiatoren!«

Exton überlegte kurz, blickte Florence an und beäugte sie über den Brillenrand hinweg. »Meine Liebe«, entgegnete er, »ich würde mich nicht wundern, wenn es in der nächsten Zeit noch einige weitere Herausforderungen geben würde. Vielleicht erinnert der heutige Tag die engstirnigen Rithmatisten an den Grund ihrer Existenz. Falls Nebrask jemals fallen sollte …«

»Ach, nun komm mir nicht mit diesen Gruselgeschichten, Exton«, gab sie zurück. »Das sind doch nur Märchen, mit denen uns die Politiker Angst machen wollen.«

»Pah«, machte Exton. »Hast du eigentlich gar nichts zu tun?«

»Ich habe Pause, mein Lieber«, antwortete sie.

»Mir fällt auf, dass du immer gerade dann Pause machst, wenn ich etwas Wichtiges erledigen muss.«

»Dann hast du wohl eine unglückliche Zeiteinteilung.« Sie griff nach einer Holzschachtel auf ihrem Schreibtisch und holte ein Kimchi-Schinken-Sandwich heraus.

Joel blickte zur Standuhr in der Ecke. Noch fünfzehn Minuten, bis seine nächste Stunde begann. Die Zeit war zu kurz für einen weiteren Botengang.

»Ich mache mir Sorgen wegen Professor Fitch«, gestand Joel, ohne den Blick von der Uhr mit der komplizierten Mechanik zu wenden. Oben darauf saß eine durch Federwerke angetriebene Eule, die gelegentlich blinzelte und an den Krallen knabberte. Zu jeder vollen Stunde stieß sie einen Ruf aus.

»Ach, so schlimm wird das nicht«, behauptete Exton. »Ich nehme an, Rektor York teilt ihm ein paar Schüler zu. Fitch konnte sowieso mal eine Pause gebrauchen. Vielleicht freut er sich sogar darüber.«

Wie kann man sich über so etwas freuen?, dachte Joel. Der arme Mann war am Boden zerstört. »Er ist ein Genie«, erwiderte Joel. »Niemand sonst lehrt die Verteidigung so gründlich wie er.«

»Er ist ein echter Gelehrter«, stimmte Exton zu. »Vielleicht ist das zu viel des Guten. Im Lehrsaal macht sich Nalizar möglicherweise sogar besser. Nach allem, was man so hört, ging wohl einiges, was Fitch vorgetragen hat, über das Fassungsvermögen seiner Schüler.«

»Nein«, widersprach Joel. »Er ist ein großartiger Lehrer. Er erklärt alles sehr gründlich und behandelt die Schüler nicht wie Dummköpfe, wie es Howards und Silversmith tun.«

Exton kicherte. »Ich habe dir wohl zu viel Freiraum gelassen, was? Willst du wirklich, dass ich wieder Ärger mit den Rithmatisten bekomme?«

Joel antwortete nicht. Die anderen rithmatischen Lehrer hatten ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihren Unterricht nicht stören durfte. Ohne Fitch und dessen laxe Einstellung konnte Joel sich in Zukunft nicht mehr einfach in eine Vorlesung schleichen. Es drehte ihm den Magen um.

Aber vielleicht gab es doch noch eine Möglichkeit. Wenn Fitch einige Schüler zugewiesen wurden, konnte er vielleicht einer der Glücklichen sein.

»Joel, mein Lieber«, sagte Florence, die ihr Sandwich inzwischen zur Hälfte aufgegessen hatte. »Ich habe heute Morgen mit deiner Mutter gesprochen. Sie hat mich gebeten, dich bei deinem Antrag für das Sommerwahlfach zu beraten.«

Joel schnitt eine Grimasse. Es hatte durchaus Vorteile, als Sohn eines Angestellten der Akademie auf dem Campus zu leben. Das Beste war, dass er eine kostenlose Ausbildung bekam. Diese Gunst war ihm allerdings erst nach dem Tod seines Vaters zuteilgeworden.

Andererseits gab es auch gewisse Nachteile. Bei den meisten anderen Mitarbeitern, wie etwa Exton und Florence, waren Unterkunft und Verpflegung ein Bestandteil des Arbeitsvertrages. Joel war mit ihnen zusammen aufgewachsen und sah sie jeden Tag, und dies bedeutete, dass sie auch mit seiner Mutter befreundet waren.

»Ich denke darüber nach.« Er dachte an den Brief, den er für Fitch geschrieben hatte.

»Der letzte Tag des Semesters rückt näher, mein Lieber«, warnte Florence ihn. »Du musst dich bald für ein Wahlfach entscheiden. Endlich kannst du dir selbst etwas aussuchen, statt den Lehrplan vorgeschrieben zu bekommen. Ist das nicht wundervoll?«

»Klar.«

Die meisten Schüler verbrachten den Sommer daheim. Wer nicht wegfuhr, musste halbtags am Unterricht teilnehmen und zusätzlich ein Wahlfach belegen – es sei denn, man schnitt während des Semesters schlecht ab und war gezwungen, die Nachhilfekurse als Wahlfach zu belegen. Die Rithmatisten hatten Glück, denn sie mussten zwar das ganze Jahr in der Schule bleiben, durften aber als Sommerwahlfach wenigstens einen rithmatischen Kurs auswählen.

»Hast du schon darüber nachgedacht?«, wollte Florence wissen.

»Ein bisschen.«

»Die Kurse füllen sich schnell, mein Lieber«, fuhr sie fort. »Im Sport sind wohl noch ein paar Plätze frei. Willst du da rein?«

Drei Monate auf einem Spielfeld stehen und zusehen, wie die anderen umherliefen und sich Bälle zuspielten, wobei alle so taten, als sei das Spiel mindestens halb so interessant wie ein rithmatisches Duell? »Nein, danke.«

»Was dann?«

Mathematik wäre interessant. Literatur wäre nicht allzu schmerzhaft. Aber all das wäre lange nicht so spannend, wie bei Fitch zu lernen.

»Ich entscheide mich bis heute Abend«, versprach er und warf einen Blick auf die Uhr. Es war Zeit für die nächste Stunde. Er holte die Bücher aus der Ecke, legte Fitchs Bücher oben auf den Stapel und verließ das Gebäude, ehe Florence noch weiter drängeln konnte.

KAPITEL03

Die Geschichtsstunde verging wie im Flug. Die Schüler wiederholten den Stoff, weil am folgenden Tag die Abschlussprüfung stattfinden sollte. Danach ging Joel in den Mathematikunterricht; es war die letzte Stunde des Tages. In diesem Semester war Geometrie an der Reihe.

In Bezug auf die Mathematik hatte Joel gemischte Gefühle. Die Geometrie bildete die Grundlage der Rithmatik und war ihm deshalb wichtig. Für die Geschichte der Geometrie hatte er sich schon immer interessiert – von Euklid und den alten Griechen bis zu König Gregory und der Entdeckung der Rithmatik.

Andererseits gab es viel mühselige Fleißarbeit zu tun. Eine schier unendliche Reihe von Rechenaufgaben, die ihn nicht im Mindesten interessierten.

»Heute nehmen wir noch einmal die Formeln für die Flächenberechnung durch«, verkündete Professor Layton vorne im Klassenzimmer.

Formeln für die Flächenberechnung. Joel kannte sie auswendig, seit er laufen gelernt hatte. Stöhnend schloss er die Augen. Wie oft mussten sie das noch durchkauen?

Professor Layton ließ seine Schüler nicht faulenzen, obwohl der größte Teil des Lehrstoffs einschließlich der Abschlussprüfung bereits erledigt war. Er bestand darauf, dass sie in der letzten Unterrichtswoche alles, was sie gelernt hatten, noch einmal durchgingen.

Ehrlich, wer wollte nach der Abschlussprüfung noch einmal etwas wiederholen?

»Wir beginnen mit den Kegelschnitten«, erklärte Layton. Er war ein großer, breitschultriger und leicht übergewichtiger Mann. Joel fand, dass Layton mit dieser Figur eher ein Sporttrainer als ein Mathematikprofessor sein sollte. Die motivierende Art eines Trainers hatte er auf jeden Fall.

»Wisst ihr noch, was das Großartige an Kegeln ist?« Layton deutete auf das Exemplar, das er an die Tafel gezeichnet hatte. »Ihr könnt so viele Dinge tun, wenn ihr einen Kegel an der richtigen Stelle schneidet. Seht her! Ein waagerechter Schnitt, und wir bekommen einen Kreis. Ein geneigter Schnitt, und wir bekommen eine Ellipse. Ist das nicht unglaublich?«

Die Schüler musterten ihn teilnahmslos.

»Na, ist das nicht unglaublich?«

Endlich ließen sich einige Zuhörer zu einer halbherzigen Antwort herab: »Ja, Professor Layton.« Für Professor Layton war jeder Aspekt der Mathematik unglaublich. Er verfügte über eine schier unerschöpfliche Begeisterung. Hätte er diese Energie nicht auf etwas Sinnvolles wie rithmatische Duelle verwenden können?

Die Schüler hingen lustlos auf ihren Plätzen. Zwischen ihnen saßen einige Jugendliche mit weißen Röcken oder Hosen und grauen Pullovern. Rithmatisten. Joel lehnte sich zurück und musterte sie verstohlen, während Layton sich über die verschiedenen Arten ausließ, einen Kegel zu zerlegen.

Auf dem rithmatischen Campus gab es spezielle Kurse für die Rithmatisten – oder für die Staubwedel, wie sie manchmal genannt wurden. Diese Kurse fanden jeweils vor der ersten großen Pause statt. Danach nahmen die Rithmatisten zusammen mit den gewöhnlichen Schülern am allgemeinen Unterricht teil.

Joel dachte immer, dass es ihnen schwerfallen musste, neben der rithmatischen Ausbildung auch die alltäglichen Fächer zu lernen. Es war jedoch sinnvoll, dass an die Rithmatisten höhere Anforderungen als an die anderen gestellt wurden. Schließlich hatte sie der Meister persönlich auserwählt.

Eigentlich haben sie hier gar nichts zu suchen, dachte Joel. Da sie in seiner Klasse saßen, kannte er ihre Namen, wusste sonst aber so gut wie nichts über sie – abgesehen von eben der Tatsache, dass sie am normalen Mathematikunterricht teilnahmen. Und das war wichtig.

Die Rithmatik beruhte auf der Geometrie und der Trigonometrie, und in den rithmatischen Kursen wurden viele höhere arithmetische Verfahren behandelt. Der einzige Grund dafür, dass die Staubwedel in Professor Laytons Lehrsaal saßen, war der, dass sie Nachhilfe bei Formeln und geometrischen Figuren brauchten.

Die beiden Jungen, sie hießen John und Luc, hockten normalerweise zusammen im hintersten Winkel des Raumes und erweckten den Eindruck, ihnen wäre alles andere lieber, als mit einem Haufen Nichtrithmatisten am Mathematikunterricht teilzunehmen. Außer ihnen war noch ein Mädchen namens Melody da. Sie hatte lockiges rotes Haar und ein Gesicht, das Joel nur selten sah, weil sie meist vorgebeugt an ihrem Platz saß und irgendetwas in ihr Notizbuch malte.

Ob sich einer von ihnen bewegen lässt, mich zu unterrichten und mit mir über die Rithmatisten zu reden?, überlegte Joel. Vielleicht konnte er ihnen im Austausch Nachhilfe in Mathematik anbieten.

»Nun wollen wir die Formeln für die Dreiecke wiederholen«, erklärte Professor Layton. »Ihr habt in diesem Jahr so viel gelernt, dass euer Leben nie mehr so sein wird wie früher!«

Wenn sie Joel doch nur in die höheren Kurse lassen würden. Doch die fanden allesamt auf dem rithmatischen Campus statt und waren für normale Schüler nicht zugänglich.

Daher hatte Joel den Brief an Fitch verfasst, der immer noch in seiner Hosentasche steckte. Er zog ihn hervor und warf einen Blick darauf, als Professor Layton einige weitere Formeln an die Tafel schrieb. Keine der Linien erwachte zum Leben und bewegte sich oder tat sonst etwas Ungewöhnliches. Layton war kein Rithmatist. Für ihn, für Joel und für fast alle anderen Lebewesen war die Tafel nur eine Tafel und die Kreide nur ein gewöhnliches Schreibutensil.

»Mann«, sagte Layton, als er die Liste der Formeln betrachtete. »Habe ich schon mal erwähnt, wie unglaublich sie sind?«

Irgendjemand im Klassenzimmer stöhnte. Layton drehte sich lächelnd um. »Nun ja, ihr freut euch vermutlich alle schon auf die Sommerwahlfächer. Das kann ich euch nicht vorwerfen. Aber heute gehört ihr noch mir, also holt bitte die Hefte heraus, damit ich die Hausaufgaben von gestern kontrollieren kann.«

Joel blinzelte und zuckte erschrocken zusammen. Die gestrigen Hausaufgaben. Seine Mutter hatte ihn sogar gefragt, ob er etwas aufbekommen hatte. Er hatte versprochen, alles zu erledigen, und es dann doch verschoben und sich gesagt, er könne es später immer noch tun … in der Freistunde.

Stattdessen hatte er Fitch zugehört.

Oh nein …

Layton wanderte durch den Klassenraum und betrachtete die Hefte der Schüler. Joel zog langsam seines heraus und schlug die richtige Seite auf. Dort warteten zehn ungelöste Aufgaben auf ihn. Unbearbeitet und ignoriert. Layton trat an Joels Tisch.

»Schon wieder, Joel?«, fragte Layton seufzend.

Joel senkte den Blick.

»Komm nach dem Unterricht zu mir.« Damit ging Layton weiter.

Nun saß Joel niedergeschlagen auf seinem Platz. Nur noch zwei Tage. Er musste nur noch zwei Tage und diesen Kurs überstehen. Er hatte wirklich die Absicht gehabt, die Hausaufgaben zu machen, ganz ehrlich. Er hatte nur … er hatte es eben doch nicht getan.

Das sollte keine Rolle spielen. Layton legte großen Wert auf die Klassenarbeiten, und Joel hatte bei allen Prüfungen hervorragende Ergebnisse geliefert. Eine einzige weitere versäumte Hausaufgabe konnte die Zensur nicht gefährden.

Layton wanderte wieder nach vorn. »Also gut, wir haben noch zehn Minuten. Was können wir tun … ja, wir wollen an einigen praktischen Problemen arbeiten!«

Dieses Mal bekam er mehr als nur vereinzeltes Stöhnen zu hören.

»Oder«, überlegte Layton, »oder ich lasse euch früher gehen, weil es die letzte Stunde ist und der Sommer vor der Tür steht.«

Sogar die Schüler, die während der ganzen Stunde die Wände angestarrt hatten, waren auf einmal hellwach.

»Na gut, dann geht.« Layton winkte in die Richtung der Tür.

Binnen weniger Sekunden waren alle verschwunden, nur Joel blieb sitzen, wo er war, und legte sich eine Entschuldigung zurecht. Durch das kleine Fenster konnte er die anderen Schüler sehen, die draußen auf dem Rasen umherliefen. Die meisten Kurse waren mit den abschließenden Klassenarbeiten zu Ende gegangen, und die Schüler konnten sich entspannen. Joel musste nur noch eine letzte Prüfung in Geschichte absolvieren. Das war kein großes Problem, weil er dafür tatsächlich gelernt hatte.

Schließlich stand er auf und ging mit seinem Heft zum Lehrerpult.

»Joel, Joel«, begann Layton mit grimmiger Miene. »Was soll ich nur mit dir machen?«

»Mich bestehen lassen?«, fragte Joel.

Layton schwieg.

»Herr Professor«, fuhr Joel fort, »ich weiß ja, dass ich bei den Hausarbeiten etwas nachlässig war …«

»Nach meiner Zählung hast du neun gemacht. Neun von vierzig«, fiel Professor Layton ihm ins Wort.

Neun?, dachte Joel. Es müssen doch mehr gewesen sein … Er überlegte, was er im vergangenen Semester getan hatte. Mathematik war ihm schon immer sehr leichtgefallen, und deshalb hatte er sich kaum darum gekümmert.

»Nun ja«, räumte Joel ein, »ich war vielleicht etwas zu faul …«

»Ach, wirklich?«, sagte Layton.

»Aber die Klassenarbeiten«, ergänzte Joel rasch. »Dabei hatte ich doch immer die besten Noten.«

»Zuerst einmal dreht sich die Schule nicht allein um die Klassenarbeiten«, sagte Layton. »Der Abschluss von Armedius ist eine wichtige Auszeichnung, die dem Träger Ehre macht. Er besagt, dass der Schüler lernen und Anweisungen befolgen kann. Ich unterrichte nicht nur Mathematik, sondern Fertigkeiten für das ganze Leben. Wie kann ich jemanden bestehen lassen, der nie seine Aufgaben erledigt?«

Das war einer von Laytons Lieblingsvorträgen. Joels Erfahrung nach hielten die meisten Professoren ihr Fach für das Wichtigste, was ein Schüler überhaupt im späteren Leben brauchen konnte. Sie lagen alle falsch – abgesehen natürlich von den Rithmatisten.

»Es tut mir leid«, gestand Joel. »Ich … Sie haben ja recht. Ich war faul. Aber Sie dürfen doch nicht vergessen, was Sie am Anfang des Semesters gesagt haben. Meine Klassenarbeiten sind gut genug, um mich bestehen zu lassen.«

Layton verschränkte die Finger. »Joel, weißt du, wie es für einen Lehrer aussieht, wenn ein Schüler nie die Hausaufgaben macht und es trotzdem schafft, in den Prüfungen Bestnoten zu erzielen?«

»Als ob er faul wäre?«, fragte Joel verwirrt.

»Das ist eine Möglichkeit.« Layton zog ein paar Blätter aus einem Stapel, der auf seinem Schreibtisch lag.

Joel erkannte eines davon. »Meine letzte Klassenarbeit.«

»Ja«, bestätigte Layton. Er legte Joels Blatt neben das eines anderen Schülers. Auch der Klassenkamerad hatte gut abgeschnitten, aber kein perfektes Ergebnis erzielt. »Erkennst du den Unterschied zwischen den beiden Arbeiten, Joel?«

Joel zuckte mit den Achseln. Seine eigene war sauber und ordentlich, unter jeder Aufgabe war gewissenhaft die Lösung notiert. Die andere Arbeit war unordentlich, voller hingekritzelter Notizen, Gleichungen und Anmerkungen, die das Blatt weitgehend ausfüllten.

»Ich werde immer misstrauisch, wenn mir ein Schüler den Lösungsweg vorenthält, Joel«, fuhr Layton mit harter Stimme fort. »Ich beobachte dich jetzt seit Wochen und habe immer noch keine Erklärung, wie du es anstellst. Deshalb kann ich dich nicht offiziell beschuldigen.«

Joel sperrte erschrocken den Mund auf. »Sie glauben, ich schummle!«

Layton schrieb etwas auf. »Das habe ich nicht gesagt. Ich kann nichts beweisen, und auf Armedius beschuldigen wir niemanden, wenn wir es nicht beweisen können. Doch es liegt in meiner Macht, dich für Nachhilfe in Geometrie einzuteilen.«

Joels Hoffnungen auf ein Wahlfach schwanden dahin und wichen der entsetzlichen Vorstellung, jeden einzelnen Tag