Der rote Faden, der ein blauer wurde - Sigurd Saß - E-Book

Der rote Faden, der ein blauer wurde E-Book

Sigurd Saß

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Erlebt Sigurd Saß seine ersten beiden Lebensjahre noch auf dem amerikanischen Kontinent, im fernen Brasilien, siedeln seine Eltern bald mit ihm nach Deutschland über. Doch das ist erst der Startschuss für ein turbulentes Leben voller aufregender Erlebnisse und Umbrüche. Nach der Ausbombung der Berliner Wohnung verschlägt es ihn in das niedersächsische Hameln, später auch ins Ausland nach Frankreich und Spanien. Dort geht es auf und ab – über Diebstahl, Wohnen in Höhlen, Überleben ohne Geld bis hin zur Liebe, dem Zusammentreffen mit Pablo Picasso und anderen Kunstlegenden. Doch ebenso in Deutschland folgt ein bunter Trip durch seine Beteiligung an der Kunstszene. Denn die Begeisterung für die Malerei brennt von früh auf in Sigurd und zeigt sich privat und im Beruf als treue Begleiterin in seiner Entwicklung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 554

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-210-0

ISBN e-book: 978-3-99130-211-7

Lektorat: Lucas Drebenstedt

Umschlagfotos: Sigurd Saß; Thomas Hertwig,David M. Schrader | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildung: Sigurd Saß

www.novumverlag.com

Vorwort

Der ‚rote Faden‘, weil der Blick auf Ereignisse gerichtet wird, die einen inneren Zusammenhang zu haben scheinen. Ereignisse einer Biografie, die hauptsächlich in Deutschland spielt, und zwar bis heute.

Warum der ‚blaue Faden‘ ins Spiel kommt, kann ich nicht genau sagen. Er hat sich von selbst eingefunden. Blau ist die Farbe des Himmels, der unbegrenzten Weite, der Leichtigkeit, des Ungreifbaren und der Freiheit, die im Rahmen einer Biografie nicht von selbst da ist, sondern Ergebnis einer Befreiung. Vielleicht ist der blaue Faden einfach die immaterielle Essenz des roten oder dessen Transformation zum formlosen Blau.

Dieses Buch zu schreiben, schwebte mir schon lange vor. Bisher gab es dazu jedoch keine Vorstellung – weder für die Form noch für die Konzentration. Doch plötzlich war beides da. Als Form stellte sich (wie die Lösung eines gordischen Knotens) die Gliederung in Kapitel ein, wie eine Sammlung von Kurzgeschichten mit innerem Zusammenhang. Stilistisch werden unterschiedliche Sprachstile miteinander verwoben, eine Art Spiegelbild des lebendigen Sprachgebrauchs. Das Artifizielle spielt eine untergeordnete Rolle und wechselt sich ab mit Alltagssprache.

Ich danke den vielen Menschen, denen ich freundschaftlich begegnen durfte. Ich danke den Lebensgefährtinnen, die mich begleitet und zu Erkenntnissen meiner selbst verholfen haben. Und ich danke meinen Kindern, von denen ich viel gelernt und die so manche Eiskruste in mir zum Schmelzen gebracht haben. Besonders danke ich Dorothee, die mir eine beglückende und bisweilen schmerzliche Ehrlichkeit in der Akzeptanz der Ebbe und Flut des Lebensflusses vermittelt hat.

Gewidmet sei dieses Buch meinem Bruder Harald.

Sigurd Saß

Mallorca, 26.02.2016/

Röpersberg Ratzeburg, 03.11.2016/

Grassel 20.04.2017 – 2019/

Mallorca und Grassel 2022

Kapitel 1 – ANKUNFT

Da war dieser Junge.

Laufen, laufen, laufen,

fällt mir bei ihm ein.

Mein Gott, was bin ich mein Leben lang gelaufen: Paris total – ohne Ende –, fast nie die Metro benutzt, von Deutschland übers Elsass, dann den Doubs und die Rhone hinab bis zur spanischen Grenze, Port Bou, Pyrenäen, Barcelona mit der ersten heißen Schokolade, in der der Löffel stand …

Doch zurück zu dem Jungen.

Der lief wie ein Seemann, als er nach dreiwöchiger Reise in Hamburg von Bord ging. Eher geführt wurde oder gar getragen?

Er war ja erst zwei. Für ein Leben, das gerade mit Mühe vom Krabbelalter in den aufrechten Gang gelangt war, waren drei Wochen auf dem Schiff ein prägender neuer Kosmos gewesen.

Da musste man breitbeinig gehen und stehen, damit die Schaukelei einen nicht umwarf.

Großvater hatte sein Amüsement, als er den kleinen Brasilien-Geborenen mit seinem wackeligen Spreizgang in Empfang nahm.

„Wie ’n oller Seemann – guckt euch den an – klasse – und dann mit seinem Windelpaket zwischen den Beenen.“

Er konnte trotz der Empfangsreise nach Hamburg seinen Berliner Dialekt nicht verbergen.

Das war also die neue Welt.

Etwas ist abgeschnitten, spürte Sigurd in seiner kleinen Brust.

Das Abenteuer auf dem Schunkelboden war vorbei.

Es war so abrupt, dass er nun wieder aufpassen musste, auf dem starren Untergrund nicht aus der Balance geworfen zu werden. Zaghaft, wie zur Erprobung von Glatteis, ertastete er mit seinen Füßchen den unbekannten Boden. Mit seinen Augen suchte er nach bekannten Haltepunkten. Doch die gab der Asphalt nicht her. Viel Mut kosteten die ersten torkeligen Schritte auf dem neuen Kontinent.

Laufen, laufen, laufen.

Übungen für eine neue Welt.

Noch vieles mehr war abrupt. Der Himmel erschien so grau wie das Licht. Die Luft fühlte sich kühl an. Auf den Boden konnte er seinen Po nicht – wie gewohnt – weich fallen lassen. Hart war der, staubig und steinern.

Sigurd vermisste das vertraute Karree des Kinderställchens auf dem frischen Gras der Tijouka. Von tief innen überflutete ihn ein Glücksgefühl, wenn er daran dachte, wie eine reife Zitrone neben ihn geplumpst war. Sein Blick, nach oben gerichtet, hatte gesucht, wo sie wohl herkam. Dort im Blätterdach über dem Ställchen hingen ganze Scharen. Und wenn eine von diesen wohlriechenden gelben Bomben vor seinen Füßen gelandet war, war das immer wie ein Geschenk des Himmels zum Spielen, Matschen und Naschen gewesen.

Vor allem fehlten ihm die tausend kaleidoskopischen Figürchen, welche die Sonne durch das Blätterdach auf den Rasen geworfen hatte. Welche Freude hatte es ihm stets gemacht, danach zu haschen. Geheimnisvolle Wesen – nie ließen sie sich greifen, auch wenn er sie schon gefangen wähnte.

Zwei Kinderjahre prägender Erfahrung:

Das Leben – ein fröhliches Spiel in Wärme und Licht, eingebettet in eine grüne Farben- und Formenvielfalt. Zitronen-, Orangenbäume und Bananenstauden. Im Wind zitterte der Bambus. Palmen, Oleander, Mimosen, Canna da India, Bougainvillia und vieles mehr verbreiteten ihre Düfte. Am Boden leuchteten in Grün, Gelb und Ocker die Halme der Rasenflächen. Dazwischen hockten felsige Steine wie vertraute Kobolde. Sie winkten grüßend zum großen Bruder ‚Gavea’ hinüber, dem Felsmassiv am Horizont von Rio de Janeiro.

Der Rasen war von sandigen Wegen durchzogen. ‚Boami’ hatte sie in unermüdlichem Laufeifer wie Wildwechsel geprägt. Die Schäferhündin gehörte wie der 2 Jahre ältere Bruder und das Kindermädchen zum Ensemble des mauerumfriedeten Gartens. Sie passten auf, dass sich keine Schlange dem Ställchen näherte. Sigurd hatte die Hündin stets mit jauchzender Freude empfangen, wenn sie sich zum Kuschelstündchen eingefunden hatte.

Gebäude hatten in diesem tropischen Naturreich nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Sie waren sporadisch besuchte Schutzzonen für die Nacht oder gegen die Mittagshitze oder in der Regenzeit.

Außer den tausend tanzenden Figuren aus dem Wechselspiel von Licht und Schatten herrschten vor allem die vertrauten süßlich-aromatischen Gerüche vor –mmmhhh – durch Sigurds Erinnerung zog der intensive Duft der Mangoblüten. Und dann die befreundeten und doch so geheimnisvollen Geräusche. Das Zirpen der Grillen verstummte nur zur Zeit der größten Mittagshitze. Ab und zu durchdrang der Schrei eines wilden Papageis die Stille. Die Kolibris an den Blüten der Trompetenblumen – wenn Sigurd ganz still und aufmerksam lauschte, konnte er ihren Flügelschlag wahrnehmen.

Spaß hatte Sigurd besonders das Plätschern von Vaters Gartenbewässerung gemacht. Er hatte von seinem Ställchen aus zusehen können, wie Papa sie gebaut hatte. Die dicken Bambusstangen für die Wasserführung durch den Garten hatten schon beim Abladen tolle Klänge hervorgezaubert. Zuerst ein Orchester klappernder Trommeln. Tiefe hohle Basstöne hatten sich später mit hellen, flötenden Pfeifgeräuschen gemischt, wenn der Wind an ihnen vorbeigestrichen war. Und wenn Papa die Bambusstämme gespalten hatte, war das immer ein Knacken, Zischen und Summen gewesen. Ein Konzert, welches Sigurd oft einen lustvoll freudigen Laut entlockt hatte.

Manchmal hatte das Rauschen der Blätter im Garten angekündigt, dass ein Luftzug von den nahen Bergen heruntergefallen oder zusammen mit Salzgeschmack vom Meer heraufgefegt war. Das war stets ein dankbar empfangener Moment der Kühlung gewesen.

Das zusammenwirkende Gewebe der Erlebnisse rundherum, es war wie die ineinandergreifenden Fasern eines großen Nestes, vertraut und doch immer für Entdeckungen gut.

Nun diese abrupten Wechsel.

Zunächst das Schiff als schwimmende Mammutschaukel. Statt Pflanzen gab es nur Treppen und Türen, große und kleine Räume ohne Grün und ohne Fenster. Immer musste Sigurd aufpassen, nicht getreten zu werden. Die Vielzahl an Beinen und Schuhen war manchmal enger als ein Bambusdickicht. Wenn er nicht auf Papas oder Mamas Arm war, hatte er sie direkt vor der Nase: diese großen, kleinen, dicken, dünnen, uniformierten, müffelnden und parfümierten Füße. Drei Wochen lang täglich dieselben Abläufe in der wiegenden Bewegung auf dem Ozean.

Einmal hatte es eine Tagesunterbrechung in Lissabon gegeben, bevor es weitergegangen war. Nun schließlich der harte, feste Boden des Hamburger Hafens. Er war wie ein Angriff auf den wiegenden kinderbeinweichen Gang des frisch eingeschifften brasiliendeutschen Lebens.

Laufen, laufen, laufen.

In die neue Welt.

Der Großvater stand mit ausgebreiteten Armen da.

Sollte Sigurd es wagen, die letzten Meter mit wackeligen Beinen zu überbrücken? Großvaters Lachen verhieß eine sichere Zuflucht. Also los.

Opa Paul und Oma Martha waren den Kindern schon vertraut durch einen Besuch in Brasilien und durch die Gespräche der Eltern. Ein enges Band war zudem gewachsen durch die vielen oft sehnlichst erwarteten Postsendungen aus der alten Berliner Heimat. Jedes Mal waren die Briefe wie ein Ritual im Familienkreis geöffnet und vorgelesen worden.

Dabei hatten die Kinder schon immer gespannt auf die Geschichten von Opa Paul gewartet. Stets hatte er etwas Lustiges zu erzählen. Schon bald konnten Sigurd und Harald die Briefe von Mutters Eltern gut von dem viel ernsteren Ton der Oma Hulda unterscheiden.

Nun waren es die Arme vom lebenslustigen Opa Paul, die zur Begrüßung in die neue fremde Welt einluden. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer für die Beine und das Gefühlsleben eines 2-Jährigen.

Kapitel 2 – BERLIN

Mit dem Einzug in die Berliner Wohnung waren bei den Eltern die früher erlernten sozialen Abläufe eingekehrt. Für die Kinder stellten sie einen ungewohnt domestizierenden Rahmen dar.

Da war dieser Junge.

Sein begeisterungsfreudiger Entdeckerdrang, der in der Tijouka so manches „Oh“und „Ah“bei den Eltern und bei Besuch hervorgerufen hatte, erlebte eine unerwartete Vollbremsung.

Vater kam einmal dazu, als er in andächtiger Inspiration aus selbstproduzierter brauner Windelknete eine überkindergroße Wandmalerei zauberte. Sigurd war so entrückt in die geheimnisvollen Schlangen, die sich aus dem braunen Brei durch seine Finger auf die Tapete schlängelten, dass Vaters Reaktion ihm wie ein Schock durch seinen kleinen Körper zog. Denn anders als erwartet wurde sein Tun mit Geschrei und Bestrafung geahndet. Verständnislos konnte er sich nur zusammenducken, wie Boami, die brasilianische Hündin, es bei einem unerwarteten Gewitterschauer getan hatte.

Ähnlich ging es Sigurd bei der Untersuchung des Stoffbären. Er hatte eine aufregende Entdeckung gemacht. Innen war der Bär mit Sägespänen gefüllt. Zunächst etwas enttäuscht fand er heraus, dass es durchaus ein tolles Material zum Spielen war. Es ließ sich, wie die Brotkrumen bei Hänsel und Gretel, als Wegmarkierung verwenden. Wie Hänsel im Märchen zog er streuend durch das Labyrinth der Berliner Wohnung: vorbei an den zwei Badezimmern, an der Dienstbotentreppe zum Hof, durch die zwei Flure, vorbei an der historischen Mädchenkammer, durch 3 von den 5 Zimmern, zum Eingangssalon und der Küche. Am interessantesten war der Weg um den großen Flügel im Wohnzimmer, weil sich unter ihm auch Möglichkeiten zum Verstecken boten. Konzentriert und versunken legte er seine Spuren durch die gesamte Wohnung an, wie Boami ihre Sandwege auf dem Rasen der Tijouka. Doch auch diese Erfindung fand nicht die Gegenliebe von „Ah“und „Oh“. Es gab Schimpfe und einen Klaps auf den Hintern.

Besonders zu schaffen machte ihm der Wechsel in Vaters alltäglichem Verhalten.

Der hatte einen Raum der weitläufigen Wohnung als ‚Herrenzimmer‘ eingerichtet. Hinter dem wuchtigen Schreibtisch war Papa verbarrikadiert wie hinter einer hölzernen Palisadenabwehr.

Die Wand in seinem Rücken erregte Sigurds Neugier. Sie war drapiert mit Utensilien, die er von Brasilien her kannte. Am liebsten wollte er sie gleich in die Hand nehmen und damit spielen.

Doch: „Die sind nur zum Angucken, darf man nicht anfassen.“

Mit diesem Verdikt versanken sie für die Kinder im Ozean des Unzugänglichen!

Es war derselbe Ozean, aus dem künftig zu Weihnachten die dampfbetriebene Eisenbahn hervorgeholt wurde und die nur der Berührung des Vaters vorbehalten war.

Doch in der Berliner Anfangszeit war der Ozean sowohl für die Kinder als auch für die Eltern noch jung. Auch im ungewohnten Zusammenleben mit einer Familie auf begrenztem Raum musste man seine Position erst durch Wegmarken definieren. Etwas anders als bei Hänsel und Gretel leitete Vater diese Wegmarken aus seiner eigenen preußisch-patriotischen Familientradition her. Die französischstämmige, sozialdemokratische Tradition der Schwiegereltern war zwar anziehend, doch noch fremd.

Bleibt die Frage, wieso werden die Wegmarken eines Erwachsenen wichtiger genommen als die eines Kindes? Ist es der Kampf des Verstandes gegen den Impuls aus der Seele?

Immerhin waren die Erinnerungsstücke an die Zeit in den Tropen ein Anfang der selbstbestimmten, nach Freiheit schmeckenden Selbstdefinition in der neuen Umgebung. Es war zu dieser Zeit noch nicht abzusehen, wie schnell auch die ‚Wandmalerei’ und Deko des Herrenzimmers (nicht nur die des Sohnes) ihren Wert einbüßen konnte.

Sigurd verfolgte in berührter Anteilnahme das Wachstum der Wanddekoration. Papas weißer Tropenhelm aus Rio war dort genauso aufgespießt wie einer jener faszinierenden, blau schillernden, handgroßen Schmetterlinge aus dem Garten der Tijouka. Sigurds armausgestreckten Kommentar„Metterling fangen“quittierte Vater wieder mit Kopfschütteln.

Ähnlich einer Präsentation von Jagdtrophäen gab es an der Wand: zwei gekreuzte Macheten, Kurare-Pfeile und Bogen amerikanischer Ureinwohner, Schwarz-Weiß-Fotos mit geränderten Rahmen von Begegnungen mit Brasiliendeutschen und Einheimischen. Mitbringsel von den Maultierreisen durch den brasilianischen Urwald vor der Zeit von Mutters Schwangerschaften.

Auch ein farbiges Ölgemälde von der imposanten Ansicht der Gavea weckte bei Sigurd die Erinnerung an die Sicht von der Tijouka. Doch erschien sie wie ein lebloses präpariertes Tier gegenüber der dort erlebten Fülle von Duft, Geräuschen, Licht und Farben im tropischen Garten.

Das Minimuseum war ein manifestes Zeichen, dass diese Zeit der Vergangenheit angehörte. Konserve in der Sammlung der Erinnerungen.

Nur zur heimlichen Genugtuung oder für besondere Besucher wurde die intime Demonstration einer ad acta gelegten Lebensphase wie eine Schatzvitrine geöffnet.

Für beide, Vater und Sohn, war es eine einschneidende Marke auf dem Lebensweg. So wie die Akte ‚Brasilien’ als eine Zeit voll Glück, Gelassenheit und Leichtigkeit geschlossen wurde, wurde – besonders für den Sohn und seinen Bruder – eine neue Akte aufgemacht, die Akte ‚Angst’.

Anhängsel aus der Ära der Leichtigkeit, wie z. B. das sorglose Loslassen des ‚kleinen Geschäfts’, wurden vehement bestraft. Spannende Ausnahmen waren die Familientreffen mit den Großeltern, wenn mit Bildern und Berichten die Erinnerungen wachgerufen wurden. Mutter erzählte dann oft, wie easy die Kleinkindpflege in Brasilien gewesen sei:

„Tagsüber brauchten die Kinder so gut wie keine Windeln. Alles spielte sich ja draußen ab. In der Wärme reichte ein Hemdchen (T-Shirt). Und im Garten konnten sie püschern, wohin sie wollten.“

„Da musste man nicht immer anziehen, ausziehen, anziehen – wie hier in Deutschland. Was man sich da gespart hat. Nicht immer Strampler wechseln, wickeln, warme Sachen an und aus, Windeln tauschen – halb so viel Wäsche waschen, und wenn, war sie im Handumdrehen getrocknet.

Gut, dass sie jetzt aus dem Gröbsten raus sind.“

Für das Gröbste war natürlich auch in Brasilien die Windel zuständig gewesen. In Berlin begann nun die Gewöhnungsphase ans Töpfchen. War schon dieses Topfsitzen für den lauffreudigen Jungen eine Tortur, so hatten seine zwei- bis dreijährigen Ganglien für das ‚kleine Geschäft‘ einen direkten Zugang zum Lauf der Natur gespeichert.

Zum Pinkeln war der Weg der Berliner Wohnung oft viel zu lang. Dann passierte es schon mal, dass sich die Akte ‚Brasilien‘ ein kleines Stück weit öffnete und mit der gewohnten Freiheit lockte. Die Ecke hinter der Nähmaschine im ehemaligen Mädchenzimmer schien Sigurd ein geeignetes Plätzchen zu sein – immerhin lag sie nicht im vollen Blickfeld. Abseits vom Mainstream der Wohnung schien sie sich, wie der große Stein hinter der Canna da India im Garten der Tijouka, als Ort seiner Entlastung anzubieten.

Was das für ein Theater gab! Geschimpfe und Haue.

Als wenn die Welt zusammenbricht.

Domestizierung in Deutschland war auch trotz vorübergehender Phase einer Republik nach wie vor in kaiserlich trainierten, preußischen Händen.

Die Deckel der neuen Akten waren nicht aus biegsamem Bambus, sie schienen aus waffenhartem Stahl zu sein.

Wofür???

Das richtige Pinkeln war ein Grundpfeiler für Ordnung und Reinlichkeit.

Hier wurde die Basis gelegt!

Für den Jungen allerdings auch die Basis für 10 Jahre Bettnässen.

Das Schlimmste waren in den kommenden Jahren die Befreiungsträume. Wenn das Aufwachen trotz schmerzhaftestem Drang nicht funktionierte, kam ihm ein gnädiger Traum zu Hilfe, um die gequälte Seele zu entlasten. Dann durfte Sigurd vertrauensvoll am großen Stein hinter der Canna neben dem Zitronenbaum das ‚Wasser abschlagen‘.

Leider war dieseVorstellungseines Gehirns nur etwas, was sichvordie Wirklichkeitstellte. Die sah nämlich ganz anders aus.

Noch beim befreienden Pinkeln merkte er erwachend, wie der warme Strom sich die Beine entlang ins Bett ergoss. Das trocknete nicht bis zum Morgen und ließ sich nicht verbergen. Stunden noch bis zum Aufstehen – manche Nacht: ein kleines Guantanamo.

Gottlob war es meistens Mutter, die ihn weckte. Sie verstand es, das ‚Malheur‘ vor dem Vater zu verbergen und kein Aufhebens davon zu machen.

Es hatte schon seinen Vorteil, dass sie eine französische Großmutter hatte. Ebenso wie dann auch Mutters Mutter hatte die es sich nicht nehmen lassen, ihre unangepassten Gewohnheiten zu leben. Jeden Morgen mit Lockenwicklern, Morgenmantel und ‚Puschen‘ in der Kneipe unten im Haus zur Zeitung seinen Milchkaffee zu nehmen, war auch in der Malplaquetstraße des französischen Viertels im Wedding nicht ganz normal.

Doch mit diesem französischen Ritus hatte man ein wenig von der heimatlichen Gelassenheit ins preußisch korrekte Berlin gerettet.

Sobald der heiße Kaffee durch den Körper floss, wusste man trotz der Horror lastigen Zeitungsnachrichten, dass die Welt noch nicht unterging.

Und Mutter wusste, dass sie das auch von ein bisschen Pinkel im Bett nicht tat.

Anders beim Vater, der aus einer anderen Familientradition kam. Erwachten bei ihm die unter Obrigkeiten, wie Fürsten, Kaisern und deutschen Staatsbeamten, gewachsenen Überlebens-Gene unter der Doktrin der Hitlerregierung zum Leben? Die Regeln für ein artgerechtes Pinkeln hatten in diesen Genen einen entscheidenden Symbolwert für gelungene Domestikation.

Die Tabus um den körpereigenen Abflusshahn weckten bei Sigurd neben der Angst auch die Neugier.

Irgendwann war die Wohnung trotz ihrer Weitläufigkeit zu klein für den Bewegungsdrang der Kinder. Irgendwie lag der Geschmack von freiheitlicher Aktivität im brasilianisch geimpften Blut.

Zum Glück war die Roscherstraße im Bezirk Charlottenburg so verkehrsarm, dass sie zum Spielen genutzt werden konnte. Vorsichtig tasteten sich Harald und Sigurd in die neue Umgebung vor. Da war das Treppenhaus mit dem Fahrstuhl – schon dieser war bereits eine Attraktion im Auf und Ab zwischen Wohnung und Straße. Vor dem Haus lockte eine Laterne zum Klettern und Verstecken, wenn man nicht allzu dick war. Neugierig nahmen die Kinder der Nachbarhäuser und von gegenüber die beiden Neuankömmlinge ins Visier. Ihre Aufnahmeprüfung bestand in der Probe, wie weit sie zum Mitspiel geeignet waren. Bald war der Platz vor der Haustür und im Hinterhof von ihren gemeinsamen Aktionen belebt: Verstecken, an der Laterne und am Mauerwerk emporklettern, mit Reifen, Ball und Pindopp spielen und vor allem:

laufen, laufen, laufen.

Dabei – beim Spielen im Hof – machte Sigurd eines Tages eine ungeheuerliche Entdeckung.

Es war beim gemeinsamen Pinkeln im Gebüsch. Er stand neben dem Schusterjungen von gegenüber, und da entdeckte er es:

David Sonnenstern hatte keine Vorhaut am Pillermann.

Echt:

DAVID SONNENSTERN HATTE KEINE VORHAUT AM PILLERMANN.

Der kleine Schusterjunge von gegenüber war ebenso neugierig und intim, dass sie sich gegenseitig unter Kichern ihren Pillermann zeigten. Bei David sah er vorn rosa aus, ein bisschen wie eine Wunde.

Ob ihm das nicht weh tat?

Die Entdeckung beschäftigte klein Sigurd wochenlang.

Ob das Vorhandensein oder das Fehlen der Vorhaut wohl etwas damit zu tun haben konnte, die Pipi zurückzuhalten? Vielleicht war es ja ein Fehler der Natur und gar nicht ihm anzulasten, dass sein Bett nach mancher Nacht nass war.

Diese Überlegungen zogen sich jahrelang hin und damit länger als die Freundschaft mit dem Schusterjungen selbst.

So wie seine Vorhaut weg war, war auch David Sonnenstern eines Tages weg – und damit der Schusterladen und seine ganze Familie.

Das war ein weiteres Signal, nach dem Verlust der brasilianischen Leichtigkeit, ein großes Fragezeichen hinter die nun deutsche Umgebung zu setzen.

Von solchen Fragezeichen gab es bereits eine ganze Sammlung.

Die existentielle Erschütterung wirkte sich auf alle Bereiche aus.

So auch auf die Ernährung:

DIE KINDER VERWEIGERTEN DAS ESSEN!

Bananen gab es ja, aber die schmeckten den Kindern nicht. Nicht so, wie die fast matschig reifen in der Tijouka. Apfelsinen gab es. Aber konnte man ihrer saftigen Fülle in Brasilien nur als Lutschbeutel habhaft werden, so gaben sie sich hier hart, trocken und geschmacksarm. Vergleichbar war es mit allen Früchten. Den Kindern fehlte die Frische, Süße und Reife. Selbst die ins Ställchen gefallenen Zitronen hatten ja süß geschmeckt. Hier waren sie nur scheußlich sauer.

Und was war schon Reis mit schwarzen Bohnen ohne Farofa?

„Maniokmehl dafür ist in Berlin einfach nicht aufzutreiben“,verriet Mutter mit Bedauern.

Von Woche zu Woche zeigten sich die Kinderrippen deutlicher.

Das setzte eine Kaskade in Gang:

A. Der Kindergarten informierte das Gesundheitsamt.

B. Das Gesundheitsamt zitierte den Vater zu sich.

C. Der Arzt sprach von Unterernährung.

D. Er verordnete dem sonnengewohnten Sprössling Höhensonne und

E. ein strenges Durchgreifen der Eltern.

Seinen Posten verdankte der Mediziner seiner Loyalität gegenüber den Leitbildern des ‚Führers‘. Kinderaufzucht war in dessen Sichtweise definiert durch die Ideale „schnell wie Windhunde“ und „hart wie Kruppstahl“.

Dass auch bei Windhunden die Rippen zu sehen waren, stand nicht zur Debatte.

Es war eine Zeit ohne Debatten.

Es war eine Zeit, in der schon der Anspruch auf Debatte einem Todesurteil gleichkommen konnte.

Nun, lebensmüde war der Vater nicht, und darüber hinaus ließ er sich nicht gern Unterernährung seines Sohnes vorwerfen. Also ergab sich für die künftigen Mahlzeiten folgendes (wie für einen Film inszeniertes) Setting:

Am großen Esstisch saß im Kinderstühlchen mit zitternden Beinen Klein Sigurd.

Vor ihm stand ein Teller mit Brei, Schieber und Kinderlöffel.

Davor tickte gelangweilt, doch unerbittlich ein Küchenwecker, eingestellt auf eine halbe Stunde. Diese Marke signalisierte den Guillotinepunkt von Vaters Toleranz. Wie bei einem Metronom für Musikproben wurde das ruckartige Vorrücken des Zeigers durch harte Taktschläge ins Kinderohr gehämmert.

Hinter dem Jungen lag auf seinem Stühlchen in Warteposition der Rohrstock – ein legitimes Droh- und Strafinstrument für kruppgestählte Erziehungsziele. DieHanddes Vaters am Rohrstock machte deutlich, dass mit Ablauf der gesetzten Zeit an seinemHandelnnicht zu zweifeln war.

Welch Schock gegenüber jener Leichtigkeit, mit der die in Rio zurückgelassenen Bananen stets über die Zunge gerutscht waren. Sigurd kam es vor, als sei sein Frohsinn aus der Tijouka von der großen gefürchteten Schlange gefressen worden und er fiel, fiel, fiel in ihren dunklen, monströsen, abgrundtiefen Bauch.

Ein kleiner Lehrfilm darüber, wie die preußisch erlernte Disziplin des Vaters mit nur wenig Widerstand in die Vorstellungen der ‚Neuen Zeit‘ hinüberglitt.

Lag’s nur am Dritten Reich?

Warum hatte man bei aller humanistischen Gesinnung, auf die ja die Eltern Anspruch erhoben, gerade diesen Satz des antiken Griechenlands ausgesucht:

„Der nicht geschlag’ne Mensch kann nicht erzogen werden!“

(„Ho méh daréis anthrópos oú paidéuetéi.“)

Es ist der deutschen ‚Klassik‘ zu verdanken, den ursprünglich als Hexameter stilisierten griechischen Satz auch im Deutschen in diese Form ‚gepresst‘ zu haben:

„Derníchtgeschlág’neMénschkannníchterzógenwérden.“

Oh Deutschland, deine Tugenden!

Demnach war diese Filmsequenz wohl nicht nur dem selbstlaufenden Dominoeffekt vom Ausgangspunkt der vorstehenden Kinderrippen/dem Kindergarten/dem Amtsarzt/bis zur stockdrohenden Erziehungsgebärde des Vaters zuzurechnen – sie war wohl auch der tief verankerten Überzeugung geschuldet, dem Kind etwas Gutes zu tun.

Wo bleibt die Verbindung zum menschlichen ‚Selbst-Bewusst-Sein‘, wenn Liebe derart in Dornengestrüpp verpackt wird?

Kapitel 3 – OPA PAUL UND OMA MARTHA

Gottlob war da noch die andere Seite.

Gemäß dem Gesetz des Ausgleichs gab es auch hier die kleinen Befreiungsinseln: eine kleine Tijouka in Berlin.

Nicht, dass bei Mutters Eltern so etwas wie eine tropisch-vegetative Fülle vorzufinden war – sie lebten schließlich auch in einer jener wilhelminischen Berliner Stadtwohnungen in der dritten Etage. Doch etwas war ähnlich wie im Garten der Tijouka – es war etwas Atmosphärisches. Alles hatte Zeit zum Atmen. Vieles konnte sich entwickeln, wie es wollte – oder wie die Umstände es zuließen. Es gab eine französische Gelassenheit, die der brasilianischen gleichkam.

„Na komm, mein Pieperchen. Keen Hunger heute? Kiek doch mal, so ’n schöner Hirsekolben, der muss dich doch locken.“

„Die andern fressen dir sonst ja allet weg. Ach so, uff die Schulter willste kommen. Nee, nee, uff’n Kopp, det jibts nich.”

Allein schon, dass es in der Küche Wellensittiche gab, die brasilianische Erinnerungen weckten. Sie konnten zwischen Herd, Küchentisch und Schränken frei umherfliegen. Die Kinder standen gespannt vor dem Fenster. Dort auf dem Fensterbrett gab es einen platzfüllenden Blechkasten voller Sand. Oben zwischen der Fensterleibung, aufgereiht auf einer Stange, zwitscherten die Sittiche. Ihnen war offensichtlich bewusst, dass sie ihre Häufchen von dort nur in den Sandkasten fallen zu lassen hatten.

„Ihre Kacke sieht aus wie kleine Würmchen. Und die kacken auch nicht mal auf den Herd oder in den Kochtopf?“

„Ach wo, nee, dat is ihr jewohnter Platz. Wo die zu Hause sind, da sitzen die ooch immer in großen Kolonien auf einem Platz und schnäbeln den janzen Tag.“

„In Brasilien haben wir das auch gesehen, die waren nur größer und saßen in den Bäumen.“

„Na seht ihr – bei uns ist die Stange ihr Bohm. Da fühl’n die sich wohl. Det is hier der anjestammte Platz für sie und für ihr Jeschäft.“

Die Kinder beobachteten sie, wenn sie vom Fenster aus ihre Bahnen durch die Küche zogen. Manchmal auch durch die gesamte Wohnung, falls sie eine offene Tür erwischt hatten. Am schönsten war es für Sigurd und Harald, wenn sie zum Kuscheln bei ihnen auf die Schultern kamen, ihnen etwas ins Ohr zwitscherten oder am Ohrläppchen knabberten.

Noch ein anderer Gast bei den Großeltern fand das begeisterte Interesse der Kinder.

Opa erzählte, er hätte das Eichhörnchen bei einem seiner Fahrradausflüge an der Spree verletzt im Wald gefunden.

„Es war so jämmerlich zujerichtet – wahrscheinlich von eenem Hund?!

Ick konnte es einfach nich liejen lassen. Oma hat es erst mal schön mit warmem Wasser jebadet.“

„Det hat sich koom noch jerührt. Hat alles mit sich jeschehen lassen. Dann ham wir det eene Been mit ’ner Schiene versorgt und verbunden. In der Apotheke ham se uns ’ne Salbe jejeben, die eijentlich für Pferde is. Die hat jeholfen. Nach een paar Tagen fing’s schon an Nüsse zu fressen. Dann hab ick ihm noch ’ne Flasche jebaut, aus der es jederzeit Wasser kriegt. Toll, dat es jetzt schon wieder so springen und loofen kann.“

In der Speisekammer gleich neben der Küche hatte es sich gemütlich eingerichtet. Sein Lieblingsplatz war ein großer Leinenbeutel neben der Tür, in dem Korken gesammelt wurden. Welch eine Belustigung hatte es bei den Großeltern und den Kindern ausgelöst, als sie entdeckten, dass das Eichhörnchen fast alle Korken schon zu Korkenmehl zerknabbert hatte. Und welch Spaß war es, wenn es mal in die Küche gehuscht kam und den Kindern beim Einfangen immer wieder entwischte. Wie damals die Sonnenflecken auf dem Gras der Tijouka.

„Opa, wo ist Mäxchen?“

So hatten die Kinder das Eichhörnchen getauft.

„Na, da oben uff der Jardinenstange, kiek mal jenau hin. Det sieht doch ’n Blinder mit ’m Krückstock.“

Auch Opa Paul hatte seinen Spaß daran, wie das Eichhörnchen die Kinder zum Narren hielt. Es flitzte in wilder Jagd die Vorhänge hinauf und hinunter bis zur Höhe der Küchendecke, wo es vor dem Zugriff der Kinder sicher war.

„Bald müssen wir von ihm Abschied nehmen“,hatte Opa Paul eines Tages als traurige Nachricht verkündet,„doch dat machen wir zusammen.“

„Ihr kommt mit, Oma kommt mit – und dann nehmen wir für Mäxchen noch wat Schönes zu Essen mit und natürlich ooch für uns. Beim Kanuclub machen wir Picknick zusammen, und dann können wir zugucken, ob sich Mäxchen noch an den Wald erinnert und wie er zwischen den Bäumen verschwindet.“

Die Einwände der Kinder wurden plausibel entkräftet:

„Ihr wollt doch ooch mit anderen Kindern spielen, und Mäxchen freut sich bestimmt ooch, mal andere Eichhörnchen zu treffen und mit Ihnen uff die Bäume rauf- und runter zu toben.Wat der wohl zu erzählen hat, so viel, wie er mit euch erlebt hat.“

Ja, bei Opa Paul wurden selbst die schmerzhaften Dinge, wie z. B. Abschiede, zu einer erträglichen Angelegenheit.

„Weil er den Blick fürs Große und Ganze hat“ – wie der ältere Bruder dabei Sigurd belehrte.

Das hatte der Großvater allein schon aufgrund seiner vielseitigen Erfahrungen.

In einer Biografie mit Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Lehre, Selbständigkeit, Verlust aller Ersparnisse, Arbeitslosigkeit und unerschütterlichem Berliner Humor hatte sich einiges angesammelt.

Da gab es einen bodenständigen Grundstock seiner Berliner Herkunftsfamilie. Sie hieß nicht von ungefähr ‚Kleinschmidt‘, wie er den Kindern bedeutungsvoll erklärte.

Opa leitete das von ‚Schmied‘ her. Seit Generationen hatte sie am Rand von Berlin einen Pferdeausspann mit Hufeisenschmiede, Pferdewechsel und Unterkunft für Postkutschen unterhalten. Deren Gäste, Meldereiter und Handelstreibende, fanden im dazu gehörigen Gasthof Übernachtung und Verpflegung. So hatte die Familie ein von harter Arbeit getragenes gutes Auskommen. Das hatte auch für den kleinen Paul noch funktioniert, bis die Moderne mit Eisenbahn, Auto, Straßen- und U-Bahn diese Lebensgrundlage versiegen ließ.

Radrennfahrer war dann Opa Pauls Traumberuf als junger Mann. Stolz zeigte er den Kindern die vielen Glitzerorden und Trophäen, die er (anfangs noch mit Hochradrennen) gewonnen hatte. Was lag näher, als sich dann später mit einem Fahrradladen über Wasser zu halten. Die Zeiten waren jedoch für Freizeitausgaben nicht immer günstig. So wechselte er zum Versicherungskaufmann.

Es gab Momente, da konnte er seine Familie nur mit Gewinnen von den Berliner Jahrmärkten am Leben erhalten. Zu Hause übte er, Tischtennisbälle in Gläser zu werfen oder Ringe um Flaschen zu katapultieren, bis es ihm glückte, damit auf dem Jahrmarkt Preise zu gewinnen. Die bestanden seinerzeit aus Naturalien. So kam er mal mit einem Eimer Butter oder mal mit einer Gans nach Hause.

„Es war eine Zeit, in der man jute Ideen fürs Überleben und Improvisieren haben musste“,wie er sagte.

Zu einem solchen Mann passte nur eine Frau wie Oma Martha mit ihrer französischen Gelassenheit und guten Beziehungen nach Westpreußen. Ein paar gute Gaben des geschwisterlichen Hofgutes dort waren oft genug der existentielle Rettungsanker.

Dieser Faden gehört jedoch zu einer anderen Erzählung – einer Liebesgeschichte. Sie handelt von einem desertierten Offizier der napoleonischen Truppen und seiner Liebe zu einem Gutsbesitzertöchterlein in Westpreußen um 1800 herum. Der Name ‚Gastalier’ wurde eingedeutscht. Die Nachkommen der ‚Gastals’ verteilten sich vom westpreußischen Stammgut bis nach Berlin.

Hier gab es mit den eingebürgerten Hugenotten ein kleines Stück französisch-vertrauter Lebensart. Oma Martha war demzufolge eine geborene ‚Gastal‘. Und Mutter erzählte, dass sie oft als Kind ihre Ferien beim Onkel auf dem westpreußischen Stammgut verbracht hatte.

Der zu dieser Herkunft gehörende Liebesroman muss leider der Phantasie des Lesers überlassen werden. Der rote Faden verlangt nach einem anderen Weg.

Opa Paul war, wie man so sagt, durch dick und dünn gegangen und so war er auch: „Einer mit dem man durch dick und dünn gehen und mit dem man Pferde stehlen konnte.“

Und tolle Geschichten konnte er von seinen Radrennen erzählen.

Am besten gefiel Sigurd und Harald die Geschichte mit der Schafherde. Und wie das bei Kindern so ist, musste er sie wieder und wieder zum Besten geben:

„Ick komm also uff meenem Hochrad den Berg runter. Und nach der nächsten Kurve – ick denk, det kann doch nich wahr sein, wat seh ick da? Die janze Straße voller Schafe. Da war keen Durchkommen. An Bremsen war ooch nich zu denken. So schnell waren die Dinger damals nich. Die Bremse wirkte ja nur auf den Reifen des vorderen Hochrades. Schnell zum Stehen kommen, det konnte man verjessen.

Wat also tun? Da war juter Rat teuer.

Aber toll, wie blitzschnell unser Jehirn reagiert. Ick sah mich im Geiste schon kopfüber in die Schafherde stürzen und konnte mir ausmalen, wie viele Knochenbrüche det erjibt. Da fiel mir ein, dat mir een Arzt mal erzählt hatte, der harmloseste Bruch iss ’n Schlüsselbeinbruch.

Ick also sofort überlegt. Wie krieg ick det hin, dat alles andere heil bleibt?

Links von der Straße, kurz vor der Herde, war ne Zaunabsperrung aus Holz. Ick war ja jut jeübt. Wir trainierten ja jeden Tag Akrobatikkunststücke fürs Hochradfahren, damit ham wir damals unser Jeld verdient.

Fahr ick also auf dat Jatter zu, benutze det Hochrad noch zum Abstoßen und rolle mit der Schulter im Überschlag über den Holzzaun.

Det Hochrad fuhr weiter, überschlug sich und kam dann zwischen den Schafen zum Liegen. War janz schön verbeult dat jute Stück. Aber ick war heil jeblieben. Stellt Euch dat vor, nix hatte ick mir jetan außer besagtem Schlüsselbeenbruch. Den hatte ick mir einjefangen.

Det Beste war, der Arzt sollte Recht behalten. Nach drei Wochen war der wieder verheilt, als wenn nischt jewesen wär. So hat mir der Arzt sozusagen alleen durch seinen Satz det Leben jerettet. ‘n paar Schafe hatten sicherlich blaue Flecke, aber die sind ja jut jepolstert mit ihrer Wolle.“

Es war für die Kinder wichtig, einen solchen Verbündeten zu haben. Jemanden, der vorlebte, dass man das Leben auch anders sehen konnte, als mit den strengen Augen des Vaters.

Und bei dem man als Kind sein Herz ausschütten konnte, wenn die Eltern mal irgendwo eingeladen waren und Opa Paul die Aufsicht hatte.

Nicht nur, dass dann ausnahmsweise alle Tabus gebrochen werden konnten, wie z. B. vom Schrank in die elterlichen Betten zu springen, wo Opa die Kinder dann mit Lachen und Kitzeln in Empfang nahm.

Er stand auch mit aufgespanntem Netz bereit, wenn Sigurds kleine Seele einen solch starken Schlag erhielt, dass sie den Windstoß nicht ertragen konnte und vom Seil gerissen wurde.

So war es um die Weihnachtszeit, als Sigurd gerade 4 geworden war.

Erst verstockt, dann unter befreienden Tränen, erzählte er Opa Paul:

„Der Nikolaus ist böse. Ein großer böser Riese mit einer Rute. Er hat mich geschlagen und alle haben gelacht. Ich gehe nicht mehr in den Kindergarten. Nie, nie, nie gehe ich da wieder hin.“

Es dauerte lange, bis Opa Paul schließlich die gesamte Geschichte zu einem Bild zusammenpuzzeln konnte.

Irgendwann im Oktober war im Kindergarten das linke Auge einer Augenaufschlagpuppe dem Forschungsdrang von Sigurd zum Opfer gefallen. Intensiv und fasziniert hatte er versucht, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Es ließ sich – ohne dahinter zu gucken – beim besten Willen nicht erkennen, wie die Puppe es hinkriegte, die Augen auf- und wieder zuzumachen. Da half nur eine operative Inspektion. Die hinterließ natürlich Spuren wie bei jedem chirurgischen Eingriff.

Das Dumme war – die Puppe war der ganze Stolz von Karin, einer Mitspielerin im Kindergarten. Karin war sehr traurig. Eine Puppe mit nur einem Augenaufschlag mochte sie nicht. Der ganze Vormittag zerfloss in Tränen und in Sigurds Betroffenheit.

Die Kindergärtnerin war sehr ärgerlich. Nach einer Schimpfkanonade sah ihre Lösung vor: Sigurd nimmt die Puppe mit nach Hause und lässt sie über die Eltern reparieren.

So weit, so gut.

Leider kam etwas dazwischen. Zu Hause angekommen, hatte Sigurd so viel Angst vor der elterlichen Bestrafung, dass er die Puppe im Treppenhaus auf der Fensterbank ablegte.

Danach war die Puppe verschwunden und vergessen.

Das Problem schien sich aufgelöst zu haben.

Vielleicht war sie ja von der großen Schlange in der Tijouka gefressen worden.

Bis der Nikolaustag kam.

Alle Kinder saßen im Kindergarten im Kreis.

Der große fremde Mann mit Kapuze, Bart, Rute und Sack ging darin herum. Jedes der verängstigten Kinder machte sein Sprüchlein und bekam daraufhin etwas aus dem Sack – Lebkuchen, Lakritze, ein kleines Spielzeug und dergleichen mehr.

Ganz anders bei Sigurd.

Ihm war dieser vermummte Riese ohnehin schon nicht ganz geheuer – doch im Gegensatz zu seiner Erwartung griff dieser Sackmensch diesmal bei ihm nicht in den Beutel, sondern zur Rute, blähte sich zu gigantischer Größe vor ihm auf, brachte mit grollend lauter Bassstimme die Geschichte mit der Puppe zur Sprache und bedrohte ihn dann noch mit der Rute.

Nun hinterließ diese mehr symbolische Geste durchaus keinen körperlichen Schmerz. Die Kränkung bestand für den Jungen vielmehr darin, dass er als Einziger nicht belohnt wurde. Dagegen musste er als Opfer der Schadenfreude für die anderen Kinder und die Kindergärtnerinnen herhalten. Und das vor der gesamten Gruppe. Und das noch zum Jahresabschluss, bei dem alles in Weihnachtslieder und heilige Geschichten um Nächstenliebe und Harmonie eingewattet war.

Wie passte das zusammen, dass man so sehr angepinkelt wurde?

Das war selbst für Sigurds Sammlung der Fragezeichen zu viel.

Das war seelenzerstörender Terror!

Hintergrund war: Die Eltern hatten die Puppe gefunden.

Vom Kindergarten informiert hatten sie das Auge reparieren lassen.

Ohne mit Sigurd darüber zu sprechen, waren sie zusammen mit den Kindergärtnerinnen auf die Idee dieses ‚Denkzettels‘ verfallen.

Offensichtlich bestand keinerlei Bewusstsein darüber, dass man behutsam schmieden muss, selbst wenn man ‚Kruppstahl‘ zum Ziel hat.

Einfach draufhauen hinterlässt nur Scherben.

Es kostete den Schmiedesohn Opa Paul alle erdenklichen Tröstungen und Entwirrungsversuche, in diesem Dornengestrüpp das Tröpfchen Liebe plausibel zu machen, dass darin von Seiten der Eltern gemeint sein könnte.

Gelungen ist es ihm nicht – aber sein Beistand tat dem Jungen gut.

Leider war dieser Insel gegenseitigen Zusammenhalts keine Dauer vergönnt. Die letzten Kriegsjahre rissen alles auseinander. Scheiß Hitlerzeit!

Kapitel 4 – DRUNTER UND DRÜBER

Mehr und mehr wurde der gewohnte Alltag durch befremdliche Zeichen durchlöchert. Das war auch auf Kinderebene festzustellen.

Zuerst war David Sonnenstern mit seinem erstaunlichen Pillermann verschwunden. Alle Kinder der Straße standen vor dem verlassenen Schusterladen und wunderten sich über die zerbrochenen Glasscheiben.

Dann wurden die jährlichen Feste im Hof der Garnisonskirche von Charlottenburg weniger. Was war das immer für ein aufregendes Ereignis gewesen, wenn die braun uniformierte Wehrmacht dort mehrmals im Jahr zu Ponyreiten, Dosenwerfen, Zuckerwatte und Erbsensuppe eingeladen hatte. Jetzt fand das nur noch einmal im Jahr statt.

Vater war zum Militär eingezogen. Ab und zu kam ein Feldpostbrief zu Hause an.

Der fast tägliche Gang zum Entenfüttern am Lietzensee wurde zur Gefahr erklärt. Die Kinder staunten irritiert, als der See plötzlich mit einem Tarnnetz überzogen war.

„Das soll den ‚feindlichen Bombern‘ die Orientierung nehmen“, erklärte Mama.

Das Entenfüttern unter dem Netz wurde zu einem beschwerlichen Spiel. Erst mussten die Kinder mit Mutter einen Zugang zum Wasser suchen. Dann versuchten sie möglichst heimlich mit den vorbereiteten Brotstückchen die Enten anzulocken und ihnen das Leben in ihrem Gefängnis mit lukullischen Häppchen zu verschönern. Schließlich verrieten harte Stiefelschritte die patroullierenden Posten. Trotz befohlener Rücksicht gegenüber Müttern mit Kindern hatten sie Einhalt zu gebieten.

Der Krieg, den das ‚Deutsche Reich‘ exportieren wollte, war als Gefangenschaft auf die eigene Bevölkerung zurückgeschlagen.

Dann kamen die Bomben. Mit ihnen die Sirenen.

Fast jede Nacht das ohrenbetäubende Signal: FLIEGERALARM!

Sigurd hasste es, so abrupt aus dem Schlaf gerissen zu werden – wecken, Sachen packen, vom 3. Stock mit Mutter, Bruder, Sack und Pack schlaftrunken in den Keller. Dort gab es einen Raum, als Luftschutzkeller deklariert. Alle Familien des Hauses saßen zusammengepfercht zwischen Angstschweiß, Schnarchen, Kinderjammern, Stöhnen und den Sprüchen des Berliner Galgenhumors. Im Hintergrund hörten sie draußen das Grummeln der einschlagenden Bomben.

Angekauert an die Mutter ein paar Stunden Schlaf.

„Mama, wo bleibt Papa?“

„Mama, wann können wir wieder ins Bett?“

„Mama, hast du was zu trinken mit?“

„Mama, was ist, wenn die Bombe auf uns rauffällt?“

„Mama, mein linkes Bein juckt.“

Dann Entwarnung.

Hinaus auf die Straße. Rot, orange und funkenstiebend der Horizont. In den Augen der Kinder war das ein spektakuläres Schauspiel.

Davor hob sich die Silhouette der noch heilen, verschont gebliebenen Häuserreihen wie ein Schutzwall dunkler Geistergestalten ab. Gottlob war das eigene Haus dabei.

Doch Nacht um Nacht kamen die Einschläge näher.

Die Aktion Luftschutzkeller mit Sirene, wecken, Fahrstuhl oder treppauf, treppab, fand nun sogar mehrmals pro Nacht statt, schließlich auch am Tage. Dauerstress in einem Alter, wo für die Kinder eigentlich Reifezeit gefragt ist.

Selbst die Besuche bei den Großeltern wurden zu komplizierten abenteuerlichen Wettläufen von Schutzbunker zu Schutzbunker. An Mutters Hand eilten die Kinder durch die Berliner Straßen. Sie kamen vorbei an eingeschlagenen Scheiben jüdischer Geschäfte und an noch rauchenden Trümmern der letzten Bombeneinschläge. Eingequetscht in die Pausen zwischen den Ausgangssperren, hatten sie Glück, wenn sie bei Sirenenalarm einen nahegelegenen Bunker fanden. Manchmal wurden sie von helfenden Händen in einen Hauskeller gezerrt, manchmal musste einer der pompösen Eingänge wilhelminischer Prachtbauten als Zuflucht dienen. Zudem bestand das Risiko, den Weg vor der Dämmerung zu schaffen. Ab 20.00 Uhr war Ausgangssperre. Auf Straßen und in den Wohnungen durfte zur Irreführung ‚feindlicher Flieger‘ kein Licht mehr gemacht werden.

Schließlich kam der Befehl zur Evakuierung. Berlin wurde geräumt. Vor allem Frauen und Kinder mussten Zuflucht bei Verwandten außerhalb Berlins suchen.

Oma Hulda hatte einen Bruder in Adorf im Voigtland. Dort bei Onkel Martin und dessen Frau Erna kam die Mutter mit den beiden Jungen unter.

Ein knappes Jahr Feuerpause, bevor die Granateneinschläge und die Maschinengewehrsalven der Tiefflieger auch die friedliche Landschaft am Rande des Erzgebirges erreichten.

Kurze Zeit nach dem Umzug kam die Nachricht von der Ausbombung der Berliner Wohnung. Die Farben der Gavea hatten sich im Flammenmeer der Phosphorbombe aufgelöst. Der blaugrüne Schmetterling aus Vaters Minimuseum flatterte mit den Rauchschwaden zusammen ins All, seine in Brasilien verloren gegangene Seele zu suchen.

Es waren nicht nur die Seelen der Toten, die in diesem Inferno abhanden kamen. Selbst der Gedanke an die Seelen ging verloren. Das Sein war reduziert auf das nackte Überleben.

Es waren zwei Impulse, die wie brüderliche Zwillingssamen aus dieser Zeit des nackten Überlebens für die Zukunft eingekapselt blieben. Zum einen eine zwanghafte Gier, jede erreichbare materielle Existenz zu ergattern und zu mehren. Zum anderen die Einsicht, wie wenig bleibender Wert in jeder Form materieller Existenz enthalten ist. Eine unvereinbar krankhafte Schizophrenie wartete darauf, sich in den nächsten Nachkriegsgenerationen zum Keim zu entwickeln.

Woher aber sollten die Lehrer kommen, ihnen die richtige Bahn zu weisen?

Kapitel 5 – EXIL

Leise rieselt der Schnee,

still und starr liegt der See.

Es ist kalt in Adorf im Voigtland.

2 Meter aufgetürmter pudriger Niederschlag.

„Frierst Du auch so?“

„Hast du nicht den warmen Backstein, den Mama ins Handtuch gewickelt hat?“

„Doch – der verrutscht aber immer. Oben warm, frieren die Füße.“

„Komm doch zu mir ins Bett.“

„Au ja, zusammen sind wir wärmer.“

„Weißt du noch? In Berlin war das Zimmer immer warm, auch nachts.“

„Aber da waren die Bomben und die Sirenen.“

„Ja, hier kann man besser schlafen, wenn man erst mal warm ist.“

„Gut, dass das Deckbett so kuschelig ist.“

„Ja, gut, dass Tante Erna noch welche für uns hatte.“

„Onkel Martin ist ganz schön streng.“

„Erwachsene sind eben so.“

„Opa Paul ist nicht so und der ist auch erwachsen.“

„Onkel Martin ist eben Lehrer.“

„Ich hab gesehen, der hat auch einen Rohrstock.“

„Morgen früh können wir am Fenster wieder Löcher ins Eis hauchen.“

„Und Schneesterne schmelzen lassen.“

„Hast du auch so ’n Hunger?“

„Ja – ich hab doch noch Schokopudding unterm Bett.“

„Den … den hab ich doch schon aufgegessen.“

„Wieso das denn, das war doch meiner. Wir wollten doch warten, bis er Schokolade geworden ist.“

„Ja, aber das dauert so lange. Meiner ist überhaupt nicht fest geworden. Und da dachte ich, bevor deiner schlecht wird …“

„Du bist ja blöd.“

„Aber ich hatte doch so ’n Hunger.“

„Das sag ich Mama.“

„Dann sag ich, dass du den Teller unterm Bett versteckt hast.“

„Hast du doch selber.“

„Ich glaube, Frau Wieputschek ist noch wach.“

„Woll’n wir mal gucken?“

„Ja, aber leise, damit Onkel Martin uns nicht hört.“

Tapp, tapp, tapp liefen zwei Paar nackte Kinderfüße über den Holzflur vom Treppenhaus.

Frau Wieputschek bewohnte alleine die Dachwohnung neben der Schlafkammer der Kinder. Im Gegensatz zum Schlafraum der Kinder hatte sie einen Ofen. Zu ihrer Wohnung gehörten außerdem ein Schlafzimmer, ein Raum mit Waschbecken und eine kleine Küche. Es war ein zur Hälfte ausgebauter Dachboden. Das Klo war auf halber Treppe darunter. Im Winter genauso kalt wie die Schlafkammer der Kinder. Immerhin hatten alle Räume Mansardenfenster.

Da war dieser Junge.

Frau Wieputschek kannte das leise zaghafte Klopfen.

Sie ließ die Kinder ein. Sie wusste, dass das nicht im Sinn von Onkel Martin war. Schließlich war sie nur eine als Mietzahlerin geduldete Hausbewohnerin. Eine Rangniedere gegenüber einem Volksschullehrer.

Den Kindern war das egal. Sie mochten die einsame Frau, die immer ein warmes Plätzchen für sie hatte und etwas ganz Besonderes, an dem die Kinder nun mit großen Augen hingen.

Über Frau Wieputscheks Gesicht huschte ein liebevolles Einverständnis.

Die Kinder hatten Hunger und über dem Ofen von Frau Wieputschek hing stets mindestens ein Dutzend Fäden mit aufgereihten Apfelringen. Wintervorrat. Trockenobst. Die Wärme des Ofens musste ausgenutzt werden.

Außer, dass sie den gröbsten Hunger stillten, waren die Apfelringe von Frau Wieputschek die köstlichsten Süßigkeiten, die die Kinder sich denken konnten.

Schokolade oder Backzutaten gab es schon lange nicht mehr.

Butter und sogar Mehl waren rationiert, nur auf Essensmarken zu haben.

Mutter hatte – erfinderisch wie sie war – Marzipankugeln gezaubert, indem sie Kartoffelbrei mit etwas Sirup und Mandelaroma verknetet hatte. Das hatte sie nach abenteuerlicher Grenzfahrt im nahegelegenen tschechischen Städtchen Eger ‚hamstern‘ können.

Weihnachtlich glänzet der Wald,

freue Dich, ’s Christkind kommt bald.

Frau Wieputschek hatte in der abendlichen Einsamkeit ihre Freude an der Freude der Kinder – die Kinder genossen die halb getrockneten Apfelringe, die Wärme ihres Ofens und vor allem die des Herzens von Frau Wieputschek.

Eine kleine heimliche Parallelwelt im sonst eine Etage tiefer ablaufenden Normalltag von Martin, Erna und ihrer einquartierten Verwandtschaft.

Das Leben, in welcher Form auch immer, sucht sich seine Kanäle.

Vater war im Krieg. Mutter hatte mit einem zusätzlichen Säugling alle Hände und Windeln voll zu tun. Ungeplant und nur 3 Tagen Heimaturlaub von Vater war der Familienzuwachs zu verdanken.

Jedwede Art von Unterstützung fehlte. Keine brasilianische Sonne oder Wärme/keine hilfreichen Großeltern/Kindermädchen schon gar nicht/Tante Erna und Onkel Martin kamen sich eher als Gönner vor, die dem Vaterland einen nützlichen Dienst erwiesen.

Die beiden Kinder, gerade im Schulalter, hatten noch keinen Sinn für Säuglingspflege. Die hatten genug mit sich selber zu tun, waren selbst noch betreuungsbedürftig – aber sie drängten mit aller Vehemenz ins Leben.

Mutter hatte kaum noch Kontrolle über das, was die Kinder so trieben.

Selbst der Orientierungsrahmen Schule war weggefallen, seitdem das Gebäude als Lazarett für verwundete Soldaten diente.

Kapitel 6 – WILDWUCHS

Das martialische Klima bestimmte inzwischen auch den Kinderalltag. Sigurd und Harald sammelten Margarinebilder von Kampffliegern und Panzertypen, die man wie Kartenspiele handhaben und tauschen konnte. Die Straße war zum Kinderbasar geworden.

Granatensplitter in bizarren Formen waren Sammlerstücke wie exotische Edelsteine.

Abends stromerten die Kinder mit ihren Militärtaschenlampen auf Entdeckungstour herum. Vater hatte sie ihnen bei einem Kurzurlaub geschenkt. Ein kostbares Gut in einer spielzeugarmen Zeit. Die Lampen fesselten Harald und Sigurd so, dass sie deren gesamtes Potential für sich erschlossen.

So wurden besonders die Abende zu einer spannenden Erfahrung.

„Lass mich endlich schlafen. Lass das Gefummel mit der Taschenlampe.“

Der Kleine konnte den Großen schon oft nerven.

„Och komm, mach mit. Das geht doch nur im Dunkeln. Schlafen können wir immer noch.“

„Aber nur, wenn wir zusammen Morsen lernen. Ich habe hier die Liste.“

„Liste, Liste in der Kiste –

kam ein böser Mann und pisste

auf das Morsealphabet,

doch es war noch nicht zu spät,

Harald konnte sie noch retten,

und wir lernen’s in den Betten.“

„Lass den Unsinn, sonst mach ich nicht mit.“

Dann geh ich eben zu Frau Schmidt,

ach, die ist ja gar nicht da,

gut – wir lernen jetzt, hurra!“

Einen Teil der Taschenlampen hatten die Kinder schon erkundet. Mit den Filterklappen ließen sich verschiedene Farben einstellen. Die hatten sie ihren Belangen entsprechend mit Bedeutungen versehen. Rot hieß Alarm, Aufpassen, Gefahr. Grün verhieß freies Feld, eben ‚Grünes Licht‘.

Nun waren sie dabei, das weiße Licht und die Möglichkeit des Schalters als Grundlage zum Funken mit dem Morsealphabet auszuprobieren.

Es war eine langwierige Aufgabe, die Sigurds Geduld oft überforderte.

Harald versuchte immer wieder, seinen Spieltrieb zum gemeinsamen Lernen umzulenken.

„Also, du weißt ja, beim Morsen gibt es nur lang und kurz. Einschalten, bis drei zählen ist lang, An-/Ausknipsen ist kurz.“

„Weiß ich doch schon.

Lang, lang, lang – da wird mir bang.

Kurz, kurz, kurz – da lass ich einen Furz.“

„Ruhe, wenn Du nicht mitmachst, schlafe ich jetzt.“

„Ich bin ja schon ruhig.“

„Also, wir waren schon bei den Wörtern. Das ABC kennst Du ja schon von der Schule. Beim Morsen muss man jeden Buchstaben einzeln funken.“

„Weiß ich schon.“

„Klappe! Hör doch einfach mal zu. Jeder Buchstabe hat unterschiedliche Lichtsignale, also lange und kurze. Die kann man sich aber schlecht merken. Deshalb gibt es einen Trick. Jeden Buchstaben lernt man in Form eines Wortes. Dazu gibt es die Liste.“

Sigurd gluckste vor sich hin. Bei ‚Liste‘ kam ihm wieder ‚pisste‘ in den Sinn.

„Wir hatten doch schon damit angefangen. Weißt Du noch, welches Wort für den BuchstabenAsteht?“

„Na klar, A TOM.“

„Und wie wird dannAgefunkt?“

„1x kurz, 1x lang.“

„Klasse, das hast du dir gut gemerkt. Wenn ein O in der Silbe vorkommt, bedeutet das immer lang, alle anderen kurz. Und weißt du noch, welches Wort für den nächsten Buchstaben steht, für dasB?“

„BOH NEN STAN GE.“

„Super – und welche Morsezeichen ergibt das?“

„1 x lang, 3 x kurz.“

„Guck, ich mach es mal.“

Mit der Taschenlampe funkte er von seinem Bett aus zum Bett des Bruders dasB. Offensichtlich machte ihm das Prinzip keine Schwierigkeiten. Silbe mit O stand jeweils für langes Morsezeichen, alle anderen für kurze. So waren sie anhand der Liste in der Lage, sich für das gesamte Alphabet die Morsezeichen einzuprägen.

Atom: ° ---

Boh nen stan ge: --- °°°

Co burg Go tha: --- ° --- °

usw.

Mithilfe der Taschenlampen waren die Abende zu einem kurzweiligen Spiel- und Lernprogramm geworden.

Die Kinder versenkten sich in die Liste wie in einen Schatz auf einer nur ihnen zugänglichen Insel. Der alberne Mann, der pisste, war längst hinter dem täglichen bzw. nächtlichen Zuwachs an Lernerfolg verschwunden. Sie hatten eine Geheimsprache entdeckt, die nur ihnen gehörte.

Ohne Worte konnten sie sich über weite Entfernungen hinweg miteinander verständigen, ohne dass ein anderer sie verstand.

So konnten sie auch den Posten am Güterbahnhof überlisten und sich an die Waggons anschleichen. Auf dem Bahnhofsgelände, wo auch die Flak stand, hatten die Kinder nämlich einen offenen Güterwagen entdeckt. Mit pochendem Herzen hatten sie sich herangeschlichen. Eine wahre Fundgrube öffnete sich ihnen. Gewehrpatronen und sogar Handgranaten konnten sie für ihre ‚Sammlung‘ entwenden. Wie ein kostbarer Schatz fand diese Sammlung in ihren Spielplätzen unter den aufgebockten Scheunen ein Versteck.

Eine besondere Rarität im Wettbewerb mit den anderen ‚Straßenkindern‘ um die attraktivste Munitionssammlung war die Errungenschaft von zwei Dynamitstangen. Die hatten sie an der Landstraße nach Bad Elster ‚gefunden‘. Dort waren die Alleebäume vorbereitend eingekerbt, um als Panzersperren dienen zu können. Die Kerben waren mit Dynamitstangen gefüllt. Im Fall eines feindlichen Panzeranmarsches sollten sie gesprengt werden. Die umgefallenen Bäume sollten dann die Straße blockieren.

Es kam nie dazu, denn die amerikanischen Panzer fuhren einfach im Flussbett der Elster auf die Stadt zu. So erschien es nur legitim, dass die Dynamitstangen zum Wertgegenstand im Schatz der Kinder geworden waren.

Es gab auch andere, weniger gefährliche Spiele. Mit Geduld und Geschicklichkeit gelang es den Brüdern, Stichlinge im Bach zu fangen und kleine Minikrebse. Mit aller Aufmerksamkeit lagen Sigurd und Harald über das Ufer gebeugt zwischen wilder Katzenminze, Binsen, Gras und Leberblümchen. Sie beobachteten in dem Spiel von Strömung und Strudeln die kleinsten Abweichungen, die einen Fisch oder Krebs verraten konnten. Dann hieß es, flink sein. Stolz zeigten sie sich ihre Beute. Jeden Tag liefen sie ungeduldig zu der Scheune, unter der sie die Stichlinge im Wasserglas versteckt hielten. Sie hatten alle Hände voll zu tun, um die Fische mit kleinen Regenwürmern und Minikrebsen zu versorgen.

Schulfrei wegen Lazarettbesetzung des Gebäudes, heiße, trockene Sommer voller summender Zikaden, Grashüpfer, Schmetterlinge, Eidechsen, dazu die Treffen mit den anderen Kindern unter den Höhlen der Feldscheunen und eine zur Kontrolle viel zu sehr beschäftigte Mutter, was gab es Schöneres für ein abenteuerliches Kinderleben.

An manchen Gefahren schlitterten sie vorbei und lernten dabei überleben.

Am kleinen See oberhalb der Scheunen, aus dem im Winter das Eis in Blockform für die Kühlung der Brauerei herausgesägt wurde, beschlossen sie, im Sommer ein Floß zu bauen.

Die Kinder gingen dabei geschickt zu Werke. Zuerst probierten sie aus, welche Materialien schwimmen konnten. Holz war für ihre kleinen Hände zu schwierig zu bearbeiten. Am besten eigneten sich Binsen. Die wuchsen ohnehin direkt neben dem See. Nachdem die Kinder entdeckt hatten, dass das wattige Mark im Inneren der Halme guten Auftrieb hatte und sich auch nicht voll Wasser saugte, waren sie das Material der Wahl. Zunächst machten sie sich daran, die Binsenhalme zu ernten. Um lange Zopfbahnen daraus zu flechten, hatten sie sich einen Trick überlegt. Die erste Schlaufe wurde um den Fuß gelegt. Dann blieb vom Fuß bis zu den Händen mithilfe der beweglichen Arme ein Spielraum, um immer neue Binsen einzuflechten. So konnten sie eine Sammlung von etwa 1 Meter langen Zopfbahnen herstellen. Danach banden sie diese zu einer Matte zusammen. Gespannt ließen sie schließlich das Binsenfloß zu Wasser. Die Schwimmfähigkeit war begrenzt, jedoch ein voller Erfolg. Die Kinder wurden zwar nass, wenn sie darauf über den See paddelten, doch gingen sie nicht unter. Eine zuverlässige Schwimmmatte. Sie ermöglichte Baden und Getragenwerden. Bei den sommerlich heißen Temperaturen ein Riesenspaß und nützlich. So konnten sie die ersten Schwimmversuche ohne jede Anleitung machen. Stolz waren sie und glücklich.

Auf Bäume klettern und Asthäuser bauen war ohnehin selbstverständlich. Aus der ‚Hohle‘ (so wurde die nahe gelegene Müllhalde genannt) hatten sich Sigurd und Harald ein paar Seile besorgt. Mit ihrer Hilfe wurden sie zum Anführer einer ganzen Horde kletternder ‚Kinderaffen‘. Die anderen Kinder, nachdem sie ihren Geburtsort herausgefunden hatten, hänselten sie mit dem Gejohle „UAAB, UAAB“ – Kürzel für ‚Urwaldaffe aus Brasilien‘.

Mithilfe der Seile und ihrem Kletterspaß konnten sie das erniedrigend gemeinte Wort in ein positives Vorbild für die weniger Geübten umwandeln.

Kapitel 7 – DIE NATUR ERNÄHRT IHRE KINDER

Die Sommer waren heiß, wie die Winter kalt waren. Welch Abenteuer, wenn der Bauer die Kinder auf dem Heuwagen mitfahren ließ. Bisweilen durften sie beim Heuaufladen auch helfen. Manche Riesenheuschrecke fand vorübergehend in der Zigarrenkiste mit Luftlöchern unter dem Bett Quartier und forderte mit Zirpen und Rascheln zum aufmerksamen Lauschen heraus. Frühling, Sommer und Herbst waren in dieser Landschaft für Sigurd und Harald ein Eldorado tausender Entdeckungen.

Das kam ihnen zugute, als die Lebensmittel immer knapper wurden. Sie kannten die Stellen, wo Blau-, Preisel-, Him-, Brom- und aromatische Walderdbeeren zu finden waren. Wie kleine Waldläufer durchstreiften sie die Hügel. Nahrungssuche wurde zum Abenteuer. Beim Dachsbau im tiefen Wald hinter dem Kriegsgefangenenlager hatten sie sogar einen Hügel entdeckt, wo Johannisbeeren und Stachelbeeren wuchsen. Sie hatten herausgefunden, dass das der Toilettenhügel der Dachsfamilie war. Nach jahrelanger Deponierung unverdauter Kerne war hier offensichtlich eine gut gedüngte eigene Obstplantage entstanden. Die Kinder bedankten sich wie kleine Indianer bei den Höhlenbewohnern für das unverhoffte Mahl.

Von ihren Streifzügen wussten sie auch, wo die schmackhaften Röhrenpilze (Maronen, Braunkappen, Stein- und Birkenpilze) und wo Pfifferlinge zu finden waren. Oma Hulda und Onkel Martin hatten ihnen gezeigt, welche essbar waren und welche es zu vermeiden galt.

Nach der Ernte auf den umliegenden Feldern gehörte das Ährenlesen und Kartoffelstoppeln so selbstverständlich zum Nahrungserwerb wie das tägliche Sammeln von Kräutern. Mit ihren Körbchen zogen sie immer weitere Kreise um Adorf herum. Hinter dem Güterbahnhof hatten sie einen verlassenen Obstgarten entdeckt, aus dem sie Birnen, Äpfel und Quitten nach Hause brachten. Die saftigen Wiesen im Elstergrund boten ergiebige Kräutermischungen. Brennnesseln, Löwenzahn, Gänseblümchen, Spitzwegerich, Schabockskraut, Brunnenkresse, wilder Knoblauch, zarte Triebe der Schafgarbe und des Huflattich – alles konnte Mutter gebrauchen und zu Salat oder Spinat verarbeiten. Außerdem fanden sie Bucheckern, Hasel- und Walnüsse zum Sattwerden oder als Rohstoff zur Ölgewinnung mit dem Fleischwolf und zum Backen.

Schwieriger war es, Brennvorräte für den Winter zu sammeln. Neben den Schienen fanden sie reiche Beute der von den Loks gefallenen Koks- und Kohlestücke. Bei frischem Schnee waren sie gut zu erkennen, doch war es besonders schmerzhaft, sie dann aufzusammeln, weil sie sich mit Handschuhen nicht greifen ließen. Manchmal waren ihre Kinderfinger so durchgefroren, dass es nur noch half, den warmen Urin über die Hände laufen zu lassen, um sie vor Vereisung zu schützen.

Was man dabei lernte, war: dass es genügend Unterstützung seitens der Natur gab, wenn man sie nur zu nutzen verstand und aufmerksam mit ihr umging.

Es mussten nicht die Tropen sein, die wie in Rio ihre Gaben üppig anboten. Auch die hiesige Flora, hielt, wenn auch versteckter, dafür oft in konzentrierterer Form, für den Menschen bereit, was sie der Sonne, dem Boden und dem Regen abgewonnen hatte. Man war nie verloren!

Es gab zwar quälende Hungerphasen, doch eingebettet in die Vielfalt der Natur gab es immer wieder Überlebenschancen. Zum Beispiel konnte man von Hasen, Kaninchen und Rehen lernen, dass frische Rinde essbar ist. Mutter erklärte, dass sie ein gutes Mittel zur Versorgung mit Mineralien und Vitaminen ist. Auch Holzspäne waren genießbar. Selbst wenn sie nur als Beigabe im Brot den Magen füllten, sorgten sie dafür, den Darm besonders sauber zu halten. Die Welt hielt eine Fülle von Möglichkeiten bereit.

Die Devise hieß: Ausprobieren führt zu Wissen und sich etwas einfallen lassen, hilft zum Überleben.

Besonders stolz waren die Kinder über ihren Kartoffelcoup. Auch wenn Mutter nicht einverstanden war, schmunzeln musste sie doch. Und als Mutter meinte, das hätte auch von Opa Paul stammen können, wollten die Kinder die Geschichte Opa Paul unbedingt erzählen.

Harald war schon in der dritten Klasse und Mama half den beiden bei dem Brief:

Liebe Oma Martha und lieber Opa Paul,

wir vermissen euch sehr. Wir hoffen, es geht euch gut.

Wenn wir im Bett liegen, bitten wir, dass keine Bombe auf euer Haus fällt.

Uns geht es gut.

Wie Du mal erzählt hast, Opa, muss man sich in schwierigen Zeiten was einfallen lassen. Das haben wir gestern beim Kartoffelstoppeln gemacht.

Das ist hier nämlich so: Wenn die Bauern ihr Kartoffelfeld abgeerntet haben, dürfen wir hinterher aufsammeln, was noch übrig ist. Das haben wir schon öfters gemacht. Gestern waren wir wieder mit unserem Bollerwagen unterwegs. Es ist ja gerade Erntezeit. Die Bauern waren noch nicht fertig, und wir mussten warten. Die Bauernkinder mussten bei der Ernte mithelfen. Sie ärgerten sich, dass wir am Feldrand standen und schon darauf warteten, bis sie fertig sind. Dann fingen sie an, uns zu beschimpfen und mit Lehm und Kartoffeln zu bewerfen. Wir warfen mit Lehmklümpchen zurück. Dann überlegten wir uns einen Plan.

Wir fingen an zu johlen und warfen wie die Wilden immer mehr Lehmklumpen und immer größere. Das wollten sich die Bauernjungen natürlich nicht gefallen lassen. Sie waren sowieso in der Überzahl. Die durften aber von ihrem Feld nicht weg. Sie mussten ja helfen, die Kartoffeln in die Körbe und auf die Wagen zu tun. Zwischendurch warfen sie immer nach uns. Wir blieben brav auf dem Ackerweg am Feldrand und warfen auch. Nur, wir warfen mit Lehm und sie mit Kartoffeln. Natürlich nahmen sie jetzt die größten, denn sie wollten uns ja treffen und weh tun. Außerdem kamen sie an die Kartoffeln besser ran. Das machten wir eine ganze Weile, bis wir dachten, es reicht. Dann haben wir blitzschnell die ganzen Kartoffeln aufgesammelt. Die lagen ja nun alle um uns herum. Im Nu war unser Wagen voll, und das ohne viel Mühe. Bevor die Bauernjungen den Trick kapiert hatten, waren wir mit unserem Wagen schon unterwegs nach Hause. Die haben vielleicht dumm geguckt.

Sigurd, noch nicht recht schreibfähig, ließ es sich nicht nehmen, einen Beitrag hinzuzufügen. Während Harald und Mutter den Brief schrieben, klebte er noch ein Bild dazu. Mutter hatte im tschechischen Eger buntes Klebepapier besorgt, aus dem man Formen ausschneiden und zu einem Bild zusammenmontieren konnte. Gemeinsam brachten sie den ‚wichtigen‘ Brief an die Berliner „Familie Kleinschmidt“ auf die Post.

Kapitel 8 – HAUTNAH I – DIE PROBE

Das Nichts oder das All, was dasselbe ist, hat eine unbegrenzte Potentialität. Ob wir sie so oder so nutzen, konstruktiv oder negativ, ist ihm egal.

Die Erfahrung jedoch lehrt uns, dass es für uns nicht egal ist.

Wir werden in unserem Leben viele Erfahrungen sammeln.

Entscheidend wird sein, welche Folgerungen wir daraus ziehen.

Die Kinder waren auf ihrer Erfahrungsebene noch ziemlich am Anfang. Je weniger Orientierungshilfen zur Verfügung standen, desto grenzenloser war das Angebot der Umwelt.

Der Krieg brachte manch Außergewöhnliches.

So auch jenen undenkbaren Nachmittag für Onkel Martin.

Kaum, dass er sich zum Mittagsschlaf niedergelegt hatte, erschütterte eine solch krachende Detonation die Wohnung, dass es ihn senkrecht aus dem Bett riss.

Eine Bombe? Türen und Fenster wackelten, Gläser und Geschirr klirrten in den Schränken, Rauch zog unter der Tür hervor. Ein brenzlig rußiger Geruch drang ihm in die Nase. Das musste hier in der Wohnung sein.

Gretel, die Schwiegertochter seiner Schwester Hulda, war zu Besorgungen in Eger. Seine Frau Erna war mit Gretels Säugling unterwegs.

MARTIN ALLEIN ZU HAUS.

Nein, die Kinder waren noch anwesend.

Er riss deren Zimmertür auf. Ein Bild unfassbarer Unordnung platzte in die geordnete Welt seiner sorgsam eingerichteten Wohnung, platzte in den wohl getakteten Ritus seines gutbürgerlichen Tagesablaufs.

Er konnte nicht glauben, was er da sah. War das ein Vorbote kriegerischer Zerstörungswucht?