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Die Studentin Sonja kann ihr Glück nicht fassen: Sie lernt Hans Ullrich Garden kennen, den überaus charmanten und beliebten TV-Quizmaster. Garden seinerseits ist ebenfalls völlig begeistert von Sonja und lädt sie kurzerhand zu seiner nächsten Quizsendung ein. Doch an diesem Abend, während die Sendung übertragen wird, verübt tatsächlich jemand einen Mordanschlag auf Garden! Sonja kann ihm das Leben retten und Garden engagiert sie als Assistentin. Längst hat auch er sich in Sonja verliebt und seine Dankbarkeit ist grenzenlos. Obwohl sich zwei weitere Mordanschläge auf Garden ereignen, will dieser, wenngleich er um sein Leben fürchten muss, nicht die Polizei einschalten. Da beginnt sich neben Sonja auch der junge Reporter Jürgen Urban für den Fall zu interessieren ...Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 356
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Marie Louise Fischer
Roman
SAGA Egmont
Der Schatten des anderen
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1979 by Goldmann Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718551
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Daß ich Hans Ullrich Garden kennenlernte, war reiner Zufall — natürlich, man könnte es auch als seltsame Fügung des Schicksals bezeichnen, das kommt ganz darauf an, welchen Standpunkt man zu den Ereignissen dieser Welt einnimmt. Jedenfalls war es höchst ungewöhnlich, daß ich an jenem Samstagabend allein von der Universität nach Hause ging. Sonst war ich fast immer mit meiner Freundin Renate Römer zusammen, Peter, Bill, Pützchen und noch ein paar andere Figuren pflegten unseren Geleitzug zu ergänzen. Aber an jenem Abend war der ganze Haufen ins Kino gegangen. Es wurde ein französischer Film der »Neuen Welle« gegeben, auf den sie alle scharf waren. Natürlich hatte ich ursprünglich mit von der Partie sein wollen, aber nach dem soziologischen Seminar hatte Professor Gahlen mich zurückgehalten, um mich mit einem Referat zu betrauen. »Technisierung der Freizeitgestaltung.« Professor Gahlen hatte es sich nicht nehmen lassen, mich auf alle möglichen Gesichtspunkte, die ich berücksichtigen sollte, aufmerksam zu machen, und als er endlich glaubte, alle Unklarheiten beseitigt zu haben, waren die anderen längst fort. Den Film konnte ich mir morgen auch noch ansehen, und falls Renate mir berichtete, daß er eine Enttäuschung gewesen war, hatte ich sogar vier Mark und fünfzig Pfennig gespart. Ich empfand es als ausgesprochen angenehm, einmal allein zu sein und Zeit zu haben, und ich entschloß mich, nicht wie gewöhnlich durch die engen Gassen der alten Stadt nach Hause zu gehen, sondern einen Umweg durch den Park zu machen.
Es war ein milder Abend im April. Der Himmel war noch hell, aber die schmale Sichel des aufgehenden Mondes hing schon über den mächtigen alten Bäumen. Es roch verheißungsvoll nach Erde, feuchtem Laub und Frühling.
Als ich in die Nähe des Konzerthauses kam — ein ganz moderner Bau, erst nach dem Krieg errichtet, und eigentlich viel zu groß für unsere kleine Universitätsstadt —, sah ich eine Menschenmenge. Es waren vorwiegend junge Leute, das, was man heutzutage Teenager und Halbstarke nennt. Sie versuchten, die Kette der Polizisten, die eine Absperrung bildeten, zu zerreißen, und gerade als ich mich näherte, gelang es ihnen.
Im ersten Augenblick glaubte ich, daß sich die Menschen um eine Unglücksstelle drängten, aber dann fiel mir ein, daß heute nachmittag im Konzerthaus eine Fernsehveranstaltung stattgefunden hatte. Anscheinend war sie gerade zu Ende, denn während die Jugendlicher zum Konzerthaus stürmten, strömte das Publikum heraus. Es kam zu Zusammenstößen, Schimpfworte flogen hin und her, der Polizei gelang es offensichtlich nicht, Ordnung zu schaffen.
Eine Weile schaute ich mir den Tumult aus sicherer Entfernung an, überlegte mir, ob solche Zeiterscheinungen auch zur Technisierung der Freizeitgestaltung zu rechnen waren, dann wurde mir die Sache zu dumm, und ich beschloß, mich aus dem Staub zu machen. Das Hauptportal und der Künstlereingang waren von Menschen blockiert. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich an der stillen, fast unbeleuchteten Seite des Konzerthauses vorbeizuschlängeln.
Ich hatte fast die Rückseite des Gebäudes erreicht, als ich sah, wie wenige Schritte vor mir die Flügel eines Fensters im Hochparterre von innen aufgestoßen wurden. Ein junger Polizist sprang federnd heraus, richtete sich auf, streckte seine Hand nach oben und sagte: »Kommen Sie!«
Gleichzeitig näherte sich eine stattliche Limousine, die vorschriftswidrig an der linken Fahrbahnseite stoppte. Meine Neugier war geweckt. Ich blieb stehen und starrte hinauf.
Ein Herr im Wintermantel und Hut kletterte aus dem Fenster, sprang auf die Straße — nicht ganz so elastisch wie der junge Polizist. »Ach, verdammt!« sagte er und rieb sich seinen rechten Knöchel. Der Hut war ihm vom Kopf geflogen, der Polizist lief hinterher, hatte ihn nach wenigen Schritten eingeholt und brachte ihn zurück.
»Danke«, sagte der Herr und stülpte sich den Hut wieder auf das blonde, leicht zerzauste Haar. Dann plötzlich sah er mich, und ich errötete unwillkürlich unter seinem Blick — nicht, weil er mich als Mann beeindruckt hatte, sondern weil mir zu Bewußtsein kam, daß ich mit offenem Mund wie ein Schulmädchen dagestanden und ihn angestarrt hatte. Ich gab mir einen Ruck und setzte mich in Trab, um weiterzugehen.
Er deutete meine Reaktion offensichtlich falsch. »Na, Sie sind ja eine ganz Gerissene, mein Fräulein«, sagte er halb ärgerlich, halb geschmeichelt.
»Wieso?« fragte ich ahnungslos.
»Na, kommen Sie her, ich weiß schon, was Sie wollen!« Er holte eine Fotografie aus der Innentasche seiner Jacke, drückte sie mir in die Hand. »So — und nun verschwinden Sie, aber rasch.«
Ich starrte von der Fotografie auf den seltsamen Vogel, der sie mir zugesteckt hatte. »Was soll ich damit?« fragte ich hilflos.
Der Mann hatte sich schon zum Gehen gewandt. Er drehte sich plötzlich noch einmal um. »Haben Sie etwa kein Autogramm gewollt?«
»Natürlich nicht. Ich kenne Sie ja gar nicht.«
Seine Augen wurden groß vor Verblüffung. »Was? Wollen Sie allen Ernstes behaupten, Sie kennen Hans Ullrich Garden nicht?«
Als ich den Namen hörte, ging mir ein ganzer Kronleuchter auf. Natürlich wußte ich, wer Hans Ullrich Garden war — jeder weiß es. Hans Ullrich Garden galt als der Quizmaster des Fernsehens. Trotzdem sagte ich — und es entsprach der Wahrheit: »Ich habe Sie noch nie gesehen.«
»Das darf doch nicht wahr sein!« sagte er voll ungläubigen Staunens.
Dann packte er mich beim Handgelenk und zerrte mich zum Auto. Als der Wagenschlag von innen geöffnet wurde, steckte er seinen Kopf hinein und sagte: »Stellen Sie sich vor, Lewin, was ich für einen Fang gemacht habe! Ein junges Mädchen«, er wandte sich mir zu, musterte mich prüfend und sagte dann, wieder in den Wagen hinein: »Etwa zwanzig Jahre alt, das noch nie etwas von Hans Ullrich Garden gehört hat! Was sagen Sie dazu?«
Aus dem Innern des Wagens ertönte ein boshaftes Kichern, und eine helle Stimme sagte: »Ein schwerer Schlag für Ihre Eitelkeit, wie?«
Hans Ullrich Garden lachte vergnügt. Entweder war sein Selbstbewußtsein so groß, daß man ihn nicht kränken konnte, oder er nahm sich doch nicht so ernst, wie es den Anschein hatte.
»Na, steigen Sie schon ein, Süße!« sagte er und wollte mir in den Wagen helfen.
Ich versuchte, mich seinem Griff zu entziehen. »Aber nein! Warum? Ich will doch nicht …«
Ohne auf meinen Protest und meine Abwehr zu achten, schob er mich auf den Rücksitz des Wagens, und wenige Sekunden später war ich ihm fast dankbar dafür, denn jetzt hatten die Fans den Quizmaster und das Auto entdeckt und rasten wie eine wilde Horde durch die dunkle schmale Straße auf uns zu, Bestimmt war jeder einzelne dieser jungen Leute für sich allein ziemlich harmlos, möglicherweise sogar liebenswert. Aber wie sie da grölend, mit aufgerissenen Mündern und funkelnden Augen auf uns zustürmten, eine wilde, fanatisierte Masse, erschrak ich bis ins Herz hinein. Ich schloß die Augen und preßte die Hände vor die Ohren, um nicht miterleben zu müssen, was jetzt kam. Tatsächlich geschah gar nichts. Der Motor heulte auf, der schwere Wagen setzte sich in Bewegung und brauste davon, und als ich wagte, durch das Rückfenster hinauszublicken, war alles schon vorüber.
»Das sind eben die Schattenseiten des Erfolges«, hörte ich Hans Ullrich Garden neben mir sagen, aber sein Tonfall verriet, daß er den Ansturm in vollen Zügen genossen hatte.
»Tja«, spottete die helle Stimme auf meiner linken Seite, »unser Hans Ullrich Garden ist fast so berühmt wie ein Fußballspieler der Nationalmannschaft!«
Ich saß ziemlich eingequetscht zwischen den beiden Männern, zwischen Hans Ullrich Garden, dem Quizmaster, und dem anderen Mann, den er vorhin mit Lewin angesprochen hatte. Die Situation war mir mehr als unbehaglich.
»Bitte, kann ich jetzt aussteigen?« fragte ich.
»Kommt gar nicht in Frage«, antwortete Hans Ullrich Garden sofort. »Natürlich bringen wir Sie nach Hause — das ist doch wohl Ehrensache.«
»Es ist gar nicht weit — ich kann ebenso gut …«
»Wo wohnen Sie?« unterbrach mich der Mann namens Lewin. Er hatte das Gesicht eines großäugigen, klugen Vogels.
»Burgstallergasse sieben«, antwortete ich.
»Ihr Name?«
»Sonja Horn. Was soll das? Weshalb fragen Sie mich aus?«
»Kommen Sie, mein Fräulein, regen Sie sich nicht auf!« Hans Ullrich Garden legte seinen Arm um meine Schulter, und ich fand in der Enge des Wagens keine Möglichkeit, ihn abzuschütteln. »Wir interessieren uns immer für Land und Leute. Ist es nicht so, Lewin?«
»Besonders für junge Damen, die dem sprichwörtlichen Charme unseres Quizmasters noch nicht verfallen sind!« sagte Lewin. »Sie sind Studentin?«
»Ja.«
»Und was wollen Sie werden?«
Jetzt wurde es mir wirklich zu dumm. »So fragt man die Leute aus, Herr Lewin«, sagte ich böse. »Was geht Sie das an, was ich bin und was ich werden will? Das ist wohl doch wirklich meine Privatsache.«
»Beim Fernsehen ist nichts privat.«
»Um so schlimmer für Sie! Bringen Sie mich jetzt nach Hause oder …«
»Ist sie nicht eine süße Kratzbürste, Lewin?« fragte Hans Ullrich Garden fast zärtlich und drückte mich fester an sich.
Herr Lewin beugte sich statt einer Antwort vor, klopfte dem Chauffeur auf die Schulter und sagte: »Bitte fahren Sie uns zur Burgstallergasse sieben.«
»Wo ist das?« fragte der Chauffeur, ohne sich umzusehen.
»Gleich an der Brücke«, erklärte ich ihm. »Es ist die Gasse hinter der Uferstraße!«
»Wollen wir die Kleine wirklich schon nach Hause bringen?« fragte Hans Ullrich Garden. »Wie wär’s, wenn wir …«
»Bitte nehmen Sie die Hand von meinem Arm«, sagte ich, denn sein Griff war ziemlich besitzergreifend geworden.
Er lachte nur und machte keine Anstalten, meinem Wunsch zu folgen. »Warum so spröde, Kleine?« fragte er. »Sind Sie etwa verlobt? Oder verliebt?«
»Bis jetzt noch nicht«, antwortete ich, »und wenn’s mir mal passieren sollte, dann bestimmt nicht in einen aufgeblasenen Allerweltshelden!«
Lewin kicherte boshaft, und Hans Ullrich Garden wurde plötzlich stocksteif. »Finden Sie nicht auch, daß Sie reichlich vorlaut sind?« fragte er eingeschnappt.
»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus«, sagte ich, weil mir im Augenblick nichts Besseres einfiel.
Ich war froh, als der Wagen vor dem schmalbrüstigen alten Haus in der Burgstallergasse hielt. Der Chauffeur stieg aus, öffnete den Wagenschlag, und Hans Ullrich Garden mußte sich bequemen, mir Platz zu machen, damit ich herauskonnte.
Ich war erleichtert, als ich wieder auf sicherem Boden stand. »Gute Nacht«, sagte ich vergnügt, »eine angenehme Heimfahrt, und vielen Dank fürs Mitnehmen.« Ich wartete nicht mehr, bis der Wagen sich in Bewegung setzte, sondern ging sofort zum Haus und schloß die Tür auf. Während ich die steile Treppe hinaufkletterte, nahm ich mir fest vor, mit niemand über diesen dummen Zwischenfall zu sprechen.
Aber, ehrlich gestanden, ich hielt diesen Vorsatz kaum eine Stunde. Dann kam meine Freundin Renate nach Hause, und ich war froh darüber, das verwirrende Erlebnis auf sie abladen zu können.
Renate fand es so komisch, daß auch ich endlich befreit darüber lachen konnte. Aber ein Rest von Unbehagen und Verwirrung blieb in meiner Seele zurück und nistete sich dort ein, so sehr ich mich auch bemühte, es abzuschütteln.
Drei Wochen später — die Semesterferien waren schon in erreichbare Nähe gerückt — erhielt ich einen seltsamen Brief. Absender war ein Verkehrsbüro der nächsten Großstadt, der Umschlag enthielt eine Eintrittskarte für den 27. April.
»Sehr geehrtes Fräulein Horn«, lautete das Schreiben, »wir möchten uns erlauben, Ihnen heute im Auftrag eine Eintrittskarte für den öffentlichen Quizabend, Lachen ist gesund’ mit Hans Ullrich Garden zuzusenden. Hochachtungsvoll« und Unterschrift. Mehr nicht. Trotzdem war mir, als ich den Brief zum erstenmal las, völlig klar, daß der geheimnisvolle Auftraggeber nur Hans Ullrich Garden sein konnte. Leider äußerte ich mich auch dementsprechend zu Renate.
»Du spinnst wohl«, sagte sie mit herzlicher Grobheit, »also wirklich, Sonja, fast scheint mir, du bist noch eingebildeter als dieser Garden! Bildest du dir etwa im Ernst ein, du hättest einen solch unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht, daß er es nicht mehr abwarten kann, dich endlich wiederzusehen?!«
»Natürlich nicht«, sagte ich kleinlaut.
»Na also. Oder hast du mich etwa angeschwindelt? Du hast doch erzählt, daß du ihm eine gründliche Abfuhr erteilt hättest, wie?«
»Ja«, sagte ich.
»Menschenskind, Sonja, jetzt nimm doch mal deine fünf Sinne zusammen — wie sollte Hans Ullrich Garden wohl darauf verfallen, dir eine Einladungskarte zu seinem Quizabend zu schicken! Das wäre doch verrückt!«
Ich faltete den Brief zusammen und steckte ihn in meine Kollegtasche. »Und wer, glaubst du, könnte sich sonst einen solchen Spaß erlaubt haben?«
»Na, da kämen eine ganze Menge in Frage — Pützchen zum Beispiel, oder Peter! Sie haben dich doch lange genug mit dieser Geschichte gefrotzelt — vielleicht wollen sie der Sache einen neuen Auftrieb geben.«
»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß die für so etwas Geld rauswerfen würden!«
»Warum nicht? Ein guter Witz ist ihnen schon was wert. Außerdem ist das immer noch wahrscheinlicher, als wenn Hans Ullrich Garden …«
»Hör schon auf damit. Vergiß es!« sagte ich. »Vielleicht war es wirklich eine dumme Idee von mir.«
»Gut, daß du das einsiehst!« Renate legte nachdenklich ihren Finger an die Nase. »Und wenn es gar kein Witz wäre?« fragte sie. »Paß auf, Professor Gahlen hat dir doch ein Referat über ‚Technisierung der Freizeitgestaltung’ gegeben, nicht wahr? Hat er dabei nicht besonders aufs Fernsehen hingewiesen?«
»Sogar ganz speziell.«
»Da haben wir’s. Dann war er es, der dir eine Eintrittskarte vermittelt hat, damit du auch weißt, worüber du schreibst. Ruf ihn gleich an, und du wirst es erfahren!«
Dieser Vorschlag war gut, aber nicht ausführbar. Professor Gahlen war vor zwei Tagen zu einem Soziologenkongreß nach London geflogen.
Im ersten Augenblick, als ich die Einladung in Händen hielt, war ich fest entschlossen gewesen, nicht zu der Quizsendung ins Funkhaus zu fahren, aber Renate war es gelungen, mich so zu verwirren, daß ich wirklich nicht mehr wußte, was ich tun sollte.
Wenn Peter oder Pützchen das Geld wirklich zusammengekratzt hätten, um einen Spaß zu finanzieren, dann wäre es doch direkt gemein gewesen, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sollte aber tatsächlich Professor Gahlen selbst mir die Eintrittskarte besorgt haben, so würde er es mir wahrscheinlich sehr übelnehmen, wenn ich nicht hinfuhr. Ich hörte geradezu seine belehrende Stimme in meinem inneren Ohr, wie er sagte: »Sie sind nicht unintelligent, Fräulein Horn, aber Sie lassen es an dem nötigen Wissensdurst fehlen. Um die soziologischen Zusammenhänge unseres Daseins zu erforschen, braucht man eine tüchtige Portion persönlicher Neugier — das ist es, was ich meinen Studenten immer wieder einzuprägen versuche.«
Das Einfachste wäre es natürlich gewesen, bei dem Eintrittskartenbüro rückzufragen, um wen es sich bei dem geheimnisvollen Auftraggeber handle. Aber dazu blieb keine Zeit mehr. Die Quizsendung sollte am nächsten Sonntagabend, also in drei Tagen, stattfinden. Auf Renates Drängen hin entschloß ich mich, gegen mein erstes Gefühl, hinzufahren. Schließlich riskierte ich nichts. Ich rechnete mir aus, daß die Fernsehsendung um ungefähr zweiundzwanzig Uhr beendet sein würde, ich konnte also gut und gern mit dem Nachtzug um dreiundzwanzig Uhr vier zurückfahren.
Zwanzig Minuten vor Beginn der Fernsehsendung betrat ich das Funkhaus. Mein Zug war sechzehn Minuten nach sieben auf dem Südbahnhof eingelaufen, die wenigen Stationen bis zum Funkhaus hatte ich mit der Straßenbahn zurückgelegt. Jetzt blieb mir reichlich Zeit, mich in der Toilette zurechtzumachen.
Ich selbst wäre am liebsten in Hose und Pullover gefahren, aber Renate hatte darauf bestanden, daß ich mein flaschengrünes Wollkleid anzog, von dem ich immer behauptete, daß es mir am besten von allen meinen Sachen stünde. Es war gerade geschnitten, schmiegte sich eng an meinen Körper und brachte meine Formen — soweit man bei mir von so etwas überhaupt reden kann, denn ich bin sehr schlank — zur Geltung. Mein schwarzes Haar, das ich gewöhnlich mit einer leichten Innenrolle bis auf die Schultern herabfallend trage, hatte ich mir für den besonderen Anlaß aufgesteckt. Jetzt vor dem Spiegel im Toilettenraum des Funkhauses stellte ich fest, daß mich diese Frisur doch zu alt machte, und kämmte mir das Haar wieder herunter.
Ich hatte mir die Wimpern getuscht und nach oben gebürstet, die Augenbrauen leicht nachgezogen, jetzt tönte ich mir mit Renates apfelsinenfarbenem Lippenstift den Mund. Wie immer, wenn ich mich im Spiegel betrachtete, fand ich mich eigentlich recht hübsch — meine großen, weit auseinanderstehenden Augen liegen über hohen Backenknochen, die meinem Gesicht etwas Exotisches geben. Der Eindruck der leicht gewölbten breiten Stirn wird durch den spitzen Haaransatz gemildert, der mein Gesicht herzförmig erscheinen läßt, wie man in Romanen zu sagen pflegt. Meine Nase und mein Mund sind vielleicht etwas zu groß, aber gut geschnitten — kurzum, im großen und ganzen gesehen, kann ich mit mir zufrieden sein.
Ich weiß nicht, ob ich Charme habe — aber manchmal kommt es mir fast so vor —, aber Sex-Appeal habe ich bestimmt nicht. Für die Jungen, die ich kenne, bin ich ein »netter Kerl«. Ich bin allgemein beliebt, aber niemand würde sich für mich ein Bein ausreißen. Vielleicht liegt es einfach daran, daß ich falsch erzogen worden bin. Wenn ich eine Schwester Zsa Zsa Gabors wäre, hätte mir meine Mutter wahrscheinlich Tips gegeben, wie man die Männer beeindrucken und an der Nase herumführen kann. Aber ich stammte aus einer gutbürgerlichen, dazu noch glücklichen Ehe und — was wahrscheinlich das Schlimmste ist — habe vier Brüder. Zwei davon sind älter als ich, zwei jünger. In Romanen pflegen Brüder ihr einziges Schwesterlein zu beschützen und zu verwöhnen, die rauhe Wirklichkeit sieht anders aus. Meine Brüder haben mich immer als ihresgleichen behandelt, sie rauften und boxten mit mir herum, und wahrscheinlich hat diese Behandlung von vornherein jeden Keim von Sex-Appeal in mir erstickt.
Ich wurde in meinen trüben Betrachtungen vor dem Spiegel von zwei schwatzenden Freundinnen gestört, die gleich mir in den Toilettenraum geeilt waren, um letzte Hand an ihre Schönheit zu legen. Ich hielt es für angebracht, meinen Platz freizumachen, und machte mich auf den Weg zum Funksaal.
Es war ein riesiger Raum, und ich blieb eine Weile in der Eingangstür stehen, um jede Einzelheit wahrzunehmen. Die Plätze waren amphitheatralisch ansteigend angeordnet. Riesige Scheinwerfer hingen jetzt noch glanzlos und tot an der Decke. Ich zählte fünf Kameras, an denen Männer in Overalls herummanipulierten. Durch den Mittelgang waren Schienen gelegt, auf denen die größte der Kameras vor und zurück fahren konnte.
Die ersten Zuschauer begannen in den Raum hineinzusickern, ich wurde von ihnen gepufft und hielt es für besser, mich nach meinem Platz umzuschauen. Ich hatte schon zu Hause festgestellt, daß ich in der vierten Reihe saß, jetzt zeigte mir die livrierte Platzanweiserin meinen Sitz — er lag direkt am Mittelgang. Mir war etwas unbehaglich zumute, als ich Platz nahm, denn ich hatte das Gefühl, wie auf dem Präsentierteller zu sitzen. Dann beruhigte ich mich bei dem Gedanken, daß die Aufgabe der Kameraleute ja nicht darin bestehen konnte, das Publikum zu filmen, und daß Hans Ullrich Garden oben im Scheinwerferlicht mich auf meinem exponierten Platz sicher gar nicht bemerken konnte. Meine Reihe war fast noch leer, und mit einiger Spannung wartete ich darauf, wer sich neben mich setzen würde. Falls die Idee, mir eine Eintrittskarte zu schicken, von Pützchen oder Peter ausgeheckt worden war, mußte einer der beiden Knaben bestimmt gleich erscheinen. Aber nichts dergleichen geschah. Statt dessen setzte sich ein rundliches Ehepaar mittleren Alters neben mich.
Meine Nervosität wuchs. Ich hatte plötzlich das Gefühl, in eine Falle gelockt worden zu sein. Verzweifelt klammerte ich mich an den Gedanken, daß Professor Gahlen mir die Eintrittskarte hatte zukommen lassen. Aber wenn er das wirklich getan hatte, warum hatte er mich nicht darauf vorbereitet? Mir war gar nicht wohl zumute.
Der Funksaal füllte sich sehr rasch, und mit dem Einströmen der Zuschauer wich meine Beklemmung. Ich duckte mich auf meinem Sitz zusammen, genoß das beruhigende Gefühl, in der Masse der Menschen unterzutauchen.
Links von der Bühne, auf einem erhöhten Podium, nahmen die Mannen des Tanzorchesters Bert Bünger Platz. Sie trugen alle die gleichen weißen Hosen und roten Jacketts. Der Name des Dirigenten war mit deutlich lesbaren weißen Buchstaben auf Schilder geprägt, die vor jedem der Musiker standen.
Als Bert Bünger persönlich erschien, geschah das mit solcher Fixigkeit, daß die wenigsten überhaupt begriffen, was vor sich ging. Mit wenigen Schritten stand er vor seinen Musikern, riß beide Arme hoch, und ein Begrüßungstusch erfüllte mit voller Lautstärke den großen Saal. Der Tusch ging in eine Art Kennmelodie über.
Dem Publikum blieb kaum Zeit zu klatschen, denn während die letzten Takte Musik noch nicht verklungen waren, trat schon die Fernsehansagerin — bescheiden strahlend wie jemand, der eine wunderbare Überraschung, diskret verpackt, überreichen darf — vor das Mikrofon und sagte die Veranstaltung an. Die große Kamera fuhr den Mittelgang näher und näher an sie heran, während sie mit geheimnisvollem Lächeln die mitwirkenden Sänger, Musiker und Artisten aufzählte. Dann hob sie die Stimme und sagte: »,Lachen ist gesund’ — von und mit …« Ihre Stimme hob sich fast zu einem Stakkato, gleichzeitig setzte ein gewaltiger Trommelwirbel ein wie vor einer Artistensensation, die Bühne verdunkelte sich bis auf ein grelles Spotlight neben dem Mikrofon.
»… Hans Ullrich Garden!«
Bei der Nennung dieses Namens, die wie ein Fanfarenstoß erfolgte, sprang in elegantem dunkelblauem Smoking mit einer Chrysantheme im Knopfloch der Quizmaster Hans Ullrich Garden ins Scheinwerferlicht und verbeugte sich mit glücklichem Lächeln nach allen Seiten.
Der Tusch des Orchesters wurde vom Begrüßungsapplaus übertönt.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Beifall so weit gelegt hatte, daß Hans Ullrich Garden sprechen konnte. Er hob die Hände, wie um den Applaus zu dämpfen, dann rief er — die Lautsprecher sorgten dafür, daß seine tiefe sonore Stimme bis in den letzten Winkel des Raumes gut zu hören war: »Meine Damen und Herren, liebe Fernsehfreunde aus Nord und Süd, aus Ost und West, ich freue mich, ja ich freue mich aus ganzem Herzen, wieder bei Ihnen zu sein!«
Wieder brach Beifall los, und Hans Ullrich Garden verstummte, er verbeugte sich leicht, mit bescheidener Miene, als wenn er sagen wollte: Aber wirklich — das ist zuviel der Ehre! Viel zuviel der Ehre! Womit habe ich das verdient? Aber um seine Mundwinkel spielte ein eitles Lächeln, das verriet, wie wohl ihm die Anerkennung tat.
Endlich konnte er fortfahren. »Meine Damen und Herren, Sie sind wieder einmal — zum siebentenmal — in unserer Sendung ‚Lachen ist gesund’ bei uns im großen Sendesaal des Funkhauses erschienen, und ich hoffe von ganzem Herzen, daß wir auch heute wieder unser gestecktes Ziel erreichen! Was wollen wir denn? Nichts weiter als von ganzem Herzen lachen, lachen und noch einmal lachen! Das Leben ist ernst, und heiter die Kunst — das beliebte Orchester Bert Bünger beginnt jetzt mit dem Paso doble ‚Andalusische Nächte’!« Hans Ullrich Garden zog sich mit einer Verbeugung aus dem Scheinwerferlicht zurück, während noch der Beifall prasselte, der von den heißen Rhythmen des Tanzorchesters übertönt wurde.
Hans Ullrich Garden, so schien mir, wirkte auf der Bühne bei weitem attraktiver als im Privatleben. Mich stieß die Clownerie seines Auftretens ab. Was war das für ein Beruf für einen ausgewachsenen Mann, sich vor Millionen Zuschauern zum Narren zu machen!
Aber gleichzeitig mußte ich wider Willen anerkennen, daß er seine Aufgabe glänzend löste. Bestimmt war es alles andere als einfach, diese Menschenmassen zu verzaubern, ihnen ihre Individualität zu nehmen und sie zu einem riesigen Publikum zusammenzuschweißen.
Mir blieb keine Zeit, weiter über das Problem »Technisierung der Freizeitgestaltung« nachzudenken, denn schon klang der Paso doble aus, und Hans Ullrich Garden eilte mit elastischen Schritten auf den Vordergrund der jetzt von den riesigen Scheinwerfern völlig ausgeleuchteten Bühne.
»Und nun, meine Damen und Herren», trompetete er, »geht’s wieder einmal darum, die Kandidaten für unsere Sendung auszuwählen — wer von Ihnen, meine Herrschaften, hat Mut? Wer wagt sich hier herauf? Wer kann Spaß verstehen?«
Schon flogen die ersten Hände im Zuschauerraum in die Höhe — anscheinend war ein Teil des Publikums nur deshalb zur Sendung ins Funkhaus gekommen, um selbst einmal vor der Fernsehkamera auftreten zu dürfen.
Hans Ullrich Garden überflog den Zuschauerraum und begann mit souveräner Schnelligkeit auszuwählen. »Ja, dort hinten der Herr — wenn Sie bitte zu mir kommen würden, und die Dame in dem roten Kleid — ja, Sie, gnädige Frau — und der junge Herr ganz rechts — danke.«
Ich duckte mich in meinem Sitz zusammen und heftete meine Augen auf meine Schuhspitzen — ein alter Trick aus meiner Schulzeit: Wenn man der Aufmerksamkeit des Lehrers entgehen wollte, durfte man ihn um keinen Preis ansehen.
Hans Ullrich Gardens Worte prasselten förmlich auf mein Trommelfell. »Ja, der junge Mann dort — bitte, Sie, mein Herr — das wäre sehr nett von Ihnen — wenn ich die reizende junge Dame dort drüben bitten darf.« An seiner Stimme, die durch Mikrofon und Lautsprecher verstärkt wurde, war keine Veränderung wahrzunehmen, und doch hatte ich den Eindruck, daß er die Bühne verlassen hatte und sich jetzt im Zuschauerraum befand. Ich preßte die Hände gegeneinander und starrte unentwegt vor mich auf den Boden. Mein Gott, dachte ich, hat er denn immer noch nicht genug?
»So«, hörte ich Hans Ullrich Garden sagen, »jetzt brauchen wir noch eine Dame, ja, wie wäre es denn mit Ihnen — ja, Sie meine ich, die Dame mit dem moosgrünen Kleid!«
Im selben Augenblick spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. Jetzt half kein Verstecken mehr. Ich hob die Augen und sah ihm gerade in das gleichmütig lächelnde Gesicht. Noch glaubte ich, entrinnen zu können — es war doch unmöglich, daß dieser Mensch mich vor Millionen Zuschauern zu etwas zwang, was ich selbst nicht wollte!
Ich holte tief Luft und machte schon den Mund auf, um zu protestieren, als ich sah, daß die große Kamera im Mittelgang gerade auf mich und den Quizmaster gerichtet war. Plötzlich verließ mich aller Mut und alle Kraft. Ich fühlte mich hypnotisiert wie ein Kaninchen, brachte kein Wort mehr hervor.
In Hans Ullrich Gardens Augen blitzte ein Triumph auf, für den ich ihn hätte ohrfeigen mögen. Aber ich tat nichts dergleichen, sondern stand verlegen auf, hatte das Gefühl, mit hängenden Armen oder einem törichten Gesichtsausdruck eine sehr alberne Figur zu machen.
Hans Ullrich Garden nahm mich bei der Hand und zog mich mit zur Bühne hinauf. »Bitte, mein Fräulein, rasch, damit wir beginnen können«, sagte er laut, dann verdeckte er das Mikrofon, das er in der Hand trug, und fügte leise, nur für mich hörbar, hinzu: »Ich wußte, daß Sie kommen würden.«
Die nächsten neunzig Minuten vergingen in einem rasanten Wirbel. Fünfzehn Mitspieler hatte der Quizmaster auf die Bühne geholt, die er rasch in fünf Gruppen aufteilte. Jede der Gruppen bestand aus einem älteren, einem jüngeren Herrn und einer Dame — diese Gruppen mußten nun gegeneinander kämpfen, manchmal alle zusammen, und manchmal wurde auch nur ein Vertreter jeder Gruppe herausgeholt.
Ich hatte befürchtet, daß Hans Ullrich Garden die Gelegenheit nutzen würde, um mich tüchtig zu zwiebeln. Aber in diesem Punkt hatte ich ihn, das muß ich ehrlich zugeben, völlig falsch eingeschätzt. Er behandelte jeden der Mitspieler ausgesprochen charmant — mich vielleicht noch ein wenig charmanter als die anderen. Schon als er mich dem Publikum vorstellte, hatte ich das Gefühl, daß er mir die Bälle zuwarf, und auch später, als es darum ging, die einzelnen Aufgaben zu lösen, hatte er eine Art zu sagen: »Und jetzt ist wieder einmal unsere kleine Studentin an der Reihe!«, die mir die Herzen des Publikums zufliegen ließ.
Die Aufgaben selbst waren nicht schwer. Wir Frauen mußten jede eine Scherzfrage beantworten, meine hieß: »Wer ist der größte Eisenfresser?«, und ich brauchte wirklich nicht zu überlegen, um auf die Lösung »Rost« zu kommen. Trotzdem tat ich dem Publikum den Gefallen, ein nachdenkliches Gesicht zu machen und mit der Lösung erst im letzten Augenblick herauszuplatzen — die Leute freuten sich, und das tat mir wohl. Ich schwamm sozusagen auf den Wogen der Publikumssympathie, die der Quizmaster für mich erweckt hatte — ein berauschendes und ein wenig unheimliches Gefühl.
Die jungen Herren mußten einen Wettkampf in einer Art kombinierten Sackhüpfens mit Eierlaufen ausüben, bei der nur ein einziger — der junge Herr meiner Gruppe — unbeschadet zum Ziel kam. Für jeden der älteren Herrn wurde eigens eine bombastische Bühnendekoration aufgebaut, und es galt zu raten, aus welchem Stück die stumme Szene, die in dieser Dekoration agiert wurde, stammte. Diese Aufgabe war die schwerste, und ich muß sagen, daß ich froh war, daß sie nicht mir gestellt wurde — ich fand nur drei der Lösungen heraus. Der Senior unserer Gruppe löste diese Aufgabe mit meisterhafter Fixigkeit.
Nachher mußten wir Damen noch jede einen Schlager zum besten geben. Text und Noten drückte uns Hans Ullrich Garden in die Hand. Wenn man mir vorher gesagt hätte, daß mir solch eine Aufgabe bevorstünde, wäre ich sicher vor Schreck fast gestorben. Meine Liebe zur Musik muß nämlich als eine sehr unglückliche bezeichnet werden. Ich singe zwar gern, aber — wie schon mein Musiklehrer mit Schaudern feststellte — leider völlig falsch. Zum Glück aber wurden unsere Darbietungen nicht etwa von Bert Bünger oder einer anderen musikalischen Kapazität beurteilt, sondern vom Publikum, das sich über meine falschen Töne vor Vergnügen förmlich kugelte. Gaby, die Assistentin des Quizmasters, maß bei meiner Darbietung siebenundneunzig Phon, und damit hatte ich drei Punkte, die höchstmögliche Zahl, errungen. Unsere Gruppe war eindeutig als Sieger aus den Wettkämpfen hervorgegangen. Alle anderen wurden mit Trostpreisen entlassen. Jetzt mußten nur noch wir drei um den Einzelsieg miteinander streiten.
Zwischen den einzelnen Wettkämpfen hatte es immer wieder artistische Darbietungen — einen wirklich phantastischen Zauberkünstler, radfahrende Braunbären, ein Tanzpaar, das ich langweilig fand, und noch einiges mehr — gegeben. Vor der Entscheidung erschien jetzt noch ein Bauchredner auf der Bühne, der meiner Meinung nach besser als alles andere war, was bisher geboten wurde. Trotzdem konnte ich kaum über die wirklich zauberhaften Späße lachen, die er mit seinen unbeschreiblich komischen und sehr beweglichen kleinen Stofftieren ausführte — mir war, wider alle Vernunft, vor der Entscheidung doch etwas mulmig zumute. Ich blamiere mich nicht gern, selbst im Seminar melde ich mich immer nur dann zu Wort, wenn ich sicher bin, daß meine Antwort richtig ist — und möglicherweise vor Millionen Zuschauern als Trottel dazustehen, war alles andere als eine angenehme Aussicht für mich. Auch unser Haufen — Renate, Peter, Bill und Pützchen — saß heute abend, dessen war ich sicher, im Wirtshaus »Zur krummen Ecke« vor dem Fernsehapparat, und meine Kommilitonen würden mich bis ans Ende meiner Studienzeit aufziehen, wenn ich mich blöd anstellte.
Hans Ullrich Garden bereitete uns drei auf unsere letzte Aufgabe vor und erklärte uns, daß es jetzt darauf ankäme, nicht nur die richtige Lösung zu finden, sondern auch unsere schauspielerischen Qualitäten zu beweisen. Für jede Aufgabe seien im besten Fall vier Punkte zu erreichen — zwei für die richtige Lösung und zwei weitere Punkte für die schauspielerische Leistung, deren Einstufung wieder durch den Beifall des Publikums bestimmt und nach Lautstärke gemessen werden sollte.
Dann warf Hans Ullrich Garden drei zusammengelegte Zettel mit Losnummern in einen Hut. Ich durfte als erste hineinfassen und zog die Nummer drei, kam also als letzte mit meiner Aufgabe dran und durfte erst mal zusehen, wie sich die anderen bewährten.
Der Quizmaster verschwand, seine Assistentin Gaby weihte den ersten Kandidaten, unseren jungen Mann, in seine Aufgabe ein. Er sollte sich in die Rolle eines abgewiesenen Freiers der Prinzessin Turandot versetzen, die ihm noch eine Frage stellen würde, mit der er, wenn er schlau war, sein Leben retten konnte.
Das Orchester Bert Bünger intonierte einige Takte aus Puccinis Oper »Turandot«, der Vorhang vor der Hinterbühne ging auseinander und gab einen prächtigen asiatischen Krönungssaal frei. Auf dem wunderbar vergoldeten Thronsessel in der Mitte saß die verschleierte Prinzessin Turandot, von schönen, wenig bekleideten Sklavinnen umgeben. Zwei athletische Männer in Pumphosen, Schnabelschuhen und kräftigen braungeschminkten Oberkörpern packten unseren jungen Mann und zerrten ihn vor den Thron der Prinzessin. Das Publikum brüllte vor Lachen, denn unter dem weitwallenden Gewand Prinzessin Turandots waren Herrenhosen und Lackschuhe zu sehen — offensichtlich hatte Hans Ullrich Garden es sich nicht nehmen lassen, diese Rolle selbst zu übernehmen nach dem Motto: »Laßt mich den Löwen auch spielen.« Beim Publikum kam diese Idee glänzend an, das Gelächter und Geschrei war so laut, daß es eine Weile dauerte, bevor die Prinzessin sprechen konnte. Sie — oder vielmehr Hans Ullrich Garden — tat es mit einer so komisch verstellten Fistelstimme, daß wieder lauter Jubel losbrach. Ich spürte förmlich, wie diese weitere Verzögerung und das Geschrei des Publikums an den Nerven des jungen Mannes, der sich im kombinierten Sackhüpfen und Eierlaufen hervorgetan hatte, riß.
Endlich hatte sich das Publikum soweit beruhigt, daß Prinzessin Turandot die Frage stellen konnte. »Du weißt, daß du deinen Kopf verwirkt hast, o Jüngling«, lispelte Hans Ullrich Garden in höchsten Tönen, »aber weil du mir gefällst, sollst du eine Chance haben. Rate, wie du sterben wirst. Überlege dir gut, was du sagst, o Jüngling, denn falls du dich irrst, wirst du gehängt, falls du aber die Wahrheit errätst, wirst du nur geköpft.«
Trotz der verwirrenden Fragestellung war die Lösung höchst einfach, und ich wußte sie, kaum daß Prinzessin Turandot ihre Frage ausgesprochen hatte. Der junge Mann mußte natürlich sagen, er würde gehängt, dann konnte man ihn nicht hängen, weil er sonst die Wahrheit gesagt hätte. Köpfen lassen konnte die Prinzessin ihn aber auch nicht, weil er dann die Unwahrheit gesagt hätte und gehängt werden mußte.
Dem jungen Mann fiel die Lösung nicht ein. Prinzessin Turandot stellte ihm noch zweimal dieselbe Frage, er stammelte und versuchte, Zeit zu gewinnen. Der Gong ertönte, unser junger hoffnungsvoller Mann war mit Glanz durchgefallen.
Hans Ullrich Garden sprang von seinem Thronsessel, riß sich den Schleier vom Gesicht, die wallenden Gewänder vom Leib, empfing den brausenden Beifall des Publikums und tröstete den jungen Mann mit ein paar netten Worten. Die Assistentin Gaby maß die Lautstärke des Beifalls, und es stellte sich heraus, daß der junge Mann immerhin noch zwei Punkte bekommen hatte, und zwar mit Recht, denn seine Darstellung hatte so verstört gewirkt, als wäre es wirklich um seinen Kopf gegangen.
Wieder verschwand der Quizmaster, der Vorhang von der Hinterbühne hatte sich geschlossen, die Assistentin Gaby weihte das Publikum in die Aufgabe ein, die dem Senior unserer Gruppe bevorstand. Er bekam einen Tropenhelm auf den Kopf gestülpt, und Gaby erklärte ihm, daß er sich in die Lage eines Mannes versetzen solle, der sich in der Wüste verirrt hätte. Gleich würde er zwei Beduinen begegnen, die ihm den Weg zur nächsten Oase weisen würden, wenn er imstande sei, ihnen den Gefallen zu tun, um den sie ihn bäten.
Der Kandidat schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Er zeigte keinerlei Besorgnis, sondern schmunzelte vergnügt in sich hinein, und als der Vorhang aufging und wahrhaftig zwei Männer als Beduinen verkleidet auf zwei lebenden Kamelen langsamen Schrittes in einer Wüstenlandschaft daherkamen, stimmte er in das Gelächter des Publikums ein. Der Auftritt, bei dem man wieder Hans Ullrich Gardens Hosen unter dem Burnus hervorblicken sah, war wirklich ungemein komisch. Das Publikum schien besonders über die lebendigen Kamele ehrlich begeistert, aber ich konnte nicht umhin, mir die Frage zu stellen, ob soviel Aufwand zur Illustrierung einer simplen Scherzfrage nicht doch übertrieben war. All die Spiele, die Hans Ullrich Garden heute abend mit uns Kandidaten für das Publikum angeregt hatte, waren mir noch aus meiner Kinderzeit in guter Erinnerung, als wir an dergleichen Kurzweil, besonders an Geburtstagen, viel Spaß gehabt hatten — ohne daß uns dabei Kamele oder kostbare Dekorationen vonnöten erschienen waren.
Die beiden Beduinen sprachen mit einem höchst albernen und belustigenden Kauderwelsch auf den Kandidaten ein, und es dauerte eine Weile, bis er die Frage, die sie ihm stellten, überhaupt verstand. Die Wüstensöhne gaben vor, miteinander gewettet zu haben, wer das langsamere Kamel besäße, aber bisher hatten sie diese Frage noch nicht lösen können, weil natürlich jeder dem anderen ständig den Vortritt ließ.
Kaum, daß der Kandidat die Frage verstanden hatte, platzte er auch schon wie aus der Pistole geschossen heraus: »Na, dann wechselt doch die Kamele!«
Hans Ullrich Garden sprang vom Kamel, pellte sich aus seiner Beduinentracht, nahm den Beifall des Publikums entgegen und gratulierte zu der richtigen Antwort. Auch der Beifall des Publikums war für unseren Senioren so groß, daß er zwei Punkte dazu, also im ganzen vier Punkte, bekam, obwohl meiner bescheidenen Ansicht nach seine darstellerische Leistung tatsächlich unter dem Nullpunkt gelegen hatte. Aber anscheinend hatte das niemand gestört.
Jetzt also kam ich selbst an die Reihe, und während der Vorhang wieder zufiel und Hans Ullrich Garden sich verzog, erklärte Gaby mir und dem Publikum, um was es ging. Ich sollte mich in die Lage einer jungen Dame versetzen, die mutterseelenallein auf einer Reise durch den Wilden Westen unterwegs wäre. Gaby stülpte mir eine Art Cowboyhut auf und band mir einen breiten Gürtel um die Taille — eine Verkleidung, in der ich, nach dem Gelächter des Publikums zu urteilen, sehr komisch aussehen mußte.
»Wir haben ein kleines Hotelzimmer für Sie aufgebaut«, erklärte Gaby, »Sie brauchen nichts zu tun, als sich auf das Bett zu setzen und in dem Schmöker zu lesen, der auf Ihrem Nachttisch liegt. Aber Sie müssen ständig auf der Hut sein, denn Billy Rock, der Mädchenkiller, treibt sein Unwesen in dieser Gegend. Leider läßt sich die Tür Ihres Zimmers nicht abschließen, davon können Sie sich selbst überzeugen. Falls jemand an die Tür klopft, dürfen Sie auf keinen Fall ‚herein’ rufen, denn jeder, den Sie nicht kennen, kann ja der Mädchenkiller sein. Dieser Bursche wird sich aber durch eine unglaubhafte Behauptung selbst entlarven. Sie brauchen also nur aufzupassen. Falls Sie sicher sind, Billy Rock vor sich zu haben, greifen Sie nach der Pistole — sie liegt in Ihrer Nachttischschublade — und schießen auf ihn. Übrigens brauchen Sie keine Angst zu haben, es handelt sich natürlich nicht um eine echte Pistole, sondern nur um eine ganz harmlose Attrappe aus Kunststoff… Haben Sie alles verstanden?«
»Danke«, sagte ich.
Der Vorhang auf der Hinterbühne ging auf, ich setzte mich auf das quietschende Bett in der anheimelnden, gemütlichen Hoteldekoration und begann, laut Regieanweisung, in dem Schmöker zu blättern. Ich brauchte nicht lange zu warten, da klopfte es an die Tür.
Natürlich hielt ich den Mund, und es klopfte gleich darauf lauter. Langsam, ganz langsam öffnete sich die Tür einen Spalt breit — es war wirklich fast gruselig —, und ein merkwürdiges Instrument schob sich ins Zimmer. Es zuckte mir in den Händen, nach der Pistole zu greifen, aber vorsichtshalber blieb ich ganz still sitzen, und wenige Sekunden später war ich sehr froh darüber. Das merkwürdige Instrument war nämlich nichts weiter als eine Flitspritze, und obwohl Hans Ullrich Garden alles getan hatte, um sich als verdächtiges Individuum zu maskieren — er trug eine schwarze Augenbinde und kaute unentwegt auf einem Kaugummi herum —, begriff ich, daß er nichts anderes darstellen sollte als einen Texas-Zimmerkellner.
»Ich komme nur, um ein bißchen zu töten«, sagte er mit schleppender Stimme und schiefverzogenem Mund — das Publikum brüllte vor Lachen, und unter brausendem Beifall zog Hans Ullrich Garden sich nach einer Weile zurück.
Wenige Sekunden später erschien er wieder, diesmal ohne anzuklopfen — er hatte sich in Windeseile in einen Sheriff verwandelt —, stieß die Tür mit sieghaftem Fußtritt auf und grölte: »Fremdenkontrolle!«
Er baute sich vor mir auf und begann, mir Fragen nach meinem Woher und Wohin zu stellen, auf die man bestimmt geistreichere und lustigere Antworten hätte finden können, als ich sie gab. Ich sagte gerade das, was mir einfiel, und das war wirklich nicht viel. Der Quizmaster-Sheriff setzte sich zu mir aufs Bett, faßte meine Hand, legte seinen anderen Arm um meine Schulter und begann einen unverschämten Flirt mit mir. Möglicherweise gehörte dieser plumpe Annäherungsversuch zu seiner Rolle, mir gefiel er jedenfalls nicht. Nachdem ich erst versucht hatte, mich mit sanftem Nachdruck aus seiner Umarmung freizumachen, riß mir die Geduld, und ich sagte wütend: »Verdammt nochmal, was fällt Ihnen denn ein? Hauen Sie gefälligst ab, Sie Angeber!«
Das Publikum amüsierte sich prächtig, und Hans Ullrich Garden zog sich mit übertriebener Bestürzung zurück. Das Publikum applaudierte heftig, aber ich tat so, als wenn ich es nicht bemerkte — ich konnte mich ja nicht gut für einen Beifall bedanken, der möglicherweise nur dem beliebten Quizmaster galt.
Der Applaus hatte sich noch nicht gelegt, als wieder an die Tür gepocht wurde. Dieses Klopfen, durch die Lautsprecher sehr verstärkt, brachte das Publikum zur Ruhe. Ich starrte gespannt auf die Tür und schwieg, wie die Assistentin mir geraten hatte. Es klopfte noch einmal. Ich hielt wieder den Mund und rührte mich nicht vom Fleck.
Vorsichtig wurde die Tür jetzt einen Spalt breit geöffnet, Hans Ullrich Garden steckte seinen Kopf herein und erschien dann in voller Lebensgröße in der Verkleidung eines vornehmen Reisenden im weiten eleganten Radmantel.
Er verbeugte sich höflich und stammelte: »Verzeihung, Gnädigste — ich dachte, es wäre mein Zimmer — ich bedaure sehr, anscheinend habe ich mich in der Nummer geirrt.«
Er hatte kaum ausgesprochen, als mir klar wurde, wie unlogisch diese Ausrede war — niemand klopft an die Tür seines eigenen Zimmers. Der vornehme Fremde im Radmantel konnte nur Billy Rock, der Mädchenkiller sein. Mit einem Ruck öffnete ich die Nachttischschublade, zog den Revolver heraus, legte an und — ließ ihn fallen … Gerade noch im letzten Moment hatte ich bemerkt, daß dieser Revolver keine Kunststoffattrappe, sondern nur zu echt war.
Hans Ullrich Garden bückte sich sofort, hob die Waffe auf und lud sie durch. Ich hatte mich nicht geirrt. Richtige Munition fiel auf die Bühne. Eine Sekunde lang starrten Hans Ullrich Garden und ich uns entsetzt an. Ich begriff, daß dies kein Witz und kein vorausberechneter Effekt war. Hans Ullrich Garden war unter der braunen Schminke erbleicht, seine Augen waren schreckgeweitet.
Niemand aus dem Publikum konnte etwas von dem Zwischenfall bemerkt haben — oder doch? Jedenfalls tat Hans Ullrich Garden alles, um die gefährliche Situation, in der er für Sekunden geschwebt hatte, zu überspielen. Er ließ mit Fixigkeit die Waffe und die Munition in seinen Hosentaschen verschwinden, nahm mich bei der Hand und präsentierte mich strahlend den Zuschauern. »Meine Damen und Herren, bitte, sammeln Sie alle Kraft — wie hat Ihnen unsere kleine Studentin in der Rolle der verfolgten Unschuld gefallen?«
Der Beifall, der jetzt losprasselte, war beachtlich.
»Neunundneunzig Phon«, verkündete Gaby, die Assistentin des Quizmasters mit einem honigsüßen Lächeln, aber der Blick, der mich aus ihren katzengrünen Augen traf, war alles andere als freundlich.
»Gratuliere, Fräulein Horn«, sagte Hans Ullrich Garden und schüttelte mir enthusiastisch die Hand. »Sie sehen, Sie sind ein Liebling der Götter — will sagen des Publikums.« Er wartete das Verklingen des aufkommenden Gelächters ab und fuhr dann fort: »Also, ich glaube, das Ergebnis ist wohl eindeutig — Herr Erich Bürger ist als Sieger im siebenten Quiz ‚Lachen ist gesund’ hervorgegangen. Herr Bürger, darf ich …« Er sprach nicht weiter, denn eine seltsame Unruhe, ein unzufriedenes Gemurmel drang aus dem Zuschauerraum zu uns herauf.
»Aber, meine Damen, meine Herren, sind Sie mit dieser Entscheidung etwa nicht einverstanden?« rief Hans Ullrich Garden mit übertriebener Verblüffung.
»Nein!« rief ein junger Mann aus dem Publikum, andere Stimmen unterstützten ihn: »Nein!« — »Nein!«