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Mexiko 1922: Der Journalist Pioquinto Manterola, der Chinese Tomás Wong, der Dichter Fermín Valencia und der Anwalt Alberto Verdugo geraten durch Zufall einem Komplott von Armeegenerälen, Ölförderfirmen und US-Senatoren auf die Spur. Eine wilde Hetzjagd beginnt. Taibos Roman erweckt die frühen 1920er Jahre in Mexiko zum Leben, brodelnde Jahre des Übergangs, in denen der Geist Zapatas und Villas noch spürbar ist und streikende Arbeiter, Anarchisten und Gewerkschafter gegen korrupte Politiker, machthungrige Offiziere und Pistoleros kämpfen. Einmal mehr erweist sich der Autor als Chronist der Stadt Mexiko, jener turbulenten und chaotischen Metropole, in der sich das Reale mit dem Irrealen vermischt.
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Seitenzahl: 321
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Paco Ignacio Taibo IIDer Schatten des Schattens
Für meine Freunde Rolo und Myriamund für Rogelio Vizcaíno,der die Geburt dieses Romansals mein Anwalt begleitete.
Für den Tobi Club
Was für eine seltsame Sache ist dochder Schatten eines Menschen!Maxwell Grant (Walter B. Gibson)
In dieser ganzen chaotischen Verrücktheitexistiert eine gewisse Großartigkeit.Jesús Ibáñez
Aus dem Spanischen von Harry Stürmer
Titel der Originalausgabe: Sombra de la sombra
(Editorial Planeta Mexicana, México, D.F. 1986)
© der deutschsprachigen Ausgabe, Berlin/Hamburg 2010:
Assoziation A | Gneisenaustr. 2a | D-10961 Berlin | Tel. 030-69 58 29 71
[email protected] | [email protected]
www.assoziation-a.de
ISBN (Print) 978-3-935936-63-7
ISBN (EPUB) 978-3-86241-608-0
Lektorat: Theo Bruns & Rainer Wendling
Titelgestaltung und Satz: kv
Kapitel 1 In dem die Freunde Domino spielen | Kapitel 2 Journalismus als Broterwerb | Kapitel 3 Der Tod des Posaunisten | Kapitel 4 In dem die Freunde Domino spielen und entdecken, dass sie Mexikaner dritter Klasse sind | Kapitel 5 Geschichten aus vergangener Zeit: Alberto Verdugo | Kapitel 6 Ein Mann fällt aus dem Fenster | Kapitel 7 Journalismus als Broterwerb | Kapitel 8 In dem die Freunde Domino spielen und die Beziehung zwischen dem Posaunisten und der Dame entdecken | Kapitel 9 Der Dichter trifft auf eine Demonstration | Kapitel 10 Zufall, Schicksal oder Pech | Kapitel 11 Eine lange Filmvorführung | Kapitel 12 In dem die Freunde Domino spielen und über die Witwe, den Zufall und einen Oberst der Gendarmerie sprechen | Kapitel 13 Arbeit als Broterwerb | Kapitel 14 »Warum folgen Sie mir?« | Kapitel 15 Geschichten aus vergangener Zeit: Pioquinto Manterola | Kapitel 16 Ball der Anarchisten | Kapitel 17 Nächtliche Begegnung | Kapitel 18 Der Türschlosstrick und ein chinesisches Paar | Kapitel 19 In dem die Freunde Domino spielen und eine Botschaft des Erzengels Gabriel zu vernehmen meinen | Kapitel 20 Tacos als Hauptgang – Kugeln zum Nachtisch | Kapitel 21 Eine ziemlich idiotische Woche | Kapitel 22 Arbeit als Broterwerb | Kapitel 23 Verwirrte Romeos | Kapitel 24 Tomás trifft auf die Gendarmerie, beobachtet einen Oberst und erinnert sich an ein altes Lied | Kapitel 25 Geschichten aus vergangener Zeit: Tomás Wong in Tampico | Kapitel 26 In dem die Freunde Domino spielen und über die mexikanische Revolution diskutieren | Kapitel 27 Der Dichter schreibt ein Gedicht, erforscht die Geheimnisse der mexikanischen Industrie und springt aus dem Fenster | Kapitel 28 Der Journalist zieht eine Zwischenbilanz, stellt fest, dass er verliebt ist, wird von einer Nonne gerettet und schreibt einen Artikel über einen Löwendompteur | Kapitel 29 Schatten des Schattens und ein gepanzerter Packard | Kapitel 30 Verschiedene Dinge, die sich zugleich ereignen | Kapitel 31 In dem die Freunde ein Dominospiel beginnen, ohne es zu beenden, woran der Journalist und seine 15 Fragen großen Anteil haben | Kapitel 32 Treffen alter Freunde an einem Regentag | Kapitel 33 Geschichten aus vergangener Zeit: Rosa im Spiegel | Kapitel 34 Noch mehr Regen und noch mehr Fragen | Kapitel 35 Arbeit als Broterwerb | Kapitel 36 Eine Entführung und eine Befreiungsaktion, die aber leider nicht zusammenpassen | Kapitel 37 In den Socken suchen | Kapitel 38 Jede Menge Feuerwerk und ein Ex-Maurer ohne Erektion | Kapitel 39 Geschichten aus vergangener Zeit: Fermín Valencia in Zacatecas | Kapitel 40 Zwei Anarchisten im Keller | Kapitel 41 Eine schlimme Nacht | Kapitel 42 Böses Erwachen | Kapitel 43 Geschichten aus vergangener Zeit: Alberto Verdugo in Veracruz | Kapitel 44 In dem die Freunde Domino spielen und sich fragen, was Kolumbus in Mexiko gemacht hätte | Kapitel 45 Das Gremium tagt | Kapitel 46 Denkwürdige Dialoge, Zeitungslektüren, Verkleidungen | Kapitel 47 Geschichten aus vergangener Zeit: Aus dem Notizheft Fermín Valencias | Kapitel 48 Ein Foto auf dem Zócalo | Kapitel 49 Geschichten aus vergangener Zeit: Zevada, Martínez Fierro und Gómez in Mata Redonda | Kapitel 50 Manterola und Vito Alessio | Kapitel 51 Schüsse im Circo Negro | Kapitel 52 In dem die Freunde Domino auf einem Klavier spielen | Kapitel 53 Die Ehre eines Obersten und der Tod einer Witwe | Kapitel 54 Das Massaker von San Ángel | Kapitel 55 Geschichten aus vergangener Zeit: Tomás Wong | Kapitel 56 »Irgendwann wird irgendjemand all das erzählen« | Kapitel 57 In dem die Freunde Domino spielen || Nach dem Roman || Kleines mexikanisches Schattenglossar
»Na los, spielen Sie schon den Doppel-Zweier, verehrter Dichter: Ein Mann Ihres Formats wird sich doch nicht lange bitten lassen«, sagte Pioquinto Manterola lächelnd.
Der Dichter sank in seinem Sessel zurück, nahm den Hut ab und trommelte mit den Fingern gegen den Schädel, als wollte er seinem Kopf den Rhythmus eines Liedes einhämmern, das nur er zu hören vermochte. In der anderen Hand drehte er den Doppel-Zweier, um ihn schließlich mit einer sanften Bewegung über den Marmortisch zu schieben.
»Da haben wir den Salat«, bemerkte der Anwalt Verdugo von der anderen Seite des Tisches und kippte – als wollte er unterstreichen, dass es bei dieser Spielrunde nichts mehr zu gewinnen gab – den Rest seines Tequilas in einem Zug hinunter. Er atmete tief durch und mit einem kaum vernehmlichen »Sie erlauben« genehmigte er sich auch den Rest aus dem Glas des Chinesen.
Der Chinese legte den 2-er/3-er an, wodurch Manterola nun im Besitz des letzten Spielsteins mit einer Drei war.
Siegesgewiss zog Manterola zwei Runden vor Ende des Spiels ein schmutziges Taschentuch aus der Jackentasche, schnäuzte sich geräuschvoll und störte damit die Konzentration der anderen.
Pioquinto Manterola, der Journalist, war noch keine 40 Jahre alt, auch wenn er manchmal aussah, als hätte er sie bereits weit überschritten. Die runde Brille auf der gewaltigen Hakennase, die frühzeitige Glatze mit dem Haarkranz, der unter der englischen Schirmmütze hervorkräuselte, und eine feine, verheilte Narbe, die, an den Rändern noch leicht gerötet, hinter dem linken Ohr begann und sich den Hals hinunterzog, verliehen ihm ein lebhaftes und vordergründig respektables Aussehen, das dem Betrachter einen zweiten Blick abnötigte.
»Ich passe«, sagte der Anwalt Verdugo.
»Das war’s dann wohl, mein Lieber«, sagte Pioquinto Manterola und legte den 2-er/5-er.
Nach und nach erloschen die Lichter in der Bar des Hotels Majestic, in dieser etwas aufpoliert wirkenden, in Sachen Alkohol und Service aber ausgezeichneten Kneipe, die die Wechselfälle des Lebens in die im Herzen von Mexiko-Stadt gelegene Straße Madero Nr. 16 verschlagen hatte. Das letzte Klacken der Billardkugeln hallte durch den Raum. Bald war nur noch eine von der Decke hängende, von einem schwarzen Metallschirm umrahmte Glühbirne an, die jetzt ein schärfer konturiertes Licht auf den Tisch der vier Spieler zu werfen schien.
Der Dichter spielte den 5-er/1-er. Der Chinese Tomás Wong passte. Der Anwalt Verdugo setzte den Doppel-Einer und Manterola den 3-er/4-er.
»Zählen, ihr Versager«, sagte Pioquinto Manterola.
Tomás, der Chinese, stand auf und ging zum Tresen. Erwartungsvoll fixierte er eine einsame Flasche Habanero, die ihn vom Regal aus anlachte. Der Barmann folgte seinem Blick, nahm die Flasche und goss ihm einen kräftigen Schluck ein. Es war ein altes Spiel. In neun von zehn Fällen hatte Tomás Erfolg, vorausgesetzt ein Profi stand auf der anderen Seite des Tresens.
»26, schreiben Sie auf, Sie Zeilenschinder«, sagte der Dichter.
Die Steine tanzten erneut über die Marmorplatte, während der Barmann in prosaischer Weise mit einem schmutziggelben Tuch über den Tresen wischte, um dann nach hinten zu den jetzt leeren Billardtischen zu gehen und sie mit einem Leinentuch abzudecken. Die etwas lächerlich wirkende Kuckucksuhr mit ihrem Schweizer Häuschen und einem Vogel ohne Schnabel, schlug zwei Uhr.
Zwei Uhr, an einem Aprilmorgen des Jahres 1922 zum Beispiel.
Tomás, der Chinese, summte auf dem Weg zurück zu seinem Platz leise ein Lied vor sich hin:
O wundelschönes Tampico
paladiesischel Tlopenhafen
Glanz unseles Landes
wo immel ich bin, deinel weld’ ich mich elinneln.
Und leise wiederholt er: »Deinel weld’ ich mich elinneln.« Seit langem schon sang er dieses Lied, summte es leise, so sanft und leise, dass nur eine deutsche Hure (in einen vor dem Hintergrund des Meeres leicht im Wind wehenden rosa Tüllrock gekleidet), mit der er 1919 in Tuxpan ein paar Monate zusammengelebt hatte, es jemals vernommen hatte.
Der Dichter hatte aufgehört, die Steine zu mischen, und hob die Hände vom Tisch wie ein Koch, der gerade sein Lieblingsgericht zubereitet hat. Fermín Valencia war etwas über dreißig Jahre alt und ein Meter fünfundfünfzig groß. Er war in der Hafenstadt Gijón, Spanien, geboren. Doch seine Erinnerung an die Küste Asturiens war schattenhaft verschwommen, denn bereits im Alter von sechs Jahren war er mit seinem verwitweten Vater, der sich als Drucker in Chihuahua niederließ, nach Mexiko gekommen. Er war kurzsichtig und benötigte eigentlich eine Brille, die er aber so gut wie nie aufsetzte. Stattdessen trug er einen mächtigen Schnauzer, hohe Lederstiefel und ein rotes Halstuch, in Erinnerung an die Zeit zwischen 1913 und 1916, als er unter Pancho Villa in der Norddivision gekämpft hatte. Schwer zu sagen, woran man sich bei diesem Gesicht halten sollte, das manchmal einen kindlich-sanften Ausdruck annahm, manchmal vor Wut erstarrt schien. Schwer auch, Scherz von Bitterkeit, und noch schwerer, den sanftmütigen Jüngling von dem zornigen und scharfzüngigen erwachsenen Mann zu unterscheiden. Etwas im Inneren des Dichters war zerbrochen. Das einzig Konstante war sein Lächeln. Ein Lächeln, das entsprechend dem Auf und Ab des Lebens und den Launen seines Körpers völlig verschiedene Dinge auszudrücken vermochte.
Pioquinto Manterola streckte die Füße unter dem Tisch aus, lehnte sich, die Hände im Nacken verschränkt, zurück und sagte:
»Sie scheinen heute nicht Ihren besten Tag erwischt zu haben, Anwalt.«
»Warten wir’s ab, Zeilenschinder«, entgegnete Verdugo trocken.
Der Chinese setzte sich wieder an den Tisch, sammelte seine Steine ein, baute sie liebevoll in einer Reihe vor sich auf und schob sie mehrmals hin und her, bis er zufrieden war.
Zwei Frauen betraten das Lokal, beide leicht, aber geschmackvoll gekleidet. Doch irgendetwas in ihrer Gestik verriet, dass die zur Schau getragene professionelle Eleganz Blendwerk war.
»Man verlangt nach Ihnen, Anwalt«, bemerkte der Barmann.
Verdugo erhob sich behände von seinem Stuhl und setzte den breitkrempigen Hut auf das rebellische Haar. Er lächelte seinen Mitspielern zu.
»Meine Herren, die Arbeit ruft. Ich muss mein Büro für ein paar Minuten öffnen.«
Seine drei Gefährten beobachteten, wie er sich ein paar Schritte entfernte, die Frauen begrüßte und sie mit galanter Geste zu einem nahe gelegenen Tisch begleitete. Wie von magischer Hand entzündet, leuchtete über dem Tisch die Lampe auf. Die Profis unter den Barmännern wie Eustaquio kannten die Laster und Gewohnheiten ihrer Stammkunden. Drei Tische von den Spielern entfernt, schnippste der Anwalt Verdugo im Kegel des neuen Lichtscheins mit einem leichten, kaum wahrnehmbaren Schlag seines Zeigefingers gegen die Krempe den Hut nach hinten und schickte sich an zuzuhören. Der Barmann nutzte die Unterbrechung und näherte sich dem Spieltisch mit zwei Gläsern und einer Flasche Habanero.
»Herr Ober, wären Sie so liebenswürdig, Ihre Finger nicht in die Gläser zu stecken. Beachten Sie doch bitte die Hygiene«, sagte der Dichter. Eustaquio ignorierte die Bemerkung in olympischem Gleichmut und goss den Likör in die schmutzigen Gläser.
»Womit ist unser Freund denn gerade beschäftigt?«, fragte Manterola die anderen.
»Gestern hörte ich, wie er jemandem erzählte, dass er für die Damen der Nacht eine Petition an den Bezirksgouverneur entwerfe. Stand heute auch in Ihrer Zeitung. Haben Sie den Artikel denn nicht gelesen?«
»Um ehrlich zu sein, nein. In letzter Zeit lese ich nicht mal mehr mein eigenes Zeug.«
»Scheint so, als wollten sie den Rotlichtbezirk nach La Bolsa verlegen. Die Damen und Puffmütter der Straßen Daniel Ruiz, Cuauhtemotzin und Netzahualcóyotl und der Vögelchen-Gasse sind davon wenig begeistert. Unserem Freund Verdugo zufolge behaupten die Damen der Nacht, die Gegend dort sei zu gefährlich. Es gibt dort keine Polizei, keine Kanalisation. Ich glaube, sie werden in Ihren Stadtteil ziehen.«
»Nach Santa María?«
»Genau.«
»Wäre nicht schlecht, sie wären eine bessere Nachbarschaft als so manche Gauner, die jetzt da rumstrolchen«, erwiderte Manterola.
Der Chinese betrachtete seine Mitspieler mit einem abwesenden Gesichtsausdruck. Es war offensichtlich, dass er nicht bei der Sache war, dass er die Pause für eine Reise zu einem anderen Ort genutzt hatte, einem Ort, den er mit seinen Freunden nicht teilte und den er ihnen auch nicht preisgab, den Ort seines Schweigens. Es war ein innerer Ort, an dem sich der 35-jährige Chinese versteckt hielt, der zwar in Sinaloa geboren war, aber trotzdem kein »R«, sondern stattdessen das für Chinesen typische »L« sprach, wie um damit trotzig seine Herkunft unter Beweis zu stellen und gleichzeitig ein Land anzugreifen, in dem die Chinesen absurderweise auf grausame Art verfolgt wurden. Tomás Wong, Ex-Arbeiter eines Erdölkonzerns, Ex-Seemann und Ex-Telefonist, heute Schreiner in einer Textilfabrik in San Ángel, bewohnte viele Welten, unter anderem die seines Schweigens und die des erbittertsten gewerkschaftlichen Kampfes, den das Tal von Mexiko jemals erlebt hatte.
Verdugo verabschiedete sich von den Damen. Sie küssten ihn, tätschelten ihn zärtlich, während sie ein paar letzte Worte miteinander wechselten. Das Licht über dem jetzt verlassenen Tisch erlosch.
»Das nächste Spiel, meine Herren?«, fragte der Advokat der Nacht.
Er brauchte das geschäftige Treiben der Redaktionsräume, um darin für sich eine Insel der Stille zu schaffen, auf der er seine Gedanken nur mit dem rhythmischen (»musikalischen«, würde er sagen) Klappern der Schreibmaschine, einer reichlich mitgenommenen Oliver, und dem Klingelgeräusch kurz vor Erreichen des rechten Zeilenrandes teilte. Er liebte es, dass Chormitglieder singend durch die Redaktion liefen, dass Detailfragen der Kommunalpolitik lautstark debattiert, die Resultate der Pferderennbahn im Stadtteil Condesa, die in einen Parcours für Autorennen umgewandelt worden war, schreiend kommentiert wurden, dass Rufino, der Laufbursche, über seine Zahnschmerzen wehklagte und vielleicht sogar ein von einem Kollegen dem Gespött preisgegebener unglücklicher Liebhaber mit der Pistole in die Decke ballerte und sich zu erschießen drohte.
Für Pioquinto Manterola waren das himmlische Klänge. Nur inmitten dieses allgemeinen Tohuwabohus konnte er sich auf seine Gedanken konzentrieren und seiner journalistischen Arbeit nachgehen. Vor ein paar Jahren hatte er sich einmal nach Tlaxcala zurückgezogen, um einen Roman zu schreiben. Erschlagen von der ländlichen Stille war er nie über die erste Seite hinausgekommen.
So war es nicht weiter verwunderlich, dass Manterola, die ovalen Argentinos kettenrauchend, an diesem Nachmittag eine Seite nach der anderen aus seiner Oliver zog, als würden Chorizos aus einer Wurstmaschine gespuckt.
Er erzählte die herzergreifende Geschichte der Gefangennahme von Mario Lombarc und seiner multinationalen Bande (ihr Chef war ein Franzose und sie hatten einen Kubaner und einen Kolumbianer in ihren Reihen), die in den letzten zwei Monaten die Zimmer der Hotels Coliseo und Ambos Mundos sowie das Juweliergeschäft Paris ausgeraubt hatten, indem sie sich einer besonderen Technik bedient und das Mauerwerk durchbrochen hatten.
Lombarc, ein begnadeter Mechaniker, überließ, wie er eingestand, die Schmutzarbeiten seinen Helfern, während er sich darauf beschränkte, sein Genie beim Knacken der Tresore und Öffnen der Koffer und Truhen unter Beweis zu stellen.
Am meisten hatte Manterola, dessen Bericht auf einem Interview mit Lombarc vor knapp einer halben Stunde basierte (die Story war brandheiß, wie man so schön sagt), jedoch die abschließende Bemerkung des Gauners beeindruckt:
»Ich habe lange Jahre erfolgreich in New York gearbeitet, bevor mir dort der Boden zu heiß wurde, weil mir die Polizei in die Quere kam. In diesem Land ist es jedoch unmöglich, vernünftig zu arbeiten. Und deshalb möchte ich kurz vor meiner Ausweisung meinen Freunden daheim den guten Rat geben: ›Geht nicht nach Mexiko!‹«
Ihm gefiel die Mehrdeutigkeit der Formulierung: der geschickte Hinweis auf Lombarcs Freunde, die nicht nach Mexiko kommen sollten. Weil die hiesige Polizei so gewieft war? Weil es in den Tresoren nichts zu holen gab? Weil das Klima gesundheitsschädlich war? Weil der Straßenverkehr unerträglich war? Das war ihm wirklich trefflich gelungen.
Nachdem er fünf Spalten mit doppeltem Zeilenabstand gefüllt hatte, korrigierte er eilig das Manuskript, spannte die letzte Seite noch mal in die Maschine, um der Arbeit der Sondereinheit der Polizei und ihrem Chef, Valente Quintana, ein verhaltenes Lob auszusprechen und um schließlich mit Großbuchstaben zu titeln:
LOMBARC WARNT SEINE FREUNDE:
KOMMT NICHT NACH MEXIKO!
Energisch trat er die Zigarette auf dem Fußboden aus und eilte in die Druckerei hinunter.
»Ich brauche Platz auf der ersten Seite des Innenteils … mindestens drei Spalten.«
Der Chefredakteur, der gerade bei der Montage des Bleisatzes war, stimmte, nachdem er die Vorlage kurz überflogen hatte, mit einem Kopfnicken zu.
Der Dichter Fermín Valencia stand vor einer Spiegelscherbe, die mit Nägeln an der blassblauen Wand befestigt war, und kämmte sich den Schnauzbart. Zunächst kämmte er ihn nach unten, bis beide Lippen vollkommen bedeckt waren, dann zwirbelte er den Schnauzer mit ein paar Drehbewegungen der Kammzinken buschig nach links und rechts oben.
Er betrachtete sein Werk, doch auch der stattliche Schnauzbart vermochte ihn nicht aus seiner dunklen Depression zu reißen. Er warf den Kamm aufs Bett, das über und über von Büchern, dreckiger Wäsche, Stiefeln, einem 45-er Colt nebst Patronengurt und jeder Menge leerer Whiskyflaschen (Old Taylor, Old Continental, Clear Brook – allesamt trotz ihrer pompösen Namen in der Nationalen Brennerei Piedras Negras in Coahuila gebrannt und abgefüllt) bedeckt war. Frustriert betrachtete er das Durcheinander. Den Rest der Nacht hatte er in einem Sessel am Fenster geschlafen, um sich das Aufräumen zu ersparen, nachdem er nach einer langen Partie Domino und einem ausgedehnten Spaziergang um fünf Uhr morgens nach Hause zurückgekehrt war.
Um dem trostlosen Anblick zu entkommen, schloss er die Augen, stellte sich blind wie ein Kind, wankte mit ausgestreckten Armen durch den Raum, bis er den Türknauf ertastete, ihn drehte und nach draußen verschwand.
Als er an der Wohnung im Parterre vorbeikam, fiel ihm auf, dass der Hausbesitzer ihn schon seit Tagen nicht mehr mit seinen nervtötenden Mahnungen belästigt hatte. Nicht, dass er jetzt das Geld hätte, um die Miete zu bezahlen, mit der er gut anderthalb Monate im Rückstand war, oder dass er etwa zeigen wollte, dass es in all diesem Chaos doch ein bisschen Ordnung gab, es war einfach die Tatsache, dass das Auftauchen des wutschnaubenden Don Florencio ihm jedes Mal willkommenen Anlass bot, seine spitzen Erwiderungen und unter die Haut gehenden Scherze loszuwerden.
»Don Florencio?«, rief er leise und klopfte gegen die Tür.
Niemand antwortete und so ging der Dichter weiter.
Im Park spielte die Militärkapelle des Artillerieregiments – »für die ehrenwerte Bevölkerung von Tacubaya« – Echos aus Sonora, gefolgt von Castañedas Álvaro-Obregón-Marsch, um mit einer Auswahl aus Aida zu schließen, wie das Programm feierlich verkündete.
Der Dichter, wohlbewandert in der Kunst, kostenlose Vergnügungen zu ergattern, zu denen zweifelsohne die Konzerte der Militärkapelle unter freiem Himmel zählten, bevorzugte die Band des Generalstabs des Präsidenten und die Polizeikapelle des Bundesdistrikts, die zu Zeiten des Polizeichefs Ramírez Garrido so inbrünstig die Internationale zum Besten gegeben hatte, dass sie sie auch heute noch spielte, um ihre Instrumente einzustimmen – und schließlich war da noch das Orchester der Militärschule. Er schlenderte zwischen Gruppen von Arbeitern der nahe gelegenen Munitionsfabrik, Bankangestellten und Fräuleins mit aufgespannten Sonnenschirmen umher, bis er auf die Gruppe von Don Alberto, dem Fleischer, stieß, die sich, um dem Konzert zu lauschen, vier Stühle in den Park mitgenommen hatte.
»Nehmen Sie Platz, Don Fermín«, sagte der Fleischer.
»Danke, Don Alberto, aber ich komme rein zufällig hier vorbei. Ich versuche nur, mich ein wenig abzulenken und meinen Ärger abzuschütteln«, antwortete der Dichter, während er aus den Augenwinkeln Otilia, der Tochter des Fleischers, zublinzelte, der die Ehre zukam, kürzlich von den Arbeitskollegen der Patronenfabrik Nr. 3 zur »Sympathischsten Arbeiterin des Jahres« gewählt worden zu sein.
Seine hochhackigen Stiefel bewegten sich im Rhythmus der Marschmusik. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen wich er den Passanten aus und warf ab und an flüchtige Blicke auf die verschwitzten Militärs, und ganz von Weitem auch auf Otilia (mit den beiden großen gelben Haarschleifen an ihren Zöpfen) und die tobenden Kinder, die versuchten, ein kleines Flugzeug in die Luft steigen zu lassen, das jedoch nur Hüte von den Köpfen riss und gegen die Bäuche liebenswerter Kleinbürger prallte.
»Die Sonne, Geschenk aller Tage / die wir gerne bezahlten / um sie zu sehn / wär’ unser Hut nicht leer«, formulierte der Dichter und versuchte, sich einige der Wörter einzuprägen, eine Zeile vielleicht, um sie irgendwann später einmal an den Mann bringen zu können.
Während für andere der Akt des Schreibens darin bestand, Papier mit Leben zu füllen, war für den Dichter das Leben ein Berg unsichtbaren Papiers, das er unentwegt mit seinen Gedanken beschrieb, die er des Nachts oder im frühen Morgengrauen unter Mühen versuchte auf reales Papier zu bannen.
An einem Verkaufsstand mit kalten Getränken in der Nähe des Pavillons, in dem die Kapelle spielte, ging er vor Anker.
»Was darf’s sein, Chef«, fragte der Mann am Stand.
»Ein Limonensaft, Simón.«
Der Mann, dessen Ziegenbart im Rhythmus des Sprechens hin- und herwackelte, gab ihm das Glas und machte einen Strich auf einen zerknitterten Zettel. Er hatte sich mit dem Dichter auf eine Bezahlung in Form von 25 Erfrischungsgetränken für die Verse geeinigt, die in geschwungenen Lettern am Stand prangten:
Bei Simón gibt’s die besten Drinks
Jeder merkt es, der sie trinkt.
Wer das Gegenteil behauptet
Ist in seinem Hirn verkrautet.
Der Dichter nippte an seinem Saft und schaute zur Kapelle hinüber, die sich über die letzten Takte des Álvaro-Obregón-Marsches hinwegquälte. Eine plötzliche Bewegung zog seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein Mann, dessen Gesicht der Dichter nicht sehen konnte, näherte sich dem Posaunisten über die Treppe auf der Rückseite der Bühne, zog eine kleine Pistole aus der Westentasche, setzte sie ohne zu zögern an die Schläfe des Posaunisten und drückte ab. Der Mörder starrte ins Publikum und für einen kurzen Moment kreuzte sich sein Blick mit dem des kurzsichtigen Dichters, der die Gesichtszüge des Mörders nicht erkennen konnte. Fermín Valencia rieb sich die Augen, während die Militärkapelle ohne zu bemerken, was in der letzten Reihe geschehen war, unbekümmert weiterspielte. Mit einem Satz sprang der Mörder über die Brüstung der Bühne und lief zwischen den Gruppen der Spaziergänger davon. Der Dichter griff instinktiv zu seinem Gürtel, nur um festzustellen, dass er keine Pistole dabeihatte, während er sah, wie der Mann die Straße überquerte und in den Gassen von Tacubaya verschwand. Mittlerweile war die Musik verstummt und die Schreie des Publikums traten an ihre Stelle. Während die Musiker sich um den ermordeten Posaunisten scharten, versuchte der Dichter zu rekonstruieren, was er soeben gesehen hatte. Ein Mann war auf die Bühne gestiegen, hatte sich von hinten dem Posaunisten genähert und ihn erschossen. Der Mann hat eine Weste getragen. Das Gesicht? Kein Gesicht, nur eine Schirmmütze, wie sie die Chauffeure eleganter Autos tragen. Und noch etwas: Er hatte mit links geschossen. Ein Linkshänder also. Was für eine Geschichte für Pioquinto Manterola. Wenn doch nur, verdammt noch mal, seine Augen ein bisschen besser wären …
Er näherte sich den Stufen der Bühne und gelangte unter Einsatz seiner Ellenbogen hinauf. Trotz seiner geringen Körpergröße war der Dichter eine Respekt einflößende Erscheinung, sei es aufgrund seines mächtigen Schnauzers oder des Ausdrucks tiefer Verzweiflung, der gelegentlich in seinen Augen aufschien.
Gebannt beobachtete er, wie das Blut aus dem kleinen, dunkel geränderten Loch in der Schläfe sickerte und den Boden des Pavillons benetzte. Er blickte in die weit aufgerissenen Augen des Toten: »Das Gesicht des Todes« – wie oft hatte er ihm schon ins Antlitz gelickt! Nie war er sich schlüssig geworden, ob sich im Blick des Toten der Ausdruck des letzten grausamen Schmerzes spiegelte, des endgültigen Zerbrechens des Körpers oder die erste Vorahnung des Jenseits. In Anbetracht dieser Ungewissheit war der Dichter vorsorglich zum Atheismus konvertiert, denn irgendetwas sagte ihm, dass das Gesicht des Todes etwas mit dem ersten Anblick des Antlitz’ Gottes zu tun haben musste, und sollte dies so sein, wollte er mit dieser Person lieber nichts zu tun haben.
»Lassen Sie mich durch!«, sagte er zu zwei unter Schock stehenden Trompetern. »Wie ist der Name des Verstorbenen?«
»Feldwebel José Zevada«, antwortete der Hauptmann und Dirigent der Kapelle, der krampfhaft seinen Taktstock umklammert hielt.
Der Dichter beugte sich über den Toten und schloss dessen Lider, damit die Augen ihn nicht weiter anstarrten. Dann durchsuchte er die Taschen des Toten und brachte laut aufzählend zum Vorschein:
»Ein benutztes Taschentuch, das Foto einer gut aussehenden jungen Dame, ein Stopfei, 1,50 Pesos in Münzen …«
»… eine Silbergabel, ein paar Zeitungsausschnitte, von einem Gummiband zusammengehalten, ein Saphirring, zwei diamantbesetzte Ringe aus 720-er Silber, zwei Ringe mit großen Türkissteinen …«
»Dieser Posaunist scheint ein wandelnder Juwelierladen gewesen zu sein«, bemerkte der Anwalt Verdugo und spielte den 2-er/3-er. Er versuchte, den Chinesen zu verleiten, seinen vorletzten Sechser auszuspielen, um dem Journalisten Manterola die Möglichkeit zu verschaffen, den Dichter in die Enge zu treiben. Der Chinese ahnte die Falle und spielte einen Stein mit einer Eins.
»Und worum ging es in den Zeitungsausschnitten, mein unfreiwilliger Helfer?«, fragte Pioquinto Manterola, unterbrach für einen Moment seine Notizen und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Einem Magier gleich bewegte der Dichter seine Hand elegant durch die Luft, um die erwähnten Zeitungsausschnitte mit zwei Fingern aus seiner Westentasche hervorzuzaubern und mit theatralischer Geste auf den Tisch sinken zu lassen.
»Da sind sie.«
»Respekt, ein wahrhaft tüchtiger Gehilfe«, sagte Verdugo.
Der Journalist spielte den 3-er/5-er, sehr zum Ärgernis des Anwalts. Dieses Mal würde er der Gelackmeierte sein, sie würden ihm mit den Fünfern den Garaus machen.
»Konzentrieren Sie sich, Mann«, ermahnte er Manterola. »In der Stunde der Wahrheit arbeitet man nicht.«
»Verzeihen Sie, mein Lieber«, entgegnete Manterola, während der Dichter grinsend den Doppel-Fünfer ausspielte.
Der Journalist griff sich die Zeitungsausschnitte, der Anwalt Verdugo setzte aus, der Chinese spielte den 2-er/4-er, und der Journalist ging mit einer Drei in die Offensive.
»Haben Sie die Artikel gelesen?«, fragte er.
»Natürlich! Niemand ist neugieriger als ich.«
»Ist Ihnen schon aufgefallen«, fragte der Journalist, »dass man sich in dieser Stadt nicht mehr unbewaffnet bewegen kann? Wir hatten die alte Gewohnheit schon fast abgelegt.«
»Diese Gewohnheit werde ich nie ablegen«, erwiderte der Anwalt, indem er seine 38-er Automatik zum Vorschein brachte. »Hab’ ich für 32 Dollar bei La Universal gekauft. Jedes Jahr lasse ich sie einmal gründlich reinigen, und ein Mal im Monat nehme ich sie selbst auseinander und fette sie ein.«
»Was haben Sie dabei?«, fragte der Journalist den Chinesen und kümmerte sich nicht weiter um das Spiel, das er sicher unter Dach und Fach wusste. Ohne weiter auf die Frage einzugehen, zog der Chinese ein schmales Schnappmesser aus seinem Stiefel und ließ eine 15 Zentimeter lange, glänzende Stahlklinge aus dem Griff schnellen.
»Mit so etwas pflegte sich mein General Pancho Villa die Fingernägel zu reinigen«, bemerkte der Dichter.
»Dann muss el wohl ziemlich viel Dleck daluntel gehabt haben«, antwortete der Chinese, der ganz auf das Spiel konzentriert war, ohne eine Miene zu verziehen.
»Das Spiel ist aus«, erklärte der Journalist und knallte seinen letzten Stein auf den Tisch.
Das Echo hallte durch die fast leere Kneipe und mischte sich mit dem lautstarken Lachen von drei Offizieren, die am Tresen standen und tranken.
»Woher haben Sie nur Ihren Akzent, Tomás, schließlich sind Sie in Sinaola geboren«, sagte der Dichter und erhob sich.
Verdugo zählte die Punkte und schrieb sie in verschnörkelten Zahlen in ein Notizbuch, das er immer bei sich trug.
Manterola beäugte die drei jungen Militärs, zwei Hauptleute und ein Leutnant, sie entstammten der jüngsten Revolutionsgeneration. Wahrscheinlich hatten sie noch an einem der letzten Feldzüge gegen die Zapatisten teilgenommen, vielleicht auch an der Rebellion von Agua Prieta, durch die sich Obregón die Präsidentschaft gesichert hatte und bei der sie sich ihre Schulterklappen verdient haben könnten. Sie waren ziemlich betrunken und ihre Gesten wirkten theatralisch schroff. Sie gefielen ihm nicht. Militärs und Uniformen gefielen ihm grundsätzlich nicht. Er teilte diese Abneigung mit seinen Tischgenossen, wenn sie auch unterschiedliche Motive haben mochten.
»Und wie haben Sie es geschafft, bis zu dem Toten vorzudringen?«, fragte er den Dichter.
»Sagen wir, die Leute spüren etwas von meiner inneren Kraft, trotz meiner geringen Körpergröße«, antwortete der Dichter und setzte sich auf die Rückenlehne seines Stuhls. »Außerdem habe ich das allgemeine Durcheinander ausgenutzt.«
Während Verdugo die Steine mischte, stand der Chinese auf, durchquerte den Raum und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tresen.
Der Wirt erriet seinen Wunsch, folgte bestätigend seinem Blick und griff nach der Flasche Habanero.
»Werden hier etwa Asiaten bedient?«, fragte einer der Offiziere.
»Es heißt, sie seien das Dreckigste, was auf Gottes Erdboden herumläuft. Es heißt, dass sie in Drecksbuden wohnen und sich den Abfall mit den Ratten teilen. Sie sollen auf dem Tresen schlafen«, ergänzte der Leutnant und strich sein Schnurrbärtchen glatt. Die Offiziere hatten den ersten Teil des Abends damit zugebracht, oben im Festsaal zweitklassigen Schnaps zu erstklassigen Preisen zu trinken. Offensichtlich hatten sie nicht die geringste Ahnung von den hiesigen Sitten und Gebräuchen. Das Majestic war ein Hotel zweier Welten, die von unten und die von oben trafen nie zusammen, sie mochten sich nicht. Oben mochte schon mal María Conesa singen oder ein Minister zu Abend essen, während unten, wenn die Köpfe über den Billardtischen rauchten, ein halbes Dutzend der verrufensten Hispanier versammelt war, denen mehr Blut an den Händen klebte als dem gesamten Rest von Mexiko-Stadt – einer Stadt, die eine Blutschuld aufwies, die selbst während eines noch so langen Lebens nicht zu begleichen war.
Der Chinese blickte von einem zum anderen. Sein Ausdruck der Verachtung wurde von den betrunkenen Offizieren als Angst missverstanden. Eine verhängnisvolle Täuschung.
»Haben die Hellen gal keine Medaillen?«, fragte er.
»Das mexikanische Heer führt seine Auszeichnungen nicht spazieren«, antwortete einer der Hauptleute. Am Spieltisch tauschten der Dichter und der Journalist einen kurzen Blick aus. Verdugo war aufgestanden und ging in Richtung Toiletten in der Nähe des Kneipeneingangs. Unbemerkt öffnete er zwei Knöpfe seiner Weste, um seine Pistole ziehen zu können, und entsicherte sie in der gleichen fließenden Bewegung.
»Abel haben Sie zu Hause ilgendeine Medaille?«, fragte der Chinese, während er die Militärs fixierte.
»Meine Kameraden besitzen jeweils zwei Auszeichnungen für Tapferkeit und ein Verwundetenabzeichen«, plapperte der Leutnant, der sich etwas unwohl fühlte, auf die absurde Frage des Chinesen eingegangen zu sein.
»Tomás«, rief der Journalist vom Tisch herüber. »Ohne Blutvergießen, bitte!«
Der Anwalt, der mit dem Rücken zum Tresen stand, war inzwischen vom Spiel mit den Dominosteinen zum Revolver übergegangen. Der Dichter hielt seinen Blick fest auf die Offiziere geheftet, die Situation abwägend.
»Meine Herren, würden Sie bitte die Freundlichkeit haben, ihre Getränke zu bezahlen«, sagte der Wirt, der mitbekommen hatte, dass sich etwas zusammenbraute.
»Ich habe das nul geflagt, weil ich Ihnen in dem Fall, dass Sie ilgendwelche Medaillen besitzen, volschlagen könnte, sie ihlen Scheißmütteln an den Alsch zu heften«, sagte der Chinese.
Fast im selben Moment musste er einen Faustschlag des Leutnants abwehren, indem er ihm, als führte er eine Axt in der Hand, einen Hieb auf den Unterarm versetzte. Der Anwalt zog gleichzeitig seine Automatik und rief mit Baritonstimme:
»Sauber spielen! Wenn jemand eine Pistole zieht, mache ich ihn kalt.«
Die Hauptleute schauten zu ihm hinüber, während der Chinese dem gleichen Impuls folgend einen fürchterlichen Faustschlag im Gesicht des Leutnants landete. Während er zusammenbrach, spuckte der Leutnant zwei blutverschmierte Zähne aus. Einer der Hauptleute verharrte bewegungslos, die Augen auf Verdugo gerichtet. Der andere näherte sich, um seinem Kameraden zu helfen, der Blut und Schleim spuckend am Tresen auf den Boden sackte. Der Chinese schnitt ihm den Weg ab und rammte ihm den Kopf in den Magen. Der Dichter hatte sich derweil erhoben, ging ruhigen Schrittes zu dem Mann am Boden und trat ihm auf die Hand, mit der dieser gerade versuchte, nach seiner Pistole am Gürtel zu greifen.
Der in den Magen getroffene Hauptmann krümmte sich am Boden und übergab sich. Der Chinese näherte sich dem dritten Mann, der die Flasche Habanero vom Tresen genommen hatte und sie vor sich hin und her schwang, während er sich rückwärts Richtung Tür bewegte. Doch von hinten näherte sich ihm der Anwalt und versetzte ihm mit dem Lauf der Pistole einen heftigen Schlag gegen die Schläfe. Der Typ brach zusammen.
»Entschuldige, Tomás, aber du warst kurz davor, ihm ernsthaft wehzutun«, sagte er zum Chinesen.
Der Barmann kam hinter dem Tresen hervor und schnappte sich die Flasche, um den Rest des guten Habanero vor dem Auslaufen zu retten.
Der Chinese ging sich die rechte Hand reibend zur Bar zurück.
»Sie haben die Party verpasst«, wandte sich der Dichter an den Journalisten, der weiter die Dominosteine mischte.
»Keineswegs. Ich hab mich umgedreht, als die Schlägerei begann. Ich hab ein Weilchen den Coolen gespielt. Ich kenne Tomás seit drei Jahren, habe ihn drei oder vier Mal bei so was erlebt, immer mit dem gleichen Ergebnis. Ich sage Ihnen, dieser Mann ist aus Eisen. Und er hat eine Art, mit den Händen zu kämpfen, die mich jedes Mal in Erstaunen versetzt.«
»Mag sein, aber wenn Pistolen im Spiel sind, gewinnen nicht immer die Besten«, erwiderte der Anwalt Verdugo, der in diesem Moment an den Tisch kam.
»Nein, aber Ihre hat alle in Schach gehalten«, stimmte der Dichter zu.
Der Chinese rieb sich die Hand, während ihm der Barmann ein Glas des geretteten Habanero servierte.
»Könnten Sie Wassel in eine Schüssel gießen und es mil blingen?«, bat der Chinese.
»Was mich echt auf die Palme bringt«, sagte der Dichter, »sind diese Jüngelchen, die sich überlegen fühlen, sobald sie eine Uniform tragen. Sie scheinen zu denken, dass Zivilisten Mexikaner zweiter Klasse sind.«
»Aber ist Ihnen denn noch nicht aufgefallen, dass wir genau das sind? Mexikaner zweiter Klasse. Verlangen Sie von diesem Land nicht mehr, als es Ihnen geben kann«, sagte der Anwalt und zündete sich eine seiner kurzen Zigarren an.
Zwei der Militärs lagen ohnmächtig am Boden, der Dritte kniete vor dem Tresen und erbrach sich. Der Chinese nahm die Schüssel entgegen und tauchte die angeschwollene Hand ins Wasser. Der Barmann kam hinter dem Tresen hervor und nahm den Bewusstlosen und dem Kotzenden die Revolver ab.
»Machen wil weitel?«, fragte der Chinese, als er mit seiner Schüssel an den Tisch kam.
Der Dichter trocknete sich mit seinem Halstuch die verschwitzten Hände ab. Angesichts der Gewalthandlungen in unmittelbarer Nähe hatte er einen spontanen Schweißausbruch nicht verhindern können.
»Mexikaner zweiter Klasse sollen wir sein? Dritter Klasse würde ich sagen. Die der zweiten Klasse sind vollauf mit dem Putzen der Stiefel von denen der ersten Klasse beschäftigt. Was denken Sie, wer die Revolution verloren hat? Die Anhänger Porfirio Díaz’ etwa? Die haben ihre Töchter doch längst an die Offiziere Obregóns verheiratet. Die Parias haben die Revolution verloren. Die Bauern, die sie gemacht haben. Wir haben sie verloren, ohne sie selbst aktiv gemacht zu haben«, sagte der Journalist.
»Ohne sie gemacht zu haben, sagen Sie? Ich für meinen Teil bin lange genug mit Villa geritten, um mir meine Sporen verdient zu haben«, entgegnete der Dichter.
Der Journalist knöpfte bedächtig Weste und Hemd auf. Eine weißlich blasse Narbe lief quer über seine Brust. Er berührte sie vorsichtig, fast wie etwas Fremdes.
»Zählen auch die Verletzungen, die man sich als Zuschauer erworben hat?«
»Sie zählen«, antwortete der Dichter.
Der Chinese steckte seine Hand in die Schüssel und spreizte vorsichtig die Finger.
»Gebrochen?«, fragte Verdugo.
Der Chinese zuckte die Achseln.
»Mexikaner dritter Klasse«, insistierte der Journalist.
»Keine Sorge«, sagte Verdugo und zog sieben Steine aus dem Haufen. »Es gibt noch Mexikaner vierter Klasse. Haben Sie nicht gelesen, dass sich neulich 15.000 Katholiken versammelten, um Agustín de Iturbide zum 100. Jahrestag der Gründung des Kaiserreichs die Ehre zu erweisen?«
»Nein, ich mache mir keine Sorgen. So ist es hier nun mal. Wenn wir Mexikaner dritter Klasse alle abhauen würden, hätte der Rest bald nichts mehr zu essen.«
»Wenn Sie damit auf meine Arbeit anspielen wollen, liegen Sie ziemlich daneben«, erwiderte der Dichter.
»Wahrscheinlich will ich einfach nur mal Dampf ablassen. Und im Gegensatz zu Tomás kann ich meinen Gefühlsstau nicht durch das Verprügeln von Militärjüngelchen abbauen.«
Inzwischen hatten sich die drei in bedauernswertem Zustand befindlichen Militärs mit Hilfe des Barmanns wieder aufgerappelt und strebten dem Ausgang zu. Der eine drehte sich noch einmal um und versuchte eine letzte Drohung auszustoßen, was er unter dem brüderlichen Vorwärtsschubsen des Barmanns dann aber doch lieber sein ließ.
Der Chinese streckte langsam einen Finger nach dem anderen seiner rechten Hand aus, die trotz des kühlenden Wassers unförmig angeschwollen war.
»Da sehen Sie, was passiert, wenn man Militärs verprügelt, mein Lieber«, sagte der Dichter. »Dabei war’s so wild nun auch wieder nicht. Schließlich hat er nur gesagt, Sie würden auf Theken schlafen. Nach Meinung meines Freundes, des berühmten Journalisten Pioquinto Manterola, sind wir doch alle sowieso nur Mexikaner dritter Klasse. Was macht es da schon, wenn Sie auf der Ladentheke schlafen … Ich schlafe im Sessel, und dieser Herr da schläft gar nicht«, fuhr er fort, indem er auf den Anwalt zeigte. »Der ist nämlich ein Vampir.«
»Kommen Sie raus oder ich?«, fragte Verdugo den Journalisten.
Die Kuckucksuhr zwitscherte drei Uhr morgens.
Mit vollem Namen hieß ich Alberto Verdugo y Sáez de Miera, aber man wird nicht 35 Jahre alt, ohne den großen Teil eines so langen Namens einzubüßen. So stört es mich nicht, wenn ich für andere heute schlicht der Anwalt Verdugo bin. Es hat einen gewissen Charme, den übel beleumundeten Namenszusatz als Spitznamen zu tragen: Verdugo –