Der Schatz von Njinjo - Fritz Gleiß - E-Book

Der Schatz von Njinjo E-Book

Fritz Gleiß

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Beschreibung

Hannes Wabaye, am Hungertuch nagender Wirtschaftberater aus Moshi am Kilimanjaro, ist pleite. Da kommt ihm die Geschichte eines deutschen Touristen, der von einem sagenhaften Familienschatz aus der Kolonialzeit berichtet, gerade recht. Finanziert und beraten von seiner geschäftstüchtigen Tante Honorata, heftet sich Wabaye an dessen Fersen und gerät in einen Sumpf aus Tod, Korruption und Gier. Über Zanzibar und Dar es Salaam reist er bis ins Jahrhunderte alte Kilwa ans Ende der Welt. Nie allzu weit entfernt: Gangster des Dar es Salaamer Schieberkönigs, gefährlicher noch als Superintendent Makaïdi von der Mordkommission in Dar es Salaam. "Nicht gerade unbestechlich, aber fähig", wie ein deutscher Förderer ihn beschreibt. - Die Geschichte basiert auf einem wahren Fall und beschreibt auf mehr als 370 Seiten ebenso humorig wie farbenfroh aktuelle Lebensverhältnisse in einem der ärmsten, aber auch zivilsten Länder Afrikas. Sie taugt so auch als Vorbereitung auf Reisen zu den Weltkulturerbe-Stätten Kilwa und Stonetown (Zanzibar), ins Weltnaturerbe der Serengeti und des Ngorongoro-Kraters ebenso wie für Selbstfindungstrips auf den Kilimanjaro.

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Seitenzahl: 513

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Fritz Gleiß

Der Schatz von Njinjo

Hannes Wabayes erster Fall

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Imprint

Die wichtigsten Personen in der Reihe ihres Auftritts

1. Wazungu sterben an Silvester

2. Superintendent Makaïdi ermittelt

3. Hannes feiert Weihnachten

4. Kaishe Wabayes Kunde

5. Hannes geht auf Spurensuche

6. Hannes kommt auf Ideen

7. Schütte packt

8. Hannes schließt einen Pakt

9. Hannes verreist

10. Hannes kommt kaum hinterher

11. Hannes wünscht, er wär’ Tourist

12. ... und die Sache ist erledigt

13. Petermann verschwindet

14. Neujahrsfreuden

15. Die missglückte Verhaftung ist rasch vergessen

16. Hannes im Glück

17. Hannes sichtet Akten

18. Der Generaldirektor hat Angst

19. Hannes oder der letzte Grund

20. Hannes ist zurück

21. Petermann gerät ins Fadenkreuz

22. Auch Honorata kommt zurück

23. Petermann hat Begegnungen

24. Petermann reißt sich zusammen

25. Hannes kommt zu spät

26. Hannes lernt, wie Honorata rechnet

27. Superintendent Makaïdi will gewinnen

28. Superintendent Makaïdi wütet

29. Makaïdi macht Druck

30. Zur Lippe gerät unter Druck

31. Petermann reist

32. Petermann logiert in der Vergangenheit

33. Petermann wird gebissen

34. Petermann steht früh auf

35. Hannes vor dem Ende der Welt

36. Petermann inspiziert die Gegenwart

37. Auch Petermann gelangt vors Ende der Welt

38. Makaïdi gerät unter Druck

39. Der Sup will verreisen

40. Makaïdi fliegt

41. Makaïdi legt eine Falle

42. Hannes wagt sich zu weit vor

43. Petermann hält Ausschau

44. Petermann wartet

45. Petermann sucht ein Schiff

46. Hannes taucht auf

47. Die Expedition

48. Die Suche

49. Drei Schocks

50. Hannes muss geholfen werden

51. Rückkehr in den Hafen des Friedens

52. Honorata schwant Böses

53. Hannes soll gut Wetter machen

54. Schöne Grüße aus Ujerumani

Glossar und historische Personen

Impressum neobooks

Imprint

Hannes Wabaye, Möchtegerndetektiv aus Moshi am Kilimanjaro, ist pleite. Da kommt ihm die Geschichte eines deutschen Touristen, der von einem sagenhaften Familienschatz aus der Kolonialzeit berichtet, gerade recht. Finanziert und beraten von seiner geschäftstüchtigen Tante Honorata, heftet sich Wabaye an dessen Fersen und gerät in einen Sumpf aus Tod, Korruption und Gier. Über Zanzibar und Dar es Salaam reist er bis ins Jahrhunderte alte Kilwa ans Ende der Welt. Nie allzu weit entfernt: Superintendent Makaïdi von der Mordkommission in Dar es Salaam. „Nicht gerade unbestechlich, aber fähig“, wie ein deutscher Förderer ihn beschreibt.

Fritz Gleiß, Jg. 1959, war u.a. stellvertretender Chefredakteur der Monatszeitschrift „Africa live“ und schrieb mehrere politische Reiseführer zu Ostafrika. Er lebt als Journalist und Kulturmanager in Hamburg.

Copyright: © 2013 Fritz Gleiß, Hamburg, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Die wichtigsten Personen in der Reihe ihres Auftritts

Finn Schütte – deutscher Enkel auf Schatzsuche, stirbt zu früh

Jens Petermann – Schüttes Freund, Architekt aus Rosengarten bei Hamburg

Singai Roh – Direktor des tanzanischen Nationalarchivs

Makaïdi – Superintendent der tanzanischen Staatspolizei

Per zur Lippe – Botschaftssekretär in Dar es Salaam

Oscar Kambona – Hotelchef

Wilfrem Fundikira – Makaïdis bester Assistent, Inspektor

Sergeant Nehemiah Baregu – zweitbester Assistent

Hannes Wabaye – Hauptperson, Wirtschaftsberater und künftiger Detektiv aus Moshi am Kilimanjaro

Kaishe Wabaye – Hannes Vater

Manhatten Wabaye – Hannes kleiner Bruder, Bergführer

Friedbert Schütte – Schüttes Großvater

Honorata Rwebusoya – Hannes patente Tante

Sabine Kortweit – Historikerin am tanzanischen Nationalarchiv

Lore Freifrau zur Lippe – Pers Gattin, geb. von und zu

Majorie Kabako – erst Honoratas, dann auch Hannes Freundin

Nyaucho Kabako – Majories Vater

Salmin Kolimba – Schieberboss in Dar es Salaam

Karsten Härtling – ltd. Mitarbeiter bei Safety First, Arbeitgeber Honoratas

Anna Härtling – Karstens Frau

Jakaya Ulotu – Hafenerweiterer in Lindi

Sam Masisi – Kneipier und Hafenmeister in Kilwa

Yussufu Hamad – frischvermählter Kapitän

Wilhelm Fritz Broder Muller – Dorfältester von Njinjo

Bali Ram Singh – Geschäftsmann und Anwalt aus Kilwa

1. Wazungu sterben an Silvester

Mittwoch, 31. DezemberUnvermittelt knarzt es aus dutzenden Lautsprechern, dann legt sich der Ruf des Muezzins wie ein mahnender Klangteppich über die Stadt: „Allahu akbar!“. Gott ist groß, offenbar gibt es endlich wieder Strom. Melodisch schön, doch schreiend laut, verstört dieser Singsang Petermann nun schon seit Tagen. Spätestens jetzt dürfte sein Freund wach sein. Tatsächlich plätschert hinter der Tür zu ihrem Zimmer leise Wasser.

„Finn?“, fragt Petermann beim Eintreten in den kleinen Flur. Keine Antwort. Hört der ihn unter der Dusche etwa nicht? Beunruhigt klopft Petermann gegen die Badezimmertür. Nichts passiert. Er drückt die Klinke, doch die Tür rührt sich nicht. Abschließen lässt sie sich nicht, wieso also klemmt das verdammte Ding auf einmal so? Als es ihm endlich mit Gewalt gelingt, den Eingang einen Spalt breit aufzudrücken, knackt es, als berste ein Ast im Sumpf. Knöchelhoch schwappt ihm Wasser entgegen. Petermann schwant Böses.

„Finn?!“ Viel zu laut ruft er noch einmal nach dem Freund. Mit Gewalt presst er sich nun gegen die Tür und zwängt sich ins kleine Bad. Vor ihm liegt merkwürdig verkrümmt ein kor­pulenter Mann auf dem Boden und verstopft den Abfluss: Finn. Instinktiv greift Petermann über den leblosen Körper und dreht die Dusche ab: kein Atmen, kein Puls, kein Stöhnen, kein Reflex. Aus Finns blutleerem Gesicht starren ihn weit aufgerissene Augen an. Jens Petermann muss kotzen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft vor drei Tagen war er heute Morgen aufgestanden, um sich ein wenig umzuschauen in Dar es Salaam, Tansanias größter Stadt, dem „Hafen des Friedens“, und prompt sitzt er in der Scheiße.

Finn Schütte, gerade vierzig und ein deutliches Stück zu schwer, liegt auf der Seite. Der linke Arm zeigt in unmöglichem Winkel an die Decke. Eine klaffende, vom Duschwasser ausge­waschene Platzwunde zieht sich mitten durch seinen Bürsten­schnitt. Der fast trockene Nacken ist blutverschmiert.

Heute Morgen hatte Finn endlich einmal ausschlafen wollen, deshalb war er überhaupt im Hotel geblieben. Die letzten Tage hatten ihn geschlaucht. Noch vor einer Woche war er auf dem Kilimanjaro herumgeklettert. Und nun diese brütende Hitze hier an der Küste mitten im Winter!

Kurz nach Weihnachten hatte sich Jens Petermann mit seinem Freund Finn in der ehemaligen Hauptstadt von Deutsch-Ostafrika, Dar es Salaam, getroffen. Tansanias mit Abstand größte Stadt ist bis heute zweiter Regierungssitz, ein rasant wachsendes Geschäfts- und Verkehrszentrum, ein heißfeuchter Moloch direkt am Indischen Ozean: tolle Bucht, Millionen Squatter, viel Verfall. Petermann, anders als Schütte schlank und über einsachtzig groß, hatte zu Hause einen Riesenkrach riskiert, die Silvesterparty fahren lassen und sich vier Wochen unbezahlten Urlaub ge­nom­men, um mit seinem Freund Finn auf Schatzsuche zu gehen und dessen Familienschatz zu finden. Ein Kindheitstraum. Sonntagmittag war er in Hamburg los­ge­flogen, über Amsterdam nach Nairobi, Montagmorgen hatte Finn ihn am Julius Nyerere International Airport in Dar es Salaam abgeholt, wie vereinbart.

Beim Aussteigen aus dem Flugzeug war sich Petermann vorgekommen, als laufe er gegen eine Wand, so dick, so schwül war die Luft, die vor der Kabinentür stand. Halb bewusstlos hatte er die Einreisekontrolle über sich ergehen lassen, „Karibu! Welcome! Pass­port, please!“. Freundlich, lax, problemlos – auch beim Zoll war alles reibungslos gelaufen, trotz seines recht unhandlichen Gepäcks. Vielleicht war es tat­sächlich eine gute Idee gewesen, den Metalldetektor in der Golftasche seiner verstorbenen Oma zu verstauen. Mit dem Taxi hatten die beiden Freunde danach eine gefühlte Ewigkeit im stop-and-go-Verkehr auf der Pugu Road verbracht, immer viel zu weit links, ehe sie ihr heruntergekommenes Hotel erreichten, das „Continental“ im Stadtkern – großer Name, nur kein Stern.

Seitdem hatte Petermann mehr oder weniger durchgängig erschlagen unterm Ventilator auf dem Bett gelegen, während sein Freund Finn erzählte. Die rappelnde Klimaanlage lief Sturm gegen die unverschließbaren Lamellenfenster, Hauptsache, die Stromversorgung funktionierte. Heute Morgen war Jens Petermann zum ersten Mal aus­gegangen, um sich ein wenig die Stadt anzusehen. Am Abend hatte er mit Finn auf die Piste gehen wollen, um zusammen Silvester zu feiern. Und nun war der auf einmal tot!

Sein Freund war seit Montag ruhelos umhergezogen, um Auskünfte einzuholen. Einen vollen Tag hatte Finn Schütte im tansanischen Nationalarchiv verbracht. Dummerweise war die Hamburger Historikerin noch im Weihnachtsurlaub, von der der Deutsche wusste, dass sie dort im Auftrag irgendeiner gut zahlenden Stiftung mit der Sichtung kolonialer Dokumente beschäftigt ist. So hatte Schütte ihrem Chef, Archivleiter Singai Roh, seine Aufwartung gemacht, ihm 50 Dollar „für besondere Anschaffungen“ zugesteckt, damit der ihn uralte Katasterblätter der deutschen Kolonialverwaltung einsehen ließ. Entgegen aller Gepflogenheiten und staatlichen Geheimniskrämerei, wie der Deutsche annahm. Besonders Kriegsberichte von 1916, dem Jahr, in dem seine Vorfahren aus Deutsch-Ostafrika vertrieben worden waren, interessierten ihn. Zum Glück waren die Papiere zuvor bereits durch die Hände der verreisten Historikerin gegangen, die sie penibel geordnet hatte.

Die Ausbeute konnte sich sehen lassen. Schütte war nicht nur darauf gestoßen, dass die Siedlung „Luisenthal“, nach der er suchte, nahe des südtansanischen Orts „Ndschindscho“ er-richtet worden war, einem Dorf, das es wohl auch heute noch gab. Sondern Militärrapporten vom Oktober 1916 hatte er auch entnehmen können, dass die Engländer gerade einen Fluss namens „Mata-Nudu“ überwunden hatten und alle Deutschen erst vom nördlichen, jetzt auch am südlichen Ufer in die Flucht trieben.

Das interessanteste Fundstück, so hatte Finn erzählt, war eine Handtuch große Karte auf schwerem Wachspapier. Den Titel hatte er sich abgeschrieben: „Tanganyika: Civilverwaltung, Bezirksamt Kilwa-Kiwindsche – 8° 45´ Süd, 39° 25´ Ost“. Die Karte sei ko­loriert und handgezeichnet, im Westen würden mehrere Ge­höf­te deutscher Siedler auftauchen, darunter wohl auch das Anwe­sen von Schüttes Vorfahren. Die Legende in Sütterlin hat­te Schüt­te noch nicht vollständig entziffern können. Petermann wusste bislang nur, dass es eine solche Karte gab und dass Finn es ziemlich teuer gefunden hatte, Direktor Rohs Sekretärin dazu zu bringen, eine Kopie zu erstellen. Gesehen hatte er das gute Stück noch nie. Doch jetzt, bevor er die Karte suchen konnte, gab es Wichtigeres zu tun.

Petermann ist viel gereist. So glaubt er zu wissen, wie man sich in der Fremde verhält, wenn’s eng wird. Vor der Tür zur Dusche bedeckt immer mehr Wasser das Linoleum, es kann nur noch eine Frage von Minuten sein, bis auch der Boden im Hotelflur nass sein wird und jemand das bemerkt. Den ersten Gedanken, sofort zur Polizei zu gehen, schiebt der Deutsche sofort beiseite, „Viel zu korrupt!“, hat man ihm beigebracht. Einen Moment lang sieht er sich schon in einer stinkenden tansanischen Gefängniszelle schmo­ren, ohne Essen, eingepfercht zwischen Dutzenden Mitgefangenen, unzähligen Kakerlaken und Moskitos. Der zweite Einfall – „Deutsche Botschaft“ – überzeugt ihn da schon mehr. Noch weiß ja niemand außer ihm, dass im Zimmer 22 des „Continental“ eine Leiche liegt. Wenn er sich beeilt, muss das auch niemand merken, bevor er mit einem Botschaftsangehöri­gen gesprochen hat. Ohne den könnte es schnell Ärger geben.

Vorsichtig zieht Petermann sich so erst aus dem Bad, dann aus dem schmucklosen Doppelzimmer zurück, in dem er die letzten Tage mit Finn verbracht hat. Rasch greift er sich Schüt­tes Brieftasche, die eigene baumelt schweißnass vor dem Bauch. Dass seine Sandalen vor Nässe triefen und quietschend Spuren hinterlassen, fällt ihm nicht weiter auf. Zurück auf dem Hotelflur, zieht er die Tür hinter sich zu. Zielstrebig wendet er sich der Hintertreppe zu und beginnt, die Stufen hinabzuspringen. Auf halber Höhe hört er Frauenstimmen. Zwei Putzfrauen, die Gesichter kennt er schon, kommen die Treppe herauf. Instinktiv will Petermann noch schneller werden, doch er reißt sich am Riemen. Nur nicht auffallen jetzt! Erst als sie vorbei sind, nimmt er wieder zwei Stufen auf einmal.

Kurz vor der Bar hört er von oben gellende Schreie. Augen­blicklich fällt er zurück in einen betont ruhigen Gang. Was kümmert einen wazungu das Gekreische von Hotelbediensteten! Die beiden beschäftigungslos herumstehenden Kellner aber fangen aufgeregt an zu murmeln und wenden sich zum Treppenhaus; den vorbeigehenden mzungu mit den hageren, markanten Zügen beachten sie nicht. Auf der Straße wird Peter­manns Schritt wieder schneller. Sein Gedächtnis hilft ihm, instinktiv die richtige Richtung einzuschlagen. Am Mor­gen hatte er sich den Stadtplan eingeprägt: Bis zur Botschaft sind es keine zwei Kilometer links die Samora-Machel-Avenue hinunter.

Unterwegs murmelt er zweifelnd vor sich hin. War Finn wirk­lich tot? Ermordet?! Hätte er nicht noch etwas für ihn tun können? Hatte er einfach so davonlaufen dürfen? War er nicht gerade deshalb jetzt besonders verdächtig? Schüttes Geld, Pass und Papiere steckten unter seinem Hemd, gerade so, als hätte er sie geraubt. Angst keimt auf. Warum die Sache jetzt künstlich komplizieren? Er hat mit Finns Tod doch nichts zu tun! Die Anmeldung im Hotel lief unter Schüttes Namen, seinen eigenen Ausweis trägt er bei sich, was sonst in dessen Zimmer weist auf seine, Jens Petermanns Identität? Warum also sollte er sich überhaupt in die Sache hineinziehen lassen?

Niemand hatte Schüttes Geld geklaut, weit und breit auch keine Eifersucht: Wenn Finn ermordet worden war, dann kann das nur wegen der Schatzsuche passiert sein! Das allerdings können nur Petermann selbst und der Mörder wissen, andere könnten glatt an Raubmord denken. Warum zum Teufel hatte er nur Finns Brieftasche mitgenommen? Und der Mörder läuft noch frei herum! Was kann der von Petermann groß wissen? Hatte er sie beobachtet? Wann? Bislang waren sie ja nie zusammen aus dem Hotel ge­gangen, überhaupt nur ein einziges Mal gemeinsam aufgetaucht, beim Einchecken nach Petermanns An­kunft. Nein, ginge er zur Polizei, würde er den Mörder nur auf seine eigene Fährte locken.

Überhaupt, die Polizei: Die würde doch zwangsläufig als erstes ihn verdächtigen und dann nötigen, überflüssige Sachen zu bezahlen, bevor sie ihn, wenn überhaupt, jemals wieder in Ruhe ließe. Tote kosten Geld. Wen eigentlich was? Wie ist das denn geregelt unter Freunden in der Fremde? Soll doch die Botschaft die Leiche auslösen, das ist nun wirklich nicht sein Job. Finns Körper kann er noch früh genug zurück nach Deutschland überführen. Dessen Schatz aber wartet seit fast 100 Jahren auf seine Bergung.

Gründe genug, ganz einfach zu verschwinden.

2. Superintendent Makaïdi ermittelt

Zweieinhalb Stunden nach dem Alarm der Zimmermädchen steht Superintendent Makaïdi – seinen Vornamen kennen selbst engste Mitarbeiter nicht – auf dem Flur vor Zim­mer 22 im „Continental“. Seine massige Gestalt – Makaïdis Umfang liegt zu dieser Jahreszeit deutlich über seiner kaum weniger impo­san­ten Größe von einsdreiundneunzig, „Maße wie einst Idi Amin selig!“, sagt seine Mutter – lässt niemanden rechts und links vor­bei. Der „Sup“, wie ihn seine Untergebenen ehrfürchtig rufen, ist in frühen Jahren einmal bei Scotland Yard in England auf Fortbildung gewesen, seitdem ist ihm nicht mehr beizu­kommen.

Seit acht Jahren allerdings sitzt er unbefördert in seinem Ses­sel im Präsidium und hat nicht mehr viel dazu gelernt. Das über­lässt er dem kleinen Stab subordiniert Ergebener, die ihn um­wieseln. Die würden zwar kaum jemals mal nach England dürfen, sind aber nichtsdestotrotz wissbegierig, ehrgeizig, dank­bar. Manchmal sogar loyal. Sie leben an Makaïdis langer Leine, und so schlecht nicht. Der kümmert sich, lässt sie Fortbil­dungen und Computerkurse besuchen, bezahlt von Apparaten und Ge­heim­dienstlern nördlicher Breiten. So kommen sie rum, zuwei­len gar ins benachbarte Ausland, werden seine Spesenritter, die ihm etwas schulden und Tribut zu zollen haben. Sollen sie sich dort ruhig mo­der­neres Wissen aneignen, zum Beispiel, wie man mit auf­müp­figen Slumbewohnern umspringt. Auch die neusten mo­biles be­sorgt Makaïdi ihnen gern, da spielen sie dann mit herum und helfen ihm beim Recherchieren. Alles ist erlaubt, solange nur er, Makaïdi, die Zügel in der Hand behält und sich sein Ruhm anhaltend mehrt. Davon gedenkt der Super­in­tendent sich bis zur Rente zu ernähren.

Vor langer Zeit hatte er mal einen Luftpiraten festgenommen, der als Jugendlicher das damals einzige tansanische Verkehrsflugzeug – eine betagte Boeing 737, Reichweite bis kurz hinter Nairobi – über den Kontinent hinaus bis nach London entführt hatte. Nach mehrjähriger Haft im kolonialen Mutterland, die ihn zu einem gebildeten oppositionellen Wirrkopf hatte reifen lassen, hatte der Entführer die Frechheit besessen, zurück in die Heimat zu fliegen. Kein Doppelbestrafungsverbot konnte ihn da retten, direkt nach der Landung legte ihm Makaïdi höchstselbst die Handschellen an. Zwei Tage später starb der Mann in tansanischer Haft, „an einer eingeschleppten Krankheit“, wie es hieß. Der Inspektor wusch beide Hände in Unschuld, sogar amnesty international kam mit Protesten nicht so recht in Fahrt, und drei Monate später war Makaïdi Assis­tant Superintendent, nun nahezu unkündbar, aber dank des internationa­len Auf­se­hens, das die Affäre erregt hatte, für höhere Aufgaben auf ewig disqualifiziert. Das zehrt.

Makaïdi hat es sich etwas kosten lassen, den Chef des Bereit­schaftsdienstes dazu zu bringen, ihm den Fall aus dem „Continental“ zu übertragen. Eine Stunde lang hatte er im Prä­sidium intrigiert, Gerüchte quer durchs Haus gehetzt, Verdacht geschürt und Tantiemen in Aussicht gestellt, bis nur noch er und keiner sonst für diesen Job in Fra­ge kam. Ein toter mzungu – der richtige kesi zum Jahresan­fang, vielversprechend fett wie der Weihnachts-Truthahn.

Seit mehreren Minuten nun steht Makaïdi im Flur im zweiten Stock des „Continental“ und sieht seinen beiden besten Männern bei der Arbeit zu. Die Füße verschnürt in Plastiktüten aus einem kenyanischen Duty Free Shop („Nirgendwo sonst sind diese Dinger noch zu bekommen, Sup!“), durchsuchen sie Schüttes Zimmer, während ihr Chef auf den angeforderten Gesandten der deutschen Botschaft wartet. Dass es sich um eine deutsche Leiche handelt, hat der Kommis­sar sofort erkannt: blond, hellhäutig, Bierbauch, Pockenimpfung, Bürsten­schnitt – fehlten nur noch Sprin­ger­stiefel. Stand dann so auch auf der Hotelanmeldung. Den Pass allerdings suchten sie noch.

„Nackte Gewalt, Sup! Blutig geplatzter Schädel, zerschmet­terter Oberarm ...“, murmelt einer von Makaïdis Assistenten in den Raum. Sie waren schon zwanzig Mi­nu­ten nach Eingang des Notrufs am Tatort gewesen und haben bereits einiges ent­deckt: Schuh­spuren auf dem arg versifften Teppich, mit Profil, ver­mut­lich Größe neun; ein unversehrtes Türschloss (was ange­sichts amerikanischer Knauföffner nicht viel zu be­deuten hat, wie Makaïdi sie erinnert); eine auf vollen Touren laufende Kli­maanlage; Erbrochenes neben und auf der trotz ab­gestellter Du­sche anfangs noch tropfnassen Leiche; Fingerabdrücke von min­destens vier Personen; eine Golftasche und zwei Rucksä­cke, ge­füllt mit Männerklamotten, weitge­hend sau­ber. Kein Laptop, kein mo­bile, geschweige denn ein iPhone. Sechs Fla­schen Safari Lager auf der Fensterbank, leider leer. 23 unver­brauchte Präser von der Abreißrolle im linken, sieben im rechten Nachttisch, nor­­male Größe, kenya­ni­sches Fabrikat. Könnten schon ewig dort liegen. Drei verschie­dene Malariamittel, Mülleimer frisch geleert.

„War da schon jemand vor uns drin? Die Putzen?“, ruft Makaïdi lustlos in den Flur, als er davon hört. „Wenn überhaupt, der Doc!“, nuschelt einer seiner Männer zurück.

Der Arzt, der als Erster bei der Leiche war, hatte ausrichten lassen, er habe nicht länger warten können. Dem mzungu sei nicht mehr zu helfen gewesen, und wegen des recht kühlen Zimmers ließe sich nur schätzen, wann der Tod eingetreten war. Etwa gegen zehn Uhr wohl ungefähr. Dass der Mann unter der Dusche tot sei, daran gebe es keinen Zweifel. Deshalb war er, der Arzt, bereits seit über einer Stunde wieder fort, um sich um die Lebenden zu kümmern, wie es sich gehöre. Dem verblichenen Weißen zuliebe wer­de er aber später nochmal vor­bei­schauen und sich mühen, einen Totenschein aufzutreiben. So ein Formular sei hier wohl wich­tig, allerdings auch nicht ganz billig.

„Chef! Sup!“, brüllt plötzlich Wilfrem Fundikira, Makaïdis beste Hilfskraft. Fundikira braucht stets etwas länger, bevor er spricht, dann stets laut. Der Mann ist schon Mitte 30, aber im­mer noch eine Sportskanone, groß, schnell, muskulös. „Chef! Nirgends im Zimmer liegt Geld. Keine Schecks, kein Pass, kein Ticket. Trotzdem sieht es hier nicht nach einem Raub aus, nichts ist durch­wühlt. Stattdessen überall Männerzeug einer weiteren Person. Und ein teurer Stein im Ohr. Riecht irgendwie schwul. Sowas kommt bei diesen Blassen doch dauernd vor, oder?“

„Ein schwules Opfer? Männer, zieht sofort die Handschuhe an!“, brüllt Makaïdi und schüttelt sich vor Abscheu. Für seine Homopho­bie ist er bekannt. Erst kürzlich hatte er ein schwulenfeindliches Gewitter losgetreten, als er in einem Radio-Inter­view Ugandas Vorstoß begrüßte, für homosexuelle Handlungen die Todesstrafe einzuführen. Ein sol­ches Gesetz wünsche er sich auch in Tansania. Er empfinde es „als empörende, widerliche Zumutung, wie die Schwulen sich gegen die Gesetze der Natur, gegen unsere Moral und religiösen Glauben versündigen“, zeterte er im Radio. Alle waren sie in seine Hetze eingefallen, Zeitungen, Politiker, moslemische wie christlich-funda­mentalistische Kleriker, Moderatoren. Kaum jemand von Rang im Land traute sich danach noch, wenigstens halbwegs liberale Positionen zu vertreten. Makaïdis Name stand mal wie­der überall ganz obenan.

„Welche Handschuhe? Die sind doch längst zerschlissen“, mischt sich Ma­kaïdis zweiter Assi empört ein, ein untersetzter, eher behäbiger Sergeant namens Nehemiah Baregu, der seinem Kollegen Fundikira stets nur ungern zur Hand geht. Baregus Brauen über den glupschigen Augen und der breiten Nase zucken böse. „Krieg ich jetzt Aids? Chef, Sup, Sie müssen uns doch schützen!“ Unbeeindruckt aber befielt sein Vorgesetzter: „Weitermachen!“

Makaïdi selbst rührt sich nicht von der Stelle. An den Hotel­chef gewandt, der die Traube neugieriger Angestellter auf dem Flur anführt, verlangt er stattdessen barsch nach einem Stuhl. Die beiden kennen sich schon ewig und waren sich noch nie grün. Mehrmals die Wo­che sitzen sie sich beim Pokern ge­gen­über, und fast immer hat Oscar Kambona die bes­seren Karten. Jetzt wittert Makaïdi seine Chance, es dem arro­gan­­ten Ho­tel­direktor einmal heimzu­zahlen. „Kambona, steh hier nicht faul rum, sorg dafür, dass ich arbeiten kann!“

Noch bevor der Hotelchef reagieren kann, drängt sich ein schlaksiger Weißer durch die Menge, offenbar der erwartete Diplomat. Der Aufzug des Mannes würde keiner Prüfung standhalten, so gehetzt sieht er aus. Seine hochgradige Unlust, an diesem Sil­vestermittag mit einer Leiche konfrontiert zu werden, ist unverkennbar. Makaïdi sieht sofort: Der Mann will hier so schnell wie mög­lich wieder weg. Eine gute Voraussetzung zum Abkassieren. Hellhäutige Gesichter einzuschätzen, zählt zu den anerkannten Fähigkeiten des Superintendenten.

„Zur Lippe, First Secretary, German Embassy“, weist sich der Botschaftssekretär dem Superintendenten gegenüber aus und fuchtelt mit seinem Diplomatenpass vor dessen Gesicht herum. „Woher wollen Sie wissen, dass es sich bei dem Toten um einen Deutschen handelt?“

„Karibu, Herr zur Lippe. Sie haben wenig Zeit, wie ich ihrem gehetzten Ton entnehme. Kann ich verstehen. Darf ich mich trotzdem erst einmal vorstellen?“ Makaïdi macht es Spaß, den unantastbaren mzungu auflaufen zu lassen. „Mein Name ist Makaïdi, Superintendent Makaïdi, Tanzanian State Police. Und diese beiden Herren hier“ – Makaïdi zeigt auf seine Helfer – „sind der bal­dige Assistant Superintendent, Inspektor Wilfrem Fundikira und Ser­geant Major Nehemiah Baregu. So weit, so gut. Leider müssen wir uns noch ein wenig gedulden. Wir brauchen noch einige Informa­tionen.“

„Hören Sie, Herr Kommissar, ich bin hier außerhalb aller Zeiten. Heute ist Silvester! Geben Sie mir meine Antworten, und Sie sind mich sofort wieder los. Andernfalls ...

„Aufpassen, allesamt!“, platzt Makaïdi laut dazwischen. „Der mzungu droht ...“

Per zur Lippe ist alarmiert. Wenn sich das hier hochschau­kelt, dauert’s nur erheblich länger. „Oh, pardon. Ich wollte ja gar nicht ... Sagen Sie mir doch wenigstens mal rasch, woher Sie wissen, dass der Tote aus Deutschland stammt. Wie heißt er?“

„Wissen wir noch nicht.“ Makaïdi tut eingeschnappt.

„Aber wieso bitte, Herr Superintendent, wieso haben Sie mich denn dann jetzt schon holen lassen?“ Der Botschaftsse-kretär ändert jetzt nuanciert den Ton.

„Herr Sekretär!“, antwortet Makaïdi betont förmlich, „von ‚schon’ kann gar keine Rede sein. Vor gut drei Stunden haben die zwei Putzfrauen hier“ – der Kommissar weist über die Traube neugieriger Angestellter hinweg auf irgendwelche Frauen ganz weit hinten – „die Polizei gerufen. Denen floss eimerweise Wasser entgegen, das halbe Hotel ist ruiniert. Seit­dem ermitteln wir.“ Ein bisschen Dramatik fördert jedes Geschäft.

Zur Lippe zückt sein Handy, er will sich anscheinend in der Botschaft melden. „Lassen Sie das!“, bellt ihn der Superintendent an. „Noch haben wir hier nichts bekannt zu geben. Also ersparen Sie uns ihrerart Verwicklungen.“ Makaïdi hat keine Lust darauf, dass sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt höchste Chargen mit seinem kesi befassen und ihm dazwischenfunken. Dafür hat er in den letzten Stunden zu viel investiert, als dass er es zulassen könnte, dass man ihn schon am ersten Nachmittag beim Commissioner anschwärzt, um den Fall betrügt und abzieht. Der Botschaftssekretär wird geärgert, bis der ihn bezahlt, so ist es Brauch. Bei den paar hundert Dollar Monatslohn, die er verdient, ein gängiger Weg, sich abzusichern. Deshalb ist er schließlich hier.

„Gut, einen Moment warte ich noch gern. Aber sagen Sie mir doch bitte endlich, wieso Sie vermuten, dass es sich um einen deutschen Toten handelt! Es könnte doch schließlich auch ein Australier sein!“ Zur Lippe klingt nun ganz versöhnlich.

„Oder Engländer, Däne, Hamburger ..., klar. Die Rezeptionistin sagt, der Gast habe sich als Deutscher eingetragen, roter Pass, aus Moshi kommend. Kennen Sie da jemanden?“

Zur Lippe muss sich zusammenreißen, um nicht empört zu klingen. „Ndugu Superintendent, um Moshi herum gibt’s Hunderte von Deutschen: Touristen, Angestellte, Entwicklungshelfer, Missionare samt Familien. Wie stellen Sie sich das vor!“ Verladen kann es sich alleine.

„Behindern Sie doch meine Arbeit nicht, monsieur.“ Ungerührt spielt der massige Kommissar sein Mensch-ärgere-ihn-Spiel weiter. „Bevor wir unsere alten 486er warmlaufen lassen, können Sie mir doch sicher mit Erkenntnissen aus ihren Überwachungsprogrammen und Vorratsdatenbanken weiter­helfen. Andernfalls wird alles überaus lange dauern. Zu­dem fehlt uns Geld für das Fingerabdruck-Spürprogramm der Inter­pol. Wie wär’s, könnten Sie es nicht besorgen?“

Diesen Hinweis versteht der Diplomat sofort. „Kann ich Sie mal kurz unter vier Augen sprechen, Superintendent?“

„Sicher.“ Zum ersten Mal seit einer guten halben Stunde be­wegt sich Makaïdi jetzt von der Stelle. Mit dem Botschaftsangehö­ri­gen verzieht er sich in Schüttes Nachbarzimmer. Dort wech­selt oh­ne langes Reden ein Umschlag den Besitzer. Kurz danach verlässt zur Lippe die Geschäftsräume, während Makaïdi Schei­ne zählt: Fünfzig Rote, ein halbes Monatsgehalt. Ein guter An­fang.

3. Hannes feiert Weihnachten

Mittwoch, 24. DezemberKaishe Wabaye kam von einem gelungenen Geschäft. 80.000 Shilling hatte er bekommen für zwei seiner Bilder, kaum größer als ein Blatt Papier. Dafür arbeiteten andere einen halben Monat, er schuf am Tag ein knappes Dutzend: Verklärende, romantische Collagen übers Dorfleben im Osten Afrikas auf ei­nem Stück Karton, beklebt mit beschnittenen, vergilbten Stückchen beiger Pappe und Bast, sonnenuntergangsmäßig eingefärbt. Frauen mit Kindern auf dem Rücken vor Rundhütten und Akazien, gänzlich frei von Überraschungen.

Kein schlechter Abend für meinen alten Herrn: Acht große Scheine bar auf die Hand, ganz ohne Gefeilsche, wie verlangt. Vielleicht lag es daran, dass Weihnachten war. Weihnachten zuhause in Moshi, meiner Heimatstadt am Fuß des Kilimanjaro. Zu spät dürfte der Käufer bemerkt haben, wie ewig die Werke meines Vaters nach Lösungsmitteln und billigem Klebstoff stin­ken. Kaishes kleines Atelier im Hinterhof betreten wir schon lange nicht mehr. Von dem Verkaufserlös aber würde mein Vater ein, zwei Wochen leben können. Und wir, seine Söhne, würden unsere Ruhe ha­ben.

Dass daraus für mich nichts werden sollte, lag am Auftauchen von Manhatten, meinem kleinen Bruder. Hatten, wie ihn hier fast alle nennen, ist zwei Jahre jünger als ich und steht in unserer Familie für Kondition: topfit, drahtig, nicht allzu groß und gut zu Fuß. Die Haarröllchen am Rand seiner Halbglatze allerdings färben sich bereits grau, während meinen Kopf noch immer volles, schwarzes Wuschelhaar ziert, frisch frisiert, wenn ich es mir leisten kann. Auch Haut und Hände meines Bruders – ledrig, faltig – scheinen um Jahre älter als die meinen, die eines Schreibtischmenschen. Dabei ist Hatten mal gerade Mitte dreißig, während ich schon beinah vierzig und noch immer ledig bin. Nein, maniküren lass ich meine Hände nicht, und, ja, Kinder hat nur er.

Hatten ist Bergführer an Afrikas höchstem Berg, dem Kilimanjaro. Er bringt dort reiche Weiße, wazungu, rauf und runter. Das zehrt. Oft ist er wochenlang fort und wartet oben am Parkeingang in Marangu auf einen Auftrag. Von seinem letzten war er heute Nachmittag zurückgekommen und hatte wie Kaishe Geld mit nach Hause gebracht, in diesem Jahr zum elften Mal. Alles über sieben, sagt Hatten, sei ein Geschenk der Götter, die den Berg bewa­chen.

Mit Hattens Auftauchen kam Leben in die Hütten. Kibo, Shira und Mawenzi, seine drei Jüngsten, drehten vor Freude beinah durch. Die Kids hat er nach den Gipfeln seines Bergs benannt. Kibo, sein letzter, kriegte vor Freude mit fast sechs Kilo­metern den höchsten ab, ganz nah bei Gott, der bis dahin nicht vergeben war. Seitdem verhütet meine Schwägerin, sagt mein Bruder, um den Allmächtigen nicht herauszufordern. Den flachsten Gipfel, Shira, immerhin noch knapp vier Kilometer hoch, hatten sie für ihre zweite Tochter reserviert. Hattens ältester heißt Meru, der ist viereinhalb Kilometer hoch und achtzig Kilometer weit entfernt, aber nun schon beinahe zehn. Damals traute sich die Familie namentlich noch nicht so nah ran an unseren heiligen Berg. Für meine siebenjährige Patentochter Maundi, Hattens zweites Kind, gab’s immerhin schon einen kleinen Nebenkrater um die Ecke, drei Kilometer über Null. Nur fünf Kinder, so ist das hier: nicht immer logisch.

Mein Bruder hatte Cola mitgebracht, zwei volle Kisten. Krie-gen die Kleinen eine dieser so wunderbar süffig geformten Fla-schen in die Hände, spielen sie unwiderruflich verrückt. Mit leuchtenden Augen lutschen sie blubbernd und sabbernd am weltberühmten Glas, heute bis nach Mitternacht. Trinken dürfen sie den klebrigen, schwarzen Saft nur tröpfchenweise, da ist ihre Mutter vor. Zumindest die Kleinen seien einfach noch zu klein: Shira mit ihren Grinsebäckchen zählt fünf, Kibo und Mawenzi, die ersten Zwillinge in der Familie seit Menschenge-denken, haben schon 33 Monate geschafft.

Dass Cola ungesund ist, halte ich ja für ein Gerücht. Warum soll den Kids das süße Zeug wohl schaden, das die Reichen und Hellhäutigen hier zu jeder Tages- und Nachtzeit in jedem sichtbaren Alter und Zustand trinken? Aber das ist nicht mein Problem.

Die Kleinen tollten sich zwischen den Kalabassen mit Bier bei den Hütten der Frauen im Hof, während die Erzählung des mzee, unseres alten Herrn, am Feuer langsam außer Fahrt geriet. Wie er es geschafft hatte, seine Kunst an diesen einen mzungu, diesen vorgeblich „weißen“ Menschen zu verhökern – ange-sichts von Manhattens Rückkehr interessierte es bald nieman-den mehr wirklich. Und doch unterbrachen wir ihn natürlich nicht und ließen ihn allein zum Ende kommen. Vater wird glücklicherweise nur selten so ausschweifend und ichbezogen wie andere Alte.

Der mzee hatte einen Typen als Käufer getroffen wie lange nicht: der nicht feilschte, nicht zuviel wissen wollte, keine arro-ganten Sprüche klopfte, sondern die Kunst des sonderlichen alten Mannes schlicht akzeptierte. 80.000 tansanische Shilling, fünfzig Dollar, für zwei Erinnerungsstücke, die zu Hause we-gen ihres anhaltenden Gestanks nach Terpentin sicher bald auf dem Speicher landen würden: Wie viel Geld diese Durchreisen-den doch auszugeben imstande sind!

Hatten bewundert den mzee; gegen dessen Autorität jedoch lehnt er sich zuweilen auf. Dann macht er ihn dafür verant-wortlich, dass er sich so schinden muss. Vater hatte ihm nur noch neun statt meiner dreizehn Jahre Schule finanziert; und selbst das war noch ein Privileg. Als Mitte der Achtziger überall auf der Welt die Sozialausgaben zusammengestrichen wurden, explodierten bei uns die gerade erst abgeschafften Schulge-bühren. Trotzdem verdient Hatten seit meiner Entlassung viel verlässlicher Geld als ich.

Anfangs hatte Vater ihm verbieten wollen, sich am Berg zu verdingen. Der Alte hält es für schwachsinnig, lebensgefährlich und gotteslästerlich, hinauf in die luftleere Eiseskälte zu steigen, die die Geister der Ahnen schützt. Waren nicht gerade erst wieder zwei Träger im Sturm da oben umgekommen? Auch kränkt es ihn, wenn sich sein Sohn Touristen anbiedert, die dort im Dutzend tagtäglich ihre Touren machen. Reicht es nicht, dass er als alterndes Oberhaupt der Familie mit Pappbildchen seinen Unterhalt bestreiten muss?

Doch trotz des Verbots stand Hatten eines Tages an der Schranke vor dem Nationalpark-Eingang. Dort warteten wie er zig andere Jungs aus der Umgebung auf wazungu, auf diese Spezies weitgereister Menschen mit rosaroter Haut, die sich, all inclusive, ihren grotesken Lebenstraum verwirklichen wollen und sich quälen, um für irre viel Geld Afrikas höchstem Berg aufs Dach zu steigen. Die das – ausgerüstet mit Daunenschlafsack, Rescue-Packs, Multivitamintabletten und Thermounterwäsche – hochtrabend Selbstfindung nennen, zuweilen gar um­mänteln mit karitativem oder Ökoschnickschnack, während Hatten damals noch nicht einmal vernünftiges Schuhwerk geschweige denn eine warme Jacke besaß. Da war er sechzehn.

Er blieb drei Wochen von zu Hause weg, und als er wieder kam, hatte er Frostbeulen an den Füßen, aber die Taschen voller Geld. So jedenfalls sah es für uns Geschwister aus. In Wahrheit hatte er in fünf Tagen Schwerstarbeit zehn Dollar Taschengeld verdient, barfuß in seinen Gummilatschen, als Träger von Rucksäcken schwer wie Bananenstauden mit all den tollen Sa-chen der Touristen, hinaufgeschleppt an den Rand von Afrikas mächtigstem Gletscher, zur letzten Hütte auf 4705 Meter Höhe, wo das Thermometer nachts unter zehn Grad minus fällt. Mein Bruder war halt immer schon ein wenig spinnert – aufmüpfig, aber mit Gespür für Geld.

Während das Weihnachtsfeuer niederbrannte, wurde Kaishes Bericht immer stockender. Der mzee bemerkte die Unruhe seiner Söhne, die sich von seiner Kunst entfernten. Nicht so sehr von seinen verkitschten Dorfcollagen, nein, von eben dieser Kunst, zu Geld zu kommen. Wie er die Bilder an die Leute brachte. Das kannten wir längst zu genüge: Wie er auf fettwanstige Biertrinker zuzu­gehen weiß, rosarote, gelbe wie auch dunkelbraune, die ihm am Ende ein Almosen geben und seine Bilder unter all den schwit­zend nassen Flaschen auf dem Tisch dann glatt vergessen.

Nein, jetzt wollten wir von Hatten hören, wie es zum x-ten Mal gewesen war: Mitten unter Fremden den Kilimanjaro zu bezwingen, ihnen den Weg aufs Dach Afrikas zu zeigen und Geld abzuknöpfen – so viel wie möglich und doch nie genug, um alle Beteiligten zu befriedigen: die Träger, den Koch, die bestochenen Parkangestellten, Zulieferer und alte Rechnungen. Selten nur langte es für die Schulden, geschweige denn für Wünsche. Schinderei für Shillingfuchser: Wie ertrug Hatten das bloß immer wieder? Okay, über die Jahre war er aufgestiegen, vom simplen „Porter“ zum echten Tourguide, der aber auch stets den härtesten Part bis zum Gipfel zu bestreiten hatte, elfhundert Höhenmeter mehr als die meisten seiner Träger. Wie schafft der das, was treibt ihn jedes Mal von neuem hoch ins Eis? Und vor allem: Was hatten ihm seine wazungu dieses Mal als Tipp geschenkt, was freiwillig noch dazugezahlt?

Es war gut ausgegangen, dieses eine Mal. 250 Dollar in Devisen, 300.000 Shilling obendrauf, nirgends mehr Verbindlich­keiten. Doch neben dem Geld trieb Hatten auch der Traum vom großen Glück. Glück wie beim Lottospielen: Einmal das große Los ziehen, den richtigen mzungu führen, Bill Gates, Bono, Clooney oder so, der sich dann lebenslang erkenntlich zeigt. Der so viel Geld und Einfluss hat, dass sich davon anhaltend profitieren lässt. Und dieses Mal zu Weihnachten steckte in Hattens Geschichte tatsächlich ein Tipp, heiß wie ein künftiger Hauptgewinn: Sie wies auf einen grandiosen kolonialen Schatz.

4. Kaishe Wabayes Kunde

Vaters Kunde saß derweil in „Key’s Hotel“ beim dritten Bier und sinnierte in der warmen Nachtluft vor sich hin. Vor ihm dünsten auf plüschigen Ledersesseln die erstandenen Pappen, senkrecht, sodass er sie betrachten kann. Um ihn herum die alte, verfallene Pracht britischer Kolonialhotels: der stillstehende Ventilator an der Decke, der Rie­senkühlschrank, die Massivholz-Theke aus Tropenholz im matten Dämmerlicht, die Whiskeyflaschen. Und davor drei unbeschäftigte, livrierte Kellner, würdig ergraut in weißer Uniform auf dunkler Haut.

„Noch ein Safari, master?“

„Danke, gern, gleich, danke.“

Wenn sie einen schon master nennen müssen, will der Weiße wenigstens freundlich bleiben. Sein buntes T-Shirt, typischer Dress hellhäutiger Touristen, zeigt noch kaum Flecken, keinen Schweiß. Zwei Sessel weiter fläzt sich die hotelübliche Schöne der Nacht auf der Suche nach ihrem Weihnachtsmann. Finn Schütte ist nicht interessiert. Er ist froh, zurück in der Zivi-lisation zu sein, freut sich übers Konsumieren und träumt von Trude, Geld und Afrika. Vom Abenteuer.

Gerade erst hat er eines der größten Abenteuer seines Lebens mit Bravour bestanden. Diese Wanderung bis an alle Grenzen, bis vors Umfallen. Den strapaziösen Aufstieg auf Afrikas gewaltigsten Berg, den Kilimanjaro, quer durch alle Klimazonen dieser Erde, durch dichten Regenwald, über Flechten verhangene Steilhänge, verbrannte Heide, polare Tundra und verschneite Mond­landschaf­ten. Die dünne Luft, die mit jedem Meter trockener wird. Dabei der ständig lauernde Kopfschmerz, die völlige Überanstrengung und diese dumme, unbeantwortbare Frage: Warum, warum zum Teufel mach ich das bloß hier? Warum tu ich mir das bloß an? Schließlich dann, beim Sonnenaufgang am letzten Morgen, das in allen Farben glitzernde Licht der Gletscher: Das pure Glück nach tagelanger Quälerei. Und wie er, Finn Schütte aus Norddeutschlands Tiefebene, auf dem Gipfel angekommen, mitten im Eis am liebsten eingeschlafen und beinah erfroren wäre, hätte ihn nicht sein Bergführer Manhatten unbändig zäh voran getrieben.

Er hatte es sich so nett vorgestellt. Erst ein paar Tage Aus­spannen, zur Akklimatisierung Bergwandern durch exotische Landschaft und mal eben einen Fast-Sechstau­sender besteigen, dann ab in die alte Hauptstadt zum Recherchieren. Statt­dessen Quälerei hoch fünf und tagelang dieses „pole pole“! Wie oft hatte er diese Litanei gehört! Anfangs hatte er die jungen Männer nicht verstanden, die ihn auf Schritt und Tritt fast aufdringlich begleiteten und sein Gepäck bergauf beförder­ten. Dann grinste er unsicher und trabte etwas schneller, um sie abzuhängen. Bis es Manhatten ihm und seinen Mitwanderern endlich erklärte:

„Sorry, ladys and gentleman, so sorry, dass hier niemand ihre Sprache spricht. Meine Leute sind happy, dass sie in der Schule wenigstens ein paar Brocken englisch gelernt haben. Aber sie sind erfahren: Unseren Gästen soll nichts passieren! Deshalb werden Sie so oft gemahnt: Langsam gehen, pole pole! Bloß nie außer Atem kommen! Durchatmen! Nur so können Sie den Gipfel schaffen.“ War da etwa Spott in der sonoren Stim­me?

„Wie weit ist’s denn morgen?“

„Keine zwölf Kilometer ...“

„Was, nur drei Stunden?“

„Nein, sechs.“

Fürs Spöttische schien dieser schmächtige Mann mit den drahtigen Beinen unter der gefleckten Outdoorhose nicht allzu viel übrig zu haben.

Am nächsten Abend war Schütte trotz seines dicklichen Umfangs einer von zweien aus der Gruppe, dem nicht hundeelend war. Oder vielleicht gerade deswegen. Erneut hatten sie fast tausend Höhenmeter bis zur zweiten Hüttenanlage hinter sich gebracht. Der Koch hatte Steak, Kartoffeln und Möhren aufgetischt, die aber kaum mehr jemand essen mochte. Ihr guide Manhatten zeigte Mitleid mit den Elenden. „Ladys and gentleman, dass ihnen der Kopf brummt und sie sich elend fühlen, ist völlig normal. Nicht, dass ich’s ihnen wünschen würde, aber was glauben sie denn, wo sie sind! Fast 4000 Meter überm Meeresspiegel, das tut nun einmal selten gut. Wir wär’s mit zwei Aspirin?“

Schütte dürstete nach Gehaltvollerem. „Gibt’s hier oben vielleicht auch Bier?“ Und siehe da: Selbst das wusste Manhat­ten aufzutreiben. Gegen Cash natürlich, aber nur geringfügig teurer als in „Key’s Hotel“: Manhatten, dieses Schlitzohr! Eine halbe Kiste hatte er seine Leute auf die Hütte schleppen lassen. Da war der Flachländer Schütte angetan. Am Berg kannte sein Bergführer sich wirklich aus.

Von Ökonomie jedoch, das dünkte Schütte, verstand Man­hatten wenig. Nach dem zweiten Bier – Gewinnspanne kaum 50 Prozent! – hatte der sich zu ihm in die Hütte gesetzt und sei­nem wohlbetuchten Kunden aus dem Norden einen langen Vortrag gehalten über Luxus und Korruption, über fremdes, eigenes und gemeinschaftliches Eigentum, von dem es in Tansania nur so wimmeln würde, einen Vortrag, in dem – wie Schütte fand – fast gar nichts stimmte. So behauptete der Berg­führer doch glatt, Korruption im eigentlichen Sinne sei in Tansania nicht verbreiteter als andernorts. Natürlich sei es zum Haareausraufen, wenn vor Gericht immer der Recht bekomme, der dem Richter das meiste Geld zustecke. Aber sei das nicht andernorts ganz ähnlich? Wer sich den besseren Anwalt leisten kann, gewinnt? Nur die wenigsten, die hierzulande ihr karges Einkommen aufbesserten, indem sie sich bestechen ließen, seien echt korrupt. Man schaue sich doch auch mal an, von welch absurd niedrigen Beträgen hier die Rede ist. Wer mit dem Gehalt eines Angestellten von vielleicht einer halben Million Shilling zehn Personen durchbringen soll, für den sind 100.000 mehr – keine 50 Euro! – eine existenzielle Hilfe. Dass sei doch für eine passende Dienstleistung, z.B. den etwas weniger stark verzögerten Anschluss ans Stromnetz, ein ganz passabler Preis, der werde überall gezahlt. Die allermeisten seiner Landsleute seien zwar einem Deal nie abgeneigt, aber eben nicht verrucht. Der reine Selbsterhaltungstrieb.

Nichts davon stimmte mit Schüttes Weltbild überein. Stand nicht in jedem größeren Artikel über dieses Land das genaue Gegenteil? Erzählte das nicht auch jeder erstbeste Entwicklungshel­fer? Zwar hatte Schütte kurz vor dem Abflug noch gelesen, dass Tansania bei der „guten Regierungsführung“ aufgeholt und sich vorgeschoben habe auf Rang 100, fast Afrikas bester Wert. Aber was heißt denn schon Rang 100 unter weltweit 200 weniger bis völlig korrupten Staaten? Ja, auch Manhatten klagte den parasitären Luxus der Mächtigen an, derjenigen, die Zu­gang zu ausländischen Geldern haben, deren Reichtum stän­dig wächst und auf Generationen hinaus Existenzen sichert. Gleich­zeitig aber beschwerte er sich bitter über die Ignoranz „des Westens“, aufgrund derer die große Mehrheit seiner Landsleute zunehmend verelende. Kaum etwas habe sich verbessert seit er denken könne, im Gegenteil. Das irritierte Schütte. Gerade erst hatten sie in den deutschen Medien „50 Jahre Entwicklungs­hilfe“ abgefeiert, Tansania immer ganz vorne mit dabei. Und der Tourismus? Verdiente sein Bergführer denn nicht wenigs­tens hier richtiges, Schüttes Geld?

Manhatten aber blieb dabei: Das reiche nie und nimmer. Wenn er keine Tour ergattere – trotz wochenlangem Drängeln vor den Herren der Parkverwaltung –, dann lebe er mit seiner Familie von der Hand in den Mund, ausschließlich mit Blick auf den kommenden Tag. Geplant verlaufe da so gut wie nichts, weil eben nichts planbar sei. Absicherung schon gar nicht. Auf ihrer shamba, dem kleinen, fruchtbaren Stück Acker-land, das Manhattens Familie bei Moshi besitzt, erzeuge seine Frau schon lange keine Überschüsse mehr. Es lohne sich schlicht nicht, Bananen, Bohnen oder Mais, auch keinen Kaffee, zum Spottpreis an die Genossenschaft zu verkaufen, die sie monatelang auf den Erlös warten lasse.

Je länger sie redeten, desto mehr schwanden Schüttes Vorbe-halte. Seinem Bergführer, so viel war klar, ging es offensichtlich nicht nur ums Geld. Dafür redete er einfach zu viel von seiner Familie und den fünf Kids. Irgendwann im Laufe des Abends war es dann aus dem Deutschen herausgeplatzt, was denn er in Tansania suche. Der Berg alleine war es ja nicht. Schütte war auf Familien-Erinnerungs- und -Entdeckungstour, erzählte er. Vorfahren seiner Eltern waren als verarmte Landlose Anfang des letzten Jahrhunderts Kaisers Ruf gefolgt, die Kolonien zu erschließen, um sich, dem Reich und natürlich auch den „Eingeborenen“ Gutes zu tun. Mit diesem Weltbild seien sie ausgewandert, „zum Nutzen Dritter, der armen, unwissenden Ne-gerheiden“. Um das zu illustrieren, zog der Deutsche einen Brief hervor und begann ungefragt zu übersetzen.

„Wir treffen hier auf ausgewachsene Männer“, hatte Schüttes Großvater geschrieben, ex-Kürschner voller Hoffnung, „die mitten am Tag tanzen wie die Kinder. Die Frauen stillen ununterbrochen irgendwelche Blagen, ganz gleich, wie lang die eigene Niederkunft zurückliegen mag. Wir leben unter freundlichen Wilden und hoffen, ihnen Civilisation beizubringen. Schon zwei von Pater Thomas´ Meßdienern sprechen ein bißchen deutsch. Täglich trägt er ihnen aus der Bibel vor, das lernen sie dann auswendig. Zum Lesen reicht es bei den Negern ja noch nicht.“ Nervös schaut Schütte auf, ganz wohl ist ihm nicht bei diesem Text, „nigger“ hatte er schon verschämt durch „natives“ ersetzt, doch Manhatten scheint sich zu amüsieren.

„Wie authentisch! Hundert Jahre alter Mist, aber erhellend! Ich hätte ja ...“, setzt sein guide zwischendurch mal an, doch schon bremst ihn Schüttes Sendungsbewusstsein wieder:

„Der Brief geht ja noch weiter! `Als wir vor drei Jahren in Kilwa an Land gegangen waren´, schreibt mein Ahn, der Siedler, `ließen wir sofort die kräftigsten Neger zusammentrommeln. Elf Baumfäller und Schneisenschläger, sechs Fährtenleser, die auch für uns jagten, 131 Träger und neun Kinder- und Küchenmädchen haben wir am Schluß befehligt! Zwei Tage halfen uns Eingeborene noch mit Einbäumen, dann aber trocknete das Flussbett aus, und es ging über Stock und Stein durch dichten Busch. Zelte, Werkzeug, Rohre, Badewanne, Dampfdresch­ma­schine – steam thresher, right? –, Sensen, Räder, Waschschüs­seln, Plättbretter, Eisen, Geschirr, Möbel, Spiritus – was das alles wiegt! Ruthilds Sänfte – this historic chair carried by slaves, you know? – mit Walter auf dem Schoß trugen allein vier Mann. Und doch ging auf der tagelangen Expedition so einiges zu Bruch. Fast unersetzlich: Unser Soxhlet. Mitten in einer Senke stolperte der Träger mit der Kiste, den wir daraufhin natürlich bestrafen mußten. Zehn Schläge mit dem Riemen hielten wir für angemessen. Wie sollen wir ohne diesen so segensreichen Apparat jetzt bloß trinkbare Milch für die Kinder herstellen?

Auf der Farm spielt zur Zeit eine dicke bibi die Amme für Walter, den der Herrgott Ruthild und mir vergangenen Januar nach den beiden Mädeln endlich schenkte. Ruthild kann ja ihrer natürlichen Pflicht, den Buben anzulegen, trotzdem sie selbst den eisernen Willen hat, leider nicht nachkommen. Aber mussten wir tatsächlich erst in die Kolonien gehen, um unseren Stammhalter von der erstbesten Negerin stillen zu lassen?´“ Einmal mehr blickt Schütte pikiert zu seinem guide, der aber hört weiter amüsiert und gelassen zu.

Die Kopie des Briefs, aus der der Deutsche übersetzt, hatte sich Schütte zuhause im Heimatmuseum machen lassen. Das rassistische Schreiben war dort schon mehrfach als „Dokument der Zeitgeschichte“ ausgestellt worden, meist ohne jeden Kom­mentar. Adressiert hatte den Brief sein Großvater 1916 an den befreundeten Kolonialwarenhändler Voscherau aus Rosengarten, der damit überall hausieren ging. Briefe aus der Ferne bereicherten das eigene Sozialprestige auch damals schon. Kurz vor seinem Tod hatte Voscherau die Korrespondenz, die noch einige Seiten mehr enthielt, dem heimatlichen „Volksmuseum“ vermacht.

Mittlerweile war es Nacht geworden, Schütte begann zu zittern und auch Manhatten wurde langsam richtig kalt. Das Lesen und Übersetzen des Briefs fiel dem bierseligen Deutschen im Kerzenlicht zunehmend schwer. Teile des Schreibens blei-ben unverständlich. Irgendwo ist die Rede von Engländern, Deutsche vor sich hertreibend, dann von einem Versteck für wertvolle Sachen, ausgehoben nahe der Wurzeln eines nicht mehr ganz jungen Mangobaums, der den Karawanenhändlern seit Jahrhunderten Schatten spenden würde. Retten wollte Schüttes Großvater darin „Handelsware von beträchtlichem Wert“, die er bei einer eventuellen Flucht vor den heranrückenden Engländern nicht würde mitnehmen können.

Den Schluss des Papiers übersetzte Schütte dann doch noch mal so gut er kann: „Auch wenn die Farm nach der nächsten, unserer fünften Ernte noch immer keinen Gewinn abwerfen sollte, selbst wenn unsere Kokospalmen auch dieses Mal nicht tragen sollten, Cashewnüsse und Baumwolle verrotten, zahlt sich unser Aufenthalt trotzdem schon lange aus. Durchziehenden Karawanenhändlern haben wir so manches sehr günstig abkaufen können, was zu Hause das Hundertfache wert sein dürfte. Und wir leben hier mit unseren boys, Hilfsmägden und Lohnknechten nicht gerade schlecht! Gott schütze den Kaiser und seine Kolonien!“

Grinsend kommentierte Manhatten: „Toller Schlusssatz! Den kenn’ ich! Damit haben uns unsere alten Leute noch bis vor kurzem zeigen wollen, wie toll sie deutsch können …“ Leicht benebelt und verwirrt verabschiedete sich da der Weiße in der immer eisiger werdenden Nacht in Richtung Schlafsack, wäh­rend Manhatten noch am Feuer mit seinen Männern den kom­menden Tag durchging. Er mochte diesen etwas zu dick gera­tenen Fremden, der so Verrücktes zu erzählen wusste. Hatte der mzungu eigentlich keine Kinder?

Am nächsten Morgen hatten Manhatten und Schütte anderes im Kopf. Der dritte Tag des Aufstiegs hat begonnen, 24 Stunden später sollen sie bei Sonnenaufgang oben auf dem Krater ste­hen. Das nimmt alle Kraft in Anspruch. Manhattens Mann­schaft, Porter, Guides und ihr Chef sind voll bei der Sache, mo­ti­vieren ihre kaputten Kunden, Sicherheit und Glück verspre­chend. Und doch liebäugeln sie alle längst mit dem Abstieg: Mit je­dem Touristen, der vorzeitig aufgibt und umkehren will, darf auch ein Begleiter mit zurück, für den der härteste Teil des Jobs dann beendet ist. Unterschwellig hoffen viele Helfer auf ein Ab­schlaffen der wazungu. Gipfelehrgeiz kennen weder sie noch ihr Chef Manhatten: Entweder, die Touristen machen rechtzeitig schlapp, oder ihre Helfer sind gezwungen, kommen­de Nacht einmal mehr den Höllentrip ins Eis zu wagen. Manhatten mag nicht zählen, wie oft er schon hechelnd auf dem welt­be­rühmten „Freiheitsgipfel“ stand und bibberte. Vierzig, viel­leicht fünfzig Mal? Wäre da nicht der verfluchte Zwang zum Geldverdienen: Nichts zöge ihn noch mal in dieses gottbewehr­te Eis, kein Ruhm, kein Stolz.

Danach, nach Erreichen ihrer Grenzen, wird es alle rasend schnell nach unten treiben, runter vom Berg, zurück in die tropische Wärme, ab ins Hotel, um endlich wieder Luft zu tanken und kaltes Bier zu trinken. Welcher Moment wird für Manhat­ten dieses Mal der beste sein, die geschlauchten Sieger und Besiegten ums Trinkgeld anzugehen? Wann soll, wann muss er starten, die Weitgereisten darauf einzustimmen, dass niemand hier genügend Geld für den Schulbesuch der Kinder hat, ge­schweige denn für einen Arztbesuch? Dass sie, die Touristen, gefälligst draufzulegen haben? Würde sich die gestrige Vorar­beit bei Schütte dann auszahlen?

Stück für Stück bricht die Gruppe nun allmählich auseinan­der. Bei 4132 Metern, am letzten Wasserloch, gibt Heidi auf, aus Minneapolis in Minnesota, dann Jade, die Japanerin, schließlich der bayerische Rentner, der sich noch in die letzte Hütte schleppt. Abendessen kurz vor sechs, dann schickt Man­hatten alle ins Bett. Noch hoffen fünf wazungu darauf, um Mitternacht dabei zu sein beim Start zum dann finalen Aufstieg. Manhatten wartet. Aufstehen tun um zwölf noch vier, Manhattens Stimmung sinkt. 900 Höhenmeter später, nach sechs Stunden Schwerstarbeit quer durchs elende Geröllfeld hinauf bis auf den Kraterrand, sind zwei noch übrig, die weiter wollen: Finn Schütte und eine junge Australierin. Mit allen anderen hatte er gerechnet, nur nicht mit diesem dicken Deutschen. Der kippt ihm doch am Schluss noch um! Manhatten weiß: Der an­strengendste Teil des Unternehmens kommt erst noch, anderthalb Stunden und 200 Meter fehlen noch. Jetzt gilt es, den Gipfel zu erreichen, um ein sattes Trinkgeld einzustreichen.

5. Hannes geht auf Spurensuche

Lange konnte ich mir die Weihnachtsgeschichte meines Bruders nicht anhören, ohne unruhig zu werden. Hatte der doch tatsächlich einen mzungu eingewickelt, ohne ihm richtig zuzuhören! „Wa­rum hast du nicht genauer nachgefragt, warum nicht ständig eingehakt, verdammt noch mal? Da liegt vielleicht ein Schatz vor deiner Nase, und du merkst das gar nicht! Denkst nur an dich, schwa­dronierst von deinen Blagen, politisierst und agitierst, anstatt die Ohren aufzuhalten!“

„Ein Schatz? Hannes, red doch keinen Unsinn“, wehrt Hat­ten ab. Doch ich beharre drauf: „Immer und immer wieder hätte ich den ausgefragt, als der von seinen Ahnen sprach! Wo haben die gelebt, hä? Wann genau? Wie hießen sie? Und über­haupt: Wie hieß denn dein mzungu eigentlich?“

Das immerhin kann mein Bruder mir verraten. „Finn Schutte, hier schau!“ Der Fremde hatte Manhatten am Ende der Berg­tour seine Visitenkarte überlassen – „Falls sie mal nach Deutsch­land kommen! Mailen Sie!“ –, leider ohne Foto, aber immerhin mit dessen Namen (wo über dem „u“ noch zwei Pünktchen auftau­chen, mit denen ich nichts anfangen kann). Darunter steht „Architekt“, der Name irgendeiner deutschen Stadt, Hambur­ger Straße, eine Mailadresse und viele Nummern für zwei Tele­fone. Auch das mit dem Trinkgeld hatte der Deutsche wohl recht rasch begriffen und aller Lohn verdoppelt. Von seiner Familie allerdings war kaum die Rede. Ein Einzelgänger, typisch weiß.

„Und wo haben die Großeltern dieses Schutte nun gesie­delt?“

„Im Süden, an einem Fluss nahe der Küste.“

„Im ‚Süden’! Weißt du, wie groß der ist? Wo genau? Und was ist aus denen geworden?“

„1916 seien sie vertrieben worden, sagt der mzungu. Wo genau weiß ich nicht. Danach verliert sich ihre Spur, die Großeltern tauchten erst Jahre später wieder in Deutschland auf und sind beide in den Vierzigern verstorben. Keiner aus der Sippe soll später noch mal in Tansania gewesen sein. Genaueres schien der mzungu nicht zu wissen. Enkel und Großvater sind sich nie begegnet.“

Jetzt mischte sich auch Speziosa, Großmutter aller Weihnachts­gäste, ein, die seit Stunden still beim Feuer sitzt. Sie will wissen, wovon die Familie des zugezogenen Deutschen denn gelebt habe, wo doch die Pflanzung nicht den gewünschten Er­trag erbrachte? Ob denn der mzungu – ein ehemaliger Kürschner! Elender Gerber, oder was? – von Landwirtschaft überhaupt einen blas­sen Schimmer gehabt habe? Schnell, um die alte Dame auszubremsen, presche da auch ich mit meiner nächsten Frage vor:

„Ja, wovon hat der die Karawanenhändler denn bezahlt? Und wofür vor allen Dingen?“

„Weiß ich alles nicht“, murrt Hatten, der langsam unwirsch wird.

„Wir wissen also auch nicht, was diese Kolonialisten damals versteckt haben! Das hättest du doch fragen müssen! Wer hat das Versteck denn später ausgehoben? Die Engländer?“

„,Ausgehoben´ ist vielleicht gar nicht das richtige Wort“, fällt Hatten da auf einmal ein. „Ich glaube, der mzungu meinte, es ist mit Schaufeln ausgebuddelt worden. Eben ‚ausgehoben’, wie ein Grab.“

„Nicht geplündert oder geleert!“, triumphiert es prompt aus mir heraus.

„Nein, wahrscheinlich nicht. Da hast du Recht“, stimmt Hatten zu. „Das gibt seiner Geschichte einen etwas anderen Sinn.“

Als meinem Bruder die Antworten ausgehen, fehlen der Weihnachtsnacht nur noch wenige Stunden bis zur Morgenröte. Das Bier, das die Frauen uns in tagelanger Arbeit gebraut hat­ten, geht zur Neige, die Nachtmesse ist auch längst vorbei. Zeit für ein Schlusswort.

„Der mzungu ist gekommen, um uns auszubeuten. Wieder und immer wieder.“ Die Stimme von Speziosa rückt unsere Ge­danken im aufkeimenden Morgen ins rechte Licht. Die letzte Kalabasse liegt flach am Boden. Morgen, am ersten Weihnachts­tag, wird ausgeschlafen, scheinen alle wortlos beschlossen zu haben. Einmal im Jahr können selbst die Hühner warten.

Bevor ich einschlafe, werde ich mir allerdings immer siche­rer: Brüderchen hatte dieses Mal einen ganz besonderen Kunden in der Gruppe. Einen Schatzsucher! Solche Leute gibt es in den Erzählungen der Alten gar nicht. Wer wäre je auf die Idee gekommen, toten Sachen nachzulaufen? Doch diese hellhäuti­gen wazungu, diese direkten Nachkommen des weißen Jesus und unserer kolonialen master, die kommen auf solche aber­witzigen Ideen! Dieser Finn Schutte muss so einer sein, das wird mir klar. Ein Mann, der glaubt, durch tote Sachen reich zu wer­den. Reicher, als jemals wer aus seiner eigenen Familie, indem er sucht und zu finden hofft, was seine Vorfahren vor fast 100 Jahren in meinem Mutterland vergraben haben. Ich schlief un­ruhig, von Eroberern, Schätzen, Gold, Mord und Totschlag träumend.

Klar, dass wir nicht pünktlich aus den Federn kamen. Statt sechs war es neun Uhr swahili time geworden, bevor alle wieder im Hof auf­tauchten. Kaishes Uhr, die die Zeit in Ziffern europäisch an­zeigt, zeigte 15:03, nach Rechnung der wazungu war es also bereits drei Uhr nachmittags. Meine innere Uhr, und eine andere hab ich nicht, richtet sich bis heute stur nach der Sonne: Null Uhr ist, wenn die auf- oder untergeht, dazwischen gibt es zwölf Stunden Licht oder Dunkelheit. Das ist doch viel gesünder, als künstlich Zeiten zu verschieben. So geht das hier seit Men­schengedenken, nie hat sich daran irgendwas geändert.

Beim Festessen am Abend zu Ehren des heiligen Herrn, mit dem man meine Vorfahren vor gut 100 Jahren bekannt machte, reift mein Entschluss. Ich würde Hattens Stargast folgen, ihn unter die Lupe nehmen und seiner Geschichte auf den Grund gehen. Sollte dieser Schutte tatsächlich fündig werden, bin ich dabei.

Ums Feuer toben derweil Manhattens Kids, die kleinen Gip­fel der Umgebung. Angeführt von Meru, dem ältesten, freuen sich die Kinder mit den Erwachsenen am plötzlichen Wohl­stand der Familie. Über die 80.000 Shilling des Großvaters und die mehr­fachen Hunderttausend, die Manhatten mit nach Hau­se brach­te: Weihnachten war für ein paar Tage richtig klasse.

Als ich meinen Bruder für einen Moment allein erwische, brennen mir sofort wieder Fragen unterm Nagel. „Hast du eigentlich den Brief gesehen?“, platzt es aus mir heraus.

„Welchen Brief?“

„Den mit dem Schatz, Herrgott noch mal. Der mzungu hat dir doch daraus vorgelesen, oder?“

„Was hätte ich da sehen sollen? Das war doch alles deutsch“, wehrt Hatten ab.

„Hast du das Papier gesehen, mit eigenen Augen draufge­schaut?“

„Ja. – Was willst du denn? Du nervst!“

„Wie sah es aus? Weiß? Du hast doch so ein fotografisches Gedächtnis!“

„Wahrscheinlich, wie Papier halt ausschaut. War dunkel, wir hatten kaum Licht.“

„Was stand oben rechts?“

„Oben rechts?“

„Ja, da, wo die wazungu Ort und Datum hinschreiben.“

„Warte. – Doch, ich hab das Blatt gesehen, warte. – Irgend­was mit Lui oder so, wie der König ausm Dschungelbuch, und dann Zahlen, dreimal Zahlen.“

„Welche?“

„Abgetrennt durch Punkte, das erinner ich. Aber die Zahlen? Warte – acht Punkt – zehn Punkt – sechzehn. Glaube ich.“

„8.10.16 – gut. Acht für den Monat, zehn für den Tag, sech­zehn fürs Jahr. Es müsste doch rauszukriegen sein, was rund um den zehnten August 1916 geschehen ist. Dann wüssten wir vielleicht, wo die Engländer damals Deutsche vor sich hertrieben. Irgendwo nah bei ,Lui´ irgendwas, wo also die Vorfahren deines mzungu ge­siedelt haben“, resümiere ich.

„Aber warum zum Teufel willst du das wissen?“

„Weil dieser Schutte, lieber Bruder, dein Trinkgeldgeber, ein Schatzsucher ist!“

„Ein Schatzsucher? Du spinnst doch. Was soll das denn für einer sein?“

„Einer, der tote Sachen sucht und Unglück bringt.“ Zum dritten Mal innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden ergriff Großmutter Speziosa düster das Wort.

„Wie die aus den Märchen.“ Hatten bleibt ungerührt.

„Wir werden sehen. Märchen haben schließlich immer ein Happy End“, antworte ich freundlich. Damit ist das Mahl für mich beendet. In Gedanken bin ich längst auf dem Weg nach Süden.

6. Hannes kommt auf Ideen

Das letzte Mal, dass ich verreist bin, ist einige Jahre her. Einer der wenigen lukrativen Aufträge, die ich mit meinem Consul­ting-Büro je an Land gezogen habe, brachte damals die Spesen für einen Trip nach Dar’ zusammen. Das Büro, neu eröffnet mit einem Kredit von Honorata, meiner kleinen Tante, die früh zu Geld gekommen war, hatte mir die Existenz sichern sollen, als ich entlassen wurde. Rausgeschmissen kurz vor Erhalt der Prokura für die staatliche Textilfabrik! Diese ver­damm­ten Altkleider aus Europa! Seit Jahrzehnten überschwemmen sie Ostafrika, alle Märkte sind voll von diesen bunten, modischen, modernen und strapazierfähigen Hemden, Blusen, Röcke, Hosen, oft kaum getragen. Im Norden wohltätig zusammengesammelt, bringen windige Händler sie hier zu Schleuderpreisen unters Volk, alle verdienen sie daran, auch der Staat an den horrenden Einfuhrsteuern, nur wir verkauften nichts mehr! Keine unserer veralteten Fabriken, die das Land einst un­abhängig machten, kann gegen solche Konkurrenz bestehen.

Ob sich darüber in Europa eigentlich irgendwer Gedanken macht? Zigtausende von Jobs haben diese scheiß mitumba uns schon gekostet, mittendrin auch meinen eigenen: Abgelegte Kleider aus Europa machten mich zu Moshis erstem frei­schaf­fenden Wirt­schaftsberater ohne iPhone, Fax und Toyo­ta! Oft konnte ich mir seitdem noch nicht mal mehr das Hunger­tuch leisten, an dem ich nagen wollte. Da mögen uns die Kre­dithaie aus dem Ausland noch so viele Privatisierungen vor­schrei­ben: Kaum eine der neuen Firmen hat das Geld, um sich einen Profi wie mich zu leisten. Egal, wie einheimisch, billig und gut ich bin.

Doch Schluss mit dem Trübsal blasen. Der Gedanke ans Rei­sen macht mich weitschweifig. Wichtig ist im Moment vor allem, wo sich dieser Schutte aufhält. Unwahrscheinlich, dass er schon weitergereist ist. Nach seiner Kilimanjaro-Tour erholt sich der mzungu bestimmt noch ein, zwei Tage in Moshis an­genehmer Luft am Fuß des Bergs. Das ist ja rauszukriegen. Sollte er wider Erwarten doch schon weg sein, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder befindet er sich auf Safari in einem der Tierparks rund um Arusha, oder er ist direkt gen Süden abgedampft. Schwierig könnte es werden, wenn er zu den Touristen zählt, die ihren Trip nach Tansania unbedingt mit einem Besuch der Serengeti verbinden müssen. Sollte Schutte gerade deren riesige Wildtierherden bestaunen, könnte ich ihn leicht aus den Augen verlieren – mal abgesehen davon, was mich eine Suche dort kosten würde. Vielleicht hat er den Trip ja auch schon hinter sich? Hatten muss das wissen!

Klar allerdings scheint, wohin es Schutte früher oder später ziehen wird. Wenn er in den Süden will, muss er unwei­gerlich durch Dar es Salaam hindurch. Wahrscheinlich ist das sowieso sein nächstes Ziel, nur dort kommt er an Informatio­nen, Ausrüstung, Karten undsoweiter. Dort spätestens müsste er sich finden lassen, vier Millionen Menschen hin oder her.

Bei meiner letzten Reise, die mit den lukrativen Spesen, glich die Straße nach Dar’ einem einzigen Trümmerfeld. Ein Asphalt­loch jagte das nächste, jedes tiefer als das vorherige, immer wieder schlugen die Stoßdämpfer des Busses knallhart in die Karos­serie und meinen Rücken. Das werde ich nie vergessen. Die Fahrt hatte zehn Stunden gedauert, zurück fuhr ich zum Selbstschutz lieber zweiter Klasse in den bequemen Ses­seln der vor sich hinzuckelnden tansanischen Staatsbahn. Seit allerdings die Straße vor ein paar Jahren endlich einen neuen Belag be­kam, hat die Bahn nichts mehr zu melden. Ihr Betrieb wurde eingestellt.

Hatten sagt, der mzungu habe nichts von wilden Tieren erzählt, was er garantiert getan hätte, wäre er schon in einem der Parks gewesen. Ein Grund mehr, dass er noch in der Stadt sein dürfte. Als der Weihnachtsschmaus bei Sonnenuntergang endlich ausklingt, mache ich mich auf die Socken. Eins nach dem anderen klap­pere ich die besseren Hotels von Moshi ab. Beim fünften schließ­lich, im altkolonialen „Key’s“, einst Stammquartier der weißen Siedler, hab ich Glück. Dem Portier, einem alten Freund von Kaishe, flüstere ich fragend Schuttes Namen zu, ohne sofort wieder weggeschickt zu werden. Er runzelt die Stirn, fragt noch mal nach, wiederholt leise „Schutte“ ohne sich zu rühren, und weist, nachdem ich einen Fünfhunderter über den Tresen geschoben habe, verstohlen mit den Augen auf einen dicklichen älteren mzungu in Jeans und weißem T-Shirt an der Bar im Garten, irgendwas um die vierzig und keine einssiebzig groß, der gerade ein Bier bestellt.