Der Schlüssel zum Mord - Anna Grue - E-Book + Hörbuch

Der Schlüssel zum Mord Hörbuch

Anna Grue

4,0

Beschreibung

Nicht alle Leichen liegen im Keller versteckt: Der dänische Kriminalroman »Der Schlüssel zum Mord« von Anna Grue jetzt als eBook bei dotbooks. Anne-Maj Mortensen kann sich wirklich Schöneres vorstellen, als ihren Ex-Mann nackt im Whirlpool zu finden – noch dazu mausetot! Die Polizei geht von einem Selbstmord aus, aber das will die resolute Rentnerin und Hobby-Spürnase nicht glauben: Sie ist fest entschlossen, gemeinsam mit ihrem treuen Dackel Mortensen die Wahrheit ans Licht zu bringen. Allerdings hat sie dabei weder mit einem ungewöhnlichen Paar gerechnet, das sich im Haus ihres Ex vergnügen will, noch mit einem Immobilienmakler, der möglicherweise alles andere als eine weiße Weste hat. Und als dann auch noch ein weiterer Mord geschieht, beginnt Anne-Maj zu ahnen, dass ihr Ex vielleicht mehr Geheimnisse vor ihr hatte, als sie bisher dachte … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das Cosy-Crime-Highlight »Der Schlüssel zum Mord« von Anna Grue wird alle Fans der Bestseller von Richard Osman und des Autorenduos Anders de la Motte & Måns Nilsson begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:14 Std. 13 min

Sprecher:Sabine Fischer
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Über dieses Buch:

Anne-Maj Mortensen kann sich wirklich Schöneres vorstellen, als ihren Ex-Mann nackt im Whirlpool zu finden – noch dazu mausetot! Die Polizei geht von einem Selbstmord aus, aber das will die resolute Rentnerin und Hobby-Spürnase nicht glauben: Sie ist fest entschlossen, gemeinsam mit ihrem treuen Dackel Mortensen die Wahrheit ans Licht zu bringen. Allerdings hat sie dabei weder mit einem ungewöhnlichen Paar gerechnet, das sich im Haus ihres Ex vergnügen will, noch mit einem Immobilienmakler, der möglicherweise alles andere als eine weiße Weste hat. Und als dann auch noch ein weiterer Mord geschieht, beginnt Anne-Maj zu ahnen, dass ihr Ex vielleicht mehr Geheimnisse vor ihr hatte, als sie bisher dachte …

Über die Autorin:

Anna Grue ist eine der meistgelesenen dänischen Krimiautorinnen und hat unter anderem die Buchvorlage zur ZDF-Fernsehserie »Dan Sommerdahl – Tödliche Idylle« geschrieben. »Tod im Trödelladen« ist der erste Roman ihrer neuen Cosy-Crime-Reihe mit der eigenwilligen Ermittlerin Anne-Maj Mortensen.

Die Website der Autorin: annagrue.dk

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre dänische Cozy-Crime-Serie um die Rentner-Detektivin Anne-Maj Mortensen mit den Einzeltiteln »Tod im Trödelladen«, »Mord im Kurhotel« und »Der Schlüssel zum Mord«.

Alle drei Bücher erscheinen außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

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eBook-Ausgabe Oktober 2023

Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Originaltitel »Nøglen til mord « bei SAGA Egmont, Kopenhagen.

Copyright © der dänischen Originalausgabe 2022, 2023 by Anna Grue

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2022, 2023 by SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Simon Lilholt unter Verwendung von Covermotiven von Imperiet and Saga Egmont

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-826-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Anna Grue

Der Schlüssel zum Mord

Ein Hygge-Krimi

Aus dem Dänischen von Roland Hoffmann

dotbooks.

Personenliste

Anne-Maj Mortensen, Vorruheständlerin und Amateurdetektivin

Iben Mortensen, Tochter, macht Ausbildung zur PKA

Ditte-Marie (Didi) Mortensen, Enkelin und Schülerin

Jonas Hinnerup, Ibens Lebensgefährte, Zimmerer

Mortensen der Dritte, Rauhaardackel

Lars Gammelgård, Inhaber, Die Grünen Makler

Pelle Strand, Makler in dieser Firma

Oscar Isfjord, Trainee ebendort

Carina Olsen, Rezeptionistin

Klaus Bech-Boesen, Partner

Lise Foss, Trainee

Annette Linn, selbstständige lokale Maklerin

Sol Jensen, Gymnasiastin

Katinka Svendsen, Gymnasiastin

Darwin James, Gymnasiast

Ellen Olivia Schäffer, Gymnasiastin

Philip Hugo Schäffer, Gymnasiast

Rasmus Kjeldsen, Gymnasiast

Anders Hall, Ermittler

Liselotte Schmidt, Kriminalhauptkommissarin

Kenneth Hansen, Ermittler

Stinne Jansen, Gerichtsmedizinerin

Helle Wiig, Journalistin

Lisbeth Jensen, Sols Mutter

Für Jesper, mit dem ich immer wieder gekauft und verkauft habe

1. TEIL

Vom 15. Juni bis zum 22. Juli

Kapitel 1

Dienstag, 15. Juni

Wenn Anne-Maj Mortensen besorgt ist, reagiert sie mit Zorn. Und da jede Verspätung einen Grund zur Besorgnis darstellt, ist sie leider in regelmäßigen Abständen zornig. Kommt jemand mehr als eine Viertelstunde später als vereinbart, sieht sie sofort ein schreckliches Unglück vor sich, kann Krankenwagen, Sirenen und Rettungshubschrauber beinahe schon hören. Ihre allzu lebhafte Fantasie lässt sie das Schlimmste befürchten. Wenn diejenigen, auf die sie wartet, dann schließlich auftauchen, sollte ihre Angst im Handumdrehen verdampfen und Anne-Maj mit tiefer Erleichterung und offenen Armen dazu bringen, deren Erscheinen noch mehr zu schätzen. Stattdessen wird sie zornig, weil sie ihr Grund zur Besorgnis gegeben haben.

Im Augenblick befindet sich Anne-Maj ganz oben im roten Bereich. Nicht genug, dass sie besorgt ist, sie ist auch erschrocken, und diese beiden Dinge machen sie ziemlich wütend. Per, ihr Scheißkerl von einem Exmann, begeht – behauptet er – genau in diesem Moment Selbstmord, und das hat der wehleidige Idiot Anne-Maj natürlich am Telefon mitgeteilt.

Seine Wohnung liegt nur einen Kilometer von ihrer entfernt, also legt sie ihrem Dackel, Mortensen dem Dritten, die Leine an und macht sich zu Fuß auf den Weg. Während sie gereizt den Havnevej hinunterstapft, überlegt sie, wie wahrscheinlich es eigentlich ist, dass der selbstsüchtige Schlappschwanz aus seinen Selbstmorddrohungen Ernst macht. In Wirklichkeit ist es wohl eine reelle Möglichkeit, denkt sie. Per ist gerade zum dritten Mal geschieden worden, er hat keine Freunde, trinkt ein bisschen zu viel, ist einsam und verbittert. Soweit sie weiß, ist er in seiner – nach eigener Aussage – bahnbrechenden Forschung, der er sich nach seiner Pensionierung vor ein paar Jahren gewidmet hat, in eine Sackgasse geraten. Vielleicht fühlte es sich wie eine Niederlage an, das Projekt aufgeben zu müssen, auch wenn er dies nie wirklich hat diskutieren wollen.

Letztes Jahr ist Per nach Nykøbing gezogen, und eine eigenartige und nicht ganz unkomplizierte Freundschaft hat sich zwischen ihm und seiner ersten Ehefrau entwickelt. Anne-Maj hat in gewisser Weise nach wie vor eine Art von Sympathie für ihren Exmann, und sie kann es nicht lassen, ein gewisses Mitleid mit ihm zu empfinden. Der Gedanke, dass Per vielleicht dabei ist, ein Glas Tabletten zu leeren, ist alarmierend.

Anne-Maj ist gezwungen, stehen zu bleiben, als sich die Schranken schließen und der Lokalzug von Holbæk vorbeidonnert. Sie steht ungeduldig trippelnd da, bis sich der Schlagbaum wieder in senkrechte Position erhebt, und forciert ihr Tempo noch ein wenig mehr. Mortensen blickt sie verwundert an. Es sieht seinem Frauchen in keiner Weise ähnlich, sich in so raschem Tempo zu bewegen – und er ist es wirklich nicht gewohnt, daran gehindert zu werden, an all seinen festen Grasbüscheln zu schnüffeln. Anne-Majs Unruhe wächst, je näher sie der Hafenfront kommen, an der ein Grüppchen besonders fotogener Häuser Schulter an Schulter steht. Sie sind Neubauten im Stil altmodischer Fischerdörfer, einige der Häuserreihen haben rote Holzfassaden, andere schwarze.

Anne-Maj drückt auf den Klingelknopf im Eingangsbereich, der zum Parkplatz auf der Ostseite der Häuserreihe geht. Einmal, zweimal. Drückt dann die Türklinke nach unten, aber die Eingangstür ist natürlich abgeschlossen. Beim dritten Mal hält sie den Klingelknopf lange Zeit gedrückt. Keine Reaktion. Sie holt ihr Mobiltelefon heraus und ruft Pers Nummer an. Von irgendwo hinter dem weiß gestrichenen Bretterzaun, der die private Terrasse der Erdgeschosswohnung umgibt, kann sie ein Klingeln hören. Wieder und wieder, bis sich der Anrufbeantworter einschaltet und sie die tiefe, ruhige Stimme ihres Exmannes hört, die sie auffordert, nach dem Signalton eine Nachricht zu hinterlassen. Anne-Maj rüttelt an dem Gartentor, doch auch das ist abgeschlossen. Sie kann über dem mannshohen Zaun den obersten Teil einer offenen Terrassentür erspähen. Sie versucht es mit einem »Hallo?«, gefolgt von einem etwas lauteren »Per? Hallo?«, aber es kommt keine Antwort.

Die Unruhe ist jetzt zu Angst angewachsen. Wenn ein Mensch mit Selbstmord droht und man dann zwanzig, fünfundzwanzig Minuten später mit dem Betreffenden nicht in Kontakt kommen kann … dann darf man es eigentlich sehr wohl mit der Angst zu tun bekommen, denkt Anne-Maj. Sie drückt auf sämtliche Klingelknöpfe in der Hoffnung, zumindest ins Haus zu gelangen, aber auch dieses Manöver führt zu nichts anderem als einem Schwall von Angstschweiß.

Anne-Maj läuft eilig um das Haus herum, während sie den höheren Mächten dafür dankt, dass sie vor neun Monaten ein neues Knie bekommen hat. Zuvor hätte sie sich niemals auf diese Weise fortbewegen können. Mortensens kurze Beine wirbeln wie Trommelstöcke. Auf der nach Westen gewandten Seite gibt es anstelle von geschlossenen Terrassen ein langes, offenes Holzdeck über die ganze Länge der Häuserreihe. Etliche der Bewohner im Erdgeschoss haben Gartenstühle herausgestellt, um in Mußestunden die Aussicht auf die schaukelnden Masten des Jachthafens genießen zu können. Hinter dem Wald aus Masten kann man an Land einen richtigen Wald erahnen, den Grønnehave, in dem Anne-Maj und Mortensen gern ihre Spaziergänge in einem etwas gemesseneren Tempo machen.

Zwei der Glastüren in Pers Wohnung gehen in diese Richtung. Anne-Maj klopft an die eine, schirmt die Augen mit den Händen ab und blickt in ein ziemlich großes Wohnzimmer mit offener Küche. Nichts. Ein benutztes Glas und eine Fernbedienung auf dem Sofatisch; im Fernsehen laufen TV 2 News. Eine Frau bewegt ihre Lippen, während unten am Bildschirm ein Textband von rechts nach links läuft. Die Stimme ist durch das Thermoglas der Tür ganz schwach zu hören. Ansonsten kein Laut.

Wieder drückt Anne-Maj eine Türklinke nach unten, und diesmal hat sie zu ihrer Überraschung Erfolg: Die Tür geht auf.

»Per?«

Kein Laut. Sie schaltet die News-Dame aus.

»Hallo? Per?«

Anne-Maj geht an der Küchenzeile vorbei zu den beiden Zimmern, die jeweils eine Glastür zu der geschlossenen Terrasse haben. In dem einen steht ein Doppelbett, ungemacht. Die Bettdecke liegt zusammengeknüllt am Fußende, und auf dem Nachtkästchen erblickt sie einen vollen Aschenbecher. Der Geruch nach altem Nikotin ist beißend, auch wenn die Tür nur angelehnt ist. Auf einem unordentlichen Haufen von Kleidung liegt ein Mobiltelefon. Anne-Maj nimmt es in die Hand, berührt leicht den gesperrten Bildschirm, worauf eine Meldung erscheint: Ehefrau 1. Unbeantworteter Anruf. Es vergehen ein paar Sekunden, ehe ihr klar wird, dass damit sie selbst gemeint sein muss. Ehefrau 1. Was bildet dieser Idiot sich ein? Anne-Maj wirft gereizt das Mobiltelefon hin und geht in das nächste Zimmer. Abgesehen von einem Stapel Umzugskartons und einem Einzelbett ist es leer; das Gästezimmer ist noch nicht fertig eingerichtet.

Sie geht zu der einzigen Tür, an der sie es noch nicht versucht hat, die einzige, die geschlossen ist. Sie führt ins Badezimmer, in dem sich, wie sie weiß, ein grotesk großer Whirlpool und eine winzig kleine Sauna befinden. Anne-Maj kann kaum Luft holen, hat das starke Gefühl, zu wissen, was sie erwartet. Das ist nur Einbildung, versucht sie sich selbst zu überzeugen, sie ist bloß hysterisch, weil … all das Ekelhafte, das im Kurhotel Høve passiert ist.

Im Zusammenhang mit ihrer Knieoperation im Herbst war Anne-Maj zur Reha in einem luxuriösen Wellnesshotel, wo sie in einer Badewanne voll heilkräftigem Schlamm eine Leiche fand. Die graubraune Masse hatte in diesem Fall nicht besonders zur Heilung beigetragen. Die Tote war ganz einfach in der schleimigen Masse ertrunken. Anne-Maj hat nie psychologische Hilfe in Anspruch genommen, die ihr angeboten worden war, und so steckt der Schock irgendwie noch immer in ihrem Körper, und allein der Anblick einer Badewanne oder der Geruch von Chlor lösen bei ihr Flashbacks an den fürchterlichen Tag aus. Sie steht da, die Hand an der Türklinke, versucht sich zusammenzureißen und die Klinke nach unten zu drücken. Da draußen ist niemand, sagt sie zu sich selbst. Und falls da jemand ist und falls er am Leben ist … dann muss ich wirklich versuchen, nicht allzu jähzornig darüber zu werden, dass er mir einen Schrecken eingejagt hat. Zwar ist Per ein Scheißkerl, aber er ist auch ein armseliger Schlucker. Ist er am Leben, sollte ich empathisch und verständnisvoll sein. Das darf ich nicht vergessen. Natürlich gibt es da draußen keine Leiche; natürlich liegt Per nicht tot in seinem lächerlichen Whirlpool.

Doch es gibt eine. Und er tut es.

Der Whirlpool ist voll mit hellrotem Wasser. An den Seiten der Wanne fließt das Blut in schmalen Bächen hinunter; an der Wand über der Wanne haben sich tiefrote Bögen wie riesige Engelsflügel abgezeichnet, deren lange, elegante Schwungfedern aus konzentrischen Blutspritzern bestehen. Blut befindet sich auch in einer Pfütze auf dem Boden, und vereinzelte Tropfen von Blut finden sich drüben am Waschbecken fast einen Meter entfernt. Es gibt sogar an der Decke Blutflecken; so frisch, dass sie noch immer auf den toten Körper in der Riesenwanne hinuntertropfen. Per hat einen tiefen Schnitt quer über das Handgelenk gemacht. Sein Arm hängt über den Rand der Wanne, und auf dem Boden liegt eine leere Whiskyflasche sowie ein altmodisches Rasiermesser. Wenn da nicht so viel Blut wäre, hätte man sehen können, dass der Schaft des Messers aus hübsch patiniertem Kuhhorn besteht. Per hat sich das Messer für sein bisschen BAföG irgendwann in den Siebzigern gekauft, als er und Anne-Maj immer noch zusammen waren, und er ist anscheinend dabei geblieben, sich auf die altmodische Weise zu rasieren. Herrje. Zu ihrer Verblüffung ist sie ganz gerührt. Per ist … war der altmodischste Mann, den sie kannte.

Unter dem rosafarbenen Wasser kann sie den rechten Arm ihres Exmannes ausmachen. Er hat sich auch hier geschnitten, doch der Schnitt an diesem Arm ist oberflächlicher – der Blutverlust nach dem ersten Schnitt ist so enorm gewesen, dass seine Kräfte vor dem zweiten bereits geschwunden waren.

Anne-Maj lässt ihren Blick weiter zu seinem Gesicht wandern. Die weit offenen, graugrünen Augen, die ins Nichts starren, das beinahe weiße Haar. Per hat es immer ultrakurz gehalten, doch jetzt ist jede Form von Bewuchs vom obersten Teil seines Schädels verschwunden, während die wenige Millimeter langen Haare in einem Kranz über den Ohren und im Nacken wachsen. Sein gefurchtes Kinn und seine Wangen sind glatt. Möchte wissen, denkt sie, ob das das Letzte war, was er unternahm, ehe er beschloss, das frisch geschliffene Rasiermesser zu etwas anderem zu verwenden.

Mortensen beginnt zu bellen. Er ist offensichtlich im Zweifel darüber, was er hier soll und welche Erwartungen an ihn in diesem eigenartigen Szenario gestellt werden, wo es unverkennbar nach rohem Fleisch riecht. Anne-Maj macht einen Schritt rückwärts und zieht die Tür hinter sich zu. Geht durch Pers Schlafzimmer und weiter hinaus auf die geschlossene Terrasse. Setzt sich auf einen der Gartenstühle und zwingt ihren Atem in einen ruhigen Rhythmus.

Genau das, was sie am allermeisten gefürchtet hat, ist eingetreten: eine weitere Leiche in einer weiteren Badewanne zu finden – als ob ein eigenartiger, raffinierter Fluch auf ihr ruhte. Noch einmal muss sie die Notrufzentrale anrufen, noch einmal muss sie zur Vernehmung, vielleicht sogar noch einmal als Verdächtige. Noch einmal muss sie die ganze Mühle durchlaufen, ohne jemals die Erlebnisse von damals verarbeitet zu haben. Wird sie zusammenbrechen? Oder wird der neue Schock ganz im Gegenteil den ersten verdrängen? Eigentlich fühlt es sich jetzt gerade genau so an. Anne-Maj erhebt sich und schiebt die Glastür zu, ehe sie Mortensen in dem eingezäunten gefliesten Innenhof laufen lässt, in dem man das Gefühl hat, in einem Pappkarton zu sitzen, aus dem man nur den Himmel und die hohen Bretterwände sieht. Vielleicht zerbreche ich vollkommen, wenn ich das Ganze der Polizei erkläre. Oder wenn ich es Iben erzählen soll. Oder vielleicht erst heute Abend, wenn ich schlafen will …

Anne-Maj wühlt in ihrer roten Schultertasche und holt wieder ihr Mobiltelefon heraus. Drückt die 1-1-2. Kommt durch. Erklärt, was passiert ist und wo sie und die Leiche sich befinden. Nennt ihren Namen und ihre Personennummer.

Dann setzt sie sich, um zu warten.

Kapitel 2

Dienstag, 22. Juni

»Nein, davon kann überhaupt nicht die Rede sein.« Iben hat vor lauter Gereiztheit rote Flecken auf den Wangen bekommen. »Würde mir im Traum nicht einfallen, in der Wohnung dieses Idioten zu wohnen.«

»Seine ist es ja nicht mehr«, sagt Anne-Maj und greift zur Schüssel mit dem frisch gemachten Gurkensalat. »Es ist eine gute Wohnung mit einer fantastischen Lage. Tolle Küche. Ein Zimmer für jeden und ein geschlossener Hof, sodass ihr Mortensen hinauslassen könnt, wenn ihr auf ihn aufpasst … Ihr könnt euch sogar selbst einen Hund anschaffen.«

»Jaa, Mama!«, sagt Didi. »Wollen wir dort nicht wohnen? Ich kann sehr wohl mit dem Fahrrad vom Hafen aus in die Schule fahren.«

»Nie im Leben«, antwortet ihre Mutter.

Anne-Maj wendet sich an Jonas. »Noch etwas Gurkensalat?«

»Danke«, sagt er und nimmt die Schüssel entgegen. »Was für ein leckeres Essen, Anne-Maj. Es ist schon ziemlich lange her, dass ich wie früher Brathähnchen mit allem bekommen habe.«

Sein beherzter Versucht, das Gespräch vom drohenden Familiendrama auf ein anderes Gleis zu bringen, misslingt: Iben lässt sich nicht ablenken. »Das ist schon möglich, Mutter«, sagt sie und schüttelt den Kopf, als ihr Lebensgefährte ihr die Schüssel reicht. »Aber ich möchte mit Pers Wohnung nichts zu tun haben.« Iben hat sich ihr ganzes Leben lang kategorisch geweigert, ihren Vater auch so zu bezeichnen.

»Du kannst doch wenigstens mitgehen und sie dir ansehen«, fährt Anne-Maj fort. »Sie gehört dir. Ganz einfach. Sie ist frei von Schulden, und du bist die Alleinerbin deines Vaters. Bist du gar nicht neugierig?«

»Also, ich habe überhaupt keine Lust, aber …« Iben blickt verstohlen zur zwölfjährigen Didi, die sich hat überreden lassen, einen Hühnerschenkel zu nehmen. Jetzt sitzt sie da und zieht mit einem Ausdruck tiefer Konzentration die Haut ab. »Jedenfalls nicht, wenn sie nicht sauber gemacht worden ist.«

Anne-Maj zuckt mit den Schultern. »Das ist sie noch nicht.« Auch sie wirft einen Blick auf ihre Enkelin. Alle in der Familie wissen, dass Didi eine besondere Fähigkeit hat, das Gespräch der Erwachsenen ein bisschen zu sehr zu verfolgen, auch wenn sie anscheinend mit etwas anderem beschäftigt ist. Ihre Mutter und ihre Großmutter haben längst beschlossen, Didi nicht in die bluttriefende Wahl seines Todes einzuweihen, auch wenn sie die Tatsache, dass der Mann seinen Tod selbst gewählt hatte, nicht hatten geheim halten können. »Ich habe die Reinigung für morgen bestellt«, sagt sie. »H.I. Cleaners aus Lårbakken.«

»Okay. Also ist die Pol… also sind sie … sind sie fertig mit …« Iben gibt es auf, die Frage zu vollenden, aber ihre Mutter versteht sie auch so. Die Ermittler haben der Ordnung halber den Fundort durchsucht, Anne-Maj vernommen und eine kriminaltechnische Untersuchung vorgenommen, um sicherzustellen, dass hinter Per Gunnarsens Tod kein Verbrechen steckte. Währenddessen ist die Wohnung natürlich versiegelt gewesen.

Anne-Maj nickt. »Es ist freie Bahn. Das Nachlassgericht hat den Erbfall noch nicht zu Ende bearbeitet, aber sie sagen, dass es verhältnismäßig schnell geht. Und die Polizei sagte heute Morgen, dass die Obduktion kein Zeichen von …« Sie blickt verstohlen zu Didi, die jetzt alles sichtbare Fett von dem inzwischen ziemlich verstümmelten Hühnerschenkel pult. »… etwas Kriminellen ergeben hat. Ich habe Schlüssel bekommen, sowohl für die Haustür als auch die Wohnung. Es sind natürlich deine, aber …«

»Behalte sie nur.«

»Ach Iben«, sagt Anne-Maj. »Früher oder später musst du dir die Wohnung doch ansehen. Wenn du dort nicht wohnen willst, muss sie verkauft werden.« Sie weiß, dass ihre Tochter, die gerade eine Ausbildung zur PKA in der örtlichen Apotheke macht, das Geld wirklich gut gebrauchen könnte. »Du musst herausfinden, wie viel du für sie bekommen kannst.«

»Du könntest sie auch an Touristen vermieten«, sagt Jonas. Das ist sein erster Beitrag zu der Diskussion, die während einiger Tage in regelmäßigen Abständen wiederaufgenommen wurde. »Wenn du es wochenweise machst … Du kannst dabei richtig gut verdienen, Iben. Sie ist ganz neu und liegt perfekt dort am Jachthafen. Wenn wir annehmen, dass du auf jeden Fall vier- oder fünftausend Kronen für eine Woche in der Hochsaison verlangen kannst und du sie … sagen wir mal … zwölf bis vierzehn Wochen zwischen Ostern und den Herbstferien vermieten kannst, dann kannst du zwischen …«

»Sie soll nicht vermietet werden«, unterbricht ihn Iben. »Wenn, dann soll sie verkauft werden. Je früher, desto besser.«

»Ja, ja … Bargeld hat man ja nie genug.« Jonas versucht, seine Enttäuschung zu verbergen, dass sein Vorschlag so kategorisch abgewiesen wird.

Iben nimmt die Glaskanne, gießt den letzten Schluck Wasser ein und steht auf. »Du hast recht, Mama. Ich kann es mir offen gestanden nicht leisten, Bargeld abzulehnen … Hast du noch Eiswürfel?«

»Oberste Schublade im Gefrierschrank«, antwortet Anne-Maj. »Auf der linken Seite.« Sie ist ganz stolz darauf, ihr Kontroll-Gen so sehr beherrschen zu können, dass sie ihre Tochter allein etwas aus dem Gefrierschrank holen lässt, aber sie kann es nicht lassen, aus dem Augenwinkel genau darauf zu achten, dass der Eiswürfelbehälter wieder gebührend aufgefüllt und an seinen Platz gestellt wird, ehe Iben den Gefrierschrank schließt und zurück zum Tisch kommt.

»Okay«, sagt sie und füllt alle Gläser auf, ehe sie sich wieder setzt. »Dann lass uns die Wohnung doch zusammen ansehen, Frau Mortensen. Also, wenn sie sauber gemacht worden ist.«

»Selbstverständlich.« Anne-Maj versteht nur allzu gut, dass Iben keine Lust hat, ihre neu erworbene Immobilie anzusehen, ehe die Spuren von dem Blutbad entfernt worden sind. »Wir können es am Donnerstag tun, wenn du frei hast.«

»Ich will mit«, sagt Didi, die wie vermutet alle Details des Gesprächs in sich aufgesogen hat.

»Wolltest du nicht zu Vigga?«, fragt ihre Mutter. »Ihr wart doch gerade an diesem Videoprojekt, oder?«

»Ich möchte lieber Opas Wohnung sehen.«

»Donnerstag muss ich lange arbeiten«, sagt Jonas. »Wir haben versprochen, dieses Dach in Tveje Merløse bis zum Wochenende fertigzustellen.«

»Es gibt doch keinen Grund, dass du mitkommst.« Iben sieht ihn an und fährt etwas sanfter fort: »Zumindest nicht beim ersten Mal.«

Ein Schulterzucken. »Gut.”

Anne-Maj zweifelt bisweilen daran, wie es Iben und Jonas eigentlich miteinander geht. Sie sind nach wie vor verliebt, daran besteht kein Zweifel, aber es geschieht immer häufiger, dass Iben ihm auf diese ungeduldige Weise das Wort abschneidet, was ansonsten ihrer Mutter vorbehalten war. Anne-Maj kann nicht umhin, daran zu denken, wie lange er sich das wohl gefallen lässt.

Jonas ist ihr Nachbar, ein fünfunddreißig Jahre alter Zimmerergeselle mit einem ausgeglichenen Gemüt. Seit mehreren Jahren haben er und Anne-Maj eine Vereinbarung zum wechselseitigen Vorteil: Sie kümmert sich um seinen Garten, während er all die kleinen Reparaturen in ihrem kleinen, hellblauen Stadthaus erledigt. Doch trotz wiederholter Schwätzchen über verstopfte Abflüsse, Giersch und heruntergetretene Türschwellen war genau das ihre einzige Gemeinsamkeit gewesen – bis Jonas und ihre Tochter vor einem Jahr völlig überraschend ein Paar wurden.

Erst seit Iben Teil der Gleichung ist, isst Jonas bisweilen zusammen mit der Familie, und Anne-Maj schätzt den ruhigen, praktisch veranlagten Mann umso mehr und sieht in ihm auf jeden Fall eine positive Erweiterung ihrer kleinen Gruppe. Ob er sich unter den drei Generationen von temperamentvollen weiblichen Wesen ebenso wohl fühlt, ist schwer zu sagen. Es macht den Eindruck, auch wenn Jonas gern eine gute Entschuldigung vorbringt, um zu verschwinden und irgendetwas zu reparieren, wenn sich ein Konflikt anbahnt, und vielleicht reicht ihm dieses kleine Ventil, denkt Anne-Maj. Vielleicht macht er es so im Alltag auch mit Iben. Es ist gut möglich, dass er in Wirklichkeit mit der Gesamtsituation ganz zufrieden ist. Das kann man nur hoffen.

»Ich finde, dass ihr häufig so sauer auf Opa wirkt.« Didi schiebt ihren Teller von sich, auf dem Knorpel, Knochen, Haut und andere verdächtig aussehende Teile des Hühnerschenkels sowie der ganze Gurkensalat und die Erbsen liegen. Nur die Pommes frites und das ganz normale Fleisch sind weg. »Was hat er eigentlich getan?«

Anne-Maj und Iben wechseln einen Blick.

»Also, ich weiß natürlich, dass ihr euch habt scheiden lassen, als du schwanger warst, Frau Mortensen«, fährt Didi fort, »aber das passiert doch bei so vielen.«

Anne-Maj zögert. Wie detailliert kann man einem Kind von derlei Dingen erzählen? »Ich bin vielleicht manchmal ein wenig ungerecht«, räumt sie ein. »Er war zu mir ja nicht schlecht auf diese Weise. Er hat mich nie geschlagen und nie ein böses Wort gesagt, und seit er hierhergezogen ist, hatten wir es eigentlich richtig nett miteinander. Per war im Grunde genommen ein freundlicher und intelligenter Mensch. Und außerdem hatte er Humor.« Sie spürt mit einem Mal, wie sich ihr Hals zuschnürt, und muss sich räuspern, um den Knoten zu lösen. »Er war ganz einfach gute Gesellschaft.«

»Also habt ihr einander geliebt?«

»Ja, ganz sicher. Zumindest in jungen Jahren. Doch es gab immer irgendetwas, das nicht so ganz … Wie soll ich es nur erklären? Ich hatte immer das Gefühl, dass es da einen Teil von ihm gab, den ich nicht kennenlernen durfte. Als ob er sich meiner schämte. Beispielsweise habe ich niemals seine Familie getroffen …«

»Seine Eltern waren doch tot, oder?«, sagt Iben. »Und er war ein Einzelkind.«

»Ja, ja, aber es muss doch andere gegeben haben, denen er verbunden war. Alte Klassenkameraden, Vettern, Cousinen … Aber nein. Und er weigerte sich, mit mir darüber zu reden.« Anne-Maj zuckt mit den Schultern. »In der Tat wollte er weder etwas mit seiner alten Familie zu tun haben noch eine neue gründen.«

»Wie das denn?«, fragt Didi mit einer tiefen Furche zwischen den Augenbrauen. Möchte wissen, wie viel sie von alldem hier eigentlich versteht, denkt Anne-Maj.

Iben sieht zu ihrer Tochter: »Opa hat sich wirklich kein Kind gewünscht. Wirklich nicht. Ich war ein Unfall.«

»Ich habe dich nie als einen Unfall gesehen«, sagt Anne-Maj.

»Das weiß ich doch.« Iben lächelt, doch ihre Augen sehen traurig aus. »Doch für ihn war ich das. Du hast es doch selbst erzählt: Per hat versucht, dich zu einer Abtreibung zu überreden, und er entfernte sich mehr und mehr, je mehr die Schwangerschaft voranschritt. Er hasste den Gedanken, Vater zu werden. Und dann hat er eine andere getroffen.«

»Ein älteres Modell«, fügt Anne-Maj hinzu, wie sie es an diesem Punkt der Geschichte immer tut. »Gerade darin war er doch originell. Die meisten Männer schauen sich doch nach etwas Jüngerem um.« Sie versucht es mit einem schiefen Lächeln in Richtung Jonas, doch der reagiert nicht. Vielleicht hängt seine fehlende Begeisterung für die Replik mit den acht, neun Jahren zusammen, die Iben älter als er ist, wird es Anne-Maj plötzlich bewusst. »Und damit«, fügt sie schleunigst hinzu, »meine ich eine Frau in seinem Alter. Ich war jünger.«

»Als er starb, war er also … wie alt? Einundsiebzig?«, fragt Iben. »Also sechs Jahre älter als du.«

»Genau. Als er mich verließ, war er siebenundzwanzig und arbeitete draußen in der Anstalt – im Bezirkskrankenhaus. Damals gab es noch ein psychiatrisches Krankenhaus in unserer Stadt. Das war sein erster richtiger Job als Arzt …«

»Anstalt? Also die Sicherungsanstalt, oder?«

»Ja. Dort hat man damals die gerichtspsychiatrischen Gutachten von Kriminellen erstellt, und die gefährlichsten kamen dort draußen auch in Verwahrung.«

Didi macht große Augen. »Mörder? Psychopathen oder wie das heißt?«

Anne-Maj nickt. »So nannte man sie damals zumindest.«

»Und du hast auch im Bezirkskrankenhaus gearbeitet?«, fragt Iben.

»In einer anderen Abteilung, ja. Damals durften nur Männer mit den Kriminellen arbeiten.« Anne-Maj zuckt mit den Schultern. »Ein paar Wochen vor dem Termin ging ich in Mutterschutz … Und da verliebte Per sich in eine Krankenschwester aus der Ambulanz und wollte die Scheidung.«

»Das ist ganz einfach so pathetisch«, sagt Iben. »So ein Klischee.«

»Wenn du es sagst«, sagt Anne-Maj mit einer Grimasse. »Er hat nie zurückgeblickt, während ich wie ein gestrandeter Wal auf dem Sofa lag und Rotz und Wasser heulte.«

»War er auch nicht dabei, als Mama geboren wurde?«, fragt Didi.

»Aber nein. Ich habe mich in meinem ganzen Leben nie so einsam gefühlt … Das habe ich ihm nie verziehen.«

»Aber Großmutter war doch da«, sagt Iben. »Deine Urgroßmutter«, fügt sie zu Didi gewandt hinzu.

»Ja, sie war bei der Geburt dabei und half mir in jener Zeit insgesamt gesehen sehr«, sagt Anne-Maj und spürt einen Stich. Es geschieht nicht sehr oft, dass sie ihre längst verstorbene Mutter vermisst, aber ab und zu blitzt es plötzlich auf. »Es ist bloß nicht dasselbe, wie das ganze Erlebnis mit dem Kindsvater zu teilen, nicht wahr? Per ließ sich bloß wenige Monate später sterilisieren, hat er mir kürzlich erzählt.«

»Also war das wirklich seine Einstellung«, sagt Iben. »Er wollte keine Kinder haben.«

»Darauf kannst du Gift nehmen.«

»Du hast ihn aber doch getroffen, als du ein Kind warst, oder Mama?«, fragt Didi. Die nachdenkliche Furche ist nach wie vor da. Ausnahmsweise ist das ein Problemkomplex, aus dem sie nicht klug wird. Alles, was mit Mathematik, Technik und Computern zu tun hat, ist für die Zwölfjährige buchstäblich ein Kinderspiel, aber was menschliche Interaktion angeht, hat sie noch viel zu lernen.

»Die paar Mal, die ich mit Per zusammen war, lassen sich an einer Hand abzählen«, antwortet Iben. »Er war völlig desinteressiert. Als Kind habe ich ihn nur ein einziges Mal getroffen, und das war kein Erfolg. Als ich halbwüchsig wurde, rief ich ihn an, doch er antwortete bloß, dass er derzeit viel zu tun hätte – und seither habe ich von ihm nichts mehr gehört. Erst jetzt im Frühjahr, als er plötzlich gern Kontakt haben wollte und wir ihn gemeinsam mit Oma besucht haben.«

»Also, ich finde, dass er lieb war«, sagt Didi. »Er hatte mir Filzstifte gekauft. Und einen Block.«

»Ja, ja«, sagt Iben neutral. »Das war auch nett von ihm.«

»Zumindest gab es niemals Ärger mit dem Kindesunterhalt«, sagt Anne-Maj. »Das muss man ihm lassen. Und zu Weihnachten schickte er immer etwas mehr. Kannst du dich nicht daran erinnern, Iben?«

Jetzt erhebt Jonas sich. »Wollen wir nicht mit Mortensen Gassi gehen?«, fragt er Didi. »Das Wetter ist so schön.«

Das Kind zögert. Sie hat ganz sicher Lust, das interessante Gespräch fortzusetzen, doch da ihre Mutter und ihre Großmutter im selben Moment beginnen, den Tisch abzuräumen, sieht sie ein, dass das Fenster in die verzwickte Welt der Erwachsenen sich wieder geschlossen hat. Sie sieht zu Jonas. »Wir dürfen die Hundekotbeutel nicht vergessen.«

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat, wendet Iben sich Anne-Maj zu. »Soweit ich verstanden habe, ist der Gerichtsmediziner mit Pers Leiche fertig. Bedeutet das, dass wir den Bestatter beauftragen und es hinter uns bringen können?«

»Darum kümmere ich mich schon.« Anne-Maj beginnt das Geschirr vorzuspülen und in den Geschirrspüler zu stellen. »Ich finde zwar seine Geburtsurkunde nicht – aber ich glaube, dass es sich dennoch machen lässt.«

»Kann ich irgendetwas tun?«

»Mach dir keine Gedanken. Fürs Erste jedenfalls nicht. Ich spreche mit dem Bestatter. Es ist wohl nicht das erste Mal, dass er es mit einem Verstorbenen zu tun hat, der seine Papiere verloren hat … Ich habe seine Gesundheitskarte und den Totenschein des Arztes. Vielleicht reicht das.«

»Wie sieht es mit einer Traueranzeige und so aus?«

»Wir lassen eine in der Zeitung veröffentlichen. Ich habe die beiden anderen Exfrauen natürlich direkt benachrichtigt.«

»Gut.«

»Vinnie – also die, in die er sich verliebte, während ich mit dir schwanger war – ist es wohl mehr oder weniger egal, ob Per lebendig oder tot ist, aber sie und ihr Mann wollen versuchen, es zu schaffen.«

»Also Ehefrau 2?« Iben schneidet eine Grimasse. Sie ist über Pers Einteilung der Exfrauen fast noch verärgerter als ihre Mutter.

»Genau. Und Grith – die, mit der er richtig lange zusammen war und von der er letztes Jahr geschieden wurde … Ja, sie hat versprochen zu kommen.« Anne-Maj zögert. »Sie hat mir im Übrigen etwas Eigenartiges erzählt …«

»Ja?«

»Dass Per Krebs hatte. Dickdarmkrebs mit Metastasen in alle Richtungen. Er hatte eine lebensverlängernde Behandlung verweigert, wollte nur etwas gegen die Schmerzen.«

»Also war es unheilbar?«

»Der arme Mann.«

Iben sieht sie an. »Und er hat nichts davon gesagt?«

»Keinen Ton. Das ist doch komisch, oder?« Anne-Maj spürt Tränen in ihren Augenwinkeln und blinzelt ein paar Mal.

»Wirklich.« Iben hat zum Glück nichts bemerkt. »Wirklich«, wiederholt sie. »So viel, wie du mit ihm zuletzt zusammen warst.«

Anne-Maj räuspert sich. »Ja«, sagt sie und trinkt einen Schluck Wasser, »das ist es tatsächlich.«

»Kann es sein, dass er sich deshalb das Leben genommen hat? Um den Schmerzen zu entkommen?«

»Es ist auf jeden Fall eine Möglichkeit.«

»Das erklärt bloß nicht, warum er dir nichts gesagt hat.«

»Vielleicht hat er sich geschämt, dass ihm überhaupt etwas fehlte. Per war ein stolzer Mann; keiner, der gern Schwäche zeigte. Grith hat erzählt, dass er sie nicht einmal bei den Gesprächen im Krankenhaus dabeihaben wollte …«

»Männer sind eigenartig.«

»Manche Männer, ja.«

»Jedenfalls kann ich mir keine Frau vorstellen, die so reagiert.«

»Auch das ist eine etwas überzogene Verallgemeinerung.«

»Vielleicht.«

»Gut, aber …« Anne-Maj schüttelt den Missmut von sich ab. »Wir werden uns auf jeden Fall bei einer ganz kleinen Feier ohne religiösen Touch verabschieden. Per war aus der Kirche ausgetreten und hätte seinen entseelten Leib unter Garantie lieber in einen vollen Jauchebehälter versenken als von einem Priester segnen lassen.«

»Also findet es nicht in der Kirche statt?«

»Auf keinen Fall.« Anne-Maj blickt Iben an. »Offen gestanden habe ich mir gedacht …«

»Ja?«

»Ich habe auf der Homepage des Bestatters gesehen, dass man den Verstorbenen abholen und direkt ins Krematorium fahren lassen kann, ohne dass Angehörige dabei sind.« Als Iben nicht antwortet, fährt sie fort: »Man kann ja doch eine kleine Gedenkfeier für Familie und Freunde abhalten, ohne dass man direkt gesehen hat, wie der Sarg weggefahren wird, oder etwa nicht? Wir können sehr wohl in seiner Wohnung sein, wenn es sein muss. Reden halten, Anekdoten erzählen, sogar ein bisschen gemeinsam singen.«

»Also darf er einfach so verschwinden? Was ist mit der Asche? Einfach so raus damit?«

»Laut Homepage kann man die in einer Urne bekommen, wenn man möchte.«

»Also, ich habe damit keine Probleme, aber … Was ist mit Didi?« Iben schneidet eine kleine Grimasse. »Wird sie das zu zynisch finden?«

»Vielleicht. Aber wenn wir die Urne haben und sie in die Erde stellen … Das können wir Didi doch sehr wohl erklären.”

Iben sieht sie an. »Die kommt doch nicht ins Familiengrab, oder?«

»Nein. Ins Grab der Unbekannten«, antwortet Anne-Maj und wirft Hühnerknochen und Knorpel in den Eimer mit Biomüll. Ausnahmsweise kocht sie aus dem Gerippe, an dem kein Fetzen Fleisch mehr hängt, keinen Fond. Seitdem Jonas zur Familie hinzugekommen ist, wird wirklich aufgegessen.

Iben verschwindet ins Wohnzimmer und kommt mit den letzten Gläsern zurück. »Soll ich Kaffee aufsetzen?«

»Das mache ich.« In Anne-Majs Küche darf niemand bei der Zubereitung von irgendetwas helfen. Und schon gar nicht Iben, die außerstande ist, auch nur ein Ei korrekt zu kochen. Sie Eiswürfel holen zu lassen ist das Äußerste, was ihre Mutter ihr zubilligt. »Aber wenn du bitte nachsiehst, ob die Tischdecke in die Wäsche muss, wäre ich dir dankbar.«

Während Iben auf der Terrasse steht und Krümel aus der gestreiften Tischdecke schüttelt, beschließt Anne-Maj, den Bestatter vor Ort zu beauftragen, der sich damals um die Beisetzung ihrer Mutter gekümmert hat. Er ist natürlich schon längst von der Arbeit nach Hause gegangen, aber man kann wohl eine Nachricht auf dem AB hinterlassen, denkt sie. Dann ist der Prozess zumindest angestoßen.

»Und, was ist?«, fragt Iben, die wieder hereingekommen ist und sieht, wie ihre Mutter das Telefon hinlegt.

»Ich habe dem Bestatter eine Nachricht hinterlassen und ihn gebeten, mit dem Gerichtsmediziner abzusprechen, wann er … ihn holen kann.«

»Okay.«

»Am besten ist es wohl, wenn die Gedenkfeier an einem Sonntag stattfindet … aus Rücksicht auf alle, die arbeiten müssen.«

»Ich kann ohne Weiteres einen Dienst tauschen, sodass ich an einem Samstag frei habe.«

»Wie sieht es bei dir mit dem dritten Juli aus? Oder wollen wir es lieber auf den zehnten legen – zur Sicherheit?«

»Der zehnte ist gut. Ich tausche meinen Dienst.« Ibens Ausdruck ist abwesend. »Möchte wissen …«, sagt sie und nimmt die Tasse Kaffee entgegen, die Anne-Maj ihr reicht, »… wie viel Zeit glaubst du eigentlich, dass Per noch hatte? Also, wenn er sich nicht das Leben genommen hätte?«

»So sehr ist Grith nicht ins Detail gegangen.«

»Er hätte uns allen einiges an Mühen ersparen können, wenn er in ein paar Wochen sowieso tot gewesen wäre, oder? So ein Selbstmord ist wirklich ein Kuddelmuddel.«

»Ja. Doch ich weiß, wie gesagt, nichts.« Anne-Maj hat sich auf das Sofa gesetzt und die Beine hochgelegt. »Vielleicht hat er es nicht mehr ausgehalten. Ein paar Wochen klingen für uns, die gesund und munter sind, vielleicht nach nicht viel, aber wenn man gewaltige Schmerzen hat, ist jede Sekunde eine Qual … Per ging es wohl so schlecht, dass ihm ein Selbstmord als einziger Ausweg erschien.«

Im selben Moment geht die Haustür auf, und sie hören Didis fröhliche Stimme im Gang.

»Genug davon«, sagt Anne-Maj. »Es muss Grenzen geben, worüber die Kleine Bescheid weiß.«

»Sehe ich auch so. Ich spreche mit ihr später über die Gedenkfeier.«

Mortensen der Dritte kommt über den Wohnzimmerboden getippelt, die Leine hinter sich herschleppend. Er begrüßt die beiden überschwänglich, als ob er monatelang entführt worden war und nun endlich nach Hause gefunden hat.

»War es ein schöner Spaziergang?«, fragt Iben.

»Wir haben Opas Wohnung gesehen«, erklärt Didi. »Natürlich nur von außen.«

»Aha.« Iben wirft Jonas einen nicht besonders freundlichen Blick zu.

»Das war überhaupt nicht geplant«, verteidigt er sich. »Didi hat mich zum Hafen hinuntergelockt, ohne dass ich Verdacht geschöpft habe – und plötzlich waren wir dort. Deine Tochter ist für mich eine Nummer zu gerissen.«

Anne-Maj ist einen Augenblick ganz verzweifelt, doch als sie ein paar Sekunden nachgedacht hat, atmet sie erleichtert auf. Im Badezimmer der Wohnung gibt es ja kein Fenster. Keine Gefahr, dass das Kind Spuren von Per Gunnarsens dramatischem Selbstmord entdeckt hat.

Und ganz richtig: »Wir konnten nur ins Wohnzimmer sehen«, versichert Jonas und sieht erst der Mutter des Kindes, dann Anne-Maj in die Augen. »Nicht in die restlichen Räume.«

Kapitel 3

Donnerstag, 24. Juni

»Aber, das verstehe ich nicht … Sie haben doch gesagt, dass … dass sie fertig wären … dass du ihn jetzt holen könntest.«

Der Bestatter bedauert. »Ich bin den ganz normalen Weg gegangen, um mit dem Gerichtsmedizinischen Institut abzuklären, wann der Verstorbene abgeholt werden kann. Als ich gestern Nachmittag noch nichts von dort gehört hatte, habe ich nachgehakt. Und da sagten sie, dass die Polizei ihr Okay noch nicht gegeben hatte. Sie wollten die Sache noch einmal untersuchen und heute Morgen anrufen. Doch da erhielt ich nur denselben Bescheid.«

Anne-Maj lässt sich in den nächsten Sessel sinken. »Na sowas!«

»Ja, ich weiß nicht mehr als das, was ich dir erzählt habe«, sagt der Bestatter.

Nein, wie Anne-Maj diesen Zirkus hier verabscheut! Wenn die Ermittlungen nach wie vor laufen – was ist dann mit der Reinigung des Fundorts, die sie gestern vorgenommen hat? Hat die wichtige Spuren beseitigt? Und würde man sie dafür belangen können? Kann es wirklich sein, dass sie die Freigabe missverstanden hat?

Sie sucht die Nummer des Polizeibeamten heraus, mit dem sie sprach, als sie Per tot aufgefunden hatte. Er ist krankgeschrieben, findet sie heraus. Anne-Maj bittet darum, mit jemand anderem sprechen zu dürfen, bekommt aber nur ein etwas vages Versprechen, dass sie jemand bei Gelegenheit zurückrufen wird. »Heute ist hier viel los«, fügt der Diensthabende hinzu. Anne-Maj weiß aus Erfahrung, dass es zwischen fünf Minuten und ebenso vielen Tagen dauern kann, ehe jemand auf die Idee kommt, bei einem Anruf von nicht akutem Charakter zurückzurufen.

Dann gibt sie Anders Halls Mobilnummer ein. Er meldet sich umgehend, ist wie üblich freundlich und entgegenkommend, aber nicht in der Nähe eines Computers. Im Moment ist er auf dem Weg nach Ejby, um mit einem Zeugen in einem Fall von Gewaltanwendung zu sprechen, erklärt er, und hat keine Möglichkeit, im System zu überprüfen, ob die Fälle anderer Ermittler abgeschlossen sind oder nicht. Liselotte Schmidt? Auch nicht, leider. Anders weiß, dass sie heute und morgen an einer interskandinavischen Videokonferenz teilnimmt, also wird sie unter Garantie keine kostbare Zeit darauf verschwenden, sich um einen banalen Selbstmord zu kümmern.

Anne-Maj muss sich zusammenreißen, um ihn nicht anzuknurren. Was für eine Bürokratie! Sie sitzt eine Weile mit dem Mobiltelefon in der Hand da und wägt ihre Möglichkeiten ab. Dann googelt sie das Gerichtsmedizinische Institut und ruft die Nummer an, die auf der Homepage angegeben ist.

»Guten Tag«, sagt Anne-Maj, als ein Mann den Anruf entgegennimmt. »Weißt du, ob Stinne Jansen heute arbeitet?«

»Das tut sie«, sagt er sofort. »Ich habe sie eben gesehen. Einen Augenblick.«

So einfach geht das. Daran könnten sich gewisse andere öffentliche Instanzen mal ein Beispiel nehmen, denkt sie.

»Stinne«, ertönt eine Stimme, die Anne-Maj sofort wiedererkennt. Es waren nicht viele Minuten, die sie im Zusammenhang mit dem Mordfall im Herbst in Gesellschaft der hübschen, dunkelhaarigen Gerichtsmedizinerin mit den sanften Augen verbracht hat. Doch vergessen wird sie sie nie. Die unmittelbare Fürsorge für Anne-Maj in einer Situation, in der niemand sonst ernsthaft Rücksicht auf ihren physischen und mentalen Zustand nahm … An so etwas erinnert man sich.

»Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst, Stinne«, sagt sie und holt zu einer Erklärung aus, wo und wann sie einander getroffen haben.

»Natürlich tue ich das, Anne-Maj«, unterbricht sie die Ärztin. »Wie geht es deinem Knie?«

»Gut. Es ist wie neu.«

Sie bringen schnell den anfänglichen Smalltalk hinter sich, um dann zur Sache zu kommen: »Ich befinde mich in einer dummen Situation«, beginnt Anne-Maj. »Vor zwei Tagen hat die Polizei gesagt, dass mein Exmann … also, dass mein verstorbener Exmann freigegeben wäre und dass der Bestatter ihn abholen könnte.«

»Also ist er hier bei uns gewesen?«, fragt Stinne. »Wurde er obduziert?«

»Ja. Er hat Selbstmord begangen.«

»Das tut mir leid«, sagt die Gerichtsmedizinerin. »Nenne mir doch bitte seinen Namen.«

»Per Gunnarsen.«

Anne-Maj erklärt, wie alles zusammenhängt. Von dem blutigen Badezimmer und dem Bestatter und der prosaischen Verbrennung, die vielleicht verschoben werden muss. Die Gerichtsmedizinerin ist ganz still, doch Anne-Maj kann ein schwaches Klicken erahnen, als ob jemand auf einer Tastatur schreibt.

»Hast du eine Personennummer?«, fragt Stinne. »Nur der Ordnung halber?«

Anne-Maj hat sie zum Glück auf dem Block stehen, den sie bei ihren vielen Gesprächen mit dem Nachlassgericht und der Polizei und all den anderen verwendet, die auf die Idee kommen können, nach so etwas zu fragen.

»Du hast vollkommen recht«, sagt Stinne dann. »Der Obduzent ist fertig, und ich kann hier sehen, dass die Polizei der Freigabe der Leiche zugestimmt hat.«

»Aber warum sagt ihr dem Bestatter dann etwas anderes?«

»Das weiß ich ganz einfach nicht. Irgendwo muss es zu einem Missverständnis gekommen sein. Man muss die öffentlichen IT-Systeme ja nicht allzu sehr heruntermachen, aber … Sagen wir einmal, dass es hin und wieder ein wenig hakt … Auch wenn … es kann natürlich auch ein menschlicher Fehler sein. Das kommt schon mal vor.«

»Und, was jetzt?«

»Jetzt habe ich eine Mail an die Zentrale geschickt. Dein Bestatter kann einfach anrufen und einen Termin vereinbaren.«

»Tausend Dank.«

»Keine Ursache.«

Anne-Maj will sich gerade verabschieden, als ihr etwas einfällt: »Mir kommt gerade ein Gedanke …«

»Ja?«

»Meine Tochter, die also auch Per Gunnarsens Tochter ist … Sie grübelt darüber nach, wie lange ihr Vater eigentlich noch zu leben hatte.«

Eine beinahe unmerkliche Pause. »Wie meinst du das?«

»Also, wenn er sich nicht das Leben genommen hätte … Wie lange hätte er mit seinem Dickdarmkrebs denn noch leben können? Mir wurde gesagt, dass er im ganzen Körper Metastasen hatte und dass die Krankheit unheilbar war und jegliche Behandlung gestoppt worden war, aber ich habe nie herausbekommen, welchen zeitlichen Horizont ihm die Ärzte gegeben hatten. Falls sie ihm einen gegeben haben.« Als Stinne nach wie vor zögert, fährt Anne-Maj fort: »Mir ist sehr wohl klar, dass es schwer ist, dies ganz genau zu beantworten, aber aus der Krankenakte kannst du vielleicht entnehmen, wie …«

»Ja, also, ich weiß nicht, was ich sagen soll, Anne-Maj«, sagt Stinne etwas zögerlich. »Per Gunnarsen hatte keinen Krebs, zumindest nicht so fortgeschritten, dass er mit dem bloßen Auge zu sehen war …«

»Das muss ein Fehler sein.«

»Nein, kein Fehler, da bin ich mir sicher. Ich suche gerade in der Datei, aber es besteht kein Zweifel. Gunnarsen war in relativer guter Form. Keine Erkrankung der inneren Organe, keine Tumore oder andere Anzeichen auf Krebs, keine größeren Verkalkungen oder ein schwaches Herz. Per Gunnarsen starb an einem enormen Blutverlust, nachdem er sich recht professionell die Arterien durchschnitten hatte.« Sie räuspert sich. »Laut den Angaben hier hätte dein Exmann noch jahrelang leben können.«

Anne-Maj ist so schockiert, dass es ihr nur mit Mühe und Not gelingt, sich zu verabschieden. Warum in aller Welt hat Per Grith diese Krebsgeschichte aufgetischt? Es ist doch völlig abwegig, dass er eine unheilbare Krankheit so mir nichts, dir nichts erfunden hat …

Sie ruft den Bestatter an und erklärt, dass jetzt alles in Ordnung ist. Dann geht sie in die Küche und macht sich ein Brot. Selbst gebackenes Roggenbrot, Bio-Butter mit Siedesalz, die gute Leberpastete vom Metzger, ihre eigene eingekochte Roten Bete. Sie stellt sich in die offene Küchentür und blickt hinaus in den Garten, während sie ihr einfaches Mittagessen isst. Die tieflila Blüten des Flieders sind am Rand bräunlich geworden, aber die Weigelien mit ihren pinkfarbenen Glöckchen sehen toll aus, und der unechte Jasmin ist kurz vor dem Aufblühen. Sie betrachtet das alles, ohne es zu sehen, kaut ihr Essen, ohne es zu schmecken, hört die Amseln, ohne dass der Klang eindringt. Sie spürt, wie sich Mortensen der Dritte an ihrem Bein vorbeischiebt und hinaus auf den Rasen geht, aber sie nimmt es nicht wahr.

***

Mitten am Nachmittag hat Anne-Maj vereinbart, Iben und Didi zu den schicken Reihenhäusern am Hafen zu begleiten. Sie war bereits am Morgen dort gewesen, um sich zu vergewissern, dass die letzten Spuren beseitigt sind. H.I. Cleaners hat gute Arbeit geleistet und jede noch so kleine Verfärbung weggeschrubbt; selbst die Fugen zwischen den Badezimmerfliesen sind wie neu. Der Mitarbeiter hat auch leere Flaschen und Bierdosen entsorgt, und selbst der Kühlschrank ist ausgeräumt und gesäubert. Anne-Maj darf nicht vergessen, denkt sie, den Einsatz gegenüber dem Inhaber der Firma zu loben.

Dieses Mal ist sie mit dem Auto da. Wenn die Wohnung vor dem Treffen einladend gemacht werden soll, gibt es so einige Dinge, die aussortiert und weggefahren werden müssen.

Sie hat Iben nichts von ihrer neuesten Entdeckung erzählt; hat deren Verarbeitung selbst noch nicht abgeschlossen. Die Neuigkeit, dass sich Per in keiner Weise im Endstadium befand, als er das zu tun beschloss, was er tat, lässt den dramatischen Verlauf vollkommen absurd erscheinen. Den Sterbenden gegenüber einer Exfrau zu mimen, es gegenüber einer anderen nicht zu tun, ohne Erklärung gegenüber einer der Parteien Selbstmord zu begehen … Wenn sie Iben in Pers Lügengeschichte einweihen will, müssen sie erstens allein sein – dies hier ist nicht gerade ein geeignetes Thema für eine Zwölfjährige –, und zweitens möchte Anne-Maj gern selbst eine Art von Überblick über die Situation haben, ehe sie sie mit ihrer Tochter diskutiert. Wenn sie ehrlich sein soll, fürchtet sie Ibens Reaktion. Es kann ihr sehr wohl einfallen, so wütend auf ihren Vater zu werden, dass sie im Affekt ihr Erbe ausschlägt – und das wäre doch direkt bescheuert, denkt Anne-Maj.

Vielleicht wäre es eine gute Idee, mit der Frau zu sprechen, die in Pers Telefon höchstwahrscheinlich unter dem Namen Ehefrau 3 eingetragen ist, denkt sie … Es ist nicht mehr als ein Jahr her, seit die Scheidung erfolgt ist. Vielleicht hat sie eine Ahnung, was im Schädel ihres Exmannes in den letzten Tagen vor sich ging. Anne-Maj beschließt, zu versuchen, die andere Frau irgendwann im Zusammenhang mit der Gedenkfeier allein zu sprechen. Sie haben sich zwar nie zuvor getroffen, nur am Telefon anlässlich des Todes ihres gemeinsamen Exmannes kommuniziert, aber sie weiß zumindest, dass Grith Gunnarsen Hals-Nasen-Ohren-Ärztin, Ende sechzig und gerade in Rente gegangen ist.

Per hat sich sein ganzes Leben an den Gesundheitssektor gehalten, wird Anne-Maj plötzlich klar. Er selbst war Chefarzt gewesen – und seine Frauen hatte er auf seinem Weg die Karriereleiter hinauf gefunden. Je weiter oben, desto länger hatten die jeweiligen Ehen gehalten: Erst gut zwei Jahre mit einer Arzthelferin, dann knapp neun mit einer Abteilungskrankenschwester – und zuletzt, nach einem längeren Zeitraum als Single, hatte der Mann ein Vierteljahrhundert mit einer erfolgreichen Fachärztin mit Privatpraxis in Holbæk verbracht.

Anne-Maj, Iben und Didi gehen durch die Wohnung. Öffnen Küchenschubladen, überprüfen Garderobenschränke, stecken ihre Köpfe in die winzig kleine Sauna, die mit Koffern, Wintermänteln und einem Paar neongrüner Ski angefüllt ist. Anne-Majs Gefühl, dass es eng werden wird, den Inhalt der Umzugskartons wegzuräumen, erweist sich als begründet. Das Strandgut aus einer langen Ehe nimmt einiges an Platz ein, selbst bei einem Mann mit einer minimalistischen Denkweise. Sie sind gezwungen, mit eisernem Besen auszukehren.

Iben und Didi stopfen gemeinsam Pers Kleidung in die durchsichtigen Müllsäcke, die Anne-Maj mitgenommen hat. Es sind kostbare Dinge: maßgeschneiderte Anzüge, Designer-Skibekleidung, ein frisch gereinigter Lodenmantel, ganze drei schottische Tweed-Jacken und ein Stapel Kaschmir-Pullover in gedeckten Farben. Ein paar handgenähte Schuhe, die ganz neu aussehen, und ein nagelneuer, nachtblauer Seidenschlafanzug, noch immer in Seidenpapier mit dem berühmten Logo eines Londoner Kaufhauses eingepackt.

»Darüber freuen die sich im Trödelladen«, sagt Iben.

»Ganz sicher«, sagt Anne-Maj. Bis vor zwei Jahren hat sie als Freiwillige im größten Trödelladen der Stadt gearbeitet, aber dann kam das mit ihrem bösen Knie und die Operation und die Reha, und danach befand sich das ganze Land im Corona-Lockdown … und jetzt ist sie ganz aus der Routine und es gewohnt, über ihre Zeit selbst verfügen zu können. Das Bedürfnis, den Dienst im Laden wieder aufzunehmen, ist minimal.

»Das hier ist der letzte Sack«, sagt Didi. »Du hast nicht genügend mitgenommen, Frau Mortensen.«

»Ich kaufe auf dem Heimweg ein paar Rollen«, sagte Anne-Maj. »Jetzt lassen sich eh nicht mehr ins Auto stopfen.«

»Was ist mit den Dingen in den Umzugskartons?«, fragt Iben. »Wollen wir die in der Zwischenzeit nicht eben durchsehen?«

»Tu das. Wenn es Fotos und persönliche Papiere und so sind …«

»… würde es uns im Traum nicht einfallen, sie wegzuwerfen«, beendet Iben den Satz ihrer Mutter. »Nur ruhig. Ich kenne dich, Frau Mortensen. Und wenn du deinen eigenen Dachboden mit dem Schrott vollstopfen müsstest, so behältst du ihn.«

»Ja, ja«, sagt Anne-Maj und schnappt sich den letzten Sack mit Kleidung. »Es kann ja sein, dass du nicht interessiert bist, aber wer weiß? Vielleicht wird es eines Tages für Didi etwas bedeuten. Es sind ja unersetzliche Dinge.«

»Wenn du das sagst.«

Anne-Maj schleppt den letzten Plastiksack zum Auto und stopft ihn auf den Beifahrersitz. Jeder Kubikzentimeter in der kleinen Kabine ist ausgefüllt. Das Auto ist neu. Also, neu und neu … es ist auf jeden Fall neuer als der kanariengelbe, rostige Opel Astra, der ein paar Monate zuvor nach einem langen, qualvollen Todeskampf zum Verschrotten gebracht worden war. Das neue Auto ist ein Opel Corsa, leider in der langweiligsten – und beliebtesten – Farbe der Welt: silbermetallic. Es hat ein paar Jahre auf dem Buckel, und es ist nicht gerade geräumig, aber es hat Automatik, keinen sichtbaren Rost, und Anne-Maj bekam es zu einem Betrag, der okay ist. Eine klare Verbesserung.

Sie parkt hinter dem Trödelladen und klopft an die Hintertür, die nach einem größeren Drama zwei Jahre zuvor immer abgeschlossen wird. Eine Frau, die sie nie zuvor gesehen hat, kommt und schließt sie mit einem wachsamen Ausdruck auf. »Ja?« Ein weißes Haarbüschel hat sich aus der sorgfältig lackierten Frisur herausgelöst und steht jetzt wie eine Antenne in die Luft. Die untere Gesichtshälfte ist von einem Mundschutz verdeckt, auch wenn sie angesichts ihres Alters zu diesem Zeitpunkt gegen Covid-19 geimpft sein muss.

»Ich habe eine Menge Kleidung für euch«, sagt Anne-Maj. »Wirklich gute Kleidung.«

»Aber … der Container …« Die Frau deutet in Richtung Einfahrt des Parkplatzes, wo ein blauer Kleidungscontainer aufgestellt ist.

»Für all das hier ist gewiss kein Platz.«

»Nee, aber üblicherweise nehmen wir …« Die Frau lehnt sich nach vorn und schielt zur Tür hinaus, erst nach rechts, dann nach links, als hätte sie Angst, mit versteckter Kamera gefoppt zu werden. »Ich hole mal eben …« Sie verschwindet ins Haus, lässt die Tür aber angelehnt offen. Gegen die Vorschriften, weiß Anne-Maj. Neue Freiwillige, die die Ereignisse damals nicht erlebt haben, verstehen die Bedeutung, vorsichtig zu sein, überhaupt nicht.

»Ach, du bist es!« Es ist Else Simonsen, eine brave Landwirtswitwe, die auch in Anne-Majs Zeit in dem Laden arbeitete. Hinter ihr steht die Frau mit dem zitternden Antennen-Haarbüschel und sieht aus, als hielte sie Pfefferspray hinter ihrem Rücken bereit, falls die fremde Dame auf dumme Gedanken käme. »Ich gehe nicht mit hinein«, beeilt Anne-Maj sich zu sagen, »ich habe offen gestanden viel zu tun, Else … Ich wollte nur etwas Kleidung abgeben. Herrenkleidung. Eigentlich recht schicke.«

Die Neugier steht Else in ihr rundes Gesicht geschrieben, doch sie unterlässt es mit einem für sie ungewöhnlichen Feingefühl, irgendwelche Fragen zu stellen. Nimmt die vollen Kleidungssäcke einfach entgegen und trägt sie einen nach dem anderen hinein.

Kapitel 4

Dienstag, 29. Juni

Anne-Maj hat gleich zwei Treffen mit Immobilienmaklern für ein und denselben Tag vereinbart. Den ersten erwartet sie gleich um elf Uhr, den anderen anderthalb Stunden später.

Die Wohnung macht nach den gemeinsamen Anstrengungen der letzten Tage den Eindruck, als sollte sie für eine Wohnzeitschrift fotografiert werden. Ein Teil des Inhalts der Umzugskartons wurde in den Schränken verstaut, in denen zuvor Pers Kleidung lag, und das Einzelbett im Gästezimmer steht jetzt an der einen Wand, bedeckt von einer schönen Wolldecke sowie ein paar fliederfarbenen Kissen, die Anne-Maj von sich mitgebracht hat. Auf einen Kelim vor dem Bett haben sie einen kleinen Sofatisch mit einem Strauß französischer Anemonen gestellt, und Iben hat einen der Sessel hereingeschleppt. Auch Pers Schlafzimmer ist sauber und wohlriechend, und ins Wohnzimmer hat Anne-Maj eine ihrer eigenen Topfpflanzen gestellt, einen beeindruckenden Gummibaum, der, um die Wahrheit zu sagen, für ihr eigenes Haus zu groß geworden war, hierher aber perfekt passt. Iben hat am Sonntag die Fenster der Wohnung geputzt, während Didi zwei Kartons mit Nachschlagewerken leerte, die sie auf die letzten leeren Bretter in Pers großem Bücherregal stellte. Selbst die Sauna haben sie geräumt, und eine Menge überflüssiger Dinge wurde zum Sperrmüll gebracht. Jetzt sieht es hier hübsch und einladend aus, stellt Anne-Maj mit Zufriedenheit fest, während sie eine letzte Runde dreht.

Ihr hinterher trippelt Mortensen der Dritte, etwas unsicher, was hier passiert. Anne-Maj blickt ihn einige Augenblick mit einem nachdenklichen Ausdruck an. Dann stellt sie eine Schüssel mit Wasser, seinen Korb und etwas Spielzeug hinaus auf die geschlossene Terrasse. Es ist sehr angenehm, das Tier hinaussperren zu können, wenn es sich zeigen sollte, dass einer der Makler Hunde nicht mag. Manche Menschen sind ja auch komisch, denkt sie und rückt eine der Jalousien gerade.

Im selben Moment gibt die Gegensprechanlage einen Ton von sich; der erste Makler tritt ein. Annette Linn besitzt eine lokale Firma oben in der Algade, und sie war es auch, die sich vor wenigen Jahren um den Verkauf des Hauses von Anne-Majs Mutter gekümmert hat. In der Zwischenzeit ist sie natürlich älter geworden, ihr Gesicht etwas eingefallener. Annette ist wohl Ende fünfzig, hat eine asymmetrische Frisur und etwas zu schweres Augen-Make-up für diese Zeit des Tages. Sie geht durch die Wohnung, bricht angesichts der weißen, geschlechtslosen Küche und des drollig großen Whirlpools in Begeisterung aus, macht sich Notizen auf einem altmodischen Klemmbrett und bittet um alle möglichen Informationen, die aus Pers Dokumentenordner mit den Wohnungspapieren herausgekramt werden müssen.

»Ich kann dir all dies hier nicht mitgeben, also musst du dich zunächst damit begnügen, dir die relevanten Zahlen aufzuschreiben«, sagt Anne-Maj entschuldigend, als sie dabei sind, die Runde zu beenden. »Ich werde die Wohnung heute nämlich noch einem anderen Makler zeigen, und ich habe hier weder einen Drucker noch einen Kopierer.«

»Wer ist der andere, wenn ich fragen darf?« Annettes Mund ist immer noch zu einem zuvorkommenden Lächeln geformt, doch ihre Augen sind wachsam geworden.

»Ein Typ von den Grünen Maklern oben im Rørvigvej. Ich kann mich nicht erinnern, wie er heißt. Lars, glaube ich.« Die Immobilienmaklerin nickt. »Dann wird es ja interessant, für wen du dich diesmal entscheidest«, sagt sie etwas steif. An ihrem einen Vorderzahn befindet sich korallenroter Lippenstift.

»Es ist doch am klügsten, mit mehreren zu sprechen, ehe man sich entscheidet …«

»Auf jeden Fall …«, sagt Annette. »Doch vergiss nicht, dass du nicht nur auf den Betrag schauen darfst … lokale Kenntnisse sind mindestens ebenso wichtig, und ein hoher Einstiegspreis kann sehr schnell nach unten gehandelt werden.«

»Das weiß ich.«

Die Maklerin wendet ihren Blick hinunter zu Mortensen. »Na, du aufgewecktes Bürschchen?”, sagt sie. »Bist du ein braver Hund, Mortensen? Bist du das?« Annette bückt sich und krault den Dackel hinter dem Ohr. »Ich habe selbst ein süßes Schnauzer-Weibchen. Die wäre etwas für dich, mein Kleiner.«

Für Anne-Maj ist sofort abgemacht, dass die Immobilienmaklerin ein enorm sympathischer Mensch ist. »Es ist wohl auch eine Frage der Chemie, nicht wahr?«, sagt sie. »Also, man arbeitet bei einem solchen Hausverkauf ja recht eng zusammen.«

»Absolut.” Annette Linns Lächeln ist zurückgekehrt. »Ich möchte dir lieber nicht sofort einen Preis nennen, Anne-Maj«, sagt sie. »Ich muss das zu Hause mal durchrechnen.«

Als sie gegangen ist, legt Anne-Maj ihrem Hund die Leine an und macht mit ihm einen Spaziergang hinunter zum Kai. Entlang der holzgedeckten Molen sind ungewöhnlich viele Boote vertäut, und die Takelage, die vom Wind einförmig gegen die Aluminiummasten der Segelschiffe geschlagen wird, klingt wie eine muntere Begleitung in der ganzen Umgebung. Die Schulsommerferien sind in vollem Gang – und damit auch die Touristensaison, die Nykøbing jedes Jahr von einer schläfrigen Kleinstadt in ein brodelndes Menschengewimmel verwandelt. Einige der Einheimischen, insbesondere Ladenbesitzer, Gastronomen und Handwerker, lieben Ferienhausbesitzer, Segler und Touristen, während andere die Gäste innig hassen und der Ansicht sind, dass sie an allem Schuld tragen: von der Raserei auf dem Odsherredvej bis hin zur Verbreitung ansteckender Krankheiten. Anne-Maj steht irgendwo zwischen den beiden Extremen. Auf der einen Seite ist sie grenzenlos irritiert ob der ganzen Unruhe in der Algade und den langen Schlangen im SuperBrugsen und bei Damborg, auf der anderen Seite hat sie genug Pragmatismus, um zu wissen, wie wichtig die Sommergäste für die Wirtschaft der Bewohner, ja der gesamten Gemeinde sind. Und so ein bisschen Urlaubsstimmung in den Straßen der Stadt ist doch auch nett, denkt sie. Erwachsene, die in den Cafés Bier vom Fass trinken, und Kinder, die auf den quadratischen Bänken in der Fußgängerzone sitzen und viel zu große Eiswaffeln essen.

Mortensen schnüffelt lange und ausgiebig an einem Mast, der so gut wie bedeckt von Möwenschiss ist. Anne-Maj blickt hinaus auf die Reihen von Segelbooten, hinüber zu den Baumkronen im Grønnehave. Danach dreht sie sich um und betrachtet die akkuraten Reihen pittoresker Holzhäuser. Könnte sie sich vorstellen, hier zu wohnen? Es steht außer Zweifel, dass es rein praktisch eine gute Entscheidung wäre. Keine Treppen, einfache Pflege, gute Zufahrts- und Parkverhältnisse. Eine ganz wunderbare Aussicht, die schönste Umgebung. Für einen älteren Menschen sind die Wohnungen im Hafen perfekt, aber könnte sie es? Wirklich? Wäre Anne-Maj imstande, ihre Freude am Garten auf ein paar Topfpflanzen auf einer gefliesten Briefmarke hinter einer hohen Hecke zu beschränken? Mit Mitbewohnern über ihr, die vielleicht lärmende kleine Kinder haben? Und mit Nachbarn, die ihre schicken Ferienwohnungen vielleicht an feierwütige Abiturienten vermieten? Außerdem, denkt sie, ist eine Drei-Zimmer-Wohnung in diesem Gebäude fast doppelt so teuer wie mein schönes, altes Haus, und ich habe sogar einen richtigen Garten …

Anne-Maj zieht an der Leine, und Mortensen reißt sich widerwillig von dem verlockenden Duft nach frischer Möwenkacke los. Gut, denkt sie und nimmt Kurs auf die leere Wohnung, das wird auf jeden Fall nicht aktuell. Iben ist Pers Alleinerbin, und damit basta. Wenn der Verkauf des Hauses bedeutet, dass sie es sich trotz ihrer bescheidenen Ausbildungsvergütung leisten kann, an einen netten Ort zu ziehen, dann hat ihr die Verwandtschaft mit ihrem abwesenden Vater zumindest etwas gebracht.

Makler Nummer zwei klingelt im selben Moment, als Anne-Maj den Hintereingang aufschließt. Er ist jünger, vielleicht Ende dreißig. Groß, massiv gebaut. Gut getrimmter Vollbart und eine Brille von der Art, die die Aufmerksamkeit zu sehr auf sich selbst lenkt.

»Lars Gammelgaard«, sagt er und streckt ihr seine Pfote hin.

»Komm rein.«

Lars lässt seinen Blick durch den Gang schweifen. Er geht langsam in der Wohnung umher, benutzt sein iPad, um sich Notizen zu machen. Klopft hier an eine Wand und zieht da eine Schublade heraus. Mortensen behält ihn aus der Distanz im Auge. Die Begeisterung des kleinen Hundes für bärtige Männer von einer gewissen Größe ist generell überaus gering. »Ich war es, der diese Wohnung hier an Per Gunnarsen verkauft hat … Aber das weißt du vielleicht?« Der Makler hat offensichtlich nicht bemerkt, dass er unter vierbeiniger Observation steht.

»Nein, das wusste ich eigentlich nicht.«

»Es ist ja nicht sehr lange her, also ist sie nicht nennenswert im Wert gestiegen.«

»Völlig okay.«