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Agatha Christie trifft Hygge: Der Cosy-Crime-Sammelband »Mord im Kurhotel & Tod im Trödelladen« von Anna Grue jetzt als eBook bei dotbooks. In der friedlichen Idylle der dänischen Kleinstadt Odsherred könnte nie jemand ein Wässerchen trüben – oder? Anne-Maj Mortensen sieht das ganz anders, denn als einer der Mitarbeiter des örtlichen Trödelladens tot aufgefunden wird, glaub sie keineswegs an einen Unfall. Gemeinsam mit ihrem erziehungsresistenten Dackel ermittelt die rüstige Rentnerin auf eigene Faust – und stößt schon bald auf eine heiße Spur … Auch in einem Wellness-Spa an der Küste wird die Spürnase der Hobby-Detektivin geweckt: Als man dort eine Leiche im Schlammbad entdeckt, ist Anne-Maj beinahe froh, endlich eine Ablenkung von ihrem langweiligen Reha-Urlaub zu bekommen. Bestens bewaffnet mit ihrem scharfen Verstand, begibt sie sich auf Mörderjagd … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das skandinavische Spannungs-Highlight »Mord im Kurhotel & Tod im Trödelladen« von Anna Grue wird alle Fans von M.C. Beaton und Traci Hall begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 886
Über dieses Buch:
In der friedlichen Idylle der dänischen Kleinstadt Odsherred könnte nie jemand ein Wässerchen trüben – oder? Anne-Maj Mortensen sieht das ganz anders, denn als einer der Mitarbeiter des örtlichen Trödelladens tot aufgefunden wird, glaub sie keineswegs an einen Unfall. Gemeinsam mit ihrem erziehungsresistenten Dackel ermittelt die rüstige Rentnerin auf eigene Faust – und stößt schon bald auf eine heiße Spur … Auch in einem Wellness-Spa an der Küste wird die Spürnase der Hobby-Detektivin geweckt: Als man dort eine Leiche im Schlammbad entdeckt, ist Anne-Maj beinahe froh, endlich eine Ablenkung von ihrem langweiligen Reha-Urlaub zu bekommen. Bestens bewaffnet mit ihrem scharfen Verstand, begibt sie sich auf Mörderjagd …
Über die Autorin:
Anna Grue ist eine der meistgelesenen dänischen Krimiautorinnen und hat unter anderem die Buchvorlage zur ZDF-Fernsehserie »Dan Sommerdahl – Tödliche Idylle« geschrieben. »Tod im Trödelladen« ist der erste Roman ihrer neuen Cosy-Crime-Reihe mit der eigenwilligen Ermittlerin Anne-Maj Mortensen.
Bei dotbooks erscheint ihre Hygge-Krimireihe mit den Einzeltiteln »Tod im Trödelladen«, »Mord im Kurhotel« und »Der Schlüssel zum Mord« als eBook.
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eBook-Sammelband-Originalausgabe April 2024
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Die dänische Originalausgabe von »Mord im Kurhotel« erschien erstmals 2021 unter dem Originaltitel »Døden i kurbadet« bei bei SAGA Egmont, Kopenhagen; Copyright © der dänischen Originalausgabe 2021 by Anna Grue; Copyright © der deutschen Erstausgabe 2022 by SAGA Egmont; Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München.
Die dänische Originalausgabe von »Tod im Trödelladen« erschien erstmals 2020 unter dem Originaltitel »Mysteriet i Genbrugsen« bei SAGA Egmont, Kopenhagen; Copyright © der dänischen Originalausgabe 2020 by Anna Grue; Copyright © der deutschen Erstausgabe 2022 by Anna Grue, SAGA Egmont; Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)
ISBN 978-3-98952-333-3
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Anna Grue
Mord im Kurhotel & Tod im Trödelladen
Zwei Krimis in einem eBook
Aus dem Dänischen von Roland Hoffmann
dotbooks
Aus dem Dänischen von Roland Hoffmann
Die dänische Küste, Hygge im Luxus-Spa und mittendrin eine Tote im Schlammbad – der zweite Fall für die dänische Miss Marple! Für Wellness hat Hobby-Spürnase Anne-Maj Mortensen nichts übrig. Trotzdem landet sie nach einer OP zur Reha in einem Kurhotel. Und als wäre das nicht schlimm genug, sind da auch noch die anderen Gäste. Die legen sich Gemüse auf die Augen oder nehmen es püriert als Smoothie zu sich. Nein danke. Als eines Tages die gepflegte Langeweile durch eine Leiche im Schlammbad gestört wird, erwacht Anne-Majs Spürnaseninstinkt, und die Kur wird doch noch interessant. Mit einer gehörigen Portion Neugier und einem Jahresvorrat an Schmerzmitteln begibt sie sich auf die Suche nach dem Mörder.
Die Familie Mortensen:
•Anne-Maj Mortensen, frühere Arzthelferin
•Iben Mortensen, Anne-Majs Tochter, arbeitslose Verkäuferin
•Ditte-Marie (Didi) Mortensen, Anne-Majs Enkelin, Schülerin
•Mortensen der Dritte, Anne-Majs Rauhaardackel
Gäste im Kurhotel Høve:
•Inger-Merete (Tytter) Stilling, Zahnärztin im Ruhestand
•Anja Willemoes, arbeitslose Architektin
•Ida Funch, Chefredakteurin einer Illustrierten
•Finn Bocker, früherer Gymnasialdirektor
•Miah Andersen, arbeitslose Personal Trainerin
•Lenette Andersen, Tagesmutter
Personal und Therapeuten des Kurhotels:
•Heine Fuglsang, Hoteldirektor
•Lone Jels, Rezeptionistin
•Katrine und Wolf, Kellner
•Chris, Koch
•Hanne Groth, Masseurin
•Kim Kellerup, Physiotherapeut
•Gitte Mogensen, Kosmetikerin
Sonstige:
•Elin Stilling, Krankenschwester
•Sussi Andersen, Frührentnerin
•Jonas Hinnerup, Anne-Majs Nachbar
Die Polizei:
•Liselotte Schmidt, Kriminalhauptkommissarin
•Anders Hall, Ermittler
Ich habe mir erlaubt, das luxuriöse, romantische Kurhotel Høve oben am Steilhang von Høve zu platzieren, wo in Wirklichkeit ein etwas prosaischeres Gebäude namens Café Aussicht liegt. Es ist auf jeden Fall einen Besuch wert, und sei es wegen der Aussicht, die nach Anne-Maj Mortensens Ansicht eine der allerschönsten von Dänemark ist.
Anna Grue
Für Rune, Astrid und Johan,
die ich in diesem Coronajahr
so schrecklich vermisst habe.
Freitag, 11. September
Anne-Maj Mortensen hat sich von der Wellness-Branche noch nie angezogen gefühlt. Gurkenscheiben auf den Augen, Saunaaufgüsse, Walgesänge und Pling-Plang-Meditationsberieselung … nein. Ganz einfach nein. Dennoch sitzt sie jetzt mitten in einer Wellnesshölle, umgeben von heiter plappernden, paarweise auftretenden Freundinnen, die sich in weißen Bademänteln zu Gesichtsbehandlungen oder Schlammbädern begeben oder von dort zurückschlendern. Viele von ihnen halten unappetitlich aussehende Smoothies in der Hand: grün, bordeauxrot oder schleimig grau von Chiasamen und Proteinpulver. Pfui Teufel, denkt Anne-Maj und lässt sich mit einem lauten Stöhnen in einen geblümten Sessel sinken, wobei sie den anderen Gästen den Rücken zukehrt. Sie platziert ihr frisch operiertes linkes Bein auf einem Hocker und philosophiert weiter über den unbegreiflichen Smoothie-Trend: Wenn man Obst und Gemüse möchte, kann man es doch einfach nur essen. Warum die guten Ballaststoffe durch eine Tour im Mixer zerstören? Sie begreift es nicht.
Anne-Maj ist mit anderen Worten nicht um der Wellness willen hier. Das ist nur ein notwendiges Übel, das sie über sich ergehen lassen muss, um das zu bekommen, was sie sich für teures Geld erkauft: drei Wochen mit Vollpension, kundige Physiotherapie, ein gutes Bett – und keine Treppen.
Letzteres ist in Wirklichkeit wohl das Wichtigste. Sie hat nämlich erst am Montag ein neues Kniegelenk bekommen, und in ihrem derzeitigen Zustand, abhängig von zwei Krücken und mit ziemlich starken Schmerzen, sieht sie sich nicht in der Lage, in ihrem kleinen, zweistöckigen Stadthaus in Nykøbing zu wohnen: Toilette und Schlafzimmer befinden sich im ersten Stock, die Küche im Erdgeschoss. Das würde bedeuten, dass sie die Treppe jeden Tag viele Male hinauf- und hinuntergehen müsste, und das schafft sie ganz einfach nicht, auch wenn das Personal im Krankenhaus beharrlich daran festhielt, dass sie dies mehr oder weniger umgehend können sollte.
Das können die leicht sagen, denkt sie und lächelt etwas angestrengt der molligen Kellnerin zu, die ihr mit einem Glas kalten Weißwein und einer Karaffe mit Leitungswasser auf einem runden Tablett in den Wintergarten gefolgt ist. Mund und Nase der jungen Frau sind hinter einer babyblauen Einweg-Maske verborgen, doch ihre Augen lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie lächelt. Als sie gegangen ist, schluckt Anne-Maj zwei Kapseln mit Schmerzmitteln und sinkt mit einem Seufzer zurück in den Sessel. Sie hätte sich natürlich für eine seriöse, spezialisierte Reha-Klinik ohne all das störende New-Age-Brimborium entscheiden können, doch die nächstgelegene befindet sich in Nordseeland, und sie mag es nicht, so weit wegzumüssen und auf regelmäßige Besuche ihrer Tochter Iben, ihrer Enkelin Didi und ihres kleinen Hundes verzichten zu müssen, der günstigstenfalls und mit dem Wind aus der richtigen Richtung auf den Namen Mortensen der Dritte hört.
Die einzige Reha-Einrichtung in ihrer Nähe ist genau dieser Ort hier: das Kurhotel Høve, knapp zwanzig Kilometer von Nykøbing entfernt. Das hoch gelegene Hotel ist bekannt für seine einzigartige Aussicht über die Sejerøbucht und die schick renovierten Gebäude: gekalkte Mauern, große Sprossenfenster, eine breite Veranda zum Meer hin – alles in Weiß mit kleinen Details in einem zarten Hellblau. Es ist so geschmackvoll, dass es wehtut. Das Hauptgebäude liegt seit über hundert Jahren hier ganz oben am Steilhang, während der Wellness-Flügel mit Pool und diversen Behandlungsräumen erst vor wenigen Jahren errichtet wurde. Alles in dem originalen Stil, der vor allem an ein romantisches Strandhotel erinnert. Auf dem stark abschüssigen Grundstück ist zur Bucht hin ein riesiger, charmanter Garten angelegt, der teilweise wild gehalten wird – mit gemähten Pfaden im hohen Gras und einer Menge kleiner Büsche, sodass der Park trotz seiner Größe intim und gemütlich wirkt. Rundherum stehen weiß gestrichene Bänke, und Anne-Maj wünschte sich, dass ihr Bein ihr einen Spaziergang hinunter zu einer von ihnen erlauben würde.
Das Niveau sowohl für die Reha als auch den Wellness-Aufenthalt ist hoch, hat sie sich sagen lassen, und der Preis ist natürlich entsprechend. Anne-Maj musste eine Hypothek auf ihr Haus aufnehmen, um es sich leisten zu können. Doch wenn die Behandlung hilft, so ihr Gedanke, ist sie jede einzelne Krone wert. Sie hat eine gute Vorahnung, dass dies auch der Fall sein wird. Der Physiotherapeut klingt jedenfalls sehr überzeugend.
Sie nippt am Wein. Es ist das dritte Glas an diesem Nachmittag, aber irgendetwas braucht man ja zur Stärkung, denkt sie und wirft einen irritierten Blick auf ein Paar in den Dreißigern, das sich eng umschlungen auf der Veranda aufgebaut hat. Sie versperren komplett die Aussicht. Egoisten.
Seitdem die Behörden im März aufgrund der Tatsache, dass die Coronapandemie das kleine Dänemark erreicht hat, die Konsequenzen ergriffen haben, hat sie sich wie die meisten anderen ohne Probleme die neuen Umgangsformen angeeignet. Inzwischen passiert es schon beinahe automatisch: Man hält Abstand, desinfiziert und wäscht sich die Hände, vermeidet große Ansammlungen, achtet aufeinander, trifft sich so weit möglich im Freien, hält sich an seine Blase aus ausgewählten Freunden und Familienmitgliedern. Als frühere Arzthelferin ist Anne-Maj seit jeher ein hohes Hygienelevel an jedem Tag gewohnt, und soweit sie es beurteilen kann, gilt dies auch für den Großteil ihrer Landsleute. Alle haben die Einschränkungen satt, aber man hält durch. An den Inzidenzzahlen kann ja jeder erkennen, dass es wirkt.
In dieser Situation ist es wirklich ein Glück, dass sie sich genau hier in diesem Luxus-Kurhotel aufhält, wo die Hygiene top ist und das Personal offensichtlich Anweisung erhalten hat, alle Vorkehrungen zu treffen. Alles läuft unbeschwert und wie die natürlichste Sache der Welt; nicht wie im Supermarkt, wo man sich die ganze Zeit vor den demonstrativ Gleichgültigen in Acht nehmen muss. Anne-Maj wirft noch einen verdrießlichen Blick in Richtung des verliebten Paars, das sich vor dem ganzen Hotel als Publikum ganz ungeniert einem Zungenkuss hingibt. Geht doch aufs Zimmer und steckt einander an, denkt sie mürrisch.
Um das hellblaue Haus daheim in der Lindealle kümmern sich Iben und Didi, die Mortensen füttern, ausführen und garantiert mehr als verhätscheln. Das ist für sie kein großes Opfer – beide lieben den Rauhaardackel und hätten sehr gern selbst ein vierbeiniges Familienmitglied, doch ihr Vermieter ist ein unnachgiebiger Gegner jeglicher Form von Haustier.
Während der ersten Welle der Pandemie hatten sich Anne-Maj, Iben und Didi für ein paar Monate in eben diesem Haus gemeinsam isoliert, und es war eigentlich verblüffend gut gegangen, neue Routinen im Alltag einzuführen, auch wenn der Platz beschränkt war. Iben war ab und zu für einen Abend verschwunden. Sie weigerte sich zu sagen, wo sie war, versprach jedoch hoch und heilig, dass sie sich vernünftig verhielt und sich regelmäßig testen ließ. »Ich bin erwachsen, Mama«, hatte sie hervorgehoben. »Ich brauche das Leben eines Erwachsenen. Und ich drehe durch, wenn ich, bis das hier überstanden ist, jeden Abend nur euch beide sehe.« Anne-Maj weiß, dass man mit Iben hin und wieder einfach nicht diskutieren darf, und das tat sie bei diesen Gelegenheiten dann auch nicht. Wenn sie ehrlich sein soll, macht sie sich manchmal etwas Sorgen um ihre Tochter.
»Hallo.« Eine Stimme schneidet sich in Anne-Majs Gedanken. »Darf ich mich hersetzen, oder wartest du auf jemanden?« Es ist eine kleine schmächtige Frau, etwas jünger als Anne-Maj selbst, gekleidet in die Uniform der Wellnessjünger: ein kreideweißer Frotteebademantel und rutschfeste Gummischlappen. Ihr schulterlanger Pagenschnitt hat honiggoldene Strähnchen. Sie bemerkt Anne-Majs Gesichtsausdruck und fügt etwas erschrocken hinzu: »Störe ich?«
»Nein, nein«, lügt Anne-Maj. Herrje. Die andere ist anscheinend auch allein hier. Es ist wohl ziemlich logisch, dass die beiden Frauen sich ein bisschen die Zeit miteinander vertreiben. »Nein, nein«, wiederholt sie. »Setz dich nur her.«
»Ida Funch.« Die Frau stellt ein beschlagenes Glas ab und greift routinemäßig nach der Flasche mit dem Handdesinfektionsmittel.
»Anne-Maj Mortensen.«
»Zum Wohl.« Ida Funchs Drink sieht aus wie ein Gin Tonic; zum Glück keiner der unappetitlichen Smoothies. »Bist du hier zur Reha?«, fragt sie mit einem Blick auf Anne-Majs bandagiertes Bein.
»Neues Knie«, antwortet Anne-Maj. »Ich wurde am Montag operiert, kam gestern hier an – und habe einen Reha-Aufenthalt bis 3. Oktober gebucht. Und du? Du bist hier vielleicht nur übers Wochenende?«
»Nee, ich bleibe ein paar Wochen. Muss mich nur ein wenig ausruhen.« Ida zuckt mit den Schultern. »Es ist mehr … mental.«
»Ja?«
Ida zieht den Bademantel enger um sich zusammen: »Vor ein paar Monaten bin ich vor Stress zusammengebrochen …« Erneutes Schulterzucken. »Eigentlich dachte ich, Arbeiten von zu Hause während des Lockdowns würde helfen und ich wäre alle Unterbrechungen im Büro los, aber nein. Es wurde fast noch schlimmer. Ich hatte überhaupt keinen Überblick mehr, und dabei war ich diejenige, die all die internen Zoom-Meetings am Computer leiten und dafür sorgen musste, dass die Aufgaben der anderen koordiniert wurden. Das habe ich ganz einfach nicht geschafft … Jetzt bin ich krankgeschrieben. Ich bekomme Antidepressiva und mache eine Therapie, und die Behandlung hat begonnen, so gut zu wirken, dass ich bald zur Arbeit zurückkehren kann. Mein Mann schlug dann vor, dass es vielleicht nett wäre, mich davor ein bisschen selbst zu verwöhnen. Und deshalb bin ich hier.«
»Das klingt doch nach einer guten Idee.« Anne-Maj kann sich nur sehr schwer vorstellen, Stress zu bekommen. Letztendlich ist sie der Überzeugung, dass man sich einfach nur zusammenreißen und seinen Alltag sorgfältig planen muss. Ordnung und Systematik sorgen für Ruhe im Leben. Aber so etwas sagt man ja nicht laut. »Was machst du?«
»Jetzt gerade?« Ida lacht. »Entspanne ich mich bei einem Drink.« Sie sieht zu Anne-Maj. »Sorry. Das war natürlich nicht das, was du gemeint hast. Ich bin Chefredakteurin von Alles für die Familie … Ich weiß nicht, ob du die Zeitschrift kennst?«
»Doch, doch«, antwortet Anne-Maj guter Dinge. »Ehrlich gesagt habe ich meine Tochter gebeten, mir morgen die Ausgabe dieser Woche mitzubringen. Ihr habt wirklich gute Kreuzworträtsel.«
Ida nickt. Die Eiswürfel klirren im Glas, als sie einen weiteren Schluck macht. »Also hast du eine erwachsene Tochter?«
»Iben.« Anne-Maj lächelt. »Und eine Enkelin, die bald zwölf wird.«
»Ach du meine Güte.« Ida nimmt noch einen Schluck von ihrem Drink. »Was macht Iben?«
»Sie ist … Sie sucht gerade einen neuen Job«, sagt Anne-Maj.
»Ah. Als was?«
»Iben ist seit vielen Jahren Verkäuferin, die letzten Jahre in einem Schuhgeschäft. Das machte ihr ziemlich viel Spaß, aber dann kam Corona.«
»Das tut mir leid.« Ida klingt so, als ob sie das auch so meint. Sie erhebt sich: »Möchtest du auch noch einen?« Sie sieht zu Anne-Majs beinahe leerem Weinglas.
»Ich sollte nicht …«
»Ach, komm schon. Geht auf mich. Anschließend können wir zum Essen gehen. Ich habe gesehen, dass es heute Seezunge gibt.«
»Danke.« Anne-Maj leert ihr Glas. »Aber ich habe schon gegessen.«
Ida sieht auf ihre Uhr. »Es ist erst kurz nach sieben.«
»Ich hatte solchen Hunger, und die Küche hat um fünf Uhr aufgemacht.«
»War das Essen gut?«
»Jaa …« Anne-Maj zögert ein wenig. »Der Fisch war etwas trocken, als ob er ein paar Minütchen zu lang im Ofen war, und der Krautsalat war zu grob geschnitten.«
»Aha.« Ida sieht ein wenig verblüfft aus. Sie weiß ja nichts von Anne-Majs Pedanterie in Bezug auf das Kochen.
Das eng umschlungene Paar auf der Veranda ist gegangen, und das Licht schwindet allmählich. Anne-Maj starrt durch das Sprossenfenster hinaus auf die Sejerøbucht, wo tief unter ihr eine Menge weißer Schaumkronen das Dunkel des Meerwassers durchbrechen.
Ida kommt mit ihren Drinks zurück, und die folgende Stunde verbringen die beiden Frauen in trautem Gespräch. Die Tabletten und der Alkohol haben die Schmerzen in Anne-Majs Knie gemeinsam auf ein erträgliches Niveau gedämpft, und sie dankt insgeheim ihrem Arzt, Morten, der dafür gesorgt hat, dass seine alte Arzthelferin über einen ordentlichen Vorrat an Schmerzmitteln verfügt und sich nicht auf die frei verkäuflichen Tabletten verlassen muss, die das Krankenhaus zu bieten hat.
Zwei Frauen in den Dreißigern setzen sich in die Sofagruppe nebenan, auch sie in Bademänteln und beide mit dunklem, feuchtem Haar; die eine trägt es lang, die andere hat eine kurze Stoppelfrisur. Die Langhaarige hat eine riesige, komplizierte Tätowierung, die den gesamten Unterschenkel bedeckt, und ein dünnes, geflochtenes Lederarmband am Handgelenk.
»Zum Wohl«, sagt die Frau mit den kurzen Haaren und nickt Ida und Anne-Maj mit erhobenem Glas zu.
Als alle vier an ihren Drinks genippt haben, sagt die Tätowierte im Plauderton: »Na, wir können nicht klagen, oder?« Ihre Stimme kratzt leicht, als ob sie schon ihr ganzes Leben lang Kettenraucherin wäre und ihre Stimmbänder jetzt endgültig aufgäben. »Das hier nenne ich ein Leben!« Sie schenkt ihnen ein breites Lächeln.
»Das Kurhotel?«, fragt Anne-Maj. »Ja, hier ist es herrlich.«
»Wir haben es gewonnen«, sagt die Kurzhaarige. »Also den Aufenthalt. Zwei Übernachtungen in Einzelzimmern, Vollpension und drei Behandlungen für jede von uns. Es kostet uns nicht eine Krone.«
»Was heißt hier wir.« Die Tätowierte lächelt. »Du hast gewonnen und warst so nett, deine kleine Schwester mitzunehmen.«
»Ihr seid Schwestern?«, fragt Ida.
»Ja.« Sie deutet mit ihrem Glas auf die andere Frau: »Das da ist Lenette, und ich heiße Miah. Andersen und Andersen.«
»Vor ein paar Wochen lag eine adressierte Broschüre in meinem Briefkasten«, erzählt Lenette, »und das, obwohl wir ein Werbung-nein-danke-Schild angebracht haben. Es ist ziemlich nervig, dass das nicht respektiert wird … aber in diesem Fall war es ja eigentlich Glück im Unglück«, sagt sie.
»Wenn die Drucksache an dich adressiert ist, gilt das Werbung-nein-danke-Schild nicht«, sagt Ida in einem etwas belehrenden Tonfall, als ob sie gerade eine Notiz für ihre Zeitschrift formulieren würde.
Lenette zuckt mit den Schultern. »Jedenfalls war es eine Werbung für irgendeine Firma, und außen auf dem Umschlag stand, dass man ein Wellness-Wochenende in Høve gewinnen könnte … Ansonsten hätte ich ihn wohl nicht geöffnet. Man konnte an einem Gewinnspiel mitmachen, indem man ein paar babyleichte Fragen beantwortete und die Antworten an eine bestimmte E-Mail-Adresse schickte.«
Ida lächelt. »Und du hast dann gewonnen? Fantastisch!«
»Das ist ganz sicher aufgrund von Corona«, sagt Ida. »Alle Hotels und Restaurants haben viel Geld verloren, also tun sie wohl alles, um den Umsatz etwas anzukurbeln.«
»Ja, all die wahnwitzigen Einfälle der Regierung treffen die Wirtschaft sehr hart«, sagt Lenette und schüttelt den Kopf. »Ihr werdet schon sehen: Viele werden noch in Konkurs gehen. Das ist schon ein hoher Preis, der bezahlt werden muss, bloß um eine ganz normale Grippe zu vermeiden.«
Anne-Maj will gerade protestieren, hält sich aber zurück. Sie hat keine Lust, hier über den Ernst des Coronavirus zu diskutieren. Sie bringt das Gespräch geschickt auf ein neutraleres Gebiet und fragt die beiden Schwestern über die Auswahl der Behandlungen im Kurhotel aus.
Kurz darauf verlassen die jüngeren Frauen den Wintergarten und begeben sich auf ihre Zimmer, um vor dem Abendessen noch normale Kleidung anzuziehen.
»Wollen wir uns so langsam ins Restaurant begeben?«, fragt Anne-Maj.
»Einen Moment noch«, antwortet Ida. »Ich muss eben noch austrinken.«
Als sie schließlich den Wintergarten verlassen und Anne-Maj mit Stöcken und Schultertasche herumfummelt, hält Ida plötzlich mitten in einer Bewegung inne: »Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne«, ruft sie aus. »Du warst diejenige, die letztes Jahr eine Serienmörderin gefangen hat! In diesem Trödelladen da … das war in Nykøbing auf Seeland, nicht wahr?«
Anne-Maj legt das Gesicht in bescheidene Falten. »Ach«, sagt sie, »das war doch nichts.«
»Doch, das war es«, ereifert sich Ida. »Wenn du nicht eingegriffen hättest – wer weiß, wie viele noch hätten sterben müssen?«
»Früher oder später hätte die Polizei wohl den Richtigen gefunden«, antwortet Anne-Maj und vermeidet es sorgfältig, das linke Bein zu belasten. Die Wirkung des Schmerzmittels klingt bereits ab.
»Jetzt nur nicht so bescheiden.«
Anne-Maj ist den Rest des Abends prächtiger Laune und erzählt bereitwillig von der Aufklärung des Trödelladenmordes im vergangenen Jahr, und Ida lauscht vollkommen versunken, während sie isst. Erst als Anne-Maj vor Müdigkeit fast umfällt, brechen sie auf. Ida folgt ihrer neuen Bekannten bis zum Zimmer, und Anne-Maj muss deutliche Worte benutzen, um ihrer etwas zu fürsorglichen Gesellschaft beim Wasserlassen und Zähneputzen zu entkommen.
Als Anne-Maj allein und die Abendtoilette überstanden ist, nimmt sie noch zwei von Mortens guten Dolol-Kapseln. Dann zieht sie sich die Bettdecke bis zur Nase, versucht die Schmerzen zu ignorieren und wippt mit den Füßen auf und ab, wie es ihr der Physiotherapeut geraten hat. Den Rest der obligatorischen Übungen überspringt sie. Morgen wird sie sich besonders ins Zeug legen, denkt sie.
Samstag, 12. September
»Mama!« Iben sieht ganz erschrocken aus. »Was ist passiert?«
»Ach, ich hab mich nur blöd angestellt.« Anne-Maj sitzt auf einem Gartenstuhl mit einem eifrig schwanzwedelnden Mortensen auf dem Schoß. »Ich musste heute Nacht aufs Klo, und dann ist die eine Krücke auf dem Badezimmerboden abgerutscht. Ich bin gestolpert und mit dem Kopf gegen das Waschbecken geknallt, habe nur daran gedacht, auf mein Knie zu achten, und so … Ja, es muss vollkommen bescheuert ausgesehen haben.« Sie versucht es mit einem Grinsen, doch es fällt ihr ausnahmsweise etwas schwer, selbst das Komische in ihrer eigenen Ungeschicklichkeit zu sehen. Der Schlag an sich hatte natürlich wehgetan, doch das Gefühl der Verletzlichkeit war weitaus schlimmer. Eine Angst, die sie ansonsten nicht kennt, hatte sie ergriffen. Was, wenn sie mit dem frisch operierten Knie vollkommen falsch umgeknickt wäre? Hätte sie dann noch einmal operiert werden müssen? Und was wäre geschehen, wenn sie nicht wieder hochgekommen wäre, wie sie da so ohne ihr Handy lag? Wie lange hätte sie auf dem Fliesenboden gelegen, ehe es jemandem eingefallen wäre, nach ihr zu suchen?
»Eine Sache ist sicher«, fügt sie hinzu, während sie einen energischen Versuch unternimmt, Mortensens Zunge aus ihrem Nasenloch zu halten. »Ich bin noch erleichterter darüber, derzeit nicht zu Hause zu sein. Denk nur, wenn das auf dem Weg die Treppe hinunter geschehen wäre. Dann könnte ich tot sein.«
Didi vergisst alle Abstandsregeln und schlingt die Arme um sie. »So etwas darfst du nicht sagen, Oma. Du darfst nicht sterben.«
»Das bin ich ja auch nicht«, sagt Anne-Maj, die jetzt sowohl ihren aufgeregten Hund und das arme Knie im Zaum sowie ihre erschrockene Enkelin etwas auf Abstand halten muss, ohne dass es allzu lieblos wirkt. Die Kleine ist jetzt nach den Sommerferien ja wieder in der Schule, und wer weiß, wie vielen Viren sie täglich so ausgesetzt ist. »Es ist doch gut gegangen, Süße.«
»Aber dein Auge!«
»Ja, das wird wohl den Rest der Zeit, die ich hier sein werde, ein Veilchen bleiben. Ich sehe schrecklich aus.«
Weder Iben noch Didi widersprechen ihr.
Sie sitzen auf der Terrasse, die Sejerøbucht zu ihren Füßen. Wegen des starken Windes ist es eigentlich etwas zu kalt, um still zu sitzen, aber Anne-Maj ist außerstande, mehr als ein paar wenige Meter zu gehen, also sind flotte Spaziergänge in der hügeligen Landschaft ausgeschlossen, und da das Hotel Hunden den Zugang zum Innenbereich ausdrücklich verwehrt, sind sie und ihre Gäste gezwungen zu bleiben, wo sie sind.
»Und wie geht es sonst so, Frau Mortensen?«, fragt Iben, als sie schließlich genug nach dem Veilchen ihrer Mutter gefragt hat. »Hast du starke Schmerzen?«
»Also …« Anne-Maj wirft einen Blick hinüber zu Didi, die Mortensen den Dritten mit sich gelockt hat und ihm jetzt Tannenzapfen zurollt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Didi sehr wohl in der Lage ist, einem Gespräch zu folgen, auch wenn sie sich anscheinend intensiv auf etwas anderes konzentriert. Und es gibt ja keinen Grund, das Kind zu beunruhigen. »Es ist nicht so schlimm«, lügt sie daher. »Am schlimmsten ist es, wenn Kim Kellerup mich in der Mangel gehabt hat. Der Physiotherapeut«, fügt sie hinzu. »Er ist so ein Fanatiker, was den Körper angeht, geht mehrmals die Woche zum Crossfit, hat er erzählt. Wenn man dies freiwillig macht, nachdem man den ganzen Tag in einem Fitnesscenter verbracht hat, dann ist man nicht ganz richtig im Kopf … Kim ist wahnsinnig streng. Also wirklich. Es ist, als würde man von seinem alten Turnlehrer schikaniert.«
»Ach, solche Typen kenne ich«, sagt Iben mit einem Schaudern. »Es gibt nur eine Art von Menschen, die mich noch mehr einschüchtern können als Sportlehrer, und das sind Bademeister.«
Anne-Maj lacht. »Ganz genau. Die Kombination aus dröhnenden gefliesten Räumen, Chlorgeruch, Plastikschlappen und einer gellenden Pfeife verwandelt mich zu einem Hasen, der paralysiert vor Angst im Lichtkegel der Autoscheinwerfer sitzt. Das ist der Hauptgrund, warum ich Hallenbäder hasse.«
»Und du bezahlst auch noch dafür, um dich von so einem Typen herumkommandieren zu lassen?« Iben schüttelt den Kopf.
»Ach, so schlimm ist er auch wieder nicht«, meint Anne-Maj beschwichtigend. »Kim ist eigentlich recht hilfsbereit, wenn es ihm einfällt. Normalerweise sollte ich jetzt schon alles Mögliche selbst tun, aber … gestern verlor ich mein Pillendöschen, als ich nach dem Training ein Schmerzmittel nehmen wollte. Ich hatte ehrlich gesagt ziemlich starke Schmerzen …« Anne-Maj hält mitten im Wort inne. Sie blickt hinüber zu Didi, die Mortensen beizubringen versucht, den Tannenzapfen in der Luft zu schnappen. Der kleine Hund steht mit einem verwunderten Blick wie angewurzelt da, während das Kind ihm wieder und wieder den Tannenzapfen zuwirft. Es fällt ihm offensichtlich nicht ein, irgendetwas zu schnappen. Anne-Maj sieht wieder zu Didi. »Du weißt …« Als ihre Tochter nickt, fährt sie fort: »Jedenfalls … Ich verlor das Döschen, und die Kapseln rollten über den ganzen Boden und unter diverse Krafttrainingsmaschinen. Plötzlich wusste ich überhaupt nicht, wie ich auf den Boden kommen und herumkrabbeln sollte, um sie einzusammeln, und ich war mir sicher, dass Kim das verlangen würde, und … ich hatte solche Schme… war so müde, und ich wusste überhaupt nicht, was tun.«
»Ach, Mama.«
Es ist äußerst selten, dass Iben Fürsorge für ihre Erzeugerin zeigt. Anne-Maj verliert fast den Faden. »Ja, also … wo war ich? Ach ja, das hat Kim dann bemerkt. Und statt mich auf alle viere zu kommandieren, ließ er mich sitzen bleiben und kroch dann selbst herum, sammelte alle Kapseln ein und steckte sie in mein kleines Döschen. Danach holte er mir ein Glas Wasser, und dann saßen wir da und plauderten ein wenig, bis die Tabletten zu wirken begannen und ich zurück zu meinem Zimmer humpeln konnte.«
»Er scheint doch recht nett zu sein.«
»Ja, zumindest kann er das sein.« Anne-Maj schneidet eine Grimasse. »Doch ich fürchte, das ist die Ausnahme. Die meiste Zeit ist der Mann schrecklich übereifrig.«
»So sind diese Typen halt.« Iben lächelt schief. »Ich sehe es direkt vor mir, wie du in einem Trainingsraum mit so einem sportlichen Kerl mit zu viel Energie herumturnst.«
»Noch vier! Noch vier! Und gib Gas!«, äfft Anne-Maj ihn nach und lacht. »Zum Glück ist der Mann jetzt im Wochenende, sodass ich dieser Hölle bis zum Montag entkommen bin.«
»Wie oft musst du durch das Trainingsprogramm?«
»Mehrmals täglich, meist auf eigene Faust.« Sie schüttelt sich. »Nein, wie kalt es hier ist.«
»Ich habe auch zu wenig angezogen«, räumt Iben ein. »Ich gestehe es mir wohl noch nicht ganz ein, dass es Herbst wird.«
»Sie versprechen in den kommenden Wochen einen Altweibersommer.«
»Wirklich? Das klingt gut.«
»Bring Mortensen ins Auto, und gib ihm ein getrocknetes Schweineohr. Dann gehen wir rein und trinken einen Kaffee.«
»Haben die auch Kakao?« Wie vermutet weiß Didi ganz genau, wovon das Gespräch der Erwachsenen handelt. »Mit Schlagsahne?«
»Das werden wir herausfinden.« Anne-Maj stützt die Hände auf die Armlehnen und schiebt ihren Körper in senkrechte Position. Ein scharfer Stich in dem frisch operierten Knie lässt ihr schwindelig werden, und sie muss einen Moment innehalten, während sie den Schweiß am Haaransatz hervorperlen spürt. Als sie wieder Luft holen kann, setzt sie die Krücken so hin, dass sie sich auf sie stützen kann. Im selben Moment bemerkt sie Ibens Ausdruck. »Es geht gut«, beharrt Anne-Maj.
»Sieht aber nicht so aus.« Iben behält ihre Mutter besorgt im Auge, während sie sich auf den Haupteingang zubewegen.
Sie nehmen mitten im Restaurant Platz – fast die Hälfte der Tische wurde entfernt, sodass die Abstandsregeln der Regierung eingehalten werden können, und alle Plätze am Fenster sind von Wellnessdamen in Frottee besetzt. Die Schwestern Miah und Lenette von gestern winken heiter, und Anne-Maj nickt zurück, während sie sich an ihre Krücken klammert. Die Gäste, die, wie Anne-Maj jetzt weiß, hier zur Reha sind, sitzen für sich ganz hinten im Raum. Eine bleiche Frau und ein älterer Herr mit Brille sitzen der gestressten Ida Funch sowie einer besonders gut gekleideten Dame gegenüber. Tytter, hat sie sich am Frühstückstisch vorgestellt, wo sie und Anne-Maj einander gegenübersaßen. Tytter ist hier, um mithilfe irgendeiner Saftkur abzunehmen. Wenn man clever wäre, bäte man darum, dieselbe Diät machen zu dürfen, denkt Anne-Maj. Es wäre doch praktisch, die Reha mit einer höchst notwendigen Gewichtsabnahme zu kombinieren. Das Problem ist bloß, dass sie gerade das Menü geprüft hat und weiß, dass es heute Abend selbst gemachte Pasta mit Hummersoße
gibt. Und Tiramisu zum Dessert … Ab morgen, beschließt sie, will sie es ernsthaft in Erwägung ziehen.
»Ist das deine Enkelin, Anne-Maj?«, fragt die nette, junge Kellnerin von gestern. »Ihr seht einander aber ähnlich.« Sie stellt Didi die Tasse mit Muschelmuster mit heißer Schokolade hin und platziert eine Schüssel mit reichlich Schlagsahne daneben. »Die gleiche runde Nasenspitze, die gleichen Grübchen.«
Ihre Augen lächeln über dem Rand der Maske. Didi und Anne-Maj blicken einander verblüfft an; Erstere vielleicht einen Hauch weniger begeistert als Letztere. Die beiden sind so verschieden, wie man nur sein kann, wenn man blutsverwandt ist, und sie pflegen sich auch nicht direkt als Spiegelbild der anderen zu fühlen. Anne-Maj ist klein, breit, das graue Haar zu etwas geschnitten, was der lokale Friseursalon beharrlich eine modische Kurzhaarfrisur nennt. Didi ist dünn, mit allen Zeichen, dass sie mit der Zeit sehr groß werden wird; ihr Haar ist lang, dick und golden. Hinzu kommt, dass der Altersunterschied gut ein halbes Jahrhundert beträgt. »Ah, wie?«, sagt das Kind, nachdem es unerbittlich einen skeptischen Blick über die Falten und Dellen ihrer Großmutter hat wandern lassen. »Findest du wirklich?«
»Das mit den Grübchen stimmt schon«, sagt Iben. »Die habe ich auch. Sieh nur!« Sie lächelt übertrieben.
Didi hebt eine Augenbraue und wendet sich wieder der Kellnerin zu. »Wie heißt du?«
»Katrine.« Die Kellnerin fummelt an ihrer Maske herum, hält inne und lässt eiligst die Hand sinken. »Wie heißt du?«
»Didi.«
Katrine bemerkt, dass die tätowierte Wellnessdame am Fenster, Miah, ihr ein Zeichen gibt zu kommen. Sie zwinkert Didi zu und verschwindet, um ihrer Arbeit nachzugehen.
»Sie ist doch nett, oder?«, sagt Iben und folgt der jungen Frau mit den Augen. »Und verantwortungsvoll. Sehr vernünftig, eine Maske zu tragen.«
»Glaubst du nicht, dass dies eine direkte Anweisung ist?« Anne-Maj nickt hinüber zu einem Fenstertisch, an dem ein teilweise vermummter Jungkellner gerade am Servieren ist. »Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis wir alle miteinander mit so einer Halbmaske herumrennen.«
»Würde mich nicht wundern.«
Anne-Maj leert ihre Tasse und schiebt sie etwas mehr zur Tischmitte. Die Bewegung verursacht ein leichtes Ziehen in ihrem Bein, das sie auf einen freien Stuhl gelegt hat. Sie schielt zur Uhr. Es sind noch vierzig Minuten, ehe sie die nächste Dosis nehmen darf. Teufel auch.
Iben hat zum Glück nichts bemerkt. Sie sitzen da und plaudern noch ein Viertelstündchen, dann erhebt sie sich. »Na gut«, sagt sie. »Wir müssen zusehen, dass wir nach Hause kommen.«
»Du denkst daran, die Blumen zu gießen, ja?«
»Ja, ja, ja.« Iben sieht zu ihrer Tochter: »Bist du bereit, Süße?«
Didi schlabbert den Rest der jetzt abgekühlten Schokolade in sich und erlaubt es ihrer Mutter gnädigerweise, einen kleinen Sahnebart abzuwischen, ehe sie sich anziehen.
»Halt!«, sagt Iben. »Jetzt hätte ich fast vergessen, dir das hier zu geben.« Sie legt ihrer Mutter die aktuelle Ausgabe von Alles für die Familie hin.
»Danke«, sagt Anne-Maj. »Das ist lieb von dir.«
»Keine Ursache, Frau Mortensen.« Iben winkt etwas linkisch. »Es gibt zum Abschied keine Umarmung oder Ähnliches.«
»Vollkommen in Ordnung.« Anne-Maj kann all die Erklärungen schon nicht mehr hören, sie weiß es ja sowieso. Außerdem ist es nicht schön, laufend daran erinnert zu werden, dass man aufgrund seines fortgeschrittenen Alters zur Risikogruppe gehört. »Die, die dort drüben sitzt«, sie nickt diskret in Richtung der Gruppe mit den Reha-Gästen, »die in dem blauen Cardigan … Sie ist Chefredakteurin von Alles für die Familie.«
»Aha.« Iben klingt nicht besonders interessiert.
Anne-Maj bleibt am Tisch sitzen. Sie holt einen Kugelschreiber heraus und schlägt die Zeitschrift bei den Kreuzworträtselseiten auf. Zwar ist es Zeit für ihre Übungen, doch so, wie es ihr jetzt gerade geht, ist das ein hoffnungsloses Projekt. Sie kann ebenso gut versuchen, sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Ihr Auge schmerzt nach dem nächtlichen Unfall immer noch, und das Knie tut so weh, dass sie nur unter Aufbietung all ihrer mentalen Kräfte in der Lage war, die letzte halbe Stunde zu überstehen. Die Umgebung verschwindet im Nebel, während sich Tränen wie ein beißendes Häutchen über ihr Auge legen, und sie muss das Kreuzworträtsel aufgeben, ehe sie überhaupt begonnen hat. Sie ist lange genug tapfer gewesen, beschließt sie.
Sie winkt Katrine heran und bittet sie um ein Glas Wasser. »Und eine halbe Karaffe Weißwein«, fügt sie hinzu und angelt sich eine Serviette, um sich die Augen abzutupfen. Die junge Frau macht den Eindruck, als würde sie lieber einen Krankenwagen rufen, doch Anne-Maj schüttelt den Kopf. »Ich brauche nur meine Medikamente, dann geht es wieder.«
Sie fischt das Döschen mit den starken, schmerzstillenden Kapseln aus der Tasche. Das kleine Silberdöschen trägt einen türkisfarbenen Minidackel auf dem Deckel. Anne-Maj vermisst Mortensen den Dritten mit einem Mal so sehr, dass es wehtut.
»Nein, jetzt erzähle ich die Geschichte nicht noch einmal!« Anne-Maj lacht. »So interessant ist sie auch wieder nicht.«
»Ich habe sie noch nicht gehört.« Tytter hat sich gerade der kleinen Gesellschaft im Wintergarten angeschlossen und fragt, wie alle anderen zuvor, nach der Geschichte von Anne-Majs Veilchen. »Ach, bitte!«
Sie setzt sich eine Spur zu nah her, während die übrige Gesellschaft sorgfältig den empfohlenen Abstand von einem Meter einhält, und Anne-Maj schiebt ihren Stuhl ein bisschen weg, ehe sie trotz ihrer nicht ganz aufrichtigen Proteste noch einmal den nächtlichen Sturz im Badezimmer beschreibt. Bei jedem Mal lacht sie ein wenig mehr, bei jedem Mal wird die Angst ein wenig kleiner. Ihre Laune hat sich durch eine gesegnete Kombination aus Wein und synthetischen Opioiden stark gebessert, und die ausgelassene Gesellschaft macht die Situation auch nicht gerade schlimmer. Es ist lustig, denkt sie. Alle hier am Tisch haben Schmerzen, entweder physische oder seelische, und trotzdem können wir uns zusammen amüsieren. Oder vielleicht ist es gerade die Gemeinschaft der Leidenden, in die wir mehr oder weniger freiwillig eingetreten sind, die die Moral der Truppe stärkt?
Anne-Maj und Ida Funch haben wie schon am Abend zuvor gemeinsam an einem Zweiertisch gegessen, und noch einmal haben sie feststellen müssen, dass die Küche nicht gerade der Spitzenklasse entspricht, die die Broschüren versprechen: Die Soße war entschieden unterwürzt, das Hummerfleisch zäh, die Pasta okay, aber das Brot gerade mal aufgetaut. Hinzu kommt, dass das Tiramisu nicht mit Marsala zubereitet war, sondern mit einer anderen Art von Südwein – vielleicht Sherry. Keine gelungene Variante, darin sind sich die beiden Frauen einig.
Erst nach dem Essen hat die gesamte Gruppe an Langzeitgästen in den Korbstühlen des Wintergartens zusammengefunden, deren klein geblümte Bezüge mit einem gewissen Erfolg darauf ausgelegt sind, dem Raum eine Stimmung von ewigem Sommer zu verleihen. Die Wellnesstypen sind verschwunden – die alleinstehenden Frauen, Schwestern und Freundinnen in der Bar, die Liebespärchen oben auf ihren Zimmern, um das zu tun, was in Wirklichkeit wohl der Hauptgrund ihres romantischen Wellnessaufenthalts ist –, und die kleine Gruppe von Reha-Gästen hat beschlossen, den Abendkaffee mit einer Reihe geistreicher Getränke aufzupeppen.
Der bebrillte Herr erhebt sein Glas: »Wollen wir uns nicht ordentlich vorstellen?«, fragt er, als sie angestoßen haben. »Ich kann beginnen: Finn Bocker, pensionierter Gymnasialdirektor. Witwer. Ich bin hier, weil ich … Na ja, das ist ganz und gar meine eigene Schuld. Wäre meine Frau noch am Leben, sodass ich während des Lockdowns im Frühjahr ein wenig unter Aufsicht gewesen wäre, dann wäre es niemals so weit gekommen … Kurz nach ihrem Tod bekam ich ein Blutgerinnsel im Gehirn, und hinterher habe ich meine Reha nicht so richtig gemacht, weshalb es nie ganz gut geworden ist. Ich ziehe das linke Bein nach, wie ihr sicherlich festgestellt habt, und das sollte schon längst besser sein … Mein Arzt sagt, dass ich mit einer ordentlichen Trainingsroutine beginnen und mir etwas Muskelmasse antrainieren muss. Er behauptet, dass das Trainingsprogramm, das man hier erhält, ein guter Anfang ist.« Er nickt Anne-Maj zu, dass sie an der Reihe ist.
»Neues Knie«, informiert Anne-Maj. »Aber das wisst ihr ja schon. Laut Plan soll ich für drei Wochen hier sein. Zum einen natürlich, um Hilfe bei der Reha zu bekommen, zum anderen, weil ich mich nicht traue, von Anfang an gleich zu Hause zu sein. Mein Haus hat zwei Stockwerke, und die Treppe ist so steil …« Sie zuckt mit den Schultern. »Und im Übrigen heiße ich Anne-Maj Mortensen und war Arzthelferin, ehe ich vor bald zwei Jahren in den Vorruhestand gegangen bin.«
Anne-Maj dreht sich zur Jüngsten in der Gruppe: eine hübsche, bleiche Frau, die ihr Haar mit einer schwarzen Haarklammer im Nacken hochgesteckt hat. Sie hat noch keinen Ton gesagt, und jedes Mal, wenn die anderen lachen, lächelt sie bloß ein wenig angestrengt. Als sie bemerkt, dass sie alle erwartungsvoll anblicken, verfärben sich ihre Wangen. »Ich? Bin ich an der Reihe?« Sie legt eine Hand auf ihren Halsschmuck, der Buchstabe A in Gold. »Ja, also ich … Ich heiße Anja. Anja Willemoes … Ich bin dreiunddreißig … und, äh, Architektin.« Sie hält inne.
»Und?« Das ist Tytter. Sie hat als Einzige keinen Alkohol zu sich genommen und sitzt stattdessen mit einem riesigen Pott süß duftendem Kräutertee da. »Warum bist du hier? Um zu entspannen, oder erhältst du Behandlungen oder …«
»Ich habe Fibromyalgie. Ja, ja …«, fügt sie hinzu, als sie Tytters skeptischen Ausdruck sieht, »ich weiß schon, dass viele nicht glauben, dass diese Krankheit existiert, aber es gibt sie wirklich. Ich habe mehr oder weniger konstant Schmerzen in Gelenken und Muskeln und Knochen.«
»Hast du es mit medizinischem Cannabis versucht?«, fragt Ida. »Ich habe irgendwo gelesen, dass das helfen soll.«
»Meine Ärztin sagt, dass es nicht wirkt.«
»Ich kann dir gern helfen, etwas zu bekommen.«
»Ich weiß nicht …« Anja zuckt mit den Schultern. »Meine Ärztin hat mir ein anderes Präparat gegeben, von dem man nicht abhängig werden soll … aber das bin ich gewiss schon. Meine Eltern hatten gehört, dass dies hier ein netter Ort wäre. Hier gibt es ja Gesundheitspersonal, und man kann ärztliche Hilfe bekommen, aber … Ich weiß nicht …« Anja stellt fest, dass die Blicke aller immer noch auf sie gerichtet sind und auf eine Erläuterung warten. Sie zieht ihren dunkelgrauen Cardigan enger um sich, als ob sie fröre. »Ich darf nicht mehr all die Medikamente nehmen, sagt meine Ärztin, also bekomme ich jeden Tag immer geringere Dosen, und in etwa einer Woche soll ich sie gar nicht mehr nehmen. Von da an muss ich mit freiverkäuflichen Medikamenten auskommen, und dann darf ich nach Hause. Es ist … nicht so einfach, wie es klingt. Ich habe die ganze Zeit Schmerzen, und mein Magen ist …« Sie hält inne, errötet.
»Ich darf auch nur Freiverkäufliches nehmen«, sagt Finn tröstend, als nach ein paar Sekunden klar ist, dass Anja nicht vorhat, näher auf die Probleme mit ihrem Verdauungssystem einzugehen. »Wir wollen ja nicht drogenabhängig werden, oder?« Er lacht, doch keiner der anderen lacht mit. Die chronische Krankheit, eine gefährliche Medikamentenabhängigkeit, der gebrechliche Zustand der Frau – nichts davon eignet sich zum Scherzen.
Am Tisch ist es einen Augenblick lang still. Anne-Maj hält auch ihren Mund. Wenn Anja und Finn dahinterkommen, dass sie ein ganzes Lager eines starken, morphinartigen Präparats hat, werden sie garantiert anfangen, darum zu betteln.
»Gut, dann bin ich wohl dran.« Tytter nimmt einen Schluck von ihrem Kräutertee und macht eine Grimasse. »Tytter Stilling. Oder Inger-Merete, wenn wir formell sein wollen. Geschieden. Ich war Zahnärztin bis vor einem Jahr, als ich meine Praxis verkauft habe. Jetzt genieße ich ganz einfach das Leben. Vielleicht ein bisschen zu sehr …« Sie tätschelt sich einen absolut nicht vorhandenen Bauch. Ihre große, aufrechte Gestalt ist in ein puderfarbenes Kostüm gekleidet, das maßgeschneidert aussieht. Ein paar schwere Ohrclips aus Gold bilden einen eleganten Kontrast zu ihrem dunklen – und ganz sicher gefärbten – Haar. Wie alt ist sie? Mitte fünfzig? Etwas älter? Das ist schwer zu sagen. Sie kann sich sehr wohl hie und da straffen haben lassen.
»Und warum bist du hier?«
»Ich bin hier, um am Kickstart teilzunehmen.« Sie bemerkt Finn Bockers verwunderten Blick und erklärt anschaulich und in viel zu vielen langweiligen Details von der Saftkur, die trotz ihres radikalen Charakters auf keinen Fall Schlankheitskur genannt werden darf, sondern eine Umstellung der Lebensweise, da diese Worte dem Gewichtsverlust offensichtlich irgendetwas Magisches verleihen.
»Vielleicht sollten wir anderen uns deiner Diät anschließen«, sagt Ida, wobei sie es sorgfältig vermeidet, Anne-Maj anzusehen, die die einzig Dicke in der Gesellschaft ist. »Das würde uns wirklich nicht schaden. Vielleicht hilft es auch im mentalen Bereich.«
»Vergiss nicht, dich richtig vorzustellen«, sagt der pensionierte Gymnasialdirektor. »Wie wir anderen.«
»Ach ja. Ich heiße Ida Funch und ich …«
Anne-Maj nippt am Cognac und lehnt sich zurück ins Sofa. Ihr linkes Bein ruht auf einem Hocker, und genau in diesem Augenblick ist sie schmerzfrei. Sie lässt die Gedanken frei schweifen, doch Ida erzählt von ihrem Job und ihrem Mann und ihrer Stressdiagnose und macht weiter mit einer besonders detaillierten Beschreibung des Großraumbüros, in das sie irgendwann ja leider zurückkehren muss. Wenn Anne-Maj ganz ehrlich sein soll, beginnt Ida so langsam, sie zu irritieren. Sie ist schon nett, doch all das Gerede von Zoom-Konferenzen, Mitarbeiterentwicklungsgesprächen, der Gruppe von leitenden Angestellten, sinkenden Auflagenzahlen und diversen Kündigungsrunden … Das dreht sich ein wenig zu sehr im Kreis, denkt Anne-Maj.
Sie selbst hat jede Lust verloren, bei Tytters sogenannter Umstellung der Lebensweise mitzumachen. Es kann schon sein, dass kalte Abwaschungen, zügige Spaziergänge und frisch gepresster Selleriesaft eine effektive Methode sind, um schlank zu werden, aber es klingt nicht so, als würde es auf irgendeine Weise aufmunternd wirken. Wenn Anne-Maj ihre gute Laune behalten will, braucht sie richtiges Essen. Apropos: Die Mahlzeiten hier sind wirklich nicht in Ordnung. Anne-Maj liebt es, zu kochen. Liebt es, sorgfältig zu sein, die Gerichte perfekt zuzubereiten und sie hübsch angerichtet zu servieren … Das ist wirklich sehr einfach. Anscheinend aber doch nicht ganz. Sie versteht nicht, wie ein professioneller Koch es über sich bringt, an die Gäste so nachlässiges Essen rausgehen zu lassen. Sie weiß sehr wohl, dass sie sich kaum beliebt macht, wenn sie der Küche eine Liste über die Fehler überreicht, die sie sich aufgeschrieben hat, aber wäre das in Wirklichkeit nicht schonender, als wenn sie mit ihrer Beschwerde direkt zur Geschäftsleitung ginge? Denn beschweren muss sie sich – wenn man die Preise bedenkt, die sie einem hier abknöpfen.
»Anne-Maj?« Es ist Tytter, die ihre Gedanken unterbricht. »Bist du da?«
»Oh, Entschuldigung. Ich hab mich in meinen Gedanken verloren.« Anne-Maj richtet sich im Stuhl auf. »Ich glaube, dass ich jetzt in die Falle muss«, sagt sie.
»Soll ich dich begleiten?« Es ist Ida, die ihren Redeschwall gestoppt und sich halb erhoben hat, bereit, ihre neue Freundin zu stützen.
Anne-Maj will das Angebot gerade ausschlagen, als sie sich mit einem Mal entsinnt, wie weit es bis zum Zimmer ist, wenn man mit Krücken und auch Schultertasche jonglieren muss. Und ganz unbeeinflusst von Alkohol und Medikamenten ist sie ja auch nicht. »Darüber würde ich mich in der Tat sehr freuen«, sagt sie daher nach kurzer Bedenkzeit.
»Und pass schön auf, wenn du heute Nacht aufs Örtchen musst«, sagt Tytter. »Wir wollen dich morgen nicht mit zwei Veilchen sehen.«
Finn lacht, und Anja lächelt schwach, ohne aufzusehen. Anne-Maj schüttelt nur müde den Kopf, verabschiedet sich und lässt Ida die Tasche vom Boden aufheben, während sie selbst mit festem Griff die Krücken packt.
»Ach«, ruft Ida beim Anblick der Zeitschrift aus, die halb aus der Tasche gerutscht ist. »Ich bekomme schon beim bloßen Anblick direkt Bauchschmerzen.«
»Ich finde, du solltest dir wirklich überlegen, ob du überhaupt zurück in diesen Job willst«, sagt Anne-Maj, als sie sich kurz darauf mit dem empfohlenen Mindestabstand den langen Gang zum Zimmer 317 entlangschleichen.
»Aber was mache ich dann?« Ida blickt sie an. »Mein Mann hat ein ganz normales Lehrergehalt. Mit dem allein kommen wir nicht klar …«
Anne-Maj zuckt mit den Schultern.
»Ich bin siebenundvierzig und habe noch nie etwas anderes als Zeitschriften und Illustrierte gemacht«, fährt Ida fort. »In diesem Teil der Medienwelt gibt es nur noch so wenige Jobs, dass es fast an ein Wunder grenzt, dass ich noch immer einen habe. Wo in aller Welt sollte ich hin?«
Das weiß Anne-Maj wirklich nicht, auch wenn sie es natürlich nicht ganz so formuliert. Ihre Kenntnisse in Bezug auf die dänische Medienbranche sind mehr oder weniger nicht existent. Sie kennt außer Ida keine Zeitungsleute, abgesehen von dieser aufdringlichen Helle Wiig vom Ekstra Bladet, die unmittelbar nach dem Drama im letzten Jahr ein paar Worte aus ihr herausgequetscht hat. Und Journalisten gibt es hier im Landkreis Odsherred ja auch nicht gerade wie Sand am Meer. Wohnt überhaupt einer in Nykøbing?
»Ich könnte natürlich«, setzt Ida ihre Gedanken fort, »etwas ganz anderes machen. Vielleicht Gartenarbeit – das kann ich gut. Ich könnte aufs Land ziehen, mir einen Job in einer Gärtnerei oder einer Pflanzenschule suchen … vielleicht hier in der Gegend, hier sind die Häuser ja noch bezahlbar. Mein Mann könnte pendeln oder vielleicht hier an einer Schule arbeiten, und … Was hältst du davon? Lässt sich an so einem Ort eine Stelle finden?«
Anne-Maj ist jetzt so erschöpft, dass ihre Kräfte nur noch zu einem »Das weiß ich wirklich nicht, Ida …« reichen. Sie bleibt stehen, stützt sich an der Wand ab, während sie ihr Gewicht auf das gesunde Bein verlagert. »Sperrst du bitte auf? Die Schlüsselkarte steckt im Geldbeutel.«
Ida findet sie und öffnet die Tür. »Bitte sehr«, sagt sie und macht einen Schritt zur Seite.
»Vielen Dank – und entschuldige«, sagt Anne-Maj. »Ich bin ganz einfach am Umfallen. Können wir nicht morgen darüber sprechen?«
»Selbstverständlich.« Ida folgt ihr ins Zimmer. »Ich lege deine Tasche einfach hierher, ja?« Sie steht vor dem Schreibtisch. »Kann ich sonst noch irgendetwas tun?«
»Könntest du noch die Terrassentür öffnen? Nur so einen Spaltbreit?« Anne-Maj lehnt die Krücken an einen Sessel und setzt sich auf die Bettkante. »Und mir vielleicht mein iPad geben? Das liegt auf dem Fensterbrett.«
»Ach, willst du noch Nachrichten sehen?« Ida reicht ihr das flache Tablet.
»Nee. Ich verwende es eigentlich hauptsächlich als E-Book-Reader«, erklärt Anne-Maj. »Es hat Wunder für meine armen Handgelenke bewirkt, dass ich zum Lesen am Bildschirm übergangen bin. Vor allem die dicken Bücher. Und vor allem, wenn ich einige Zeit von zu Hause weg sein soll und ich keine Lust habe, stapelweise Bücher mitzuschleppen.« Sie lächelt. »Aber nein, ich werde vor dem Schlafengehen wohl noch ein bisschen auf Facebook gehen.«
»Bist du dir sicher, dass es okay ist, heute Nacht allein zu sein?« Ida steht unschlüssig neben ihr. »Du hast ja ein Doppelbett. Ich könnte mein Nachthemd holen und …«
»Nein, danke«, unterbricht Anne-Maj etwas zu schnell. »Danke, Ida«, beschwichtigt sie dann. »Das ist lieb von dir, aber ich komme schon zurecht.«
»Gut, dann gehe ich zurück zu den anderen.« Ida beugt sich über das Nachtkästchen und kritzelt etwas auf den Block, den das Hotel dort hingelegt hat. »Hier ist meine Handynummer. Ruf einfach an, wenn du mich brauchst. Ich kann beinahe postwendend hier sein. Mein Zimmer ist nur zwei Türen weiter.«
Anne-Maj dankt ihr noch einmal und sieht mit einer gewissen Erleichterung, wie die etwas zu hilfsbereite Frau zur Tür hinaus verschwindet und Kurs zurück zum Wintergarten nimmt. Sie sitzt auf dem Bett und lässt ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Eine sandfarben und weiß gestreifte Tapete, Rosendrucke in Goldrahmen, zierliche Mahagonimöbel, kreideweiße Gardinen mit Lochstickerei und eine ziemlich unbrauchbare Damenkommode in weißem Vintage-Finish mit anmutig gebogenen Schubladen … Dieser blässliche Stil lässt Anne-Maj davon träumen, die Wände mit einer Schicht fröhlicher, frühlingsgrüner Farbe zu verschönern, auf den zarten, weißgelaugten Boden einen petrolblauen Teppich zu legen und einen großen Strauß lila- und orangefarbener Dahlien in eine Vase zu stellen.
Wie die Grönländer laut einem gewiss nicht ganz wahren Mythos hundert Wörter für Schnee haben, so haben dänische Modetypen eine Unmenge von Synonymen für beige: Nude. Creme. Sand. Fawn. Biskuit. Champignon. Café Latte. Kamel. Ecru. Sahne. Puder. Es gibt eine Menge von Bezeichnungen, die mindestens ebenso gut passen, die aber noch nicht den Weg in das poetische Vokabular der Mode- und Wohnzeitschriften gefunden haben: Hafergrütze. Leberwurst. Schneematsch. Tristesse. Anne-Maj bekommt Erstickungsgefühle von all dem Farbschreck.
Sie gähnt laut und lange und legt sich dann hin. Aller guten Absichten zum Trotz gibt sie soziale Medien und Lesen von vornherein auf … sie will nur mal eben die Augen schließen, ehe sie ins Badezimmer geht, um sich bettfertig zu machen. Anne-Maj atmet tief ein, und noch bevor die Luft wieder aus ihren Lungen entwichen ist, schläft sie tief und fest. Sie wacht davon auf, dass ihre Zähne klappern. Die Terrassentür ist sperrangelweit offen, und sie liegt immer noch ohne Federbett auf der Tagesdecke. Hinzu kommt, dass die Wirkung der Schmerzmittel nachgelassen hat und ihre Blase am Platzen ist. Das Elend ist komplett.
Anne-Maj bleibt liegen, während sie genauestens die Reihenfolge ihrer nächsten Schritte plant, um deren Anzahl auf ein Minimum zu reduzieren. Krücken. Toilette. Handy, wie sie Iben versprochen hat, damit sie Hilfe rufen kann, falls sie erneut stürzen sollte. Zahnbürste. Terrassentür schließen. Schlafgewand. Dolol. Schlaftablette. Tagesdecke runter. Übungen vielleicht. Ach, das kann bis morgen warten … Sie rappelt sich auf, packt die unerträglichen Krücken, die ihr bereits jetzt Schmerzen in Nacken und Schultern bereitet haben, und humpelt leise jammernd ins Badezimmer, wo sie alles Nötige unfallfrei erledigt und feststellt, dass ihr Auge jetzt noch schlimmer aussieht, geschwollen und verfärbt. Sie sieht aus wie das Opfer einer Gewalttat – eines von jenen, denen niemand glaubt, wenn sie erklären, dass sie sich nur dumm angestellt haben.
Danach bewegt sie sich zur offenen Tür. Als sie sie gerade zuziehen möchte, hält sie mitten in der Bewegung inne, weil sie im selben Augenblick einer Stimme gewahr wird. Sie erkennt sie umgehend wieder, die eigenartige, reibende Raucherstimme. Das ist die Frau mit der großflächigen Tätowierung am Bein, Miah mit dem freundlichen Lächeln. Die Worte, die jetzt gerade aus ihrem Mund strömen, sind jedoch alles andere als freundlich. Sie spricht zornig, verbissen mit irgendjemanden, dessen Stimme man nur als ein schwaches Murmeln erahnen kann, so schwach, dass es unmöglich ist, das Geschlecht des Betreffenden zu bestimmen, doch Anne-Maj vermutet, dass es Miahs Schwester ist. Es klingt so, als stünde die tätowierte Frau draußen, vielleicht um zu rauchen, während ihr Gesprächspartner sich drinnen befindet.
Anne-Majs Neugier gewinnt die Oberhand über Kälte und Müdigkeit. Sie öffnet die Tür wieder und lehnt sich eine Spur nach vorne, um besser zu hören. Wenn man ganz hinaus auf die Terrasse ginge, könnte man sicherlich mehr mitbekommen, aber Anne-Maj ist barfuß, und sie kann sich nur zu gut vorstellen, wie kalt die Fliesen dort draußen sein müssen. Die Stimme kommt von oben, vermutlich vom Balkon direkt über ihr. Leider kann man nur einzelne Wörter unterscheiden, aber die sind für sich schon sehr interessant: »… kann ganz einfach nicht verstehen, dass du so nervös bist wegen …«, »… aber nach zwei Monaten sollte es wohl …«, »… wie kannst du sie nur verdächtigen …« Hier wird die Stimme so leise, dass Anne-Maj zu ihrem großen Ärgernis nichts versteht. Sie will schon aufgeben, als die Frau oben plötzlich lauter spricht: »Nein, das tue ich nicht. Wenn es so laufen soll, dann können wir es ebenso gut lassen.« Erneut eine Pause. Ein glühender Zigarettenstummel wird nachlässig vom Balkon geschnippt und landet auf dem Rasen vor Anne-Majs Terrasse. »Jetzt hör schon auf, Teufel noch mal! Es kann doch nicht sein, dass wir …«
Bumm. Die Tür oben wird zugemacht. Der Glimmstängel der tätowierten Frau ist geraucht, das Gespräch nach drinnen verlagert, außer Hörweite von Anne-Maj. Verdammt.
Sonntag, 13. September
»Ach, könntest du mir bitte den Kaffee reichen?« Anne-Maj bremst sich im letzten Augenblick selbst, ehe sie Finns Jackenärmel berührt. Sie lässt die Hand sinken und lächelt entschuldigend. »Und schiebst du mir vielleicht auch die Zuckerdose rüber?«
»Selbstverständlich.« Der pensionierte Rektor desinfiziert – vielleicht ein wenig demonstrativ – seine Hände, ehe er die kleine Aufgabe ausführt. Er hat gerade verkündet, dass er einen Kater hat, aber ihm ist nichts anzumerken.
Die gesamte Gesellschaft hat, abgesehen von Anne-Maj, am Abend zuvor noch bis ungefähr elf zusammengesessen, und zu dem Zeitpunkt waren sie schon zu Gin Tonics übergegangen, was ein paar von ihnen jetzt zutiefst bereuen. Anja ist noch bleicher als sonst, und Ida ist sehr still, doch es ist deutlich für jeden, dass die gestrige Zusammenkunft trotz der etwas unangenehmen Folgewirkungen die kleine Gruppe einander nähergebracht hat.
Tytter, die getreu ihrer Umstellung des Lebensstils nichts Alkoholisches zu sich genommen hat, ist quicklebendig wie ein Hundewelpe in aller Herrgottsfrüh, und sie plappert gut gelaunt drauf los und erzählt von den Kilos, die sie in den vier Tagen seit Beginn der Kur verloren hat. Ihr Frühstück besteht heute aus einem gelblich-weißen Smoothie, der nur etwas weniger Ekel erregend aussieht als die gräuliche Flüssigkeit, die ihr am Abend zuvor samt einer ganzen Kanne Kräutertee serviert wurde. Es ist beeindruckend, dass sie das aushält, denkt Anne-Maj.
Sie selbst ist verblüffenderweise auch ziemlich ausgeruht. Sie hat die ganze Nacht wie ein Stein geschlafen, unterbrochen nur von der üblichen Tour um drei Uhr ins Badezimmer – diesmal ohne Unfälle unterwegs –, und erst jetzt am Morgen war eine neue Dosis Schmerzmittel erforderlich. Sie ist im Bad gewesen, mit einer Plastiktüte um die Bandage gewickelt, und sie hat danach all ihre Übungen gemacht, sowohl die im Sitzen als auch die im Liegen – ohne einer Ohnmacht nahe zu sein. Anne-Maj fühlt sich eigentlich recht gut und findet, dass sie sich ihr kalorienreiches Frühstück verdient hat.
Im selben Moment kommen die Schwestern von gestern zu ihnen. Sie sind wieder in ihre weißen Frotteebademäntel gekleidet und nehmen am Nachbartisch Platz. Sie bewundern Anne-Majs Veilchen, das heute noch beeindruckendere Farben angenommen hat. Miah wirkt nicht wie eine Frau, die letzte Nacht auf dem Balkon gestanden und mit jemandem gestritten hat. Sie spricht mit Ida, die die pochierten Eier mit grünem Spargel empfiehlt. Spargel, denkt Anne-Maj kopfschüttelnd, im September! Hat der Koch noch nie etwas von saisonalen Waren gehört? Ein weiterer Punkt kommt auf ihre mentale Liste über Dinge, die in der Küche zur Sprache gebracht müssen, doch laut sagt sie natürlich nichts. Man ist doch ein höflicher Mensch.
Miah und Lenette beabsichtigen jedoch nicht, Idas Essensvorschlag zu folgen – Saison oder nicht. Sie verdrehen die Augen zum Himmel und ziehen sich die Einweg-Masken über, die am Büffet vorgeschrieben sind, und holen sich jeweils eine große Portion Rührei mit Speck. Nach einer weiteren Tour kommen sie mit vollen Tellern zurück, auf denen sich diverse Brötchen, Salami und Kuchen auftürmen. Nicht die Spur von Gemüse oder Obst, es sei denn, man zählt die Portionspackungen mit Erdbeermarmelade zu dieser Kategorie.
Sobald sie wieder sitzen, reißt sich Miah die Maske mit einer irritierten Grimasse herunter. »Zum Teufel mit dem Quatsch«, sagt sie.
»Quatsch?« Anne-Maj ist aufrichtig verwirrt. Was ist Quatsch? Das Essen? Die Gesellschaft? Die Einrichtung?
»Die hier.« Miah wedelt mit der benutzten Maske herum – wenn da Viren drin sind, werden diese jetzt gründlich auf dem ganzen Tisch verteilt. Sie zerknüllt sie und steckt sie in die Tasche.
»Ich finde, dass es sehr vernünftig ist, Vorkehrungen zu treffen«, sagt Anne-Maj. »Ich persönlich bin ziemlich froh darüber, dass die Leute nicht am Büfett stehen und auf das Essen atmen.«
»Eigentlich«, sagt Finn Bocker, »wäre es schön, wenn es eine Vorschrift zum Tragen von Masken an Büfetts gäbe – auch wenn keine Pandemie herrscht.«
»Pandemie!« Lenette leert ein kleines Glas mit einer klaren Flüssigkeit in einem einzigen, routinierten Ruck. Vielleicht Wodka? »Pandemie, meine Güte! Das ist nur ein ganz normaler Schnupfen. Die Regierung hat total überreagiert.«
»Das ist doch nicht dein Ernst!« Anne-Maj ist erschüttert. »Leute sterben an COVID-19.«
»Die Alten und Kranken, ja«, sagt Lenette und schüttet sich einen ordentlichen Klecks Ketchup auf ihr Rührei. »Ob jemand mit neunzig ein paar Monate mehr oder weniger lebt …« Sie zuckt mit den Schultern. »Denkt nur an all die Milliarden von Kronen, die verwendet werden, um sie am Leben zu halten.«
»Es sind aber nicht nur ältere Menschen, die daran sterben«, merkt Finn an. »Jetzt, während der zweiten Welle gibt es jede Menge von jüngeren, die …«
»Ja ja, die Faulen und die Fetten.« Ein kleines Stück Speck fliegt Miah bei den Fs aus dem Mund und landet auf der weißen Tischdecke. »Und wegen denen müssen wir anderen alle leiden. Weil sie so etwas Einfaches, wie auf ihr Gewicht zu achten, nicht schaffen.«
Es geht ein Ruck durch Anne-Maj. Jedes Mal, wenn sich jemand abfällig über dicke Menschen äußert, wird sie zu gleichen Teilen gekränkt und zornig. »Leiden und leiden«, sagt sie so ruhig, wie sie kann. »Mir fällt es schwer zu erkennen, dass man ein großes Trauma davonträgt, wenn man einen vernünftigen Abstand hält, lüftet und für gute Hygiene sorgt. Jetzt, wo die Inzidenzzahlen wieder steigen, ist es doch einen Versuch wert, die Masken zu tragen. Niemand wünscht sich doch so einschneidende Restriktionen wie im Frühjahr, als die Schulen …«
»Die Masken helfen ja nicht einmal«, unterbricht Lenette mit einem triumphierenden Ausdruck.
»Das tun sie sehr wohl!«, sagt Anne-Maj. Sie spürt die Wut wie einen brennenden Klumpen im Brustkorb.
»Zeig mir eine Untersuchung, die das sagt. Es gibt einen amerikanischen Arzt, der bewiesen hat, dass …« Hier folgt eine längere Tirade über diesen Arzt, der sich gegen den Großteil der Forscher auf der ganzen Welt stellt und der aus irgendeinem Grund dennoch derjenige ist, dem die Maskengegner am meisten vertrauen. »Ihr alle, die ihr der Regierung glaubt, seid nichts als Lemminge!«
»Lemminge?« Anne-Maj ist jetzt ernsthaft zornig. »Wenn diese Bezeichnung auf jemanden zutrifft, dann ja wohl auf euch – die Leute, die sich weigern, auf die Wissenschaft zu hören, und glauben, dass die Pandemie von der Pharmaindustrie geschaffen wurde und dass …«
»Ja, aber das wurde sie doch!«, unterbricht Lenette. Sie versucht erst gar nicht, sich zu dämpfen. Eine Dame am Nachbartisch betrachtet verwundert die erhitzten Gemüter. Ein lautstarker Streit ist hier zwischen den romantischen Korbmöbeln und gestärkten Spitzentischdecken, wo die Sonne so schön zu den Sprossenfenstern hereinfällt, wirklich fehl am Platz. »Man muss schon sehr naiv sein, wenn man nicht daran glaubt, dass Big Pharma …«
»Big Pharma!«, schreit Anne-Maj nahezu. »Nennt ihr das auch Deep State? Und Fake News? Man kann wirklich gut hören, wo ihr und die anderen eures Schlags eure Informationen herhabt. Es sind solche wie ihr, die daran schuld sind, dass ein Mann wie Trump an die Macht kommen konnte.« Anne-Maj stürzt sich in eine wütende Rede. Mit Fortschreiten der Argumentation gewinnt ihre Stimme immer mehr an Schärfe. Es ist bestimmt nicht ihre Art, sich auf diese Weise in voller Öffentlichkeit zu erregen, und schon gar nicht, wenn es um etwas Politisches geht, aber genau dieses Thema lässt ihr alle Haare zu Berge stehen. Dieser Zynismus, diese Faktenresistenz, diese Sturheit, dieser Egoismus und diese engstirnige Paranoia. Sie hält es nicht aus. Die Leute an den anderen Tischen blicken verstohlen zu den streitenden Parteien, und irgendwo in ihrem Inneren kann sie selbst sehr wohl erkennen, dass es peinlich zu werden beginnt.