Der schwarze Sommer - Gard Sveen - E-Book
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Gard Sveen

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Beschreibung

"Der norwegische Le Carré!" Maria Arolilja Rø, Adresseavisen Beirut, 1982: Während die Stadt vom Bürgerkrieg zerrissen wird und israelische Panzer einrollen, treffen eine Krankenschwester und der verheiratete norwegische Botschafter aufeinander. Zusammen mit anderen Norwegern kämpfen sie ums Überleben. Oslo, 2017: In der Hitze des Sommers wird der frühere Botschafter Leif Wilberg von einer Autobombe getötet. Seine Frau ist spurlos verschwunden. Tommy Bergmann vom norwegischen Geheimdienst beginnt, in der Vergangenheit nach der Wahrheit zu suchen, und stößt auf ein schreckliches Geheimnis.

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Der schwarze Sommer

Der Autor

GARD SVEEN, geboren 1969, ist Staatswissenschaftler und hat viele Jahre als Seniorberater im norwegischen Verteidigungsministerium gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Der erste Band der Serie um Tommy Bergmann Der letzte Pilger wurde mit dem Rivertonpreis 2013 und dem Glass Key Award 2014 ausgezeichnet, dem wichtigsten skandinavischen Krimipreis. Gard Sveen lebt in Ytre Enebakk, einem kleinen Ort in der Nähe von Oslo. Weitere Bücher von Gard Sveen in unserem Hause:Aus der Reihe »Ein Fall für Tommy Bergmann«:Der letzte Pilger, Bd. 1Teufelskälte, Bd. 2Der einsame Bote, Bd. 3Die stille Tochter, Bd. 4

Gard Sveen

Der schwarze Sommer

Thriller

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2367-1© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021© 2019 by Gard SveenTitel der norwegischen Originalausgabe:Drømmenes gud (Cappelen Damm, Oslo, 2019)Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung, Cornelia Niere, MünchenTitelabbildung: © plainpicture/BYE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Teil 1

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

Teil 2

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

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12

13

14

Teil 3

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

30. Juni 2017Oslo

Als Hanna Svarstad um die Ecke der Thomles gate bog, spürte sie, wie ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Exakt gegenüber ihrem Haus saß eine dunkelhaarige Frau auf einer Treppe. Eine Frau, die dort nicht sitzen sollte.

Sie saß etwas zur Seite gedreht und blickte in Richtung Drammensveien, als wüsste sie ganz genau, dass Hanna immer diesen Weg nahm, wenn sie vom Außenministerium zurückkam – egal ob Sommer oder Winter.

Die Frau war nicht mehr jung, sie musste etwa in ihrem Alter sein. Jetzt stand sie auf und nahm die Sonnenbrille ab. Ihre Kleider waren teuer, auch ihre Handtasche und die Reisetasche wirkten edel.

Eine Eleganz, die sie sich eigentlich nicht leisten konnte, dachte Hanna.

Sie wandte den Blick ab, tat so, als hätte sie die Frau nicht gesehen, und ging weiter bis zum Eingang ihres Hauses.

Verdammter Mist.

Mit einem Mal erschien Hanna alles um sie herum vollkommen unwirklich. Sie erwog, einfach weiterzugehen und so zu tun, als wohnte sie woanders, blieb dann aber doch vor ihrer Tür stehen und öffnete die Handtasche. Obwohl sie es mit aller Kraft versuchte, konnte sie das Zittern ihrer Hand nicht unterdrücken.

»As-salamu alaikum«, war eine Stimme hinter ihr zu vernehmen. »Hanna? Hanna Svarstad?«

Hanna drehte sich nicht um, nahm die Sonnenbrille nicht ab, obwohl sie den verfluchten Schlüssel nicht finden konnte. Nachdem sie eine halbe Ewigkeit in ihrer Tasche herumgewühlt hatte, hielt sie ihn endlich in der Hand. Die Frau stand direkt hinter ihr, das schwere Parfüm erfüllte für einen Moment Hannas gesamtes Bewusstsein.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.

»Erkennen Sie mich nicht wieder?«, fragte die Frau.

Hanna hielt den Schlüssel fest, zog ihn aber nicht aus dem Schloss.

»Es ist lange her«, sagte die Frau. »Genauer gesagt fünfunddreißig Jahre.«

Hanna zog den Schlüssel heraus und drehte sich um.

Die Frau vor ihr hatte etwa dieselbe Größe wie sie. Hanna starrte sie durch die Sonnenbrille wie versteinert an.

Die andere blinzelte, Tränen rannen ihr über die Wangen.

»Ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut.«

Hanna wandte den Blick ab. Die Erinnerungen waren glasklar. Ein früher Morgen, noch vor Sonnenaufgang. Die Stadt lag still da. Kein Schuss zu hören, keine Sirenen, kein Luftalarm, kein Kinderweinen. Ganz deutlich hörte sie das schmiedeeiserne Tor zur Straße zufallen.

»Ich erinnere mich an Sie«, sagte Hanna auf Arabisch, ohne die logische Folgefrage zu stellen: Was tun Sie hier?

Die Frau sah erst nach rechts, dann nach links, als hätte sie Angst, gesehen zu werden.

»Vergeben Sie mir«, sagte die Frau.

Hanna steckte die Sonnenbrille in die Haare.

»Vergeben?«

»Darf ich reinkommen? Nur für einen Moment. Ich will Sie nicht stören. Sie und Leif.«

»Aber wirklich nur für einen Augenblick«, sagte Hanna. »Fünf Minuten, dann müssen Sie wieder gehen.«

»Danke.«

»Bitte, weinen Sie nicht«, sagte Hanna und legte der Frau die Hand an die Wange.

Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als krampften sich ihre Eingeweide zusammen, als kämpfte die Vergangenheit in all ihren Organen um Aufmerksamkeit.

Schweigend gingen sie nach oben in die erste Etage. Ein Störgeräusch, von dem sie nicht wusste, woher es kam, erfüllte Hannas Kopf. Als löste jeder ihrer Schritte weit entfernt die Detonation einer Granate aus.

»Ich habe etwas Dummes getan«, sagte die Frau, kaum dass Hanna sie in die Wohnung gelassen hatte. »Aber ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich das richtig verstehe, hat Leif Sie sehr gern, es tut mir wirklich wahnsinnig leid.«

»Nehmen Sie Platz und erzählen Sie«, sagte Hanna, führte die Frau durch die große Wohnung und zeigte schließlich auf die Stühle in der Küche. Sie gab der Frau ein Glas Wasser, stellte sich ans Küchenfenster und zündete sich eine Zigarette an.

Während die Frau erzählte, hielt Hanna ihren Blick fest auf die Treppe gerichtet, auf der ihr ungebetener Gast zuvor gesessen hatte. Sie spürte die Gänsehaut erst an den Armen, dann am Haaransatz. Ihr Atem blieb aber ruhig und beherrscht. Warum sollte sie zeigen, dass sich in ihrem Inneren ein Abgrund auftat?

Nach einer Weile sah Hanna auf ihre Armbanduhr, fest entschlossen, ihren Gast nach exakt fünf Minuten rauszuwerfen.

»Ich will nicht, dass Leif Sie verliert. Das ist alles. Ich hatte Leif sehr, sehr gern, das wissen Sie.«

Mich verlieren, dachte Hanna. Wir alle werden irgendwann jemanden verlieren. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Jeder muss irgendwann sterben.

Die Frau nahm einen Umschlag aus ihrer Handtasche und legte ihn auf den Tisch. Er war voller Dollarscheine.

»Das ist nur wenig«, sagte sie. »Ich hatte keine andere Wahl, verzeihen Sie mir, Hanna. Sagen Sie, dass Sie mir verzeihen.«

Die dunkelhaarige Frau verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Ich verzeihe Ihnen«, sagte Hanna. »Alles wird gut.«

»Glauben Sie?«

»Ist Ihnen jemand hierher gefolgt?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Sind Sie sich ganz sicher?«

»Ich habe eine Straßenbahn und zwei Taxen genommen. Schließlich bin ich eine alte Frau aus Beirut, was glauben Sie? So dumm bin ich nicht.«

»Sie dürfen das niemals jemandem sagen«, fuhr Hanna fort. »Niemals. Sonst kann ich nicht für Ihre Sicherheit garantieren.«

Die Frau saß regungslos da.

»Sie vertrauen mir und ich vertraue Ihnen, nicht wahr?«

Die Frau nickte vorsichtig.

»Wann geht Ihr Flug?«, fragte Hanna, nahm das Handy heraus und rief ein Taxi.

Hanna begleitete sie bis zur Haustür. Die Frau wollte ihre Hände fast nicht loslassen, als das Taxi vor der Tür hielt.

»Gehen Sie jetzt«, sagte Hanna. »Sonst verpassen Sie Ihren Flug.« Hanna nahm die Reisetasche und hängte sie ihr über die Schulter. »Leben Sie wohl«, sagte sie. »Ich hoffe, die Operation verläuft gut.«

Die Frau öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Hanna legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen.

»Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist Gottes Wille«, flüsterte Hanna.

Sie beobachtete den Taxifahrer, der aus dem Auto ausstieg und die Tür öffnete. Die Frau stieg ein, und der Wagen wendete am Ende der Straße. Auf dem Rückweg sah sie die Frau ihre Handfläche gegen das Glas pressen.

6. Juli 2017Oslo

Hanna Svarstad wusste nicht, wie lange sie schon im Bad war, als er anklopfte. »Wir müssen los«, hörte sie ihn durch die Tür.

Sie antwortete nicht. Leif hörte ohnehin schlecht, und so eilig hatten sie es wirklich nicht.

Sie warf einen letzten Blick in den großen Spiegel und begutachtete ihren Körper. Er war noch immer schön, auf jeden Fall für eine Frau ihres Alters. Das Gesicht hingegen – überall Falten, wie bei einer alten Hexe. Einer kinderlosen, verbitterten Frau, dachte sie und korrigierte sich gleich: Eigentlich hatte sie das nur dem Rauchen zu verdanken. Sie war seit ihrer Jugend eine Sklavin dieser Glimmstängel und hatte sich von den Zigaretten mehr Falten in ihre Haut brennen lassen, als sie es sich eingestehen wollte. Was sagte Leif immer? Du bezahlst einen hohen Preis, nur um dann vor allen anderen zu sterben. – Tja, und wenn ich das so will?, lautete jedes Mal ihre Replik.

Trotzdem hatte er natürlich recht. Es hieß, dass jede Zigarette fünf Minuten Lebenszeit kostete und dass die Falten bei Rauchern tiefer und zahlreicher waren als bei den vernünftigen Menschen, die nie in den Genuss einer Zigarette gekommen waren.

Aber spielte das eine Rolle? Waren die Falten und das Alter jetzt noch von Bedeutung?

Wenn es nur nicht so verdammt schwer wäre, alt zu werden! Die fünfzig zu passieren, war schon hart genug gewesen. Aber sechzig? Da gab es dann wirklich kein Zurück mehr. Ab da balancierte man am Rand seines Grabes. Wäre das leichter auszuhalten gewesen, hätte sie eigene Kinder gehabt? Jemandem, der ihre Gene weiterführte und die Erinnerung an sie wachhielte? Sie hatte einmal ein Gespräch belauscht, in dem jemand gesagt hatte, eine Frau, die nie ein Kind bekommen habe, sei gar keine richtige Frau. Damals hätte sie diesen Kerl am liebsten niedergeschlagen, aber jetzt … verstand sie.

Doch es gab nur einen Mann, mit dem sie Kinder hätte haben wollen. Und dieser Mann war seit Langem tot.

Nein, ich bereue nichts, dachte sie.

»Ich glaube, wir müssen jetzt wirklich los«, hörte sie einen Schritt hinter sich.

Wieder klopfte es vorsichtig an der Badezimmertür.

»Wir müssen los«, wiederholte er.

Leifs Stimme klang fast kindlich, als wollte er sagen: Ich gehe jetzt, mach dir keine Sorgen um mich. Als müsste er die grüne Linie von Ost- nach West-Beirut überqueren, durch zerrissene Zäune, zerbombte Gebäude, Hochhäuser voller Heckenschützen, vorbei an Kindern mit Maschinenpistolen und Palästinensertüchern um den Kopf und über Barrikaden aus Stacheldraht und Sandsäcken, behängt mit den Bildern all der Märtyrer. An den Wänden Graffiti: Tod allen Zionisten.

»Ich bin noch nicht schwerhörig, Leif«, sagte sie. »Die Zeit ist noch nicht knapp, du fährst ja erst morgen. Und ich muss nur das Flugzeug nach Kopenhagen kriegen und nicht …« Sie hielt sich selbst zurück. Durch West-Beirut fahren, dachte sie und machte sich für einen Moment Sorgen, ob sie nicht doch an einem posttraumatischen Stresssyndrom litt. All diese Gedanken über Beirut … Sie wusste nur zu gut, dass traumatische Erinnerungen auch erst Jahrzehnte später aufbrechen und einen Menschen vollständig in die Knie zwingen konnten. Seit einigen Jahren hatte sie immer wieder Albträume. Regelmäßig wachte sie auf, wenn sie nachts die grüne Linie an der Damascus Street überquerte und von einem Heckenschützen mit einem Teilmantelgeschoss in den Rücken getroffen wurde, sodass ihr der Brustkorb aus dem Körper flog.

In den letzten Monaten war es besser geworden, bis dann diese Frau aus der Vergangenheit auf der verfluchten Treppe gesessen hatte. Seither war sie jede Nacht wach geworden und hatte im dunklen Schlafzimmer nach Atem gerungen.

Wenn man träumt, versucht das Unterbewusstsein einem etwas zu erzählen, hatte ihr Psychiater gesagt. Es gibt gute Medikamente, damit man schlafen kann, das wissen Sie doch? Medikamente? Was zum Henker sollte sie mit Medikamenten?

»Einen Moment noch, Leif. Ich bin gleich so weit«, sagte sie.

Dann zog sie den Morgenmantel an und öffnete die Badezimmertür.

Leif stand direkt davor und wartete. Nur die sorgenvollen alten Augen und die diskreten Hörgeräte in beiden Ohren verrieten, dass er achtzig und nicht Mitte sechzig wie sie war, was man sonst leicht hätte glauben können.

Sie musterte ihn einen Moment, er trug sportliche Freizeitkleidung, ein feuerrotes Poloshirt und eine Kakihose in modernem Schnitt. Sein Rücken war noch immer gerade wie bei einem jungen Mann.

Sie fuhr ihm mit der Hand vorsichtig durch die grauen, aber nach wie vor kräftigen Haare.

»Leif. Ich liebe dich noch immer, das weißt du, oder?« Sie nahm seine Hände und hielt sie fest, um sich zu vergewissern, dass er wirklich da war. »Es ist mir wichtig, dass du das weißt.«

Er sah beinahe überrascht aus, zog sie dann aber nickend an sich.

Als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel, blieb sie wie versteinert stehen. Leif ging zum Ende der Sackgasse, wo ihr Auto stand. Hanna hatte ihre Augen auf die leere Treppe auf der anderen Straßenseite gerichtet. Eine Sekunde lang sah sie dort wieder die schwarzhaarige Frau sitzen. Im nächsten Moment war sie verschwunden.

Während der Fahrt sagte keiner der beiden ein Wort. Als sie die Anhöhe bei Skjetten erreicht hatten, in Richtung Olavsgaard fuhren und rechter Hand die grünen Felder und bewaldeten Hügel auftauchten, schaltete Leif den CD-Spieler ein.

Ma Lach Yalda?, dachte sie und betrachtete Leif, während er die hebräischen Worte so gut es ging mit den Lippen mitsprach. Sie öffnete das Handschuhfach und nahm die CD-Hülle heraus. Zohar Argov starrte sie mit seinen heroinschweren Augen direkt an, als wollte er sie fragen, was er sang: Und wovon träumst du, Mädchen?

Nach einer Minute schaltete sie die Stereoanlage wieder aus. Es war Jahrzehnte her, dass sie im Nahen Osten gewohnt hatten, warum sollten sie sich die Musik jetzt noch anhören?

Leif drehte sich zu ihr.

»Guck auf die Straße.«

Sie drückte seine Hand, die auf dem Schaltknüppel lag.

Eine Minute später bekam sie eine SMS. Annema war bereits in Kopenhagen.

Bis nachher, schrieb Hanna und schaltete ihr Handy aus. Sie bekam Kopfschmerzen, es drückte direkt hinter dem Stirnbein, weitere Störungen verkraftete sie jetzt nicht.

Auf dem Parkplatz des Flughafens Gardermoen streichelte sie Leifs Wange.

»Wir sehen uns morgen«, sagte sie.

»Ich hätte das nicht sagen sollen«, sagte er.

Sie nickte. »Ich weiß, Leif. Hättest du nicht.«

Sie zündete sich eine Zigarette an und sah dem Wagen nach, als er vom Flugplatzgelände hinunterfuhr. Eine Träne rann ihr über die Wange. Sentimentale alte Schachtel, dachte sie. Das war nur die Musik, sonst nichts.

Mit mechanischen Schritten ging sie in die Abflughalle und durch die Sicherheitskontrolle. Auf der anderen Seite versuchte sie, auf den großen Bildschirmen den Flug nach Kopenhagen zu finden, aus irgendeinem Grund gelang es ihr aber nicht. Sie hatte das schon Hunderte, ja Tausende Male getan, warum konnte sie ausgerechnet heute ihren Flug nicht finden? Wie versteinert blieb sie vor den Bildschirmen stehen, aber die gelben Buchstaben verschwammen. Sie ließ ihren Rollkoffer los und hatte für einen Moment das Gefühl, nach hinten zu kippen. Die Geräusche in der Halle erfüllten ihren Kopf, bis mit einem Mal alles still wurde.

Und du, Mädchen? Wovon träumst du?

Sie schloss die Augen und sah nur noch die karge Wüstenlandschaft vor sich, ein paar Olivenbäume und den Dunst der Hitze. Sich selbst, wie sie das Auto anhielt, sich über das Lenkrad beugte, das Gesicht in den Händen verbarg und flüsterte, dass das alles nicht wahr sein konnte.

Er konnte nicht tot sein.

Teil 1

24. August 1982Beirut

1

Leif Wilberg wachte auf und glaubte, geträumt zu haben, doch dann wurde ihm abrupt bewusst, dass das Geräusch, das ihn geweckt hatte, von israelischen Kampfjets kam. Nur die verfluchten Jetmotoren drangen durch den Nebel der Schlaftabletten. Er riss die Augen auf und starrte in den nachtschwarzen Kellerraum, der ihm nun als provisorisches Schlafzimmer diente. Er war zu den Geräuschen des Krieges eingeschlafen, was an sich schon ein Wunder war.

Ein paar Sekunden blieb er mit dem Kopf auf dem Kissen liegen und lauschte dem Summen des Aggregats draußen vor der Kellertür, das den Strom für die Klimaanlage des Hauses produzierte. Er hatte auf dem Schwarzmarkt einen Wahnsinnspreis für den Diesel zahlen müssen, aber was half es? Der Strom wurde jede Nacht abgeschaltet, und wenn er den Keller nicht richtig runterkühlte, konnte er es mit dem Schlafen vollends vergessen. Dann würde er hier unten mit Sicherheit den Verstand verlieren. Wenn er den nicht schon verloren hatte, so oft wie er an die Krankenschwester aus dem Hospital im Lager Al-Shubra dachte. Als die Motoren der Kampfjets genau über dem Haus dröhnten, wurde ihm bewusst, dass er auch in dieser Nacht von ihr geträumt hatte. Sie hatten irgendwo auf den Lofoten gewohnt, in ihrem Heimatort. Für einen Moment lächelte er wie ein kleiner Junge vor sich hin.

Ein paar Kilometer entfernt war das Donnern von Granateneinschlägen zu hören. Er war hellwach, obwohl er sich nichts mehr wünschte als ein paar Stunden Schlaf. Rolling thunder, dachte Leif Wilberg, die Geräusche kamen näher und näher, bis die Explosionen direkt über dem Haus waren. Die Israelis begannen die Bombardierung des besetzten West-Beirut von den Rändern her, sobald es gegen acht Uhr dunkel wurde. Sie starteten in den westlichsten Stadtteilen unten am Strand. Von dort aus wanderte die Feuerfront langsam nach Osten durch die Flüchtlingslager, dann nach Südosten entlang der endlosen Damascus Street bis zu den Vierteln um das Hippodrom. Auch wenn die Residenz am äußersten Rand von West-Beirut lag – ein gutes Stück entfernt von den palästinensischen Vierteln – fühlte es sich so an, als würde sie jeden Moment von den Bomben ausradiert werden. Er wartete noch ein paar Minuten und hörte das Klirren der Scheiben oben im ersten Stock, als mehrere Flugzeuge dich über die Häuser flogen. Er stellte sich vor, wie die Kronen der Palmen am Schwimmbad von dem Luftzug der in Amerika produzierten Phantom- und F16-Jäger hin und her gerissen wurden. Dann kamen die Einschläge, und dieses Mal waren sie lauter und näher.

»Hanna«, sagte er vor sich hin in den dunklen Raum, als gäbe ihm dieser einfache Frauenname Sicherheit. Waren die obersten Etagen des Krankenhauses evakuiert worden? Leif Wilberg dachte keine Sekunde an die Patienten, weder an die Frauen noch an die Kinder, seine Gedanken galten einzig und allein Hanna. Ihr durfte nichts geschehen. Er faltete die Hände, wie damals, als er noch ein Kind gewesen war: Lieber Gott, betete er, lass Hanna jetzt im Keller des Krankenhauses sein.

Er nahm die Hände auseinander und für einen Moment schämte er sich. Nicht weil er für Hanna gebetet hatte, eine Frau, der er nur ein paarmal in seinem Leben begegnet war, sondern aufgrund der Tatsache, dass er überhaupt gebetet hatte. Schließlich gab es keinen Gott, keinen Himmel. Was er in der Sonntagsschule gelernt hatte, war blanker Unsinn! Es gab nur die Hölle, und die wurde von den Menschen selbst geschaffen. Hatte er sich jemals so hilflos gefühlt?

Sekunden später knallte es so kräftig, dass die Wände um ihn herum wackelten. Weitere Flugzeuge folgten, Helikopter. Er glaubte sogar die Ketten von Panzern zu hören, die sich in den Asphalt gruben. Er sprang auf und zog sich seine Kleider an. Dann huschte er an dem kleinen Kellerraum vorbei, in dem Yasmine schlief. Er rannte die Treppe ins Erdgeschoss hoch, ging ins Wohnzimmer und goss sich einen großen Whisky ein. Dann öffnete er die Schiebetür zur Terrasse. Die warme Sommernacht umfing ihn, aber der erste Windhauch, der ihn erreichte, trug den Geruch von gebratenem Fleisch mit sich. Pulver, Dieselabgase und alter Putz. Er kippte die Hälfte des Whiskys runter, bevor die nächsten Jets über ihn jagten. Instinktiv zog er den Kopf ein, stellte das Glas ab und presste sich die Hände auf die Ohren. Das Wasser im Schwimmbad schwappte leicht hin und her, wie während der Winterstürme in der Bucht vor der Stadt. Der Militärattaché der Botschaft, Tore Austlid, hatte ihm den strengen Befehl erteilt, nachts im Keller zu bleiben, aber Befehle waren dazu da, sich ihnen zu widersetzen. Dabei waren nicht wenige Menschen auf ihren Terrassen und Balkonen von Streifschüssen, Querschlägern und Granatensplittern getötet worden. Es gab nichts, das es nicht gab, solange der Teufel regierte. Aber wenn Hanna in dieser Nacht stirbt, will auch ich sterben, dachte Wilberg und zündete sich eine Zigarette an. Dann ging er an den äußersten Rand des Grundstücks und stellte sich an die Zypressenhecke. Ganz in der Nähe waren Schüsse zu hören, erst nur einzelne, dann das unverkennbare Stottern der Maschinengewehre. Etwas weiter entfernt ein Helikopter. Eine Fontäne aus Leuchtspuren schnitt sich in elliptischen Bahnen durch den nachtschwarzen Himmel im Westen. Und dann, das Schlimmste von allem: Artilleriefeuer. Eine Serie von Granaten schlug in die Häuser ein, maximal zwei, vielleicht nur einen Kilometer entfernt. Es folgte eine neue Salve, das dumpfe Dröhnen kam immer näher, wie ein Rudel wild kläffender Hunde. Vergeblich versuchte er, die Geräusche des Krieges auszuschalten und nur den Zikaden zu lauschen. Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber er glaubte, sie in den Oliven zirpen zu hören, als wäre diese Stadt noch immer so schön, wie sie es einmal gewesen war.

Während er so dastand und sich mit den Zikaden tröstete, zog ein Schauer aus weißem Phosphor über den westlichen Himmel. Es sah fast aus wie an Silvester, aber dies hier war kein Fest, sondern die größte Schweinerei seit dem Napalm in Vietnam. Der Phosphor schälte die Haut von den Menschen, wenn sie getroffen wurden. Auch noch Tage danach brodelten und rauchten die Wunden. Hanna hatte ihm davon erzählt, als sie sich im Frühsommer getroffen hatten. Es gab Tage, an denen er sich wünschte, das alles nicht zu wissen. Manchmal glaubte er, die Schreie der Kinder bis zu sich hören zu können, aber bestimmt bildete er sich das alles nur ein.

Irgendwo hinter sich war die Stimme einer Frau zu hören, sie rief seinen Namen, es klang fremd. Er ignorierte sie, leerte den Whisky und zündete sich eine weitere Zigarette an, den Blick fest auf den Kriegsschauplatz vor sich gerichtet.

»Monsieur Wilberg!« Die Stimme der Frau war jetzt ganz deutlich zu hören. Sie kam näher, wurde aber unterbrochen vom Dröhnen der Granateneinschläge.

Er spürte ihre Hand auf seinem Arm, sie drehte ihn herum.

Er blickte direkt in die angsterfüllten Augen der Hausangestellten Yasmine. Sie trug ein Nachthemd, ihre Locken standen in alle Richtungen ab, und ihre Augen waren mehr schwarz als braun.

»Was tun Sie hier?«, fragte sie auf Französisch. »Sie könnten hier draußen zu Tode kommen. Sie dürfen nicht …«

Leif Wilberg dachte, dass ihre Angst weniger dem Krieg galt als der Tatsache, dass er sich, wie so oft in den letzten Tagen, den Vorschriften widersetzte. Man durfte nachts nicht rausgehen. Nachdem der französische Botschafter im letzten Frühjahr liquidiert worden war, hatte man weitreichende, beinahe hysterische Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Wilberg hatte Frau und Kinder direkt nach dem Attentat nach Hause geschickt. Eine Diplomatengattin wäre das perfekte Entführungsopfer, und wer konnte sagen, welchen Schaden seine Söhne hätten nehmen können, wären sie trotz der konstanten Bedrohung hiergeblieben. Er war allein in Beirut geblieben, nur umsorgt von der jungen, vom Krieg gezeichneten Yasmine. Nachdem sie jahrelang in der französischen Botschaft gearbeitet hatte, schien sie jetzt kaum noch etwas wahrzunehmen, sie hatte resigniert, lebte nur noch von einem Tag zum anderen. Auch die norwegische Botschaft hätte schon vor Jahren evakuiert werden müssen, kaum ein anderes kleines Land war in dieser Ruine von Stadt geblieben.

»Das war dumm von mir«, sagte er. »Ich komme wieder rein.« Yasmine legte ihren Arm um seine Schulter, als wäre er verletzt, und führte ihn zurück ins Haus. Er ließ sich auf das Sofa fallen und hätte sie am liebsten gefragt, ob sie glaube, dass mit Hanna alles in Ordnung sei. Stattdessen sah er nur schweigend zu, wie sie die Terrassentür schloss und die schweren Vorhänge vorzog.

»Gehen Sie wieder ins Bett«, sagte er. »Entschuldigung, Yasmine. Ich werde das nicht wieder tun.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Herr Wilberg.«

Sie blieb stehen und richtete ihre Haare.

»Sie sehen aus, als würden Sie sich Sorgen machen«, sagte sie.

»Nein, ich kann nur nicht schlafen.«

»Sie müssen mehr essen. Schlafen Sie jetzt, dann mache ich Ihnen morgen früh ein gutes Frühstück, genau wie Sie es mögen.«

»Ich lege mich gleich wieder hin.«

»Aber gehen Sie nicht wieder nach draußen.«

»Das verspreche ich.«

Sie schien ihm keinen Glauben zu schenken, verließ aber trotzdem das Wohnzimmer und ging zurück nach unten in den Keller.

Er goss sich einen zweiten Whisky ein und ging die kleine Kassettensammlung durch, die seine Frau nicht mit zurück nach Norwegen genommen hatte.

Barbra Streisand, ich brauche jetzt eine Jüdin, die für etwas Gutes steht, dachte er. We’ve got nothing to be guilty of. Our love will climb any mountain.

Er dachte an den Empfang, den er Anfang des Sommers gegeben hatte, unmittelbar vor dem Beginn der israelischen Belagerung. Dabei hatte er Hanna zuletzt gesehen. Sie war bis zum Morgen geblieben, viel länger als die UNIFIL-Offiziere oder das andere medizinische Personal. Sie hatten sich gemeinsam betrunken. Leif konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so gut mit jemandem unterhalten zu haben. Als sie am frühen Morgen aufgebrochen war, hatte er ihr versprochen, sie bald wieder einzuladen. Sie hatte ihn lange umarmt, seine Hände gehalten und gesagt, er wirke wie ein guter Mensch.

»Ich komme gerne wieder«, hatte sie schließlich gesagt.

Nur wenige Tage später waren die ersten Bomben gefallen, sodass er sie nur noch zweimal kurz gesehen hatte, als er im Krankenhaus gewesen war.

Er musste auf dem Sofa eingeschlafen sein und wurde davon wach, dass Yasmine sich über ihn beugte und seinen Arm nahm. Sie war angezogen, sodass er annahm, dass der nächste Tag angebrochen war. Sie trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Draußen war es noch immer dunkel.

»Er sagt, dass Sie mitkommen sollen.«

Leif Wilberg spürte, dass er zu viel getrunken hatte. Die Whiskyflasche auf dem Couchtisch war leer. Der Aschenbecher voll. Dann kam die Erinnerung: Er hatte die Flasche geleert, nachdem Yasmine ihn aus dem Garten geholt hatte.

Hanna, dachte er. Ein beunruhigendes Gefühl überkam ihn. Er fürchtete, Hanna könnte bei den nächtlichen Luftangriffen getötet worden sein. Leif Wilberg senkte den Kopf, starrte auf das große Sofakissen und spürte, wie das schlechte Gewissen sich in seinem ganzen Körper breitmachte: Seit einer Woche hatte er nicht ein einziges Mal mit seinen Kindern gesprochen, all seine Gedanken galten Hanna.

»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«, fragte Yasmine. »Er wartet am Eingang auf Sie.«

»Wer ist er?«, fragte Leif Wilberg leise. »Tore?«

»Dieser norwegische Journalist. Er ist zusammen mit dem Fotografen hier, diesem Franzosen. Und Yussuf«, sagte sie. »Sie sagen, sie müssten Ihnen etwas zeigen.«

7. Juli 2017Oslo

2

Leif Wilberg versuchte schon den ganzen Morgen, Hanna zu erreichen, es hatte sich aber immer nur der Anrufbeantworter gemeldet. Schon um sechs Uhr früh war er mit dem merkwürdigen Gefühl aufgewacht, dass das Band, das sie über all die Jahre verbunden hatte, gerissen war.

Sie stand immer früh auf, nie später als sieben, nicht einmal an den Wochenenden. War sie auf Reisen, schickte sie ihm in der Regel eine Guten-Morgen-SMS, heute war diese Nachricht aber ausgeblieben. Er konnte sich nicht erinnern, dass dies jemals zuvor geschehen war.

Um neun Uhr hatte er schon achtmal versucht, sie anzurufen. Dann hatte er es bei Anne-Marie Edvardsen versucht, aber auch bei ihr nur den Anrufbeantworter erreicht.

In der nächsten halben Stunde fühlte er sich wie ein Idiot, was er vielleicht auch war. Irgendwo tief in seinem Inneren fürchtete er einfach, dass Hanna die Nacht mit einem anderen Mann verbracht hatte. Es war kein schöner Gedanke, aber ein Altersunterschied von zwanzig Jahren konnte vielleicht für eine Frau attraktiv sein, die siebenundzwanzig war, vorausgesetzt, sie hatte einen Hang zu älteren Männern, Jahrzehnte später war das dann aber nicht mehr der Fall. Hanna war zweiundsechzig, wirkte aber wie fünfzig. Mehr als einmal hatte er mitbekommen, wie Männer, die deutlich jünger als Hanna waren, sie mit ihren Blicken ausgezogen hatten. Er wusste ganz genau, dass sie diese Momente liebte, auch wenn sie immer das Gegenteil behauptete. Er selbst war längst kein Adonis mehr, die Haut hing fast überall und mit der Zeit hatte er mehr Körperteile aus Titan als diejenigen, die der Herr ihm vor achtzig Jahren gegeben hatte.

Eine weitere halbe Stunde später, in der er wie ein Hund immer im Kreis gelaufen war, rief er Magnus an.

»Es ist zehn«, sagte er. »Ich kann sie noch immer nicht erreichen.«

Leif Wilberg glaubte, Magnus am anderen Ende resigniert schnaufen zu hören, als wäre dies der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Fast hörte er die Gedanken seines Sohnes: Es ist wirklich an der Zeit, dass der Alte in ein Heim kommt.

»Sie ist also in Kopenhagen?«, fragte Magnus abwesend. Vermutlich sah er beim Telefonieren auf den Computerbildschirm und arbeitete an irgendeinem Fall.

»Ja. Und das macht mir Sorgen. Ich glaube, es ist etwas passiert. Etwas Ernstes, Magnus.«

»Das wäre dann ja wohl kaum deine Schuld«, sagte Magnus Wilberg. Er hatte Hanna immer verachtet, seine Ablehnung aber recht gut überspielt. Leif Wilberg empfand seinen Sohn als ziemlich unreif. Trotz seiner fünfundvierzig Jahre war dieser nie darüber hinweggekommen, dass sein Vater sich in eine jüngere Frau verliebt und seine Jugend zerstört hatte. Dabei war sein Sohn jetzt in dieselbe Falle getappt, worüber Wilberg sich manchmal richtiggehend freute.

»Schuld? Wer redet hier von Schuld?«, sagte Leif Wilberg.

»Ich muss in eine Sitzung, Papa. Wir sehen uns heute Abend, und denk an die Umleitung in Holmestrand.«

»Ja, ja.«

»Und dass Gabriel heute Geburtstag hat.«

»Glaubst du wirklich, dass ich das vergessen kann?«

»Tut mir leid, ich stehe ein bisschen unter Stress.«

Ja, wegen deiner idiotischen Frau, dachte Leif Wilberg. Sie hatte die Sommer ihrer Kindheit auf einem Campingplatz verbracht und kannte kaum den Unterschied zwischen Rot- und Weißwein.

Und dieser Name, Gabriel – wer, bitte schön, nannte sein Kind heute noch so? Dabei waren sie nicht einmal sonderlich gläubig.

Das Besetztzeichen schnitt sich durch Leif Wilbergs Kopf.

Noch einmal versuchte er, Hanna zu erreichen, das Ergebnis war dasselbe. Danach zwang er sich, eine Scheibe Brot zu essen und eine Tasse Tee zu trinken, ehe er mit der Straßenbahn die kurze Strecke ins Zentrum zurücklegte.

In Wahrheit hatten sowohl er als auch Hanna Gabriels Geburtstag vergessen. Der Enkel aus der zweiten Ehe seines Sohnes hatte nie wirklich einen Platz in seinem Herzen ergattert, aber das hätte Leif Wilberg niemals zugegeben.

Als die Straßenbahn am Nationaltheater vorfuhr, rief Anne-Marie Edvardsen zurück.

»Tut mir leid, Leif, ich war in einer Sitzung, wir haben gerade eine kurze Pause. Und denk dran, das andere Telefon zu nehmen, wenn es wichtig ist, okay?«

Klang ihre Stimme nicht irgendwie anders? Versuchte sie, betont freundlich zu klingen? Leif Wilberg war sich nicht sicher. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Er sah sich selbst in Al-Shubra stehen. Anne-Marie Edvardsen, die alle nur Annema nannten, stand hinter ihm, das Gesicht vollkommen ausdruckslos. Ihr Blick klebte an den Fliegen, die in den leeren Augenhöhlen des Mädchens herumkrabbelten, das vor ihnen auf dem Boden lag.

»Ich kann Hanna nicht erreichen«, sagte er.

»Ist sie nicht nach Hause gekommen?«

»Nein.« Leif Wilberg spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Er schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen.

Für ein paar Sekunden lähmte ihn der Gedanke: Es ist also wirklich wahr.

Er war kurz davor, es Annema zu sagen, riss sich aber zusammen. Hanna würde sicher nach Hause kommen.

»Sie hatte gestern Vormittag einen Migräneanfall und hat für den Tag alles abgesagt«, sagte Annema. »Sie hat mir noch vor der Sitzung eine SMS geschickt. Hat sie dir nichts gesagt?«

»Nein«, sagte Leif Wilberg. Migräneanfall, dachte er und spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil er in den letzten Jahren immer wieder geglaubt hatte, dass sie diese Anfälle nur simulierte. Sie wollte dabei immer nur in Ruhe gelassen werden, und er war dumm genug gewesen, sich wie ein Kind abgewiesen zu fühlen.

»Den Rest des Tages habe ich sie dann nicht mehr erreicht. Im Hotel haben sie mir nur gesagt, dass sie nicht eingecheckt hat, weshalb ich dachte, dass sie direkt wieder zurück nach Norwegen geflogen ist.«

»Mit Migräne?«, fragte Leif Wilberg etwas schärfer als beabsichtigt.

Annema Edvardsen antwortete nicht gleich.

»Hanna hat viele Jahre in Beirut überlebt«, sagte sie schließlich. »Und zehn Wochen in Gefangenschaft, Leif. Ich habe damit gerechnet, dass sie irgendwie klargekommen und im Laufe des Tages nach Hause zurückgeflogen ist. Aber du, ich muss jetzt los. Hanna ist bestimmt auf dem Rückweg. Hältst du mich auf dem Laufenden? Ich fliege heute Nachmittag in die USA, morgen kannst du mich aber wieder erreichen.«

Leif Wilberg legte auf, ohne sich zu verabschieden, als wollte er die Fakten auf diese Weise irgendwie verdrängen. Hanna ist bestimmt auf dem Rückweg? Wie konnte Annema etwas derart Idiotisches sagen, wie konnte sie so kalt sein? Er hatte das Gefühl, als sei sein gesamtes Inneres erfüllt von einer schwarzen, zähflüssigen Masse.

Leif Wilberg stieg an der Øvre Slottsgate aus der halbvollen Straßenbahn und ging zum Kaufhaus Steen & Strøm. Drinnen wollte er einer der Verkäuferinnen den Auftrag geben, Kleider für einen Fünfjährigen zusammenzustellen. Oder wurde er sechs? Er musste Hanna fragen. Er blieb stehen. Nein, dachte er. Hanna ist weg, sie kommt nie wieder zurück. Für ein paar Sekunden sah er alles glasklar vor sich: Hanna ist tot. Natürlich.

Dann schüttelte er den Gedanken ab und kam gerade noch rechtzeitig wieder zu sich, um auf der Rolltreppe nicht zu stolpern. Es hieß, die Zeit der großen Kaufhäuser sei bald vorbei, doch davon war an diesem Freitag nichts zu merken. Das Haus war so voll wie in seiner Kindheit. Überall waren Menschen, nicht nur Norweger, sondern auch Touristen aus aller Herren Länder.

Er stellte sich auf die Rolltreppe, ohne sich weiter für die anderen Menschen zu interessieren. In seinem Kopf war nur der Gedanke, dass Hanna etwas Grauenvolles zugestoßen war. Genau das hatte er immer befürchtet. In Beirut hatte sie in all den Jahren einen Schutzengel gehabt, aber jetzt schien ihr Glück aufgebraucht zu sein.

Und das alles war sein Fehler. Oder etwa nicht?

Kopf hoch, dachte er kurz darauf. Sie landet um achtzehn Uhr dreißig und alles wird gut werden. Drei schöne Wochen lagen vor ihnen, drei lange, beschauliche Wochen, in denen sie auf Nøtterøy die Beine baumeln lassen konnten. Sie brauchten das, bevor der Herbst kam.

Um zwanzig Uhr war Leif Wilberg das Warten leid. Es war sich sicher, dass ihr etwas zugestoßen war, wusste nur noch nicht, was. Die Polizei anzurufen, hatte keinen Zweck, oder sollte er es doch tun? Um was zu sagen?

Eine Weile saß er wie ein alter, verlassener Mann in seinem Wohnzimmer und weinte, die Hände vors Gesicht geschlagen. Dann riss er sich zusammen und versuchte sich davon zu überzeugen, dass sie zurückkommen würde. Er trug den fertig gepackten Koffer nach unten und verfrachtete ihn ins Auto, das auf der Straße parkte.

Der Gedanke an ihren möglichen Tod wurde immer wieder von der Überzeugung verdrängt, dass sie ihn verlassen hatte. So oder so hatte es keinen Zweck, zu Hause zu bleiben. Grübeln konnte er auch im Ferienhaus.

Er fuhr in gleichmäßigem Tempo über den Drammensveien, ohne sich wirklich auf den Verkehr zu konzentrieren. In Gedanken war er bei Hanna. Erst am Zebrastreifen vor dem alten Staatlichen Sozialamt kam er zu sich.

Zwei Personen warteten an der Straßenbahnhaltestelle auf der linken Straßenseite, und nur wenige Meter vor ihm wurde ein Kinderwagen auf den Fußgängerüberweg geschoben. Er trat auf die Bremse und realisierte in diesem Moment zwei Dinge: dass er schneller gewesen war, als er gedacht hatte, und dass das Klicken, das er laut und deutlich vernommen hatte, nur von einem kleinen Zylinder mit Quecksilber unter dem Bremspedal kommen konnte. In Beirut hatten sie ihm erklärt, wie Bomben gebaut wurden, aber sollte nun hier geschehen, wovor er damals eine solche Angst gehabt hatte?

Der Kinderwagen, dachte er, nicht schon wieder ein Kind! Dann wurde die Leinwand schwarz und ein kleines, geblendetes Mädchen in einem Hidschab rannte auf ihn zu. Als Letztes spürte er Hannas Hand auf seiner Wange.

7. Juli 2017Oslo

3

Tommy Bergmann hatte den ganzen Abend gepackt, aber was brauchte man, um zwei Wochen nach Kragerø zu fahren? Wenigstens einmal wollte er vor Susanne fertig sein, um eines der Wunder zustande zu bringen, die – laut Susanne – nicht von selbst geschahen.

Wie recht sie doch hat, dachte Tommy und ging aus dem Schlafzimmer zum Flurschrank, in dem einer seiner Koffer stand.

Nach fünf weiteren Minuten hatte er alles zusammen. Zu guter Letzt stopfte er voller Optimismus noch zwei Bade­hosen und das grässliche Hawaiihemd zu seinen Sachen, das er sich aus reinem Übermut gekauft hatte. Ich muss nur lange genug leben, dann werden die Dinger schon wieder modern, hatte er gesagt.

So alt wird kein Mensch, hatte Susanne gekontert.

Es war acht Uhr. Vor einer Stunde hatte Susanne angerufen und gesagt, dass sie in einer halben Stunde im Büro aufbrechen würde, und gefragt, ob er in der Zwischenzeit etwas zu essen machen könne? Natürlich konnte er.

Früh am nächsten Morgen wollten sie zu ihrem Ferienhaus aufbrechen. Mit dem rechtzeitigen Packen wollte er ihr zeigen, dass es ihm mit dem Erwachsenwerden ernst war und er das noch schaffen konnte, bevor er in Rente ging. Zehn Jahre hatte er noch. Vielleicht würde ihm das wirklich gelingen.

Den Großteil des Tages hatte er sich mit der Frage beschäftigt, ob er sich selbstständig machen sollte, den Gedanken schließlich aber wieder verworfen. In dem ersten Halbjahr in seiner neuen Position beim Polizeilichen Sicherheitsdienst PST war enttäuschend wenig geschehen. Über Monate hinweg war er wie ein Schlafwandler herumgelaufen. Christian Wessel hatte ihm gesagt, dass jeder Krieg aus neunzig Prozent Warten und nur zehn Prozent Action bestehe.

Nachdem er die Reste des Mittagessens in der Mikrowelle aufgewärmt hatte, öffnete er das Küchenfenster. Er goss sich ein Glas Rotwein ein, zündete sich eine Zigarette an, beugte sich etwas aus dem Fenster und schaute zum Himmel.

Warum habe ich zwei Badehosen eingepackt?, fragte er sich. Es war wie fast immer im Sommer in Oslo, ein stahlgrauer Himmel lag wie eine Decke über der Stadt, und die Luft war vielleicht dreizehn oder vierzehn Grad warm.

Nachdem er die Zigarette zu Ende geraucht hatte, schloss er das Fenster und setzte sich auf einen der exklusiven Designerstühle, die rund um den Küchentisch standen.

Er wollte gerade die Füße auf den Tisch legen, als er einen Knall hörte.

Es war nur ein Knall, aber dieser Knall war so kräftig, dass er zusammenzuckte und dabei mit der Hand das Weinglas vom Tisch auf den Boden fegte, wo es zerbrach.

Statt zu fluchen, sprang er auf. Das hatte nicht weit entfernt geklungen. Es konnte nur aus einer der angrenzenden Straßen gekommen sein. Als er die Autoalarmanlagen hörte, die ausgelöst worden waren, fühlte er sich wie ein Idiot. Er hatte nur ein paar Sekunden gezögert, trotzdem war damit schon zu viel Zeit vergangen.

»Was war das? Waren das Terroristen?«, hörte er hinter sich. Mathea sah ihn aus angsterfüllten Augen an. Sie weinte. Susannes Tochter war achtzehn und kurz davor, aus der Wohnung ihrer Mutter auszuziehen. In diesem Moment war sie aber wieder so klein wie bei ihrer ersten Begegnung.