Der einsame Bote - Gard Sveen - E-Book
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Gard Sveen

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Beschreibung

Ein nervenaufreibender Norwegen-Krimi von Spiegel-Bestsellerautor Gard Sveen Oslo ist ein kalter Ort. Kommissar Tommy Bergmann steht am Abgrund. Bis heute gibt es keine Spur von der 13-jährigen Amanda, die er schon seit Monaten sucht. Jetzt wurde das Mädchen für tot erklärt, der Mörder angeblich beerdigt und der Fall offiziell abgeschlossen. Gibt Bergmann seine Ermittlungen nicht auf, wird er suspendiert. Doch er kann nicht anders, er muss weitergraben in diesem hoffnungslosen Fall und wird dafür von seinen Kollegen isoliert. Als er fast aufgeben will, stößt er auf die Spuren einer Sekte. Ihr Anführer sieht sich als weiser Hirte, der das einfache Leben liebt. Er glaubt, dass ein Mörder erlöst werden kann, wenn ein junges Mädchen geopfert wird. Wie Amanda. Oder wie die Tochter von Susanne Bech, Bergmanns Kollegin.

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Das Buch

April 2005. Tommy Bergmann hält verbissen an einem alten Fall fest, den seine Kollegen längst abgehakt haben. Die 13-jährige Amanda ist verschwunden und für tot erklärt. Auch ihr vermeintlicher Mörder Jon-Olav Farberg soll tot sein. Tommy Bergmann ist der Einzige im Osloer Präsidium, der noch immer fest daran glaubt, dass Amanda lebt. Auch wenn der verbrannte Leichnam, der in Oslo gefunden wurde, noch nicht als der von Farberg identifiziert werden konnte, gilt Farberg offiziell als tot und beerdigt. Bergmann läuft Gefahr, vom Dienst suspendiert zu werden, weil er den Fall nicht aufgeben will. Da stößt Bergmann auf zwei Postkarten aus der litauischen Hauptstadt Vilnius. Auf den Rückseiten steht »Seele in Flammen« beziehungsweise »Tanzendes Blut«. Die Spuren führen Bergmann zu einer Sekte aus der Zarenzeit. Die Mitglieder glauben, dass ein Mörder erlöst werden kann, wenn er ein junges Mädchen, geboren im Sternzeichen des Widder, verstümmelt.

Der Autor

GARD SVEEN, geboren 1969, ist Staatswissenschaftler und arbeitet als Seniorberater im norwegischen Verteidigungsministerium. Sein Debüt Der letzte Pilger wurde mit dem Rivertonpreis 2013 und dem Glass Key Award 2014 als bester Krimi Skandinaviens ausgezeichnet. Er stand damit wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Gard Sveen lebt in Ytre Enebakk, einem kleinen Ort in der Nähe von Oslo.

Gard Sveen

DER EINSAME BOTE

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

List

Die norwegische Originalausgabe erschien 2016unter dem Titel Blod i dansbei Vigmostad & Bjørke, Oslo

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ISBN: 978-3-8437-1732-8

© 2016 by Gard SveenFirst published by Vigmostad & Bjørke, Norway© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Covergestaltung: Cornelia Niere, MünchenCoverabbildungen: © Marliar Irastorza/stocksy

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Seele in Flammen, tanzendes Blut.Wo bin ich, Tommy?

Dagbladet, 20. Januar 2005

Kommentar

von Frank Krokhol

Die umfangreichste Mordermittlung der letzten Jahre scheint jetzt ihrem Ende entgegenzugehen. Aber – tut sie das wirklich?

Die Zeitung Dagbladet hatte als Erste öffentlich in Frage gestellt, dass Anders Rask tatsächlich der Täter ist, der im Frühjahr des Jahres 1992 sechs junge Mädchen ermordete, auch wenn er diese Morde gestanden hat. Leider zeigte sich, dass wir mit unserer Unschuldsvermutung recht hatten. Kurz vor Weihnachten wurde bekannt, dass Elisabeth Thorstensen und Jon-Olav Farberg hinter den bestialischen Taten standen.

Thorstensen war in die Wohnung einer Kommissarin eingebrochen, die an den Ermittlungen beteiligt war. Dort behauptete sie, dass Jon-Olav Farberg ihren blutigen Bund nicht habe weiterführen wollen und sie ihn deshalb ermordet und seine Leiche in einem alten Fabrikofen zu beseitigen versucht habe. Dies konnte bis jetzt jedoch nicht bestätigt werden. Die Überreste der verkohlten Leiche sind zur Identifizierung an ein auf DNA-Analysen spezialisiertes Institut in Tuzla geschickt worden, aber es kann lange dauern, bis der Polizei die Analyseergebnisse vorliegen.

Die Osloer Polizei scheint mit dem derzeitigen Ermittlungsstand ganz zufrieden zu sein, die Frage ist nur, ob Polizei und Staatsanwaltschaft nicht im Begriff sind, sich neuerlich in einen Skandal zu verstricken.

Am gleichen Tag, an dem Farberg angeblich von Elisabeth Thorstensen getötet wurde, verschwand nämlich die dreizehnjährige Amanda Viskveen aus Kolbotn. Es kann sich um einen Zufall handeln, aber unseren Quellen zufolge sind einzelne Mitarbeiter der Polizei überzeugt davon, dass Farberg noch am Leben ist. Sollte das stimmen, könnte Farberg durchaus etwas mit Amandas Verschwinden zu tun haben. Die Osloer Polizei scheint komplett gelähmt zu sein: Die Ermittlungen im Fall Amanda stehen still, und die kritischen Stimmen im Präsidium werden – nach allem, was wir erfahren haben – zum Schweigen gezwungen. Dass die Macht sich selbst schützt, ist nichts Neues. Dass dies aber auf Kosten einer Dreizehnjährigen und ihrer Familie geschieht, kann weder von der Polizeipräsidentin noch von der Staatsanwaltschaft geduldet werden.

Teil 1

1

Montag, 11. April 2005

Der Cross traf ihn direkt am Kinn. Tommy Bergmann erinnerte sich nur noch daran, dass er seitlich auf die Matte stürzte, nachdem er das Gefühl für seine Beine verloren hatte. Hinter ihm verstummte das Klatschen der Boxhandschuhe auf die Boxsäcke.

»Verdammt. Alles okay, Kumpel?«

Er hörte Bents Stimme über sich. Blinzelte in Richtung der Lüftungsrohre. Die niedrige Decke schien sich wie eine Müllpresse auf ihn zu senken.

»Was für einen Tag haben wir heute?«, fragte Bent.

Einer der Trainer schwang sich in den Ring.

»Das kann dir doch scheißegal sein«, brummte Tommy.

Bents Lachen klang verächtlich. Wenn du Hege noch einmal anfasst, bringe ich dich um. Das ist dir doch wohl klar, Tommy?, hatte er einmal gesagt. Hätte Tommy jemals an diesen Worten gezweifelt, wären seine Zweifel spätestens jetzt ausgeräumt gewesen. Er versuchte sich aufzurappeln, aber ohne Erfolg.

»Du musst aufpassen, mein Junge«, sagte der Trainer, ein Mann jenseits der siebzig, der von allen nur der Alte genannt wurde. »Du boxt ja wie Rocky, komplett ohne Deckung. Wie oft muss ich dir das denn noch sagen?«

Der Alte und Bent stützten ihn, als sie aus dem Ring kletterten. Verdammt, Bent ist einen ganzen Kopf kleiner als ich, dachte er. Aber schnell wie ein Teufel und mit den Instinkten eines Terriers ausgestattet. Er war es gewesen, der Tommy vorgeschlagen hatte, doch wieder mit dem Boxen anzufangen. Schon als Tommy in der Jugendmannschaft von Oppsal Handball gespielt hatte, waren sie einmal in der Woche zum Boxen gegangen. Er mochte diesen Sport, so dass er sowohl beim Militär als auch auf der Polizeischule damit weitergemacht hatte. Und auch noch in den ersten Jahren, als er schon als Polizist gearbeitet hatte. Aber wenn man boxen wollte, musste man topfit sein und nicht auf seinem Arsch sitzen und dreißig Zigaretten am Tag rauchen.

»Ich kann dich zum Arzt fahren«, sagte Bent. Sie hatten Tommy auf einen Stuhl außerhalb des Rings gesetzt. Sein Blick ruhte auf ein paar Jugendlichen, die am Rand der Boxhalle auf Boxsäcke eindroschen. Die Spiegel am Ende des Raumes ließen ihn doppelt schwindelig werden. Wie im Spiegelkabinett eines Jahrmarkts zweifelte er daran, jemals wieder den Ausgang zu finden.

Bent hockte sich vor ihm hin.

»He, bleib bei uns«, sagte er.

Tommy hatte Schwierigkeiten, sich an den Wochentag zu erinnern, und keine Ahnung, wie spät es sein konnte. Verdammt, war er wirklich derart weit weg? Er blieb eine Weile mit geschlossenen Augen sitzen und ließ sich von Bent die Handschuhe ausziehen. Sein Kopf dröhnte, und er hatte das Gefühl, als wollte sein Kinn abfallen, doch irgendwann erinnerte er sich wenigstens daran, dass Montag war.

Er atmete tief aus und lehnte den Kopf nach hinten. Klopfte mit dem Schädel sanft gegen die Wand, nur um sicher zu sein, dass er auch wirklich festsaß.

»Sicher, dass er nicht zum Arzt muss?«, fragte Bent.

Der Alte schnaubte. »Wenn er nicht plötzlich einschläft oder zu kotzen anfängt, ist alles in Ordnung.« Er klopfte Tommy auf die Schulter.

»Geh duschen«, sagte Bent. »Ich warte in der Garderobe auf dich. Du musst aufpassen, Mann. Boxen ist nichts für Träumer.«

Tommy stand auf und schob ihn zur Seite.

»Lass mich in Ruhe«, sagte er und stützte sich auf dem Weg zur Garderobe an der Wand ab.

Ich darf doch wohl vor die Hunde gehen, wenn ich das will, dachte er und stolperte durch die Tür. Hinter ihm verstummte das Geräusch von gut zehn Paar Boxhandschuhen.

Tommy versuchte, seine Schritte unter Kontrolle zu bekommen, als er zu den Waschbecken ging, und bemerkte kaum, dass die beiden jungen Pakistani, mit denen er schon so oft gesprochen hatte, aus der Dusche kamen, weiße Handtücher um die Lenden gewickelt. Er stützte sich am Waschbecken ab, während sich um ihn herum alles im Kreis drehte; wie damals, als er sechzehn gewesen war und zu schnell zu viel getrunken hatte. Sein Kopf kippte nach vorn. Irgendwann gelang es ihm wieder, sich aufzurichten und die paar Meter zu den Toiletten zu taumeln. Ohne die Tür zu schließen, kniete er vor der Schüssel nieder.

Mehrere Minuten lag er mit dem Kopf auf der Klobrille und wartete darauf, dass er sich erbrach, aber es kam nichts. Vielleicht hatte er doch keine Gehirnerschütterung.

Oder er hatte überhaupt kein Gehirn.

Eigentlich die plausibelste aller Erklärungen.

»Lasst mich in Ruhe« war alles, was er rausbrachte, als einer der beiden Pakistani sich erkundigte, ob er Hilfe brauche.

»Kannst du dich an meinen Namen erinnern?«, fragte der junge Mann.

Es gelang Tommy nur mit Mühe, den Kopf zu drehen.

»Ali«, sagte Tommy. »Ich komme klar, du brauchst nicht Doktor zu spielen.«

»Ich glaube, dein Handy klingelt«, sagte Ali.

Tommy hörte den vertrauten Ton aus der Garderobe.

»Es hat schon ein paarmal geklingelt.«

Tommy streckte ihm den Arm entgegen. »Hilf mir hoch.«

Von Ali gestützt, schaffte er es in die Garderobe, wo er das Handy aus seiner Jackentasche fischte, ehe er sich auf die Bank fallen ließ.

»Tommy Bergmann?«, fragte eine Stimme am anderen Ende.

»Ja«, sagte Tommy, wusste aber nicht, ob er auch so laut sprach, dass er zu hören war.

»Hier Gundersen. Der Anwalt von Anders Rask. Anders hat sich nun doch umentschieden. Er möchte Sie gerne treffen.«

»Wann?«

»Heute Abend.«

Verdammt typisch, dachte Tommy, sagte aber nichts. Seit Wochen versuchte er, ein Treffen mit Anders Rask zu vereinbaren, aber dessen Anwalt hatte ihn immer auf Distanz gehalten. Wenn er die Chance, die sich ihm jetzt bot, ausließ, würde der Anwalt ihm sicher nie wieder eine zweite geben. Aber weder Fredrik Reuter noch sonst jemand im Präsidium durfte jemals von diesem Treffen erfahren, sonst war er fertig und konnte seine Karriere gleich im Klo hinunterspülen.

Tommy schloss die Augen und ließ den Kopf langsam nach hinten kippen, bis er die Wand traf. Es fühlte sich wie ein neuerlicher Schlag an.

»Die Besuchszeit ist von sieben bis acht«, sagte der Anwalt. »Morgen kann er es sich schon wieder anders überlegt haben.«

2

Irgendwann war ihm mal erzählt worden, die Halbinsel Nesodden habe genau die Größe von Manhattan. Trotzdem erinnerte Tommy wenig an New York, als er die höchste Stelle des Nesoddenbakken erreichte.

Das Rehazentrum Sunnaas lag auf der Westseite der Halbinsel, von wo aus man in der Regel eine grandiose Aussicht über den Fjord und die westlichen Vorstädte von Oslo hatte. An diesem Abend aber war die Klinik eingehüllt von tiefhängenden, dicken Regenwolken, so dass der Blick nicht einmal hundert Meter weit reichte.

Tommy wusste genau, dass dies nicht der richtige Abend war, um Anders Rask gegenüberzutreten. Das hatte er nur zu deutlich gespürt, als er durch die engen Kurven in Richtung Sunnaas gefahren war, aber er hatte ganz einfach keine andere Wahl. Seit Weihnachten war er der Einzige, der daran glaubte, dass Jon-Olav Farberg noch am Leben war und die dreizehnjährige Amanda Viskveen versteckt hielt – wenn er sie nicht bereits getötet und irgendwo verscharrt hatte.

Mit zitternden Fingern zündete er sich eine Zigarette an und ließ das Feuerzeug wieder in seine Tasche gleiten. Dann versuchte er seinen Blick auf die Dokumente zu richten, die auf dem Beifahrersitz lagen: ein Auszug aus der Polizeiakte über Amanda Viskveen, an den oben mit einer Büroklammer ein Passfoto des Mädchens geheftet war. Eine Kreditkartenabrechnung von Jon-Olav Farbergs Bank. Eine Bilanz von einer seiner Firmen und eine erste schriftliche Abmahnung der Personalabteilung des Osloer Polizeidistrikts an Tommy, sich nicht weiter mit dem Fall Amanda Viskveen oder Jon-Olav Farberg zu beschäftigen.

Anders Rasks Anwalt erwartete Tommy an der Rezeption des Rehazentrums. Tommy hatte ihn im letzten Jahr schon einmal in der Psychiatrie in Ringvoll getroffen. Der Anwalt aus Gjøvik hatte überraschend schnell die Wiederaufnahme von Rasks Verfahren erreicht, und inzwischen war klar, dass Rask die Mädchen nicht getötet hatte. Ob es Anwalt Gundersen gelänge, auch einen Freispruch für die Morde an dem Wachpersonal in Ringvoll zu erwirken, war hingegen noch fraglich.

»Ich bin dankbar für diese Gelegenheit«, sagte Tommy und gab dem Anwalt die Hand. Ihre Blicke begegneten sich, und Tommy wurde klar, dass er dem Anwalt einen großen Gefallen schuldete.

Vor seinen Augen flimmerte es, als er Gundersen in die geschlossene Abteilung folgte, die extra wegen Rask eingerichtet worden war. Er schwitzte, und der schmale Flur zog sich mit einem Mal vor ihm zusammen. Alles begann sich zu drehen, so dass er sich an die weiß gestrichene Wand lehnen musste. Die Unterlagen rutschten ihm aus der Hand. Gundersen drehte sich um und sah ihn überrascht an.

»Alles in Ordnung?«, fragte er, als er mit der Zugangskarte in der Hand vor der stählernen Sicherheitstür stand.

»Ich glaube, ich werde krank«, sagte Tommy und versuchte sich an einem Lächeln.

Er wollte wirklich nicht, dass Rask ihn so sah. Schon die Tatsache, dass Tommy selbst um dieses Treffen gebeten hatte, war ein Zeichen der Schwäche.

3

Anders Rask saß in einem Aufenthaltsraum. Sie sahen ihn im Profil vor einer riesigen Fensterfront, die zum Freigelände hinausging. Er trug einen lila Cardigan und hatte sich eine Wolldecke über die Beine gelegt, als wollte er die Tatsache vertuschen, dass er nicht mehr laufen konnte.

»Jetzt ist er da, Anders«, sagte Gundersen und ging zu dem Sofa, das rechts neben Rask stand.

Tommy musterte den Mann, der sechs Morde an Mädchen und jungen Frauen gestanden und später dann widerrufen hatte. Der einzige Mann in Norwegen, der Jon-Olav Farberg gut genug kannte, um dessen Handlungen zu verstehen.

Tommy hatte zweimal mit Farbergs Exfrau Anne-Britt gesprochen. Sie war sich vollkommen sicher gewesen, dass ihr Mann so etwas niemals hätte tun können. Aber das sagten alle Ehepartner oder Lebensgefährten, wenn sie erfuhren, dass ihr Partner ein Mörder war. In Farbergs Fall ein regelrechter Schlachter.

»Tommy will bestimmt mit mir allein sein«, sagte Rask und drehte den Rollstuhl zur Fensterfront, weg von Tommy und dem Anwalt. »Hab ich recht, Tommy?«

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