Der Schwarze Thron 1 - Die Schwestern - Kendare Blake - E-Book
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Der Schwarze Thron 1 - Die Schwestern E-Book

Kendare Blake

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Beschreibung

Düster und unglaublich fantasievoll: Der Fantasy-Bestseller aus den USA!

Sie sind Schwestern. Sie sind Drillinge, die Töchter der Königin. Jede von ihnen hat das Recht auf den Thron des Inselreichs Fennbirn, aber nur eine wird ihn besteigen können. Mirabella, Katharine und Arsinoe wurden mit verschiedenen magischen Talenten geboren — doch nur, wer diese auch beherrscht, kann die anderen Schwestern besiegen und die Herrschaft antreten. Vorher aber müssen sie ein grausames Ritual bestehen. Es ist ein Kampf um Leben und Tod — er beginnt in der Nacht ihres sechzehnten Geburtstages …



  • Drei Schwestern. Drei magische Talente. Nur eine Krone.
  • Platz 2 der New-York-Times-Bestsellerliste
  • Game of Crowns — Der Kampf der Königinnen

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Seitenzahl: 471

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Kendare Blake

DER SCHWARZE THRON

Die Schwestern

Übersetzt von Charlotte Lungstrass-Kapfer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag ­keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Three Dark Crowns« bei Harper Teen, New York 2016.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Kendare Blake

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Penhaligon

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkterstr. 28, 81673 München

Redaktion: Beatrice Lampe

Umschlaggestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft

Innenteil Karte: Virginia Allyn

BL · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-17051-6V001

www.penhaligon.de

Drei Königinnen, dunkel, unschuldig, klein

einem Schoß entsprungen,

können niemals Freundinnen sein.

Drei dunkle Schwestern, jede so schön,

zwei werden verschlungen,

nur eine gekrönt.

21. Dezember, der sechzehnte Geburtstag der Königinnen.

Noch vier Monate bis zum Beltanefest.

Greavesdrake Haus

Eine junge Königin steht barfuß auf einem Holzblock, ihre Arme sind weit ausgestreckt. Immer wieder geht ein schneidender Luftzug durch den Raum, und nichts bietet ihr Schutz gegen die Kälte außer ihrem dünnen Unterkleid und ihren langen schwarzen Haaren, die offen über ihren Rücken fallen. Ihr schmaler Körper verbraucht das letzte Fünkchen Kraft, um das Kinn zu recken und Haltung zu bewahren.

Zwei hochgewachsene Frauen umkreisen den Holzblock. Sie haben die Arme vor dem Körper verschränkt und trommeln mit den Fingerspitzen auf ihre Ellbogen, während ihre Absätze laut auf dem kalten Holzboden aufsetzen.

»Sie ist spindeldürr«, stellt Genevieve fest und klopft mit dem Fingerknöchel gegen die Rippen der Königin, als könnte sie die Knochen damit tiefer unter die Haut scheuchen. »Und immer noch so winzig. Kleine Königinnen wirken nicht sonderlich vertrauenerweckend. Im Rat wird man über sie tuscheln.«

Angewidert lässt sie den Blick über die Königin wandern und registriert dabei jeden Makel: die eingefallenen Wangen, die fahle Haut, den hässlichen Schorf an der rechten Hand von der Behandlung mit Gifteichentinktur. Aber ohne Narbenbildung. Da passen sie immer gut auf.

»Nimm die Arme runter«, befiehlt Genevieve und wendet sich ruckartig ab.

Königin Katharine blickt fragend zu Natalia, der älteren und etwas größeren der beiden Arron-Schwestern, bevor sie gehorcht. Erst als Natalia nickt, darf das Blut in Katharines Fingerspitzen zurückfließen.

»Heute Abend wird sie Handschuhe tragen müssen«, verkündet Genevieve mit unüberhörbarer Kritik in der Stimme. Doch die Verantwortung für die Ausbildung der Königin liegt nicht bei ihr, sondern bei Natalia, und wenn Natalia Katharines Hände eine Woche vor ihrem Geburtstag mit Gifteiche behandeln will, dann tut sie das auch.

Genevieve nimmt eine Haarsträhne von Katharine in die Hand. Dann zieht sie – fest.

Es tut so weh, dass Katharine gegen die Tränen anblinzeln muss. Seit sie auf diesen Block gestiegen ist, haben Genevieves Hände sie von vorne bis hinten abgeklopft. Manchmal haben sie so fest zugepackt als wollte Genevieve geradezu, dass Katharine stürzt, damit sie ihr hinterher die blauen Flecken zum Vorwurf machen kann.

Wieder zieht Genevieve an den Haaren.

»Wenigstens fallen sie nicht aus. Aber wie können schwarze Haare nur so stumpf aussehen? Und warum ist sie immer noch so winzig klein?«

»Sie ist die Kleinste und Jüngste von den dreien«, erwidert Natalia mit ihrer tiefen Stimme gelassen. »Manche Dinge lassen sich eben nicht ändern, Schwester.«

Als Natalia an ihr vorbeigeht, fällt es Katharine schwer, ihr nicht mit dem Blick zu folgen. Natalia Arron ist für sie das, was einer Mutter am nächsten kommt. In ihrem Schoß hat sie sich im Alter von sechs Jahren ausgeweint, nach der Trennung von ihren Schwestern, den ganzen langen Weg von der Schwarzen Kate bis zu ihrem neuen Heim in Greavesdrake Haus. Damals hatte sie rein gar nichts von einer Königin an sich. Doch Natalia war nachsichtig mit ihr. Sie hat Katharine weinen lassen, auch wenn sie damit ihren seidenen Rock ruinierte. Hat ihr das Haar gestreichelt. Heute ist das Katharines früheste Erinnerung. Nur dieses eine Mal hat Natalia ihr gestattet, sich wie ein Kind zu benehmen.

In dem indirekten Licht des Salons schimmert Natalias eisblonder Dutt fast silbern. Doch sie ist nicht alt. Natalia wird niemals alt sein. Sie hat zu viele Aufgaben und trägt zu viel Verantwortung, um das zuzulassen. Immerhin ist sie das Oberhaupt der Giftmischerfamilie Arron und das mächtigste Mitglied des Schwarzen Rates. Und sie zieht die künftige Königin groß.

Genevieve greift nach Katharines verletzter Hand. Ihr Daumen gleitet über die Krusten, und als sie die größte ausgemacht hat, zupft sie daran, bis Blut hervorquillt.

»Genevieve«, sagt Natalia warnend, »das reicht.«

»Handschuhe wären wirklich nicht schlecht«, überlegt ihre Schwester. »Wenn sie bis über den Ellbogen reichen, verleiht das ihren Armen eine schöne Form.«

Sie lässt Katharines Hand los, die schlaff gegen die Hüfte prallt. Katharine steht nun schon seit über einer Stunde auf dem Block, und der Tag hat gerade erst begonnen. Es liegt noch viel vor ihr bis zum Abend und der großen Feier, dem Gave Noir. Dem Festessen der Giftmischer. Schon beim Gedanken daran verkrampft sich ihr gereizter Magen mit einem schmerzlichen Knurren.

Natalia runzelt die Stirn.

»Hast du dich ausgeruht?«, fragt sie.

»Ja, Natalia«, antwortet Katharine.

»Und du hast nichts zu dir genommen außer Wasser und verdünntem Haferschleim?«

»Nichts.«

Seit Tagen schon hat sie nichts anderes mehr gegessen, und trotzdem wird diese Vorsichtsmaßnahme eventuell nicht ausreichen. Allein schon durch die Menge könnte das Gift, das sie verzehren wird, stärker sein als Natalias Vorbereitungen. Und natürlich würde es ihr überhaupt nichts anhaben, wenn ihre Giftmischergabe stark wäre.

Von Katharines Block aus wirken die abgehängten Wände des Salons plötzlich erdrückend. Mit so vielen Arrons in einem Haus scheinen die Mauern immer näher zu rücken. Zu diesem Ereignis sind sie von der ganzen Insel angereist – der sechzehnte Geburtstag der Königin. Normalerweise gleicht Greavesdrake einer riesigen stillen Höhle, wenn nur Natalia, ihre Geschwister Genevieve und Antonin und die Dienstboten hier sind. Eventuell noch Natalias Cousin Lucian und Cousine Allegra, wenn sie sich nicht in ihren Stadthäusern aufhalten. Heute hingegen herrscht riesiger Trubel, und alles ist fein herausgeputzt. Wohin man blickt Gift und Giftmischer. Könnte ein Haus lächeln, würde Greavesdrake heute wohl breit grinsen.

»Sie muss bereit sein«, betont Genevieve. »Was auch immer heute geschieht, wird sich bis in den letzten Winkel der Insel herumsprechen.«

Natalia sieht ihre Schwester mit leicht geneigtem Kopf an, eine Pose, die perfekt ausdrückt, dass sie zwar Verständnis für Genevieves Sorgen hat, es aber auch leid ist, sie sich ständig anhören zu müssen.

Dann wendet sich Natalia zum Fenster und blickt über die Hügel hinunter auf die Hauptstadt Indridskamm. Über den Rauchsäulen aus den vielen Kaminen erheben sich die zwei schwarzen Türme des Volroy, des Palastes, in dem die Königin während ihrer Herrschaft residiert und der außerdem den ständigen Sitz des Schwarzen Rates bildet.

»Du bist zu angespannt, Schwester.«

»Zu angespannt?«, wiederholt Genevieve. »Wir treten heute in das Jahr des Aufstiegs ein, und das mit einer schwachen Königin. Falls wir verlieren … gehe ich ganz sicher nicht nach Prynn zurück!«

Die Stimme ihrer Schwester wird so schrill, dass Natalia sich ein Lachen verkneifen muss. Prynn. Früher einmal die Stadt der Giftmischer; heute leben dort nur noch die schwächsten unter ihnen. Inzwischen können die Giftmischer ganz Indridskamm für sich beanspruchen. Und so ist es nun schon seit über hundert Jahren.

»Du warst in deinem ganzen Leben noch nie in Prynn, Genevieve.«

»Lach mich nicht aus.«

»Dann führ dich nicht so albern auf. Manchmal weiß ich wirklich nicht, was mit dir los ist.«

Wieder blickt sie aus dem Fenster, zu den schwarzen Türmen des Volroy hinüber. Fünf Arrons sitzen im Schwarzen Rat. Seit drei Generationen saßen nie weniger als fünf von ihnen im Rat, jeweils von der herrschenden Giftmischerkönigin berufen.

»Ich spreche nur aus, was dir vielleicht entgangen ist, nachdem du dich kaum noch im Rat blicken lässt und stattdessen unsere Königin verhätschelst.«

»Mir entgeht nichts«, erwidert Natalia, woraufhin Genevieve den Blick senkt.

»Natürlich, Schwester, verzeih. Doch es ist nun einmal so, dass die Anspannung im Rat wächst, seitdem der Tempel offen auf der Seite der Elementwandlerin steht.«

Natalia lächelt verächtlich.

»Der Tempel ist gut für Feiertage und um für kranke Kinder zu beten.« Sie dreht sich zu Katharine um, hebt einen Arm und legt ihr einen Finger unter das Kinn. »In allem anderen richten sich die Leute nach dem Rat. Warum gehst du nicht zu den Stallungen und machst einen Ausritt?«, schlägt sie ihrer Schwester übergangslos vor. »Das wird dich beruhigen. Oder du kehrst in den Volroy zurück. Dort gibt es bestimmt irgendeine Angelegenheit, um die du dich kümmern musst.«

Genevieve klappt den Mund zu. Einen Moment lang sieht es so aus, als wolle sie den Gehorsam verweigern oder zumindest die Hand heben und Katharine eine Ohrfeige verpassen, um ihren Frust abzubauen.

»Das ist eine gute Idee«, sagt sie dann jedoch. »Wir sehen uns heute Abend, Schwester.«

Sobald Genevieve verschwunden ist, nickt Natalia Katharine zu.

»Du kannst jetzt runterkommen.«

Mit zitternden Knien klettert das schmale Mädchen von dem Block, ganz darauf konzentriert, nicht zu stolpern.

»Geh in dein Zimmer«, weist Natalia sie an und wendet sich dann einigen Unterlagen auf dem Tisch zu. »Ich schicke dir Giselle mit einer Schüssel Haferbrei hinauf. Danach nimmst du nichts mehr zu dir außer ein wenig Wasser.«

Katharine neigt den Kopf und sinkt halb in einen Knicks, den Natalia aus dem Augenwinkel bemerkt. Aber das Mädchen geht nicht.

»Ist es …« Katharine zögert. »Ist es wirklich so schlimm, wie Genevieve sagt?«

Natalia mustert sie einen Moment lang, als müsse sie erst entscheiden, ob die Frage eine Antwort wert ist.

»Genevieve macht sich Sorgen«, erklärt sie schließlich. »So ist sie schon seit unserer Kindheit. Nein, Kat, es ist ganz und gar nicht so schlimm.« Sanft streicht sie dem Mädchen eine Haarsträhne hinter das Ohr. Natalia tut das oft, wenn sie mit ihr zufrieden ist, und durch nichts lässt sich die junge Königin schneller beruhigen. »Schon lange vor meiner Geburt saß eine Giftmischerin auf dem Thron. Und auch noch lange nachdem du und ich gestorben sein werden, wird eine Giftmischerin Königin sein.« Mit beiden Händen umfasst sie Katharines Schultern; die große Natalia, voll eisiger Schönheit. Was aus ihrem Mund kommt, lässt keinen Raum für Widerspruch oder Zweifel. Wäre Katharine mehr wie sie, hätten die Arrons nichts zu befürchten.

»Heute Abend geben wir ein Fest«, betont Natalia, »für dich, zu deinem Geburtstag. Genieße es, Königin Katharine. Um alles andere kümmere ich mich.«

Königin Katharine sitzt an ihrem Schminktisch und betrachtet ihr Spiegelbild, während Giselle mit langen, gleichmäßigen Bürstenstrichen ihre schwarzen Haare auskämmt. Sie trägt nur ihr Unterkleid und ihren Morgenmantel, und sie friert noch immer. Greavesdrake ist ein zugiger Ort, der seine finsteren Winkel pflegt. Manchmal kommt es ihr so vor, als hätte sie den Großteil ihres Lebens im Dunkeln verbracht, durchgefroren bis auf die Knochen.

Rechts von ihr steht ein gläsernes Terrarium. Darin liegt ihre Korallenotter, vollgefressen mit Grillen. Katharine hat sie, seit das Reptil aus dem Ei geschlüpft ist, und sie ist das einzige giftige Lebewesen, vor dem sie sich nicht fürchtet. Das Tier kennt die Vibrationen von Katharines Stimme und den Geruch ihrer Haut. Es hat sie bislang kein einziges Mal gebissen.

Katharine wird sie heute Abend auf dem Fest am Handgelenk tragen wie ein warmes, lebendiges Armband. Natalia wird eine Schwarze Mamba tragen. Eine kleine Schlange am Handgelenk ist zwar nicht so schick wie eine große, die wie eine Federboa um die Schultern geschlungen wird, aber Katharine bevorzugt ein dezentes Accessoire. Zudem ist ihr rot-schwarz-gelbes Tier hübscher. Giftfarben, sagt man. Das perfekte Schmuckstück für eine Giftmischerkönigin.

Katharine legt eine Hand an das Glas, woraufhin die Schlange das runde Köpfchen hebt. Man hat ihr gesagt, sie solle dem Tier keinen Namen geben, wieder und wieder hat man ihr eingebläut, dass es kein Haustier sei. Doch insgeheim nennt sie die Schlange Herzliebchen.

»Trink nicht zu viel Champagner«, rät Giselle ihr, während sie Katharines Haare in einzelne Strähnen aufteilt. »Da ist bestimmt Gift drin, oder er ist mit giftigem Saft gestreckt. In der Küche habe ich etwas von Stechpalmenbeeren gehört.«

»Ein bisschen werde ich davon trinken müssen«, gibt Katharine zu bedenken, »immerhin wird man auf meinen Geburtstag anstoßen.«

Ihr Geburtstag – und der Geburtstag ihrer Schwestern. Überall auf der Insel feiern die Menschen den Geburtstag der jüngsten Generation von Drillingsköniginnen.

»Dann benetze nur deine Lippen damit«, schlägt Giselle vor. »Nicht mehr. Du musst ja nicht nur wegen des Gifts aufpassen, sondern auch wegen des Champagners an sich. Ein so zartes Persönchen wie du braucht nicht viel, um weiche Knie zu bekommen.«

Giselle flicht Katharines Haare zu mehreren Zöpfen, die sie anschließend hoch am Hinterkopf aufsteckt und zu einem Dutt eindreht. Ihre Finger sind sanft. Sie zieht nicht an den Haaren. Sie weiß, dass die jahrelangen Vergiftungen die Kopfhaut des Mädchens geschwächt haben.

Katharine greift noch einmal zum Make-up, doch Giselle schnalzt missbilligend mit der Zunge. Die Königin ist durch den vielen Puder sowieso schon zu blass, was ihrem Versuch geschuldet ist, die zu weit vorstehenden Schlüsselbeine und die hohlen Wangen zu kaschieren. Das Gift hat sie ausgezehrt. Durchschwitzte Nächte und das ständige Erbrechen haben dafür gesorgt, dass ihre Haut so dünn und durchscheinend geworden ist wie nasses Papier.

»Du bist bereits schön genug«, versichert Giselle und lächelt Katharine durch den Spiegel zu. »Mit deinen großen, dunklen Puppenaugen.«

Giselle ist freundlich. Von allen Zofen in Greavesdrake ist sie Katharine die liebste. Aber selbst die Zofe ist in so vielen Punkten schöner als die Königin, mit ihren runden Hüften, den rosigen Wangen und den glänzenden hellen Haaren, deren Schimmer sogar das künstliche Eisblond übertrifft, das Natalia bevorzugt.

»Puppenaugen«, wiederholt Katharine.

Mag sein. Aber sie sind nicht hübsch. Sie gleichen großen schwarzen Kugeln in einem kränklichen Gesicht. Beim Blick in den Spiegel zerlegt Katharine ihren Körper in ihrer Vorstellung in seine Einzelteile: Knochen, Haut, zu wenig Blut. Es bräuchte nicht viel, um sie ganz zu zerbrechen – um die spärlichen Muskeln abzuschälen, die Organe herauszuziehen und in der Sonne vertrocknen zu lassen. Oft fragt sie sich, ob ihre Schwestern sich ebenso leicht zerlegen ließen. Ob sie unter der Haut alle drei gleich sind. Nicht eine Giftmischerin, eine Naturbegabte und eine Elementwandlerin.

»Genevieve glaubt, dass ich versagen werde«, sagt Katharine. »Sie meint, ich wäre zu klein und zu schwach.«

»Du bist eine Giftmischerkönigin«, erwidert Giselle. »Worauf sonst kommt es denn an? Außerdem bist du gar nicht so klein. Oder so schwach. Ich habe schon kleinere und schwächere Menschen gesehen.«

Natalia gleitet in einem engen schwarzen Etuikleid in den Raum. Eigentlich hätte man sie hören müssen, das Klappern ihrer Absätze, das bis zu den hohen Decken hinaufhallt. Sie waren wohl zu abgelenkt.

»Ist sie fertig?«, fragt Natalia nun, woraufhin Katharine schnell aufsteht. Es ist eine Ehre, vom Familienoberhaupt der Arrons angekleidet zu werden, und sie wird dem Mädchen nur an hohen Festtagen zuteil. Und am wichtigsten aller Geburtstage.

Giselle holt Katharines Gewand. Es ist schwarz, mit einem langen Rock. Schwer. Ärmel hat es nicht, aber es wurden schwarze Satinhandschuhe bereitgelegt, die den Schorf von der Gifteichentinktur verdecken sollen.

Als sie sich in den Rock stellt und Natalia beginnt, ihr das Mieder zu schnüren, verkrampft sich Katharines Magen. Über die Treppe dringen die ersten Geräusche der sich sammelnden Festgäste nach oben. Erst ziehen Natalia und Giselle ihr die Handschuhe über. Dann öffnet Giselle das Terrarium. Katharine fischt Herzliebchen heraus, die sich brav um ihr Handgelenk legt.

»Wurde sie betäubt?«, fragt Natalia. »Das wäre vielleicht besser.«

»Sie wird nichts tun«, versichert ihr Katharine und streicht sanft über Herzliebchens Schuppen. »Sie ist sehr wohlerzogen.«

»Wenn du meinst.« Natalia dreht Katharine zum Spiegel und legt ihr die Hände auf die Schultern.

Nie zuvor haben drei Königinnen mit derselben Gabe nacheinander auf dem Thron gesessen. Sylvia, Nicola und Camille waren die letzten drei. Alle Giftmischerinnen, alle aufgezogen vom Hause Arron. Eine mehr, und es könnte eine Dynastie daraus entstehen. Vielleicht wird man dann in Zukunft nur noch der Giftmischerkönigin erlauben aufzuwachsen, und ihre Schwestern werden nach der Geburt ertränkt.

»Es wird beim Gave Noir keine Überraschungen geben«, erklärt Natalia. »Nichts, was du nicht bereits kennst. Aber trotzdem: Iss nicht zu viel. Wende deine Kniffe an. Mache es so, wie wir es geübt haben.«

»Es wäre doch ein gutes Omen, wenn meine Gabe heute Abend erwachen würde«, sagt Katharine leise. »An meinem Geburtstag. So wie bei Königin Hadly.«

»Du warst wieder einmal zu lange in der Bibliothek.« Natalia sprüht ein wenig Jasmin-Parfum auf Katharines Hals und berührt prüfend die aufgesteckten Flechten. Natalias eisblondes Haar ist ganz ähnlich frisiert, vielleicht zum Zeichen ihrer Solidarität. »Königin Hadly war keine Giftmischerin, sie hatte die Gabe des Krieges. Das ist etwas anderes.«

Katharine nickt und lässt sich stumm nach links und rechts drehen, mehr Kleiderpuppe als Mensch, wie ein Stück Ton, das Natalia mit ihrer Giftmischergabe bearbeiten kann.

»Du bist ein wenig dünn«, stellt Natalia fest. »Camille war nie dünn, sie war eher stämmig. Sie hat sich immer auf das Gave Noir gefreut wie ein Kind auf den Sonntagsbraten.«

Bei der Erwähnung von Königin Camille spitzt Katharine die Ohren. Obwohl die frühere Königin als Natalias Ziehschwester aufwuchs, spricht sie fast nie über Camille. Über Katharines Mutter, auch wenn das Mädchen das nicht so empfindet. Die Tempeldoktrin besagt, dass Königinnen weder Mutter noch Vater haben, sie sind einzig und allein Kinder der Göttin. Außerdem hat Königin Camille die Insel gemeinsam mit ihrem Prinzgemahl verlassen, sobald sie sich von der Geburt der Drillinge erholt hatte, wie alle Königinnen es tun. Die Göttin entsandte die neuen Königinnen, und damit war die Herrschaft der alten Königin beendet.

Trotzdem hört Katharine gerne etwas über jene, die vor ihr kamen. Natalia scheint nur eine Geschichte über Camille gerne zu erzählen, und zwar, wie sie sich ihre Krone geholt hat. Wie sie ihre Schwestern so verstohlen und schlau vergiftet hat, dass es Tage dauerte, bis sie starben. Und dass sie, als es vorüber war, so friedlich ausgesehen hätten, dass man hätte glauben können, sie seien im Schlaf gestorben – wäre da nicht der Schaum auf ihren Lippen gewesen.

Natalia hat die friedlichen Gesichter der Vergifteten mit eigenen Augen gesehen. Falls Katharine Erfolg hat, wird sie noch zwei von ihnen sehen.

»Doch in anderer Hinsicht bist du Camille ähnlich«, fährt Natalia mit einem Seufzen fort. »Sie war auch ganz vernarrt in die staubigen Wälzer in der Bibliothek. Und sie wirkte immer so jung. Sie war so jung. Nach ihrer Krönung hat sie nur sechzehn Jahre regiert. Die Göttin hat ihr sehr früh die Drillinge geschickt.«

Königin Camille empfing ihre Drillinge so früh, weil sie schwach war. Zumindest sagen die Leute das hinter vorgehaltener Hand. Manchmal fragt Katharine sich, wie viel Zeit ihr bleiben wird. Wie viele Jahre sie ihr Volk führen wird, bevor die Göttin es für angebracht hält, sie zu ersetzen. Den Arrons ist das vermutlich gleichgültig. In der Übergangszeit herrscht der Schwarze Rat, und solange sie die Krone trägt, behält der auch weiterhin die Kontrolle.

»In gewisser Weise war Camille wie eine kleine Schwester für mich«, stellt Natalia fest.

»Macht mich das dann zu deiner Nichte?«

Natalia packt Katharine am Kinn.

»Sei nicht so sentimental«, befiehlt sie ihr, bevor sie loslässt. »Dafür, dass sie so jung wirkte, hat Camille ihre Schwestern mit erstaunlich viel Selbstvertrauen getötet. Sie war immer eine exzellente Giftmischerin. Ihre Gabe ist schon früh erwacht.«

Katharine runzelt irritiert die Stirn. Bei einer ihrer Drillingsschwestern ist die Gabe ebenfalls schon früh erwacht. Mirabella, die große Elementwandlerin.

»Ich werde meine Schwestern genauso problemlos töten, Natalia«, erwidert Katharine. »Das verspreche ich dir. Aber wenn ich mit ihnen fertig bin, sehen sie vermutlich nicht so aus, als würden sie schlafen.«

Der Ballsaal im Nordflügel ist gesteckt voll mit Giftmischern. Anscheinend hat jeder, der auch nur im Entferntesten zur Familie Arron gehört, die Reise nach Indridskamm auf sich genommen, und dazu noch der Großteil aller Giftmischer aus Prynn. Katharine steht oben an der Freitreppe und mustert das Geschehen im Erdgeschoss. Alles funkelt und glänzt, von den Kristallgläsern über den Silberschmuck und die Edelsteine bis hin zu den glasierten roten Tollkirschen, die in Zuckergittern zu wahren Türmen aufgestapelt sind.

Die Gäste sind fast schon zu fein herausgeputzt: die Damen mit ihren schwarzen Perlen und schwarzen Diamantcolliers, die Herren mit schwarzen Seidenkrawatten. Und sie alle haben zu viel Fleisch auf den Rippen. Zu viel Kraft in den Armen. Sie werden sie beurteilen und für ärmlich befinden. Sie werden lachen.

Während Katharine sie beobachtet, wirft eine Frau mit dunkelroter Haarpracht lachend den Kopf in den Nacken. Für einen Moment kann man ihre Backenzähne aufblitzen sehen, und ihr Kiefer öffnet sich so weit, als wäre er ausgerenkt. In Katharines Ohren wird das höfliche Geplauder zu einem schrillen Heulen, und der Ballsaal ist plötzlich mit funkelnden Monstern gefüllt.

»Giselle, ich schaffe das nicht«, flüstert sie. Die Zofe hört auf, an den voluminösen Röcken des Kleides herumzuzupfen, und packt von hinten ihre Schultern.

»Doch, du schaffst das«, sagt sie.

»Die Treppe hat auf einmal viel mehr Stufen.«

»Hat sie nicht«, versichert Giselle lachend. »Königin Katharine: Du wirst perfekt sein.«

Unten im Ballsaal verstummt die Musik. Natalia hat die Hand gehoben.

»Du bist bereit«, behauptet Giselle und prüft noch ein letztes Mal den Faltenwurf des Kleides.

»Ich danke euch allen«, wendet sich Natalia mit ihrer tiefen, melodischen Stimme an ihre Gäste, »dass ihr an diesem bedeutenden Tag hier bei uns seid. Dies ist in jedem Jahr ein wichtiger Tag, doch dieses Mal kommt ihm noch eine besondere Bedeutung zu. In diesem Jahr wird unsere Katharine sechzehn!« Die Gäste applaudieren. »Und wenn der Frühling kommt, und mit ihm Beltane, werden wir mehr als nur irgendein Fest feiern. Mit ihm wird das Jahr des Aufstiegs beginnen. An Beltane, bei der Erwachenszeremonie, werden wir der Insel die volle Kraft der Giftmischer vor Augen führen! Und wenn Beltane vorüber ist, werden wir das Privileg genießen, unserer Königin dabei zuzusehen, wie sie genüsslich ihre Schwestern vergiftet.«

Natalia deutet mit ausgestreckter Hand auf die Freitreppe.

»Dieses Jahr feiern wir den Beginn, und nächstes Jahr feiern wir die Krone.« Noch mehr Applaus ertönt, durchsetzt mit Gelächter und zustimmenden Kommentaren. Sie glauben, dass es so einfach wird. Ein Jahr Zeit, um zwei Königinnen zu vergiften. Eine starke Königin würde es innerhalb eines Monats schaffen, aber Katharine ist keine starke Königin.

»Doch heute Abend«, fährt Natalia fort, »dürft ihr euch einfach nur an ihrer Gesellschaft erfreuen.«

Natalia wendet sich der mit burgunderrotem Teppich ausgelegten Treppe zu. Zur Feier des Tages wurde sogar noch ein glänzender schwarzer Läufer hinzugefügt. Vielleicht soll der aber auch nur dafür sorgen, dass Katharine den Halt verliert.

»Dieses Kleid ist schwerer, als es in meinem Kleiderschrank aussah«, sagt Katharine leise, woraufhin Giselle verhalten kichert.

Als sie sich aus den Schatten löst und die erste Stufe hinabsteigt, spürt Katharine jedes einzelne Augenpaar auf sich ruhen. Giftmischer haben von Natur aus ein ernstes Gemüt, und sie sind intelligent. Sie können mit einem Blick ebenso viel Schaden anrichten wie mit einem Messer. Die Bevölkerung der Insel Fennbirn gewinnt an Kraft, je nachdem, welche Königin über sie herrscht: Unter einer Naturbegabten werden die Naturbegabten gestärkt, unter einer Elementwandlerin die Elementwandler. Nach drei Giftmischerköniginnen sind die Giftmischer bis zum letzten Mann erstarkt, und die Arrons ganz besonders.

Katharine weiß nicht, ob sie lächeln soll. Sie weiß nur, dass sie nicht zittern darf. Oder stolpern. Das Atmen vergisst sie fast ganz. Dann erblickt sie Genevieve, die rechts hinter Natalia steht. Genevieves fliederfarbene Augen sind hart wie Glas. Sie scheint wütend und ängstlich zugleich zu sein, als warte sie nur darauf, dass Katharine einen Fehler macht. Als freue sie sich schon auf das Gefühl, wie ihre Hand mit voller Wucht in Katharines Gesicht landet.

Als Katharine von der letzten Stufe in den Ballsaal hinuntertritt, werden Gläser erhoben, weiße Zähne funkeln. Die schlimmste Angst fällt von Katharine ab; es wird schon gut gehen, zumindest vorerst.

Ein Diener bietet ihr ein Glas Champagner an. Sie nimmt es und riecht kurz daran: leicht holzig mit einem Hauch von Apfel. Falls etwas beigemischt wurde, dann zumindest nicht die Stechpalmenbeeren, von denen Giselle gesprochen hat. Trotzdem nippt Katharine nur verhalten, sodass gerade mal ihre Lippen benetzt werden.

Nachdem ihr Auftritt vorüber ist, setzt die Musik wieder ein, und die Gespräche werden fortgeführt. Giftmischer in schwarzer Galamontur flattern wie Krähen auf sie zu und ebenso schnell wieder von dannen. Es sind unglaublich viele, und sie alle verbeugen sich oder knicksen höflich und lassen irgendwelche Namen fallen, doch nur einer davon ist wirklich von Bedeutung, der Name Arron. Minuten später ist Katharine so angespannt, dass ihr fast die Luft wegbleibt. Plötzlich scheint ihr Kleid viel zu eng zu sein und der Saal überhitzt. Sie sucht nach Natalia, kann sie aber nicht finden.

»Ist alles in Ordnung, Königin Katharine?«

Verwirrt blinzelt Katharine ihr Gegenüber an. Sie kann sich nicht mehr daran erinnern, was die Frau gerade gesagt hat.

»Ja«, antwortet sie, »natürlich.«

»Also was denkst du? Sind die Feierlichkeiten deiner Schwestern ebenso prunkvoll wie das hier?«

»Aber nicht doch!«, sagt Katharine abwehrend. »Die Naturbegabten werden wahrscheinlich ein Lagerfeuer machen und ein paar Fische braten.« Die Giftmischer lachen. »Und Mirabella … Mirabella …«

»… springt barfuß in schlammigen Pfützen herum.«

Katharine dreht sich um. Hinter ihr steht ein attraktiver junger Giftmischer und lächelt sie an. Er hat Natalias blaue Augen und eisblonde Haare. Und er streckt ihr die Hand entgegen.

»Immerhin ist es das, was Elementwandler unter Spaß verstehen, oder?«, fügt er hinzu. »Meine Königin, möchtest du tanzen?«

Katharine lässt sich auf die Tanzfläche führen und gestattet ihm, sie an sich zu ziehen. An seinem Revers ist ein prächtiger Gelber Mittelmeerskorpion befestigt. Das Tier ist sogar noch halbwegs lebendig. Es zuckt träge mit den Beinen – ein Schmuckstück von grotesker Schönheit. Katharine lehnt sich vorsichtshalber ein Stück zurück. Das Gift des Gelben Mittelmeerskorpions ist äußerst schmerzhaft. Bisher wurde sie sieben Mal gestochen und wieder geheilt, zeigt aber noch immer kaum Resistenzen gegen seine Wirkung.

»Du hast mich gerettet«, sagt sie nun. »Hätte ich noch eine Sekunde länger nach einer Antwort suchen müssen, wäre ich wohl weggerannt.«

In seinem Lächeln liegt genau jenes Maß an Intensität, dass Katharine rot wird. Während sie auf der Tanzfläche ihre Runden drehen, mustert sie sein kantiges Gesicht.

»Wie heißt du?«, fragt sie schließlich. »Sicherlich bist du ein Arron, schließlich hast du ihr typisches Aussehen. Und ihre Haarfarbe. Es sei denn, du hast sie für diesen Anlass gefärbt.«

Lachend erwidert er: »So wie die Dienstboten, meinst du? Ach ja, Tante Natalia und der schöne Schein.«

»Tante Natalia? Dann bist du tatsächlich ein Arron.«

»Jawohl«, bestätigt er. »Mein Name ist Pietyr Renard. Meine Mutter war Paulina Renard, und mein Vater ist Natalias Bruder Christophe.« Er führt sie in eine Drehung. »Du bist eine hervorragende Tänzerin.«

Seine Hand gleitet über ihren Rücken. Als sie sich ihrer Schulter nähert, verkrampft sich Katharine etwas; dort ist ihre Haut nach einer Vergiftung rau und schuppig geblieben.

»Wenn man bedenkt, wie schwer dieses Kleid ist, grenzt das an ein Wunder«, sagt sie schnell. »Die Träger schneiden so tief ein, dass ich befürchte, ich könnte anfangen zu bluten.«

»Nun, das darfst du auf keinen Fall zulassen. Man sagt, das Blut einer starken Giftmischerkönigin sei selbst ein Gift. Und ich fände es schrecklich, wenn einer dieser Aasgeier hier dich für eine Kostprobe entführen würde.«

Giftiges Blut. Wenn sie ihres probierten, würden sie eine schwere Enttäuschung erleben.

»Aasgeier? Gehören nicht einige dieser Leute zu deiner Familie?«

»Ganz genau.«

Katharine lacht ausgelassen, bis ihr Gesicht dabei dem Skorpion ein wenig zu nahe kommt. Pietyr ist ziemlich groß, er überragt sie fast um einen ganzen Kopf. So tanzt sie praktisch auf Augenhöhe mit dem Skorpion.

»Du hast ein sehr schönes Lachen«, stellt Pietyr fest, »und doch bin ich überrascht. Ich hätte erwartet, du wärst nervös.«

»Das bin ich auch«, gibt Katharine zu. »Das Gave …«

»Nicht wegen des Gave, wegen des ganzen Jahres, wegen der Erwachenszeremonie an Beltane. Damit beginnt schließlich alles.«

»Ja, damit beginnt alles«, wiederholt sie leise.

Immer wieder hat Natalia ihr geraten, die Ereignisse auf sich zukommen zu lassen. Sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen. Bisher war das nicht sonderlich schwer. Aber andererseits klingt bei Natalia immer alles ganz einfach.

»Dem werde ich mich stellen, wie es meine Pflicht ist«, fügt Katharine schließlich hinzu, was Pietyr ein leises Lachen entlockt.

»Sprach sie mit Furcht in der Stimme. Hoffentlich schaffst du es, bei der Begegnung mit deinen Freiern ein wenig mehr Begeisterung aufzubringen.«

»Das spielt keine Rolle. Wen auch immer ich als Prinzgemahl wähle – wenn ich erst Königin bin, wird er mich lieben.«

»Würdest du es nicht bevorzugen, wenn sie dich auch schon davor lieben? So wünscht es sich doch eigentlich jeder: Um seiner selbst willen geliebt zu werden und nicht aufgrund seines Amtes.«

Katharine liegt die angemessene Antwort bereits auf den Lippen: Die Königinnenwürde ist mehr als nur ein Amt. Nicht jeder kann Königin werden. Nur sie oder eine ihrer Schwestern sind auf diese Art mit der Göttin verbunden. Nur sie können die Drillinge der nächsten Generation empfangen. Aber sie weiß, was Pietyr damit sagen will.

»Und was hältst du von der Idee, wenn sie dich alle lieben, statt nur einer von ihnen?«

»Du musst wirklich weitab vom Schuss leben, Pietyr Renard, wenn du die Gerüchte nicht gehört hast. Jeder auf dieser Insel weiß, wen die Freier favorisieren werden. Meine Schwester Mirabella ist so schön wie das Licht der Sterne. Über mich wurde noch nie etwas auch nur annähernd so Schmeichelhaftes gesagt.«

»Vielleicht ist es auch nicht mehr als das«, erwidert er. »Schmeichelei. Außerdem sagen die Leute auch, dass Mirabella bereits fast dem Wahnsinn verfallen ist. Angeblich neigt sie zu Anfällen und Wutausbrüchen. Und sie soll eine Fanatikerin sein, eine Sklavin des Tempels.«

»Und sie ist stark genug, um ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen.«

Als Pietyrs Blick automatisch Richtung Decke wandert, kann sich Katharine ein Lächeln nicht verkneifen. Greavesdrake hat sie damit nicht gemeint. Nichts auf dieser Welt wäre stark genug, um Greavesdrake in seinem Fundament zu erschüttern. Das würde Natalia niemals gestatten.

»Und was ist mit deiner Schwester Arsinoe, der Naturbegabten?«, fragt Pietyr gelassen. Beide fangen an zu lachen. Niemand sagt je irgendetwas über Arsinoe.

Noch einmal führt Pietyr Katharine über die Tanzfläche. Sie tanzen nun schon ziemlich lange miteinander. Einige der Umstehenden haben es bemerkt.

Der Tanz endet. Es war ihr dritter oder vielleicht sogar der vierte. Pietyr bleibt stehen und haucht einen Kuss auf Katharines behandschuhte Fingerspitzen.

»Hoffentlich sehen wir uns bald wieder, Königin Katharine«, sagt er.

Katharine nickt wortlos. Erst als er fort ist und das allgemeine Gemurmel wieder einsetzt, wird ihr bewusst, wie still es im Ballsaal geworden war. Nun wirft die Spiegelwand an der Südseite des Saals die vielen Stimmen zurück und lässt ihren Widerhall bis zur geschnitzten Deckenverkleidung aufsteigen.

Natalia, die in einer Ansammlung schwarzer Prachtroben steht, wirft Katharine einen auffordernden Blick zu. Sie sollte jetzt mit einem anderen Partner tanzen. Aber an der langen, schwarz verhüllten Tafel sind die Dienstboten bereits wie fleißige Ameisen damit beschäftigt, die silbernen Tabletts für das Festessen aufzutragen.

Das Gave Noir. Manchmal wird es auch »das Schwarze Fressen« genannt. Ein rituelles Giftgelage, das Giftmischerköniginnen an fast jedem der höheren Feiertage zelebrieren. Und deshalb muss Katharine es ebenfalls vollziehen, ganz egal, wie schwach ihre Gabe auch sein mag. Sie muss das Gift bis über das Ende des Mahls hinaus im Körper behalten, bis die Tür ihres Zimmers sicher hinter ihr verriegelt ist. Keiner der illustren Gäste darf sehen, was danach geschieht – den Schweiß, die Krämpfe, das Blut.

Als das Cello einsetzt, muss sie sich davon abhalten, einfach aus dem Saal zu rennen. Es ist doch noch viel zu früh, oder? Sie hätte mehr Zeit haben sollen.

Heute Abend befindet sich jeder Giftmischer von Rang und Namen in diesem Ballsaal. Jeder Arron aus dem Schwarzen Rat: Lucian und Genevieve, Allegra und Antonin. Natalia. Sie könnte es nicht ertragen, Natalia zu enttäuschen.

Die Gäste wenden sich der gedeckten Tafel zu. Dieses eine Mal ist die dichte Menge Katharine eine Hilfe, denn die schwarze Woge schiebt sie automatisch voran.

Natalia befiehlt den Dienstboten, die silbernen Servierhauben zu lüften, und die darunter verborgenen Speisen werden enthüllt: haufenweise glitzernde Beeren, Hühner mit Schierlingsfüllung, kandierte Skorpione und süßer Saft, der mit Oleandersirup versetzt wurde. In einem pikanten Eintopf blitzt das kräftige Rot von Paternostererbsen auf. Bei diesem Anblick wird Katharines Mund ganz trocken. Plötzlich scheinen sowohl ihr Mieder als auch die Schlange an ihrem Handgelenk immer fester zuzudrücken.

»Bist du hungrig, Königin Katharine?«, fragt Natalia laut.

Katharine lässt einen Finger über Herzliebchens warme Schuppenhaut gleiten. Sie weiß, wie ihre Antwort lauten muss. Der Text ist vorgeschrieben. Alles einstudiert.

»Ich bin geradezu ausgehungert.«

»Was anderen den Tod bringt, wird dich nähren«, fährt Natalia fort. »Die Göttin sorgt für dich. Stellt es dich zufrieden?«

Katharine schluckt angestrengt.

»Das Angebot ist angemessen.«

Die Tradition verlangt, dass Natalia sich vor ihr verneigt. Als sie es tut, wirkt es unnatürlich, als wäre sie eine bröckelnde Tonstatue.

Katharine legt beide Hände flach auf den Tisch. Das Festmahl selbst bleibt ihr überlassen: Verlauf, Dauer, Geschwindigkeit. Sie kann sitzen oder stehen, ganz wie es ihr gefällt. Zwar muss sie nicht alles aufessen, doch je mehr sie zu sich nimmt, desto beeindruckender erscheint sie. Natalia hat ihr geraten, das Besteck liegen zu lassen und mit den Händen zu essen. Die Säfte sollen ihr übers Kinn laufen. Wenn Katharine als Giftmischer so stark wäre wie Mirabella als Elementwandler, würde sie das komplette Mahl verschlingen.

Das Essen riecht köstlich. Aber Katharines Magen lässt sich nicht hinters Licht führen. Er versucht, sich mit schmerzhaften Krämpfen von selbst zu verschließen.

»Das Huhn«, befiehlt Katharine. Ein Diener stellt das Tablett vor sie hin. Drückende Stille liegt über dem Saal, und viel zu viele Augen starren sie erwartungsvoll an. Wenn es sein muss, werden sie ihr Gesicht in das Essen drücken.

Katharine strafft die Schultern. Ganz vorne in der Menge stehen sieben der neun Ratsmitglieder: die fünf Arrons, natürlich, außerdem Lucian Marlowe und Paola Vend. Die beiden verbliebenen Mitglieder wurden aus Höflichkeit zu den Feiern ihrer Schwestern entsandt.

Es sind nur drei Priesterinnen gekommen, aber Natalia sagt, dass Priesterinnen nicht zählen. Hohepriesterin Luca steht schon seit Ewigkeiten auf Mirabellas Seite. Da sie glaubt, in Mirabella die Faust gefunden zu haben, die dem Schwarzen Rat die Macht entreißen wird, hat sie die traditionelle Neutralität des Tempels aufgehoben. Doch heutzutage zählt auf der Insel nur noch der Schwarze Rat; Priesterinnen sind nichts weiter als Kinderfrauen und Relikte aus alter Zeit.

Katharine reißt einen Brocken weißes Fleisch aus der üppigen Brust des Huhns – dieser Teil ist am weitesten von der giftigen Füllung entfernt. Sie schiebt sich das Fleisch zwischen die Lippen und kaut. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtet sie, es nicht schlucken zu können, doch der Bissen rutscht ihre Kehle hinunter. Ein Aufatmen geht durch die Menge.

Als Nächstes lässt sie sich die kandierten Skorpione bringen. Die sind einfach: hübsche glänzende Naschereien im goldenen Zuckermantel. Das gesamte Gift steckt im Schwanz. Katharine isst vier Paar Scheren und bestellt dann das Wildragout mit den Paternostererbsen.

Eigentlich hätte sie sich das Ragout besser bis zum Schluss aufgehoben. Hier kommt sie nicht um das Gift herum. Die Paternostererbsen haben alles durchdrungen, jeden Bissen Fleisch, jeden Tropfen Soße.

Katharines Herz beginnt zu rasen. Irgendwo hier im Saal steht Genevieve und verflucht ihre Dummheit. Doch nun lässt es sich nicht mehr ändern. Sie muss einen Happen essen und sich danach noch die Finger ablecken. Anschließend nippt sie an dem vergifteten Saft und spült sich mit einem Schluck klarem kaltem Wasser den Mund aus. Ihr Kopf schmerzt, und ihre Sicht verschwimmt kurz, als ihre Pupillen sich ruckartig weiten.

Jetzt bleibt ihr nicht mehr viel Zeit, bis die Übelkeit einsetzt. Bis sie versagen wird. Sie spürt die bohrenden Blicke. Die Last der Erwartung. Die Menge verlangt, dass sie es zu Ende bringt. Ein Wille, so stark, dass er fast hörbar ist.

Der nächste Gang besteht aus einer Pilzpastete, die sie in kürzester Zeit hinunterschlingt. Schon jetzt geht ihr Puls unregelmäßig, obwohl Katharine nicht sicher ist, ob das nun am Gift liegt oder an der Nervosität. Ihr gesteigertes Tempo wirkt wie Begeisterung, und die Arrons applaudieren. Sie feuern sie an. Das lässt sie unachtsam werden, weshalb sie mehr Pilze erwischt als beabsichtigt. Eines der letzten Stücke brennt im Mund wie ein scharfer Täubling, aber das kann nicht sein. Die sind zu gefährlich. Ihr Magen rebelliert. Dieses Gift wirkt schnell und heftig.

»Die Beeren.«

Sie steckt sich zwei davon in den Mund und schiebt sie in ihre Wange, bevor sie nach dem versetzten Wein greift. Das meiste davon lässt sie aus ihrem Mund und über ihr Kleid laufen, aber das spielt zum Glück keine Rolle mehr. Das Gave Noir ist beendet. Sie schlägt mit beiden Händen auf den Tisch.

Die Giftmischer jubeln.

»Das ist nur ein Vorgeschmack«, verkündet Natalia. »Das Gave Noir der Erwachenszeremonie wird in die Geschichte eingehen.«

»Natalia, ich muss gehen«, sagt Katharine gepresst und klammert sich an Natalias Ärmel.

Der Jubel verstummt. Diskret löst Natalia sich aus Katharines Griff.

»Was?«

»Ich muss gehen!«, ruft Katharine laut, doch es ist bereits zu spät.

Ihr Magen hebt sich. Es geschieht so schnell, dass sie sich nicht einmal mehr abwenden kann. Sie beugt sich vor und erbricht das Gave direkt auf das Tischtuch.

»Es geht gleich wieder«, ächzt sie, während sie gegen die Übelkeit ankämpft. »Ich muss wohl krank sein.«

Ihr Magen gluckert laut, doch noch lauter ist das angewiderte Keuchen der Menge. Mit rauschenden Kleidern weichen die Giftmischer vor der Schweinerei zurück.

Katharines Augen sind gerötet, doch selbst durch den Tränenschleier hindurch sieht sie die finsteren Mienen der Gäste. In jedem einzelnen Gesicht steht ihre Schande geschrieben.

»Würde mich bitte jemand …«, es tut so weh, dass ihr kurz die Luft wegbleibt, »… auf mein Zimmer bringen?«

Niemand kommt. Hart schlagen ihre Knie auf dem Marmorboden auf. Sie hat nicht allein gegen die Übelkeit zu kämpfen, sie ist in Schweiß gebadet. Die Blutgefäße in ihren Wangen platzen.

»Natalia«, stöhnt sie, »es tut mir leid.«

Natalia sagt nichts. Katharine kann nur ihre geballten Fäuste erkennen und wie sie die Gäste mit wortlosen, wütenden Gesten dazu auffordert, den Saal zu verlassen. Überall werden hastige Schritte laut, sie beeilen sich alle, möglichst schnell von Katharine fortzukommen. Der wird wieder übel, und sie zieht das Tischtuch zu sich herunter, um sich damit zu bedecken.

Das Licht im Ballsaal erlischt. Während Katharines schmaler Körper von neuen Krämpfen geschüttelt wird, beginnen die Dienstboten damit, die Tafel abzuräumen.

Die Schande ist so groß, dass nicht einmal sie der Königin zu Hilfe kommen.

Wolfsquell

Camden belauert eine Maus im Schnee. Das kleine braune Tier hat sich auf eine Lichtung verirrt, und egal wie flink es nun über die weiße Fläche huscht, Camden ist auf ihren großen Pfoten schneller, selbst wenn sie bis zu den Knien einsinkt.

Jules beobachtet das makabre Spiel mit Vergnügen. Die Maus ist verängstigt, aber zu allem entschlossen. Und Camden baut sich so begeistert über ihr auf, als wäre sie ein Reh oder eine Lammkeule, nicht nur ein halber Bissen. Camden ist eine Berglöwin und hat mit ihren drei Jahren ihre volle, beachtliche Größe erreicht. Kaum etwas an ihr erinnert noch an das kleine Kätzchen mit den milchigen Augen, das Jules aus den Wäldern nach Hause gefolgt war. Damals war sie so klein, dass ihr schwarz gepunktetes Fell wie ein Flaum wirkte. Jetzt hat ihr kurzer Pelz die Farbe von goldenem Honig, und nur noch ganz vereinzelt blitzt ein bisschen Schwarz auf: an den Ohren, den Zehen und der Schwanzspitze.

Nun katapultiert Camden im Sprung zwei Schneefontänen in die Höhe, was die Maus noch hektischer auf einen kahlen Busch zu rennen lässt. Trotz ihrer Verbindung zu ihrem Familiaris weiß Jules nicht, ob die Maus gefressen oder verschont werden wird. Hoffentlich gefressen, aber vor allem hofft Jules, dass es bald vorbei ist. Die arme Maus trennt noch ein weiter Weg vom nächsten Versteck, und inzwischen hat die Jagd eher den Charakter einer Folter.

»Das funktioniert nicht, Jules.«

Königin Arsinoe steht mitten auf der Lichtung. Im traditionellen Schwarz der Königinnen sieht sie vor dem weißen Schnee aus wie ein Tintenklecks. Sie hat versucht, eine Rosenknospe erblühen zu lassen, doch das grüne Ding auf ihrer Handfläche bleibt fest geschlossen.

»Bete«, empfiehlt Jules.

Im Laufe der Jahre haben die beiden diese Szene schon tausende Male durchgespielt. Jules weiß genau, was als Nächstes kommt.

Arsinoe streckt ihr die Hand entgegen.

»Warum hilfst du mir nicht?«

Für Jules ist die Rosenknospe ein Bündel voller Energie und Möglichkeiten. Sie kann jeden einzelnen Tropfen Duftöl riechen, der sich darin verbirgt. Sie weiß, welchen Rotton die Blüte haben wird.

Eine solche Aufgabe sollte für einen Naturbegabten ein Kinderspiel sein. Und für eine Königin ganz besonders. Arsinoe müsste in der Lage sein, ganze Rosenbüsche erblühen und ganze Felder reifen zu lassen. Doch ihre Gabe ist nicht erwacht. Aufgrund dieses Makels rechnet niemand damit, dass Arsinoe das Jahr des Aufstiegs überleben wird. Aber Jules gibt nicht auf. Nicht einmal, wenn bereits der sechzehnte Geburtstag der Königinnen gefeiert wird und nur noch vier Monate bis Beltane bleiben, das jetzt schon seinen Schatten vorauswirft.

Arsinoe wackelt mit den Fingern, und die Knospe rollt hin und her.

»Nur ein kleiner Schubser«, bittet sie, »zum Warmwerden.«

Jules seufzt schwer. Am liebsten würde sie sich weigern. Sie sollte sich weigern. Aber die geschlossene Knospe wirkt auf sie wie eine juckende Stelle, die man unbedingt kratzen will. Das arme Ding ist sowieso dem Tode geweiht, seit sie es im Gewächshaus vom Ast geschnitten hat. Sie kann nicht zulassen, dass es vertrocknet und stirbt, ohne je geblüht zu haben.

»Konzentriere dich«, befiehlt sie, »mit mir zusammen.«

»Mhm.« Arsinoe nickt.

Es braucht nicht viel. Kaum mehr als einen Gedanken, einen Hauch. Die Rosenknospe bricht auf wie eine Bohne in heißem Öl, und eine dicke Blüte entfaltet ihre filigranen roten Blätter in Arsinoes Hand. Sie leuchtet wie ein frischer Blutstropfen und riecht nach Sommer.

»Geschafft«, erklärt Arsinoe und legt die Rose im Schnee ab. »Und gar nicht mal schlecht. Ich denke, die Blätter in der Mitte habe fast alle ich gemacht.«

»Versuchen wir noch eine«, schlägt Jules vor. Sie ist sich ziemlich sicher, dass dies alles ihr Werk war. Vielleicht sollten sie etwas anderes probieren. Auf dem Weg hierher hat sie Stare gehört. Sie könnten sie herbeirufen, damit sie sich auf den kahlen Ästen rund um die Lichtung niederließen. Tausende von ihnen, bis nirgendwo in Wolfsquell noch einer übrig blieb und die Bäume sich unter der Last ihrer weiß gesprenkelten Körper bogen.

Arsinoes Schneeball trifft zwar Camdens Gesicht, doch Jules spürt ebenfalls etwas davon: die Überraschung und die leichte Gereiztheit, mit der die Wildkatze sich das kalte Nass aus dem Fell schüttelt. Das zweite Geschoss knallt gegen Jules’ Schulter, und das in einer Höhe, durch die der aufplatzende Schnee zum Teil in den wärmenden Mantelkragen rieselt. Arsinoe lacht schadenfroh.

»Du bist so kindisch!«, ruft Jules wütend, während Camden fauchend losrennt.

Arsinoe kann dem Angriff nur knapp ausweichen. Sie duckt sich weg und hält schützend die Hände vors Gesicht, als die Krallen des Pumas ihren Rücken streifen. »Arsinoe!«

Camden schleicht beschämt davon. Doch es ist nicht ihre Schuld – sie fühlt, was Jules fühlt; ihre Taten sind Jules’ Taten.

Jules rennt zu der Königin und untersucht sie hastig. Kein Blut, keine Krallenspuren oder Risse in Arsinoes Mantel.

»Es tut mir leid!«

»Ist schon gut, Jules.« Arsinoe legt Jules beruhigend die Hand auf den Arm, doch ihre Finger zittern. »Ist doch nichts passiert. Wie oft haben wir uns gegenseitig vom Baum geschubst, als wir noch klein waren?«

»Das ist etwas anderes, da haben wir nur gespielt.« Zerknirscht mustert Jules ihren Puma. »Cam ist kein kleines Kätzchen mehr. Ihre Krallen und ihre Zähne sind scharf, und sie ist verdammt schnell. Von nun an muss ich vorsichtiger sein. Werde ich vorsichtiger sein.« Entsetzt reißt sie die Augen auf. »Ist das da Blut an deinem Ohr?«

Arsinoe nimmt ihre schwarze Mütze ab und streicht die kurzen schwarzen Haare zurück. »Nein. Siehst du? Sie hat mich nicht mal berührt. Ich weiß doch, dass du mir niemals etwas tun würdest, Jules. Ihr beide nicht.«

Sie streckt die Hand aus, und Cam schiebt sich unter ihre Finger. Das laute, tiefe Schnurren des Pumas ist seine Art, sich zu entschuldigen.

»Das war wirklich keine Absicht«, beteuert Jules.

»Ich weiß. Wir stehen alle unter Druck. Denk nicht mehr dran.« Arsinoe setzt ihre Mütze wieder auf. »Und erzähl es bloß nicht Oma Cait. Sie macht sich auch so schon genug Sorgen.«

Jules nickt. Sie muss es Oma Cait gar nicht sagen, sie weiß auch so, wie sie reagieren würde. Wie enttäuscht und besorgt sie aussehen würde.

Nachdem sie den Wald verlassen haben, wandern Jules und Arsinoe erst am Hafen entlang und dann über den Dorfplatz Richtung Wintermarkt. In der Bucht winkt Arsinoe grüßend zu Shad Millner hinüber, der am Heck seines Bootes steht. Offenbar ist er gerade erst mit seinem Fang zurückgekehrt, denn nachdem er ihnen zugenickt hat, präsentiert er ihnen eine fette braune Seezunge. Sein Familiaris, eine Seemöwe, flattert stolz mit den Flügeln, auch wenn es äußerst fraglich ist, dass sie den Fisch gefangen hat.

»Hoffentlich kriege ich nicht so einen«, meint Arsinoe mit Blick auf die Möwe. Heute Morgen hat sie ihren Familiaris gerufen. So wie jeden Morgen, seit sie als kleines Kind die Schwarze Kate verlassen hat. Doch kein Tier ist gekommen.

Sie überqueren den Dorfplatz, und Arsinoe trampelt durch die Schlammpfützen, während Camden schmollend hinter ihnen her trottet. Es passt ihr nicht, die schneebedeckten Weiten gegen die kalte Steinsiedlung eintauschen zu müssen. Die Hässlichkeit des Winters hält Wolfsquell in fester Umklammerung. Durch monatelangen Frost, der zwischendurch immer wieder dem Tauwetter weichen musste, ist das Kopfsteinpflaster mit schmierigem Matsch überzogen. Sämtliche Fenster sind beschlagen, und nachdem unzählige matschverkrustete Schuhe über ihn hinweggelaufen sind, ist der Schnee fleckig braun geworden. Unter der tief hängenden Wolkendecke hat es den Anschein, als würde man den ganzen Ort durch eine schmutzige Scheibe betrachten.

»Pass auf«, murmelt Jules, als sie am Lebensmittelgeschäft der Martinson-Schwestern vorbeigehen. Mit dem Kopf deutet sie auf einige leere Gemüsekisten. Hinter ihnen drängen sich drei kleine Unruhestifter zusammen: Polly Nichols, mit der alten Tweedmütze ihres Vaters auf dem Kopf, und zwei Jungen, die sie nicht kennt. Aber sie weiß, was die drei vorhaben.

Jedes der Kinder hält einen Stein in der Hand.

Camden baut sich an Jules’ Seite auf und knurrt laut. Die Kinder hören es. Sie schauen zu Jules rüber und ducken sich noch tiefer hinter die Kisten. Die beiden Jungs wirken eingeschüchtert, aber Polly Nichols kneift abschätzend die Augen zusammen. Dieses Mädchen hat so viele Missetaten begangen wie es Sommersprossen im Gesicht hat; sogar seine Mutter weiß das.

»Du wirst ihn nicht werfen, Polly«, befiehlt Arsinoe, doch das scheint das Mädchen nur weiter herauszufordern. Polly presst die kleinen Lippen so fest zusammen, dass sie nicht mehr zu sehen sind. Dann springt sie hinter den Kisten hervor und wirft mit voller Kraft. Arsinoe wehrt den Stein mit der ausgestreckten Hand ab, trotzdem prallt er gegen ihre Schläfe.

»Aua!«

Schnell drückt Arsinoe die Hand gegen die Stelle, wo sie getroffen wurde. Jules ballt die Fäuste und schickt die fauchende Camden hinter den Kindern her. Sie will Polly Nichols wehrlos am Boden sehen.

»Pfeif sie zurück, mir fehlt nichts«, protestiert Arsinoe. Sie wischt sich das Blut ab, das als feines Rinnsal über ihre Wange läuft. »So etwas Freches.«

»Frech? Das sind Mistblagen!«, zischt Jules aufgebracht. »Man sollte sie auspeitschen! Lass Cam wenigstens Pollys dämliche Mütze zerfetzen!«

Arsinoe lacht leise.

»Ruf sie zurück«, wiederholt sie. Camden bleibt an der Ecke stehen und faucht noch einmal hinter Polly her, die längst die Beine in die Hand genommen hat.

»Juillenne Milone!«

Jules und Arsinoe drehen sich um. Es ist Luke, der Eigentümer und Betreiber von Gillespies Buchladen. Er trägt eine schicke braune Jacke und hat sich das helle Haar aus dem überaus attraktiven Gesicht gebürstet.

»Kleine Frau mit großem Löwen«, stellt er lachend fest. »Kommt auf einen Tee zu mir rein.«

Als sie den Laden betreten, stellt Jules sich auf die Zehenspitzen und bringt die Glocke zum Schweigen, die über der Tür hängt. Dann geht sie hinter Luke und Arsinoe her, vorbei an den blau-grün gestrichenen Bücherregalen und eine kurze Treppe hinauf. Auf der Empore wartet ein gedeckter Tisch mit Sandwiches und dicken, gelben Kuchenstücken auf sie.

»Nehmt Platz«, sagt Luke, bevor er in die Küche geht, um die Teekanne zu holen.

»Woher wusstest du, dass wir kommen?«, fragt Arsinoe.

»Von hier aus hat man einen guten Ausblick über den Hügel. Passt auf die Federn auf, Hank ist in der Mauser.«

Hank ist Lukes Familiaris, ein prächtiger schwarz-grüner Hahn. Arsinoe pustet eine Feder vom Tisch und zieht einen Teller mit kleinen Küchlein zu sich heran. Sie nimmt eines davon in die Hand und mustert es eingehend.

»Sind diese glänzenden schwarzen Stückchen etwa Beine?«, fragt Jules.

»Und Panzerstücke«, nickt Arsinoe. Käferkuchen, damit Hanks neue Federn besser wachsen. »Vögel«, murmelt sie abfällig und legt das Küchlein zurück auf den Teller.

»Früher wolltest du mal eine Krähe, eine wie Eva«, ruft Jules ihr in Erinnerung.

Eva ist der Familiaris von Jules’ Großmutter Cait, eine große, wunderschöne schwarze Krähe. Jules’ Mutter Madrigal hat ebenfalls eine Krähe. Ihr Name ist Aria. Sie ist feingliedriger und zickiger als Eva, worin sie große Ähnlichkeit mit Madrigal hat. Lange Zeit dachte Jules, sie würde ebenfalls eine Krähe bekommen. Sie behielt die Nester im Auge und rechnete ständig damit, dass ihr ein flaumiges schwarzes Küken in die ausgestreckten Hände fallen würde. Insgeheim hatte sie sich allerdings einen Hund gewünscht, so einen wie den kleinen weißen Spaniel Jake, der zu ihrem Großvater Ellis gehörte. Oder wie den hübschen schokobraunen Jagdhund ihrer Tante Caragh. Heute würde sie Camden natürlich gegen nichts in der Welt eintauschen.

»Ich denke, ich hätte gerne einen schnellen Hasen«, überlegt Arsinoe. »Oder einen cleveren maskierten Waschbären. Der könnte mir dann dabei helfen, Madge ein paar frittierte Muscheln zu klauen.«

»Du wirst etwas wesentlich Imposanteres bekommen als einen Hasen oder einen Waschbären«, prophezeit Luke. »Schließlich bist du eine Königin.«

Automatisch schauen er und Arsinoe zu Camden hinüber. Sie ist so groß, dass ihr Kopf und ihre Schultern über die Tischplatte ragen. Königin hin oder her, kein Familiaris könnte imposanter sein als ein Berglöwe.

»Vielleicht einen Wolf, wie Königin Bernadine«, fügt Luke hinzu. Er gießt Tee in Jules’ Tasse und gibt Sahne und vier Zuckerstücke hinein. Süß wie Kindertee – so mag sie ihn am liebsten, doch zu Hause erlaubt man ihn ihr so nicht.

»Noch ein Wolf in Wolfsquell«, grübelt Arsinoe, während sie in ein Stück Kuchen beißt. »Wenn es so weitergeht, bin ich schon froh, wenn ich … einen der Käfer aus Hanks Küchlein kriege.«

»Sei nicht so pessimistisch. Mein Vater hat seinen auch erst mit zwanzig bekommen.«

»Luke.« Arsinoe stößt ein Lachen aus. »Königinnen ohne Gabe erleben ihren zwanzigsten Geburtstag nicht.« Sie streckt die Hand über den Tisch, um sich ein Sandwich zu nehmen. »Vielleicht hat mein Familiaris sich ja deshalb nicht die Mühe gemacht«, fährt sie fort. »Er weiß, dass ich nächstes Jahr sowieso tot sein werde. Autsch!«

Blut ist auf ihren Teller getropft. Pollys Stein hat irgendwo unter ihren Haaren eine Schnittwunde hinterlassen. Der nächste Tropfen landet auf Lukes schickem Tischtuch. Hank hüpft heran und pickt danach.

»Ich kümmere mich darum«, stellt Arsinoe fest. »Tut mir leid, Luke. Ich ersetze es dir.«

»Mach dir keine Gedanken«, ruft Luke ihr hinterher, als sie im Badezimmer verschwindet. Dann stützt er traurig das Kinn auf die Hand. »Sie wird diejenige sein, die nächstes Frühjahr gekrönt wird, Jules. Du wirst schon sehen.«

Jules starrt in ihre Tasse. Durch die viele Sahne ist der Tee fast weiß geworden.

»Erst einmal müssen wir das Beltanefest in diesem Frühling überstehen«, erwidert sie.

Luke lächelt nur. Er ist sich seiner Sache sicher. Trotzdem wurden in den letzten drei Generationen schon stärkere Naturbegabtenköniginnen als Arsinoe getötet. Die Arrons sind stark. Ihr Gift setzt sich immer durch. Und selbst wenn nicht, müssen sie mit Mirabella fertigwerden. Jedes Schiff, das den Nordosten der Insel ansteuert, bringt bei seiner Rückkehr Geschichten über die grausamen Shannonstürme mit, die die Stadt Rolanth umtosen, in der die Elementwandler zu Hause sind.

»Natürlich hoffst du auf das Beste«, sagt Jules schließlich. »So wie ich es tue. Denn schließlich will niemand, dass Arsinoe stirbt. Weil wir sie lieben.«

»Natürlich liebe ich sie. Aber ich bin auch voller Glauben. Ich glaube fest daran, dass Arsinoe die auserwählte Königin ist.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es einfach. Warum sonst sollte die Göttin eine so starke Naturbegabte wie dich zum Schutz an ihre Seite stellen?«

Arsinoes Geburtstagsfeier findet auf dem Dorfplatz statt, in mehreren großen schwarz-weißen Zelten. Jedes Jahr heizen sich die Zelte durch das Essen und die zu zahlreichen Besucher so sehr auf, dass man irgendwann die Seitenwände öffnen und die Winterluft hereinlassen muss. Und jedes Jahr sind die meisten Gäste schon vor Sonnenuntergang betrunken.

Während Arsinoe ihre Runden dreht, bleiben Jules und Camden ihr dicht auf den Fersen. Momentan ist die Stimmung heiter, aber der Whiskey kann das von einem Moment auf den anderen ändern.

»Es war ein langer Winter«, hört Jules jemanden sagen. »Aber statt wie verrückt zu toben, ist er diesmal mild ausgefallen. Eigentlich erstaunlich, dass nicht mehr Fischer über Bord gegangen sind, nachdem sie ein Gaff gegen den Schädel bekommen haben.«

Jules schiebt Arsinoe an der Gruppe vorbei. Sie muss sich noch bei vielen Leuten blicken lassen, bevor sie sich selbst zum Essen hinsetzen können.

»Die sind gut gelungen«, stellt Arsinoe fest und beugt sich über eine Vase voller Wildblumen, um an ihnen zu riechen. Das Arrangement besteht aus rosafarbenen und violetten Schichten von Ackerziest und prachtvollem Orchis. Es erinnert an eine hübsche Hochzeitstorte, Blüte für Blüte vorzeitig von einem Naturbegabten zum Leben erweckt. Jede Familie hat eigene Gestecke mitgebracht und einige noch zusätzliche Blumen, um die Tische der Gäste ohne Gabe zu schmücken.

»Die hat dieses Jahr unsere Betty gemacht«, erklärt der Mann, der direkt neben Arsinoe steht. Strahlend zwinkert er einem ungefähr achtjährigen Mädchen zu, das prompt rot anläuft. Es trägt eine neu aussehende schwarze Strickjacke und eine geflochtene Lederkordel um den Hals.

»Wirklich, Betty? Nun, dieses Jahr sind deine Blumen eindeutig die schönsten«, versichert Arsinoe lächelnd, wofür Betty sich artig bedankt. Falls irgendjemandem aufgefallen ist, dass ein kleines Mädchen so filigrane Blüten erschaffen kann, während es der Königin nicht einmal gelingt, eine Rosenknospe zu öffnen, lässt er es sich nicht anmerken.

Beim Anblick von Camden beginnen Bettys Augen zu leuchten, vor allem als der Berglöwe zu dem Mädchen hinübergeht und sich den Rücken streicheln lässt. Ihr Vater beobachtet das Ganze und schenkt Jules ein respektvolles Nicken, als sie an ihm vorbeigehen.

Die Milones sind die wohlhabendsten Naturbegabten in ganz Wolfsquell: Ihre Felder sind immer ertragreich, ihre Gärten üppig, in ihren Wäldern tummelt sich das Wild. Und nun haben sie auch noch Jules, die stärkste Naturbegabte seit über sechzig Jahren, so sagt man. Dies alles sind Gründe, warum die Familie auserwählt wurde, um die Naturbegabtenkönigin aufzuziehen und all die Pflichten zu übernehmen, die damit einhergehen – unter anderem, für die Ratsmitglieder den Gastgeber zu spielen, wenn sie zu Besuch sind. Was den Milones nicht gerade leichtfällt.

Im Hauptzelt sitzen Jules’ Großeltern rechts und links vom Ehrengast des Abends: Ratsmitglied Renata Hargrove, die den weiten Weg aus der Hauptstadt Indridskamm auf sich genommen hat. Madrigal sollte ebenfalls anwesend sein, aber ihr Stuhl ist leer. Sie ist verschwunden, wie üblich. Arme Cait, armer Ellis, die auf ihren Plätzen gefangen sind. Opa Ellis’ Wangen werden ihm später furchtbar wehtun, weil er die ganze Zeit ein falsches Lächeln zur Schau trägt. Auf seinem Schoß sitzt sein Spaniel Jake und verzieht die Lefzen zu einem Grinsen, das allerdings mehr wie ein Zähnefletschen wirkt.

»Dieses Jahr haben sie nur einen Vertreter geschickt«, stellt Arsinoe gedämpft fest. »Einen von neun. Und noch dazu die ohne Gabe. Was uns der Rat damit wohl sagen will?«

Sie lacht leise und schiebt sich dann eine in Kräuterbutter gebratene Krebsschere in den Mund. Arsinoe verbirgt immer alles hinter einem unbekümmerten Grinsen. Nun lenkt sie Renatas Blick auf sich, die daraufhin gemessen den Kopf neigt. Keine sonderlich freundliche Begrüßung. Falls man es überhaupt so nennen kann. Jules fühlt sich auf den Schlips getreten.

»Dabei weiß doch jeder, dass ihre Familie ihr den Sitz im Rat gekauft hat – kein Einziger in ihrer Sippschaft hat eine Gabe«, grollt sie. »Die würde Natalia Arron das Gift von den Stiefeln lecken, wenn sie es verlangen würde.«

Jules mustert die wenigen Priesterinnen aus dem Tempel von Wolfsquell, die sich dazu entschlossen haben, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Nur ein Ratsmitglied zu schicken ist eine klare Beleidigung, aber immer noch besser als die Art, wie Arsinoe vom Tempel behandelt wird. Hohepriesterin Luca ist noch kein einziges Mal zu ihrem Geburtstag erschienen. Früher ist sie hin und wieder zu Katharines Feier gegangen. Heute heißt es nur noch: Mirabella, Mirabella, Mirabella.

»Diese Priesterinnen bräuchten sich auch nicht blicken zu lassen«, meckert Jules weiter. »Der Tempel sollte sich nicht auf eine Seite schlagen.«

»Reg dich nicht auf, Jules«, versucht Arsinoe sie zu beruhigen. Sie tätschelt ihrer Freundin den Arm und wechselt dann das Thema: »Der Fang ist wirklich beeindruckend.«

Jules wirft kaum einen Blick auf die große Tafel, die üppig mit Fisch und Meeresfrüchten beladen ist. Ihr eigener Fang bildet das Zentrum des Ganzen: ein riesiger Schwarzer Zackenbarsch, der von zwei ebenso großen Felsenbarschen flankiert wird. Schon früh am Morgen hat sie die Fische aus den Tiefen gerufen, noch bevor Arsinoe überhaupt aufgestanden war. Nun liegen sie auf einem Bett aus Kartoffeln, Zwiebeln und blassem Winterkohl. Die saftigen Filetstücke sind schon fast restlos verspeist worden.

»Du solltest das nicht einfach so abtun«, warnt Jules die Königin. »Das ist wichtig.«

»Ihr Mangel an Respekt?« Arsinoe schnaubt durch die Nase. »Nein, ist er nicht.« Sie isst eine zweite Krebsschere. »Weißt du, falls ich das Jahr des Aufstiegs überstehe, wünsche ich mir einen Hai als Büfett-Highlight.«

»Einen Hai?«

»Einen Großen Weißen. Wenn es um meine Krönung geht, wird nicht gespart, Jules.«

Jules lacht laut auf. »Wenn du das Jahr des Aufstiegs überstehst, kannst du selbst einen Großen Weißen beschwören.«

Sie grinsen sich an. Wenn man von der strengen Farbgebung einmal absieht, hat Arsinoe nicht viel von einer Königin an sich. Ihre Haare sind widerspenstig, und trotz aller Proteste schneidet sie sie immer wieder kurz. Die schwarze Hose und die leichte schwarze Jacke sind ihre normale Alltagskleidung. Um dem Anlass gerecht zu werden, hat sie sich zu einem einzigen Accessoire überreden lassen, einem neuen Schal, den Madrigal bei Pearsons aufgetan hat. Er besteht aus der flauschigen Wolle ihrer Edelhasen. Aber vermutlich ist es am besten so. Wolfsquell ist nicht gerade ein schickes Dorf. Hier leben Fischer, Bauern und Hafenarbeiter, und die guten schwarzen Sachen zieht man nur zu Beltane an.

Stirnrunzelnd betrachtet Arsinoe den Wandteppich, der hinter der großen Tafel hängt. Normalerweise ziert er das Rathaus, doch zu Arsinoes Geburtstag wird er jedes Mal hervorgeholt. Er zeigt die Krönung der letzten großen Naturbegabtenkönigin, die es auf der Insel gab: Bernadine, die im Vorbeigehen ganze Obstgärten reifen ließ und einen großen grauen Wolf als Familiaris hatte. Die gewebte Bernadine steht unter einem schwer beladenen Apfelbaum, ihr Wolf sitzt an ihrer Seite. Zwischen den Kiefern des Tieres hängt die zerfetzte Kehle von Bernadines einer Schwester, die tot zu ihren Füßen liegt.

»Ich hasse dieses Ding«, stellt Arsinoe fest.

»Wieso?«

»Weil es mir vor Augen führt, was ich nicht bin.«

Jules rempelt die Königin spielerisch mit der Schulter an. »Im Dessertzelt gibt es Mohnkuchen«, sagt sie. »Und Kürbiskuchen. Und Biskuittorte mit Erdbeerglasur. Suchen wir Luke und holen wir uns etwas.«

»Also schön.«

Auf dem Weg dorthin bleibt Arsinoe immer wieder stehen, um sich mit den Leuten zu unterhalten und den ein oder anderen Familiaris zu streicheln. Meist sind es Hunde oder Vögel, die üblichen Vertrauten von Naturbegabten. Thomas Mintz, der beste Fischer der ganzen Insel, bringt seinen Seelöwen dazu, Arsinoe einen Apfel zu überreichen, indem er ihn auf seiner Nase balanciert.

»Geht ihr schon?«, hören sie Renata Hargrove fragen.

Jules und Arsinoe drehen sich um. Es überrascht sie, dass Renata sich die Mühe gemacht hat, die große Tafel zu verlassen.