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Der fulminante Abschluss der »New York Times«-Bestsellersaga: An diesem Buch kommt kein Fan von Kendare Blake vorbei!
Der Krieg hat nicht nur die Insel Fennbirn in Schutt und Asche gelegt, sondern auch ihre drei Königinnen, die Schwestern Mirabella, Katherine und Arsinoe, vor schreckliche Herausforderungen gestellt. Auf Arsinoe lastet ein Fluch, und dennoch muss sie alles geben, um den bedrohlichen Nebel aufzuhalten, der die Insel zu verschlingen droht und ihrer aller Ende bedeuten würde. Derweil ist Mirabella aufgebrochen, um unter dem Banner des Friedens an den Hof von Königin Katharine zu ziehen. Diese sehnt sich insgeheim nach der Bindung, die ihre beiden Schwestern vereint, gleichzeitig will sie dem Waffenstillstand keinesfalls zustimmen. Doch nur, wenn die drei Schwestern zusammenstehen, können sie das Geheimnis ihrer blutrünstigen Göttin lüften – und dabei werden Feinde zu Freunden, Freunde zu Feinden und Königinnen zu Legenden.
Alle Bände der »Der Schwarze Thron«-Saga:
Die Schwestern
Die Königin
Die Kriegerin
Die Göttin
Die jungen Königinnen (E-Book)
Die Orakelkönigin (E-Book)
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Seitenzahl: 577
Kendare Blake
DER SCHWARZE THRON
Die Göttin
Übersetzt von Charlotte Lungstrass-Kapfer
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Five Dark Fates« bei Harper Teen, New York.
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Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Waltraut Horbas
Umschlaggestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung eines 3D-Models von archstyle (turbosquid)
Innenteil Karte: Virginia Allyn
BL · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-23257-3V002
www.penhaligon.de
DIE KÖNIGINNEN
Königin Mirabella, die große Elementwandlerin
Königin Arsinoe, die Bärenkönigin
Königin Katharine die Untote, die gekrönte Königin
DIE KRONE
Der Schwarze Rat
Genevieve Arron, Giftmischerin
Pietyr Renard, Giftmischer
Antonin Arron, Giftmischer
Lucian Arron, Giftmischer
Paola Vend, Giftmischerin
Renata Hargrove, ohne Gabe
Bree Westwood, Elementwandlerin
Rho Murtra, Priesterin
Luca, die Hohepriesterin
Elizabeth, Priesterin
DIE REBELLEN
Jules Milone, die Vielfache Königin
Emilia Vatros, Kriegerin
Mathilde, Seherin
Billy Chatworth, stammt vom Festland
Caragh Milone, Hebamme in der Schwarzen Kate
Cait Milone, Naturbegabte
Ellis Milone, Naturbegabter
Luke Gillespie, Naturbegabter
Matthew Sandrin, ohne Gabe
Gilbert Lermont, Seher
Camden, Berglöwin, Tiergefährtin
Braddock, ein Bär
Arsinoe, die entflohene Königin der Insel Fennbirn, sitzt mit versteinerter Miene am Tisch, umgeben von einem Haufen zerknüllter Pergamentbögen. Sie hat nur ein paar Stunden geschlafen, und das Licht, das durch die tief in das Mauerwerk eingelassenen Fenster dringt, brennt in ihren Augen. Außerdem betont es die dunklen Ringe darunter und ihre ungesunde Hautfarbe. Auch wenn niemand hier ist, der es sehen könnte. Lediglich ein goldbrauner Berglöwe mit schwarzer Schwanzspitze leistet ihr Gesellschaft. Er ist an der Wand angekettet. Und dann ist da noch das gelegentliche dumpfe Poltern, das durch die geschlossene Tür der inneren Kammer dringt; die Wirkung des Tonikums, mit dem sie Jules betäubt hat, lässt langsam nach.
Arsinoe starrt auf die Tür, als könnte sie das Holz mit ihren Blicken durchdringen. Dort drin liegt Jules Milone, die Vielfache Königin von Sonnenmulde, an Händen und Füßen gefesselt. Die Äderchen, die durch die Kraft des entfesselten Fluches in ihren Augen geplatzt sind, heilen inzwischen ab. Doch Arsinoe wird nie vergessen, wie ihre Freundin aussah, als Emilia sie aus der Schlacht heimbrachte. Die zähnefletschende Jules mit den blutroten Augen wird immer irgendwo in Arsinoes Bewusstsein lauern, wenn sie abends im Bett die Augen schließt.
»Aber bald wird es ihr besser gehen«, verspricht sie der Berglöwin flüsternd. Camdens einzige Reaktion darauf ist ein leises, tiefes Grollen. »Ganz bestimmt«, versichert Arsinoe ihr noch einmal, dann reibt sie sich mit beiden Händen das Gesicht, um die letzten Energiereserven zu mobilisieren. »Dir geht es nicht schnell genug, ich weiß. Aber es wird wieder.«
In der Zwischenzeit bleibt noch die Sache mit dem Brief. Deshalb hat sie ja überhaupt den kleinen Schreibtisch in den abgeschiedenen Turm heraufgeschleppt. Jetzt drückt sie den Füller auf das Blatt und sieht zu, wie die Tinte sich sammelt. Wie soll sie ihnen bloß mitteilen, dass ihre Tochter als Geisel gehalten und dann von Katharine der Untoten ermordet wurde? Wie kann man das einem Menschen überhaupt beibringen, und erst recht Cait und Ellis Milone, die immer wie leibliche Großeltern für sie waren?
Auf der Treppe werden Schritte laut, und Arsinoe stöhnt genervt. Sie überlegt ernsthaft, das Tintenfass zu werfen, sieht aber noch rechtzeitig, dass es Billy ist. Der kluge Junge schiebt zunächst das Tablett mit dem Essen durch die Tür, bevor er seinen Kopf hereinstreckt.
»Ich habe Haferkekse und Honig im Angebot. Dazu ein paar gekochte Eier und Tee.«
»Starken Tee?«
»So stark, dass es beinahe Whiskey sein könnte.« Er tritt ein und stellt das Tablett auf dem Tisch ab, wobei einige Pergamentkugeln zu Boden fallen. Dann streicht er ihr mit der Hand durchs Haar und drückt ihr einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe. »Du siehst schrecklich aus. Vielleicht hätte ich wirklich besser Whiskey mitgebracht.«
»Wie soll ich nur diesen Brief schreiben?«, fragt Arsinoe ihn. »Wie sage ich Cait und Ellis, dass Madrigal tot ist? Wie sage ich ihnen, dass Jules wahnsinnig geworden ist?«
»Die Details über Jules’ Zustand würde ich weglassen.« Er schenkt ihr Tee ein und träufelt etwas Honig auf die Haferkekse. »Das erklärst du ihnen besser persönlich. Aber du musst ihnen schreiben, und zwar bald. Sie werden schließlich für die Verbrennung ihrer Tochter herkommen wollen.«
Bei Sonnenaufgang war Arsinoe ans Fenster getreten und hatte zum Strand hinuntergeschaut. Die flachen, grauen Felsen und die zerklüftete Küste von Sonnenmulde haben zwar keinerlei Ähnlichkeit mit dem Sandstrand der Robbenkopfbucht, aber es wird reichen müssen. »Ist Emilia immer noch sauer wegen der Ortswahl?« Die Kriegerin hatte vorgeschlagen, die Bestattung auf dem Marktplatz abzuhalten. Doch Arsinoe hatte darauf bestanden, dass Madrigal am Wasser verbrannt wird. Eine Naturbegabte sollte in der Wildnis bestattet werden.
»Nein. Sie ist stur, aber sie vertraut darauf, dass du weißt, was in diesem Fall das Beste ist. Und was Jules wollen würde, wenn sie es uns sagen könnte.«
Arsinoe schnaubt abfällig. »Und wie stur sie ist. Doch in dem Fall stört sie vor allem, dass der Vorschlag von mir kam. Ein Befehl von einer Königin.«
»Aber das war es nicht«, betont Billy ein wenig zu vorsichtig. Genau wie Emilia möchte er nicht, dass Arsinoe noch einmal zu dieser Rolle zurückkehrt.
»Nein, das war es nicht.« Sie streicht kurz über seine Hand, bevor sie seufzend nach der Teetasse greift. »Aber wer bleibt denn außer Mira und mir, bis es Jules wieder besser geht? Apropos Mira, ich sollte mit ihr reden. Wir werden am Strand ihre Gabe brauchen, um den Wind zu beschwichtigen und die Flammen anzufachen.« Sie steht so abrupt auf, dass sie dabei an das Tablett stößt und Tee auf die unbenutzten Pergamentbögen schüttet. »Verdammt nochmal!«
»Du fluchst wie eine vom Festland«, stellt Billy fest, während er ihr beim Aufwischen hilft.
Arsinoe grinst. »Ihr habt einfach die besseren Flüche. Wir hätten nicht zurückkommen sollen. Besser, wir wären dort geblieben.«
»Nein, Daphne und die Träume hatten recht. Mira und du, ihr werdet hier gebraucht. Was würde ohne dich und deine Giftmischertränke aus Jules werden? Was hätte der Nebel angerichtet ohne Mira und ihre Stürme? Ihr werdet hier gebraucht. Allerdings nicht für immer.«
»Nicht für immer«, wiederholt sie und greift nach seiner Hand. Es ist ein wortloses Versprechen. Dann poltern hastige Schritte die Treppe herauf, und die beiden lösen sich voneinander, als Emilia hereinstürmt. Ihre Wangen sind gerötet, und die dunklen Haare hängen ihr in losen Strähnen über die Schultern.
»Jules schläft noch«, berichtet Arsinoe, »und ich bin fast fertig mit den Briefen.«
»Vergiss die Briefe.« Emilia stapft durch den Raum und knallt ein Stück Pergament auf den Schreibtisch. »Du hast jetzt weitaus größere Probleme.«
Arsinoe nimmt das Blatt und liest.
Die Handschrift ist elegant, geschwungen, aber sie kennt sie nicht.
Wir haben mit der Königin gesprochen, und wir sind ebenfalls der Meinung, dass ihr Angebot aufrichtig ist. Nun sind wir auf dem Rückweg nach Indridskamm. Die Entscheidung liegt allein bei dir, aber wir sind hier, falls du uns brauchst.
B & E
»Das wurde heute Morgen in Mirabellas Zimmer gefunden.«
»B und E?«, fragt Billy, der über Arsinoes Schulter mitgelesen hat.
Arsinoe schluckt schwer. »Bree und Elizabeth.« Sie blickt von dem Blatt auf.
In Emilias Miene spiegelt sich Triumph, aber auch Zorn. Dass sie sich bestätigt fühlt, ist nicht zu übersehen. Die Kriegerin verzieht das Gesicht und zischt Arsinoe so wütend entgegen, dass diese den Brief fallen lässt: »Mirabella hat sich abgesetzt.«
Mirabella wacht auf, als die Kutscherin mit der Faust auf das Dach klopft. Sie weiß nicht, wie lange sie geschlafen hat. Dem Licht nach zu urteilen, hätte es beinahe Mittag sein können, aber bei diesen tief hängenden grauen Wolken ist das schwer zu sagen.
»Wir nähern uns der Hauptstadt«, ruft die Kutscherin, und Mirabella reibt sich verschlafen die Augen. Anschließend rutscht sie ans Fenster und öffnet es. Vor ihr ragen die schwarzen Zwillingstürme des Volroy in den Himmel.
Natürlich sieht sie den Volroy nicht zum ersten Mal – als Mädchen an die hundert Mal auf Bildern und Wandteppichen, in Büchern und in ihrer Fantasie. Damals dachte sie noch, dass sie eines Tages dort herrschen würde. Dann kam sie zum Duell der Königinnen nach Indridskamm und sah ihn in der Realität. Aber diesmal ist es anders. Heute regiert hier Königin Katharine, und auch wenn Mirabella einem Aufruf zum Waffenstillstand gefolgt ist, könnte es sein, dass er nicht ernst gemeint war. Vielleicht ist der Richtblock schon bereitet und wartet nur auf ihren Kopf. Oder vielleicht wird sie sich ein zweites Mal einen Weg aus der Stadt erkämpfen müssen.
Der kleine schwarz-weiße Specht in ihrer Kapuze stößt ein fröhliches Pfeifen aus. Er ist aufgeregt, weil er spürt, dass Elizabeth nicht weit ist. Vorsichtig streicht Mirabella über sein Köpfchen. Katharine hat gesagt, ihr drohe hier keine Gefahr. Und Bree und Elizabeth haben ihr geglaubt.
In Sonnenmulde müssen sie inzwischen bemerkt haben, dass sie fort ist. Sich vorzustellen, wie Arsinoe und Billy begreifen, was sie getan hat, tut weh. Anfangs werden sie es nicht glauben. Sie werden für sie eintreten, vielleicht sogar einen Such- oder Rettungstrupp losschicken, weil sie glauben, sie sei gegen ihren Willen geraubt worden.
Danach … Nun ja, ihr bleibt jede Menge Zeit, um sich Gedanken darüber zu machen, was sie Arsinoe bei ihrer nächsten Begegnung sagen soll. Jetzt muss sie sich erst einmal ganz auf Katharine konzentrieren. Eine Schwester nach der anderen.
Während der letzten Rast für die Pferde hat die Kutscherin sich bei Mirabella erkundigt, wo genau sie hin wolle. Natürlich hätte sie einfach den Tempel von Indridskamm als Ziel wählen können, wo man vielleicht nach Luca geschickt hätte. Oder Brees Haus, wo ihr mit Sicherheit niemand etwas zuleide getan hätte. Doch sie bat darum, am Tor des Volroy abgesetzt zu werden.
»Am großen Tor also?« Zum ersten Mal musterte die Fahrerin Mirabellas Gesicht genauer. Danach redete sie nicht mehr viel und sprach ihren Fahrgast nur noch mit »Mistress« an, nicht mehr mit »Miss«. Die Anrede »Königin« schien ihr in der Nähe des Palastes wohl zu riskant zu sein.
Nun lauscht Mirabella auf das Klappern der Pferdehufe auf dem Straßenpflaster, während sie gleichzeitig zusieht, wie der Palast immer größer wird. Der Anblick des Volroy hat jeden Gedanken an Schlaf vertrieben, stattdessen zupft sie nervös an den Falten ihres Mantels und dem Rock ihres hellblauen Kleides herum. Die Spitze am Saum ist eingerissen und ganz schwarz, nachdem sie mehrfach über den Boden geschleift ist. Vielleicht sollte sie die ganze Borte einfach abreißen. Doch sie verschränkt die zitternden Finger untätig im Schoß. Sie muss ruhig bleiben. Katharine ist schließlich ihre kleine Schwester; sie darf dieses Zittern nicht sehen.
Vor dem Haupttor wird die Kutsche von zwei Wachen angehalten. Sie sprechen mit der Fahrerin und spähen zu ihr hinein. Die anderen Passagiere sind bereits ausgestiegen. Jetzt sind nur noch Mirabella und die Fracht übrig, diverse Kisten und Schachteln auf dem Dach und an der Rückseite der Kutsche.
»Welches Anliegen führt dich in den Volroy?«
»Mich gar keines, ich bringe nur einen Passagier. Der dürfte allerdings so einige Anliegen haben.« Bei dieser Erklärung der Kutschfrau blicken die beiden Wachen noch einmal genauer durch das Fenster. Mirabella erwidert ihre Blicke gelassen. Sie brauchen erstaunlich lange, um sie zu erkennen, doch dann öffnen sie endlich das Tor und rufen Verstärkung herbei, um die Kutsche zu eskortieren.
»Offenbar wurde unsere Einladung geheim gehalten, Pepper«, flüstert sie dem Vogel zu, der sie mit schräg geneigtem Kopf ansieht. »Aber das ist nicht verwunderlich. Katharine wollte sicher nicht ihr Gesicht verlieren, falls ich abgelehnt hätte.«
Die Kutsche hält, und Mirabella steigt aus. Sobald sie im Schatten der Festung steht, schießt Pepper aus ihrer Kapuze hervor und flattert davon, um nach Elizabeth zu suchen. Mirabella versucht, das Gefühl der Verlassenheit zu verscheuchen, das sie schlagartig überkommt, als sie die misstrauischen Blicke der Wachen auf sich spürt.
»Alles in Ordnung, Mistress?«, fragt die Kutscherin, woraufhin Mirabella ihr ein dankbares Lächeln schenkt. »Aber ja, vielen Dank. Es war mir eine Freude.«
Die Frau verabschiedet sich mit einer ehrerbietigen Geste und treibt mit einem Zungenschnalzer ihre Pferde an. Als Mirabella sich wieder der Königlichen Garde zuwendet, sieht sie sich von Speerspitzen umringt.
»Richtet ja nicht diese Dinger auf mich«, warnt sie und lässt einen trockenen Blitz am Himmel aufflackern. Sofort werden die Speere gesenkt. »Bringt mich hinein. Zur Königin.«
Katharine sitzt am Bett, umgeben von leisem Raunen. Es ist ihr altes Bett in ihrem alten Zimmer, doch diesmal liegt nicht sie darin, sondern Pietyr. Bei der offenen Zimmertür stehen die drei Heiler, die sie aus der Hauptstadt hat kommen lassen, und konferieren mit gedämpften Stimmen.
Es sind die besten Heiler, die sie auftreiben konnte. Giftmischer, alle drei. Aber keiner von ihnen konnte Pietyr helfen. Sie konnten ihr nicht einmal sagen, was ihm fehlt.
Letzteres wäre ihnen vielleicht gelungen, wenn sie gewusst hätten, was wirklich passiert ist. Doch das wird Katharine ihnen auf keinen Fall verraten.
»Bitte, wach auf«, flüstert sie zum gefühlt tausendsten Mal. Sie streicht über seine Wange, dann über seine Brust. Beides ist warm, sein starkes Herz schlägt unbeirrt weiter. Inzwischen blutet er auch nicht mehr aus Augen und Nase, Gesicht und Hals wurden gewaschen, Kissen und Bettwäsche gewechselt. Nur in seinem Ohr ist noch ein Hauch von Rot zu erkennen.
»Lasst ihn aufwachen«, befiehlt Katharine beinahe knurrend, aber die toten Königinnen reagieren nicht. Dabei kann sie fühlen, wie sie ihn durch ihre Augen anstarren. Vielleicht liegt sogar ein Anflug von Reue in ihrem Blick.
Nein. Bedauern, das mag sein, aber keine Reue. Sie haben getan, was sie tun mussten, damit Pietyr sie nicht in die Brecciaspalte zurückschicken konnte. Sein unbeholfener, fehlerbehafteter Ausflug in die niedere Magie hat ihnen Schmerzen zugefügt, er hat ihnen keine Wahl gelassen. Und seitdem haben sie es Katharine Tag und Nacht spüren lassen, haben ihre Haut mit Verwesung überzogen, sind durch ihr Blut geglitten, haben ihr tröstende, beruhigende Worte eingeflüstert: Sie sind nun ein Teil von ihr, und sie werden sich nicht vertreiben lassen.
Er hätte uns Schaden zugefügt. Hätte dich geschwächt. Wir wollten uns schützen. Dich schützen.
»Seid still«, flüstert Katharine. »Seid still!«
»Wir bitten um Verzeihung, Königin Katharine«, sagt einer der Heiler und neigt ehrerbietig den Kopf.
»Wir werden unsere Beratungen draußen im Flur weiterführen, damit du nicht gestört wirst«, fügt seine Kollegin aus Prynn hinzu und winkt die beiden anderen zu sich.
»Nein.« Katharine erhebt sich. »Vergebt mir. Dieser Unfall … seine Krankheit … Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen.« Außerdem scheint in Greavesdrake überall getuschelt zu werden, in jedem Flur, hinter jeder geschlossenen Tür. »Sprecht ganz offen, ich möchte wissen, was ihr denkt: Was stimmt nicht mit ihm? Wann wird er wieder gesund?«
Die drei richten sich steif auf und plustern sich auf wie ängstliche Vögel.
»Ich weiß, dass ihr keine guten Nachrichten für mich habt«, fährt sie fort. Das ist ihnen deutlich anzusehen. »Trotzdem möchte ich eure Meinung hören.«
Die Heilerin aus Prynn tritt wieder an das Bett. Sie ist bei der Untersuchung am resolutesten vorgegangen, hat Pietyr ins Zahnfleisch gestochen, an seinen Fingern und Zehen gezogen. Es ist Katharine nicht leichtgefallen danebenzustehen und zuzusehen, wie sie an ihm herumfuhrwerkten. Wie teilnahmslos er dalag, während völlig Fremde seinen Kopf hin und her drehten und in seine Ohren spähten. Als sie einen Blick unter den Verband an seiner Hand warfen, hielt Katharine unwillkürlich den Atem an. Es war eine höchst unschöne Angelegenheit gewesen, die Rune in seiner Handfläche so lange mit dem Messer zu bearbeiten, bis sie unter den vielen Schnitten nicht mehr zu erkennen war. Sie hatte das Fleisch regelrecht zerfetzt. Doch nicht einmal das hatte ihren süßen Pietyr aufwecken können. Er hatte nichts davon gespürt.
»Die Verletzung an seiner Hand heilt auch weiterhin, obwohl sich nach wie vor nicht feststellen lässt, wie sie entstanden ist. Außerdem scheint sie nicht der Grund für seine Erkrankung zu sein. Es gehen keinerlei dunkle Striemen von der Wunde aus, ihr entströmt kein fauliger Geruch …«
»Ja, ja«, unterbricht Katharine die Frau, »das habt ihr mir alles bereits gesagt.«
»Wir vermuten, dass es sich um eine Verletzung im Inneren des Schädels handelt, um ein geplatztes oder verstopftes Blutgefäß. Das erklärt auch das Fehlen äußerlicher Anzeichen. So etwas kann ohne jede Einwirkung von außen geschehen. Du hast gesagt, du hättest ihn auf dem Boden liegend vorgefunden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er, als das Gefäß platzte, einfach zusammengebrochen ist. Vermutlich hatte er keinerlei Schmerzen, oder zumindest nur sehr kurz.«
Katharine starrt auf das reglose Gesicht hinab. Auch jetzt im Schlaf sieht er noch gut aus. Aber er ist nicht mehr er selbst. Was Pietyr ausmacht, ist das Funkeln seiner Augen, dieses gerissene, subtile Lächeln, das so oft seinen Mund umspielt. Und seine Stimme. Zu viele Tage sind vergangen, seit sie das letzte Mal seine Stimme gehört hat. Inzwischen sind es beinahe schon Wochen.
»Wann wird er aufwachen?«
»Das weiß ich nicht, Königin Katharine. Seine Atmung ist stabil, das ist ein gutes Zeichen. Doch er reagiert auf keinerlei Stimuli.«
»So viel Blut …« Als Katharine nach dem gescheiterten Zauber wieder zu sich gekommen war, hatte Pietyr neben ihr auf dem Boden gelegen, und sein Gesicht war ganz und gar rot verschmiert gewesen.
»Es ist unmöglich, das komplette Ausmaß des Schadens zu bestimmen«, fährt die Heilerin fort. »Wir können nur abwarten. Er muss rund um die Uhr überwacht werden. Jemand sollte ihn pflegen und füttern.«
»Lasst uns allein«, befiehlt Katharine und wartet ab, bis die Schritte der drei im Flur verklungen sind. Dann greift sie nach Pietyrs Hand und haucht einen Kuss darauf. Sie hätte die toten Königinnen verjagen sollen, als er ihr die Chance dazu gab. Wäre sie doch nur nicht so feige gewesen! Sie wissen, dass Katharine sie jetzt nicht austreiben wird, jetzt, wo ihre Herrschaft von allen Seiten unter Beschuss steht – der Nebel, die Vielfache Königin, die Rückkehr ihrer Schwestern. Früher hat sie gedacht, die toten Königinnen würden ihr Stärke verleihen. Zu spät hat sie die Wahrheit erkannt: Diese Stärke hat stets nur ihnen allein gehört. Und wenn es nach ihnen geht, wird sie für immer schwach bleiben, nichts weiter als ihre Marionette.
»Ich wusste es nicht«, flüstert sie dicht an Pietyrs Wange. »Ich wusste nicht, dass sie das tun würden.«
Als Katharine eine Stunde später müde und benommen aus Pietyrs Zimmer kommt, läuft sie Edmund in die Arme, Natalias altem Butler. Er hat ein Tablett mit Tee dabei.
»Ich dachte mir, das käme nicht ungelegen«, sagt er leise.
»Allerdings«, nickt Katharine. »Aber ich will mal eine Weile nicht mehr in diesem Zimmer herumsitzen. Vielleicht besser im Salon oder im Wintergarten.« Erschöpft drückt sie die Hand auf die Augen.
»Oder auch gleich hier auf dem Boden. Dies ist immer noch dein Heim, wenn du es wünschst. Eine kleine Teegesellschaft auf dem Teppich.«
»Wie wir es früher nie gemacht haben«, kommentiert Katharine, schenkt ihm dabei aber ein Lächeln. Die beiden treten beiseite, als ein Dienstmädchen in Pietyrs Zimmer verschwindet. »Wo sind die Heiler?«
»Haben sich in der Bibliothek zusammengerottet«, antwortet Edmund. »Und verlangen ein Mittagessen.«
»Nun, vermutlich brauchen sie Nahrung.« Seite an Seite gehen Katharine und der Butler den Flur hinunter. »Armer Edmund. Ich habe deinen Haushalt völlig auf den Kopf gestellt.«
»Aber nicht doch, meine Königin. Es ist gut, wieder schlagende Herzen im Haus zu haben. Selbst wenn es nur die Herzen von neuem Personal und Fremden sind. Seit Natalia getötet wurde, war Greavesdrake kein Herrenhaus, sondern vielmehr ein Schrein.«
Wie recht er doch hat. Während sie die Treppe hinuntergehen, spürt auch Katharine, wie die gedämpften Geräusche der Menschen irgendwo in den Fluren und das Gewusel und gelegentliche Lachen des Personals dem Herrenhaus neues Leben einhauchen. Natürlich ist es trotzdem noch zugig und düster. Aber eben wieder lebendig, nicht mehr den Geistern preisgegeben.
Wenn Pietyr dort oben stirbt, wird das Haus für immer von Geistern bevölkert sein.
Im Esszimmer des Erdgeschosses stoßen sie auf Genevieve, die vor einer halb verspeisten Suppe sitzt und in einem Buch liest. »Wie geht es ihm?«, erkundigt sie sich und legt ihre Lektüre beiseite.
»Unverändert.« Katharine nimmt gegenüber von ihr Platz, während Edmund den Tee vorbereitet.
»Unverändert«, wiederholt Genevieve mit einem Seufzen.
Katharine beobachtet sie genau. Schließlich war es Katharine, die Pietyr »gefunden« hat, bewusstlos und voller Blut, genau wie sie damals Nicolas vorgefunden hatte, nachdem ihr vergifteter Körper ihn getötet hatte. Zwei Liebhaber – einer tot, der andere im Koma. Obwohl Katharine sorgfältig sämtliche Spuren beseitigt hat, die auf niedere Magie hätten hinweisen können, hegt Genevieve sicherlich gewisse Vermutungen.
»Er wird aufwachen«, behauptet sie nun und versucht, Katharine mit einem Lächeln Mut zu machen. »Er ist viel zu nervtötend, um es nicht zu tun.«
Katharine nickt stumm. Sie will gerade in einen von Edmunds herrlich mürben Keksen beißen, als sie hören, wie die Haustür geöffnet wird und die Dienstboten ihre Stimmen erheben. Wenig später stürmt ein atemloses Botenmädchen herein.
»Ja?«
»Sie ist im Volroy«, verkündet die Botin mit weit aufgerissenen Augen.
»Wer?«, will Genevieve wissen. »Haben wir jemanden erwartet?«
Katharine starrt das Mädchen wortlos an. Aus dem teils staunenden, teils ängstlichen Blick der Botin und aus der Tatsache, dass sie keinen Namen genannt hat, schließt sie, dass wohl Mirabella gemeint ist. Ihre mächtige Schwester ist gekommen. Die Stärkste der drei. Die stärkste Königin seit vielen Generationen ist auf ihren Wunsch hin zu ihr gekommen.
Katharines Beine fangen an zu zucken vor Ungeduld; sie will Mirabella unbedingt treffen, ihr im Sinne des Friedensangebots ins Gesicht sehen. Doch sie achtet sorgfältig darauf, sich nichts anmerken zu lassen.
»Wer?«, fragte Genevieve noch einmal. Langsam verliert sie die Geduld.
Das Botenmädchen öffnet den Mund, doch es kommt nichts heraus. Anscheinend weiß sie nicht, wie sie die Antwort formulieren soll, ohne gegen die Etikette zu verstoßen. »Die Schwester der Königin«, sagt sie schließlich.
»Mirabella«, ergänzt Katharine, was Genevieve ein leises Keuchen entlockt.
»Sie …? Sie wagt es hierherzukommen?«
»Sie war eingeladen.«
»Von wem?«
»Von Luca«, erklärt Katharine, »und wohl auch von mir. Wo ist sie jetzt?«, erkundigt sie sich bei dem Mädchen.
»Wartet im Volroy auf dich. Die Wachen halten sie im Thronsaal fest.«
»Hat sie jemand gesehen? Oder mit ihr gesprochen? Ein Vertreter des Schwarzen Rates?«
»Nein, meine Königin.«
Katharine erhebt sich. »Dann reite vor und sorge dafür, dass es auch so bleibt. Niemand darf meine Schwester zu Gesicht bekommen, bevor ich bei ihr war. Antonin nicht, Bree Westwood nicht, nicht einmal Hohepriesterin Luca. Verstanden?«
»Jawohl, meine Königin.«
»Gut. Beeil dich. Nimm dir ein frisches Pferd.«
Katharine und Genevieve fahren mit der Kutsche in den Volroy. Seit die Nachricht gekommen ist, knirscht Genevieve ununterbrochen mit den Zähnen und hält die Arme vor der Brust verschränkt.
»Ich soll Augen und Ohren für dich sein. Wie soll das gehen, wenn du mir nie etwas erzählst?«
»Luca und ich haben niemandem etwas gesagt«, erklärt Katharine. »Ganz ehrlich, Genevieve: Ich hätte nicht gedacht, dass sie tatsächlich kommt.« Sie dreht sich noch einmal zum Haus um, das hinter ihnen zurückbleibt, und blickt zum Fenster ihres alten Schlafzimmers hinauf. Wie schön wäre es, wenn sich die Vorhänge bewegen und Pietyr hinter der Scheibe auftauchen würde. Um nichts in der Welt würde er sich das Treffen entgehen lassen, das gleich im Volroy stattfinden wird. Und sie weiß nicht, wie sie es ohne ihn bewerkstelligen soll.
»Warum ist sie hier?«, fragt Genevieve. »Was kann sie schon tun?«
»Sie ist eine Königin. Sie kann mir dabei helfen, den Krieg zu gewinnen«, erwidert Katharine. »Falls ich ihr trauen kann.«
»Ihr seid alle keine Königinnen«, stellt Genevieve voller Abscheu fest. »Sonst wäre nur noch eine von euch übrig.«
»Wir haben gerade erfahren, dass die Königin auf dem Weg hierher ist.«
»Danke.« Mirabella nickt höflich. Sie haben sie in den Thronsaal gesteckt, wo sie auf Katharine warten soll. Die Wache nickt ebenfalls, geht hinaus und zieht die schweren Türen hinter sich zu. Bestimmt stehen mindestens drei weitere Soldatinnen vor dem Saal. Vermutlich befürchten sie, Mirabella könnte die Tür mit einem Windstoß sprengen und anschließend das gesamte Schloss niederbrennen.
Sie schnaubt leise. Vermutlich könnte sie sich tatsächlich innerhalb weniger Minuten aus dem Volroy befreien, wenn sie das wollte. Seit ihrer Rückkehr auf die Insel ist ihre Gabe sogar noch stärker geworden, lässt sich noch schneller herbeirufen als vor ihrer Abwesenheit. Doch trotzdem wäre sie wohl nicht in der Lage, diese Tür zu sprengen. Um so etwas zu tun, bräuchte sie schlicht eine andere Gabe. Eine Gabe, wie Jules sie hat.
Mirabella legt ihren Mantel ab und hängt ihn sorgfältig über einen Stuhl an dem langen, dunklen Tisch, der neben dem Thron steht. An diesem Tisch sitzt offenbar der Schwarze Rat an Audienztagen. Nachdenklich streicht sie mit den Fingern über die Lehne des Stuhls. Wem er wohl gehört? Bree? Oder vielleicht Luca? Eher nicht. Dieser Platz direkt rechts vom Thron ist wahrscheinlich für einen Arron reserviert. Für die älteste unter den Frauen der Familie, oder für Katharines hellhaarigen Freund, Pietyr Renard.
Langsam lässt Mirabella den Blick durch den Raum schweifen. Der Boden besteht aus Stein und Holz, doch die Hauptlaufwege sind mit schwarz-goldenen Teppichen ausgelegt. Kunstvolle Schnitzereien an den Deckenbalken zeigen die verschiedenen Gaben und viele der großen Königinnen. Dabei fügt sich das dunkle Holz perfekt in die beeindruckende Kombination aus Schwarz und Silber ein, in der die Decke gestrichen ist. Als sie noch klein war, hat Luca ihr alles darüber erzählt. Dann saß sie auf Lucas Schoß und träumte davon, wie sie eines Tages in diesem geschichtsträchtigen Schloss herrschen würde. Nun blickt sie nach oben und sucht die geschnitzten Blitze und Wolkenmassen, die zu ihrer Lieblingskönigin gehören, Königin Shannon. Und natürlich dauert es auch nicht lange, bis sie die Holzplakette für Königin Illiann findet. Was nicht weiter schwer ist, denn sie ist an der einzigen blau gestrichenen Stelle der Decke im Putz eingelassen.
Mirabella geht zum Thron hinüber und streicht kaum merklich über seine reich verzierte Armlehne. Selbst jetzt hat sie noch das Gefühl, er müsste ihr gehören; schließlich wurde sie seit dem Tag ihrer Geburt zu diesem Ding hingelenkt. Doch nicht ihr Porträt hängt über dem Thron. Kein Bild von Feuer und wildem Sturm, keine Elementwandlerkönigin, deren Kleid sich im Wind bauscht. Stattdessen hängt dort das Porträt von Katharine – ein düsteres Stillleben voll blutiger Knochen.
»Möchtest du darauf sitzen?«
Bevor sie es verhindern kann, zuckt Mirabella zusammen. Sie dreht sich um, und dort steht sie: Die niederträchtige kleine Katharine ist vollkommen lautlos hereingekommen. Kein Türenquietschen hat sie verraten, nicht einmal das Rascheln ihres Rocks.
»Möchtest du für einen Moment so tun, als hättest du gewonnen?«
»Nein«, antwortet Mirabella, »natürlich nicht.«
»Dann komm von meinem Platz weg.« Katharine lächelt. »Komm her und begrüße mich, wie es sich gehört.«
Wie es sich gehört, denkt Mirabella. Soll sie etwa auf die Knie fallen und ihren Ring küssen? Das würde sie niemals über sich bringen. Sie weiß nicht einmal, ob sie sich dazu überwinden kann, Katharine überhaupt zu berühren. Zu groß ist die Angst, mit einer vergifteten Klinge im Hals zu enden.
Katharine kommt langsam auf sie zu. Ihre dunklen Augen funkeln. Im Gegensatz zu ihrer Wachmannschaft scheint sie keinerlei Furcht zu hegen.
Mirabella verlässt das Thronpodest, muss sich aber zu jedem Schritt über den Teppich zwingen. Schließlich bleiben die Schwestern in der Mitte des Saales stehen, knapp eine Armlänge voneinander entfernt.
»Verlange nicht, dass ich mich verbeuge«, warnt Mirabella. »Ich bin als Verbündete gekommen, nicht als Untertan.«
»Ich werde weder eine Verbeugung noch eine Umarmung von dir verlangen.« Katharine verzieht spöttisch den Mund. »Noch nicht.«
Sofort entspannt sich Mirabella etwas. So nah sind sie sich seit dem Bankett vor dem Duell der Königinnen nicht mehr gekommen, als Katharine sie wie eine Marionette über die Tanzfläche geschleift hat. Wenig später wurde sie dann von Billys Vater vergiftet. Trotzdem erinnert sie sich noch genau daran, wie kalt Katharines Hände waren, wie stark ihre Finger.
»Es überrascht mich, dass du gekommen bist«, gibt Katharine zu und verschränkt die Arme vor der Brust. »Du warst doch sicher nicht begeistert davon, dass ich der Naturbegabten die Kehle aufgeschlitzt habe.«
»Das Ganze war als einfacher Tauschhandel gedacht: die Vielfache Königin gegen ihre Mutter. Dabei sollte niemand sterben.«
»Es wäre auch niemand gestorben, wenn der Nebel nicht gekommen wäre. Und wenn sie nicht versucht hätte wegzulaufen.«
Mirabella schluckt schwer. Ihr Mund ist plötzlich ganz trocken.
»Ich habe mich nicht auf deine Seite geschlagen«, stellt sie klar, »und ich habe mich auch nicht gegen Arsinoe gewandt. Ich habe mich nur gegen Jules Milone gestellt, als ich gesehen habe, was der Fluch aus ihr gemacht hat.« Sie kneift die Augen zusammen. »Oder wohl eher, was du mit ihr gemacht hast, als du das Blut ihrer Mutter vergossen und so die Bindung gelöst hast.«
Unbeeindruckt legt Katharine den Kopf schief. »Dadurch wurde lediglich das Monster zutage befördert, das schon immer in ihr geschlummert hat. Und was für ein Monster. Sie wird nicht leicht zu bändigen sein, nicht einmal für dich.«
Und mehr als das, denkt Mirabella. Als Jules sie im Tal mit der Kriegergabe angriff, wurde sie glatt von den Füßen gerissen. Und da hatte sie nicht einmal richtig gezielt.
Katharine beginnt, Mirabella langsam zu umkreisen. Unter ihrem abschätzenden Blick richtet Mirabella sich automatisch auf. Die Königin registriert die Flecken auf ihrem blauen Kleid, die verdreckte und zerrissene Spitze. Besonders gut sitzen tut es auch nicht, es ist an Brust und Bauch etwas zu eng, da es für die wesentlich drahtigere Jane geschneidert wurde, Billys Schwester. Zwar hat Mrs. Chatworth einen Schneider kommen und Änderungen vornehmen lassen, aber der Stoff hat eben seine Grenzen.
Als ihre Schwester hinter sie tritt, achtet Mirabella sorgfältig darauf, sie nicht aus den Augen zu lassen.
»Ist das alles?«, fragt Katharine. »Mehr brauchte es nicht, damit du die Rebellen im Stich lässt?«
»Nein, das war nicht alles.« Mirabella blickt zu Boden. »Ich bin eine Königin, eine wahre Königin, vom Blute her. Und die Ahnenreihe der Königinnen sollte nicht leichtfertig aufgegeben werden. Nicht einmal, wenn ihre Zukunft von jemand so Schrecklichem wie dir verkörpert wird.«
Katharine fährt herum. Ihre Finger sind so fest ineinander verschränkt, dass sie zittern.
»Interessante Wahl, in einem Arme-Leute-Gewand im Volroy zu erscheinen«, sagt sie schließlich unbeschwert. »Steckt da eine gewisse Symbolik dahinter, oder hattest du einfach nichts anderes?«
»Auf dem Festland gehört dieses Kleid zu den feinsten Roben der Stadt.«
Skeptisch zieht Katharine die Augenbrauen hoch. »Auch egal. Schon bald stecken wir dich in anständiges Schwarz, dann siehst du wieder aus wie du selbst.«
»Möchtest du das wirklich? Sollte ich nicht besser einen grauen Büßermantel tragen, um meine Schande und meine Ergebenheit der Krone gegenüber zu demonstrieren?«
»Das Volk muss nicht daran erinnert werden, wer die Krone trägt«, behauptet Katharine. »Und wenn du schon hier bist, sollen die Menschen dich auch sehen: Die große Elementwandlerkönigin ist gekommen, um an meiner Seite zu kämpfen. Wenn du hier bist, sollst du mir auch von Nutzen sein. Aber nur, wenn ich es so beschließe. Wachen!« Die Tür zum Thronsaal öffnet sich, und wenige Augenblicke später ist Mirabella wieder von Speeren umringt.
»Bringt meine Schwester in die Räumlichkeiten des Prinzgemahls.« An Mirabella gewandt, fügt Katharine hinzu: »Mein lieber Nicolas hatte nie die Gelegenheit, sie zu nutzen, da er vorher diesen tragischen Reitunfall hatte, und ich möchte nicht, dass die schöne Einrichtung einfach verkommt. Außerdem gibt es in diesem Palast natürlich keine Unterbringungsmöglichkeiten für die Schwester einer gekrönten Königin.« Damit dreht sich Katharine auf dem Absatz um. Ihre glänzenden schwarzen Locken gleiten über ihre Schulter. »Ich werde Bree Westwood und die Priesterin Elizabeth zu dir schicken. Ihre Gesellschaft wird dir sicher ein Trost sein. Außerdem werde ich dir eine kleine Mahlzeit bringen lassen. Aber iss nicht zu viel. Heute Abend wirst du mit mir speisen.« An der Tür bleibt sie noch einmal stehen und schenkt Mirabella ein breites Lächeln. »Wir haben viel Arbeit vor uns.«
Katharine geht vom Thronsaal aus direkt zur Ratskammer und schließt sich dort ein. Sobald sie allen Blicken entzogen ist, beginnt sie heftig zu zittern. Sie schlingt die Arme um den Körper und wandert in der Kammer auf und ab.
Nun ist sie Mirabella also wieder entgegengetreten, und sie hat sich gut geschlagen. Die tätowierte Krone auf ihrer Stirn hat wie ein Schild gewirkt, hat ihr Kraft gegeben und ihren Worten Rechtschaffenheit verliehen. Dabei ist es ihr schwergefallen, nicht zu schreien. Nicht sofort einen Präventivschlag zu führen. Einfach alles an Mirabella hat sie in die Defensive gedrängt: Wie sie dort im Thronsaal stand, wunderschön und hoheitsvoll, selbst in diesem grauenvollen Kleid. Und dann sind da ja noch die emotionalen Bande zwischen ihr und einigen Mitgliedern von Katharines Schwarzem Rat.
Vielleicht war es ein Fehler, sie herzubringen. Vielleicht ist sie damit direkt in Lucas Falle getappt.
Die toten Königinnen haben fauchend ihre Fühler nach ihr ausgestreckt, und selbst sie haben sich gegen die Grenzen von Katharines Bewusstsein gestemmt, angezogen von der Kraft der Elementwandlergabe, die wie Meeresbrandung von Mirabella abstrahlt.
»Für sie würdet ihr mich verlassen.«
Niemals, raunen sie. Du gehörst uns. Wir gehören dir.
Aber Katharine spürt ihren Widerstand. Spürt, wie sie sich erheben und beinahe aus ihrem Mund hervorquellen. Für einen kurzen Moment hatten die toten Königinnen die Erfahrung gemacht, wie es wäre, ihren Körper zu verlassen und mithilfe eines anderen Menschen zu agieren, als sie aus ihr ausgebrochen und in Pietyr gefahren waren. Und es hatte ihnen gefallen.
Wir werden immer bei dir sein.
»Immer«, wiederholt Katharine laut. Doch in ihrem Kopf entwickelt sich langsam ein Plan. Wenn sie geschickt zu Werke geht, kann sie sich von ihnen befreien. Sich endgültig von ihnen befreien. Doch dazu muss sie gerissener sein als sie.
Die Vertreter von Wolfsquell sind rechtzeitig zu Madrigals Verbrennung gekommen: Cait und Ellis Milone, hoch aufgerichtet und steif wie Messerklingen; Luke, tränenüberströmt, mit tiefroter Weste und Mantel, die er bestimmt selbst geschneidert hat. Und viele andere aus dem Ort haben sie begleitet. Madrigal verbrannte, umspielt vom salzigen Meereswind, auf dem brusthohen Holzgerüst, das die Rebellen für sie errichtet hatten. Die Priesterinnen von Sonnenmulde hatten sie in ein rotes Leichentuch gewickelt und mit roten Blüten bestreut. Von den Rebellen bekam sie Kränze, bemalte Muscheln und Vogeleier mit auf die Reise, die in der Hitze des Feuers zischten.
Gemeinsam sahen die Bewohner von Wolfsquell und die Rebellen zu, wie die Flammen in die Höhe wuchsen und einen Körper zu Asche verbrannten, der nicht mehr wirklich Madrigal Milone war, sondern nur eine schöne Hülle, die doch nie ganz gereicht hatte, um sie zu beherbergen.
Madrigal, denkt Arsinoe nun, während sie von flüsternden Stimmen umgeben in der großen Halle steht. Auf Madrigal lief am Ende alles hinaus. Sie war wie Gelächter in einem Raum der Stille. Im Leben hatte sie es sich nie leicht gemacht, und für ihren Tod gilt nun dasselbe.
»Ich dachte, du wärst auch tot.«
Arsinoe dreht sich um und drückt Luke fest an sich. »Es tut mir so leid«, sagt sie wieder und wieder. Sie lässt ihn erst los, als sein schwarz-grün gefiederter Hahn Hank wild mit den Flügeln schlägt und seine Krallen sich in ihre einzige gute Hose bohren. Zusammen setzen sie sich hin.
»Wo ist dein Schatz?«, fragt Luke.
Arsinoe zeigt in die Menge, wo Billy Fleisch mit Soße in zwei Teller schöpft. Während der Verbrennung hat er sie gestützt, ohne die Leute merken zu lassen, dass sie überhaupt eine Stütze brauchte. Als die Flammen dann an dem roten Leichentuch leckten, nahm er sie fest in den Arm.
»Er holt dir Essen?«, stellt Luke fest. »Der Junge kennt dich wirklich gut.« Dann blickt er zu Boden. »Die Beisetzung war gut besucht.«
Arsinoe nickt. »Man könnte meinen, sie wäre irgendwie wichtig gewesen.« Als Luke sich plötzlich räuspert, weiß Arsinoe, dass Cait und Ellis zu ihnen getreten sind.
»Wir wollten warten«, wendet sie sich an Cait, »aber wir wussten nicht, ob ihr kommen könnt.«
»Wir haben deinen Brief erhalten«, erwidert Cait. »Das allein zählt. Was ist mit ihrer Schwester? Wurde Caragh nicht informiert?«
»Ich habe auch einen Brief an die Schwarze Kate geschickt, aber …« Traurig schüttelt Arsinoe den Kopf. »Vielleicht braucht sie einfach länger … mit dem Baby …« Sie verstummt abrupt und sieht zu Ellis hinüber. Cait wird es schaffen; es liegt einfach in ihrer Natur. Aber Ellis, der sanftmütige, gelehrte Ellis … Er hat Madrigal seit dem Tag ihrer Geburt vergöttert.
Arsinoe entdeckt viele bekannte Gesichter in der Menge: Mitglieder der Familien Pace und Nichols; Shad Millner mit seiner Möwe; sogar Madge, die auf dem Markt von Wolfsquell ihre herrlichen gefüllten Austern verkauft. Und Matthew. Natürlich ist Matthew hier.
»Matthew«, sagt sie, als sich ihre Blicke treffen, und er kommt auf sie zu und hebt sie in die Höhe, als wäre sie noch ein kleines Mädchen.
»Hallo, Kleines«, sagt er, als er sie wieder auf die Füße stellt. Dann wischt er ihr mit dem Daumen eine Träne ab und zupft ihren roten Schal zurecht.
Billy kommt vom Buffet zurück und begrüßt alle, vor allem Matthew, der für ihn aufgrund seiner Verbindung zu Joseph beinahe ein Familienmitglied ist. Dabei bleibt sein Blick an der Krähe auf Caits Schulter hängen. »Ist das Aria?« Er meint damit Madrigals Tiergefährtin.
»Nein«, antwortet Cait, »das ist Eva. Aria ist vor dem Rauch geflohen. Wo ist Jules? In deinem Brief hast du geschrieben, sie sei nicht verletzt worden, aber immer noch krank. Was soll das heißen?«
Arsinoe steht hastig auf. »Ich bringe euch zu ihr. Aber nur euch beide«, fügt sie nachdrücklich hinzu, als Luke und Matthew Anstalten machen, sich ihnen anzuschließen. Für Luke wäre es zu hart, sie in diesem Zustand zu sehen, und Matthew … Matthew hat zu viel Ähnlichkeit mit Joseph. Sie will sich lieber nicht vorstellen, wie Jules reagieren würde, wenn sie die Augen aufschlägt und Josephs Gesicht vor sich sieht. Während sie Cait und Ellis gemeinsam mit Billy aus der Halle führt, trifft sie eine schreckliche Erkenntnis.
»Er weiß es nicht.« Sie packt Billy am Arm. »Matthew und die Sandrins wissen das mit Joseph noch gar nicht. Sie wissen nicht, dass er tot ist!«
»Tot?«, schreit Ellis schockiert auf, sodass Billy ihn wie auch Arsinoe mit einem Zischen zum Schweigen bringt.
»Ich werde es ihnen sagen«, verspricht er. »Immerhin war er für mich auch wie ein Bruder. Und ich kann ihnen ebenso gut wie du schildern, was passiert ist.«
»Sag ihnen, wo er begraben wurde«, drängt Arsinoe ihn. »Erzähl ihnen von dem Grabstein und der Inschrift …«
»Ich werde ihnen alles sagen. Geh jetzt, bring sie zu Jules.«
Arsinoe nickt und geht dann leicht benommen weiter. Während sie die Stufen zum Turm erklimmen, versucht sie, Cait und Ellis auf das vorzubereiten, was sie erwartet, indem sie ihnen so schonend wie möglich erklärt, was passiert ist: Wie der Fluch der Pluralität durch Madrigals Tod entfesselt wurde und welch brutale Reaktionen das in Jules ausgelöst hat.
»Es kann sein, dass sie gar nicht wach ist«, warnt sie die beiden. »Die Beruhigungstränke, die ich ihr braue, lassen sie auch tagsüber viel schlafen.«
»Die Tränke, die du braust«, wiederholt Cait nachdenklich. »Dann sind die Gerüchte also wahr. Unsere Naturbegabtenkönigin war die ganze Zeit eine Giftmischerin.«
Mit der Hand auf dem Türknauf dreht Arsinoe sich um. »Ihr habt mich als Naturbegabte erzogen, und ich werde immer eine Naturbegabte sein. Obwohl mich der Gedanke, dass ich nie etwas wachsen lassen konnte, jetzt zugegebenermaßen weniger wurmt.«
Überraschenderweise lacht Cait leise. »Das stimmt. Aber wir haben dich nie an die Kunst der Gifte herangeführt, Arsinoe, weil wir nichts davon verstehen. Ist das, was du hier tust, denn nicht gefährlich?«
Arsinoe schluckt schwer. Gefährlich? Die Zutaten, die sie zu verwenden gezwungen ist, sind allerdings gefährlich. Wenn sie bei ihrer Dosierung nicht genau aufpasst, könnte Jules einfach aufhören zu atmen. Doch während ihrer Arbeit mit diesen Stoffen hat Arsinoe entdeckt, dass auch die Giftmischergabe eine instinktive Seite in sich trägt. Ihre Hände sind stets ruhig; sie mischt die Tränke wie in Trance. Doch das kann man einer Naturbegabten nur schwer erklären. »Es gibt hier Heiler, die da einspringen, wo meine Gabe nicht ausreicht.«
Damit öffnet sie die Tür zur äußeren Kammer, und sie treten ein. Sobald sie Cait und Ellis sieht, erhebt sich Camden auf ihre drei gesunden Beine und gibt ein sanftes Brummen von sich.
»Wenigstens du freust dich, uns zu sehen«, stellt Ellis fest, geht zu ihr hinüber und streichelt das weiche, sandfarbene Fell. »Sollte sie nicht bei Jules sein?«
»Es ist nicht sicher. Wenn Jules sich unwohl fühlt, wird Camden aggressiv. Außerdem hat Jules sie … verletzt, als der Fluch sich Bahn gebrochen hat.« Cait und Ellis runzeln entsetzt die Stirn. Für Naturbegabte gibt es kaum ein schlimmeres Verbrechen als die Misshandlung eines Tiergefährten. Deshalb räuspert sich Arsinoe schnell und fährt etwas munterer fort: »Aber wenn sie ruhig ist, geht es Camden gut. Dann ist sie ganz die Alte. Falls Jules sich gerade ausruht, kann sie mit euch zu ihr reingehen.«
Sie schiebt den Riegel an der Tür zurück. Drinnen liegt Jules auf einem Strohsack und den vielen Kissen und Decken, aus denen Arsinoe und Emilia ihr ein Lager gebaut haben. Hände und Füße sind mit Ketten gefesselt. Ellis bindet Camden los, und der Berglöwe tappt eilig in die hintere Kammer. Dort umkreist er Jules zweimal, bevor er sich hinlegt und den Kopf in ihre Achselhöhle drückt.
Wortlos kniet sich Cait ins Stroh und zieht ihre Enkelin auf ihren Schoß. Ellis legt ihr die Hand auf die Schulter. Der Anblick ist für Arsinoe bedrückender als erwartet, und wieder muss sie schlucken.
»Es tut mir so leid, Oma Cait.«
Die greift nach Jules’ Hand, muss aber erst ihre völlig verkrampften Finger von den Kettengliedern lösen. »Sag so etwas nicht. Es war nicht deine Schuld.«
»Wessen Schuld ist es denn sonst?«
»Niemand hat Schuld«, antwortet Ellis.
»Es heißt, sie habe versucht, sie zu retten«, flüstert Arsinoe mit erstickter Stimme. »Sie hat versucht, Madrigal zu retten.«
»Aber natürlich hat sie das«, nickt Cait. »So war sie schon immer. Auch dich hat sie stets gerettet, beschützt, versucht, dich vor Schwierigkeiten zu bewahren. Und vor dir war es Joseph. Unsere Jules wurde als Beschützerin geboren, ebenso wie sie als Naturbegabte und Kriegerin geboren wurde. Und mit einem Fluch.«
Cait und Ellis gehen irgendwann, um sich auszuruhen, doch Arsinoe bleibt noch. Zusammen mit Camden setzt sie sich in das Turmzimmer, krault sie immer wieder zwischen den Ohren und blickt auf die Stadt hinunter. Dort unten ist viel los. Ständig werden Waren und Lebensmittel angeliefert, sodass das Tor kaum noch geschlossen wird. Das Feuer in der Schmiede brennt Tag und Nacht, damit die vielen Waffen und Hufeisen für die Pferde geschmiedet werden können. Vor gar nicht langer Zeit war Sonnenmulde noch eine halb zerfallene Ruine; durch den Krieg ist es zu neuem Leben erwacht.
Als sie irgendwann Schritte auf der Treppe hört, rechnet sie eigentlich mit Billy. Doch der Mann, der erst anklopft und dann eintritt, trägt eine gelb-graue Sehertunika.
»Du hast hier nichts verloren«, sagt Arsinoe und blickt kurz zu Jules’ verrammelter Tür hinüber.
»Verzeih die Störung, aber ich muss wissen, wo ich die neuen Naturbegabten unterbringen soll. Die Neuankömmlinge aus Wolfsquell.«
Müde reibt sich Arsinoe die Stirn. Der Turm und Jules’ Räume sind ihr Rückzugsort geworden, und sie fühlt sich tatsächlich gestört.
»Sie müssen nirgendwo untergebracht werden, sie bleiben nicht lange. Außerdem sind es Naturbegabte, die fühlen sich auch in einem einfachen Zelt am Strand wohl.«
»Aber einige werden doch sicher bleiben wollen?«, hakt der Mann nach.
»Darauf würde ich nicht setzen.«
»Warum fragt er überhaupt dich?«
Arsinoe macht sich nicht die Mühe, ihr gereiztes Stöhnen zu unterdrücken, als Emilia in das Turmzimmer marschiert – ohne Vorwarnung oder Gruß. Die Schritte der Kriegerin sind nur dann zu hören, wenn sie es will. Nun packt sie den Mann grob an der Schulter und schiebt ihn von Jules’ Kammer weg.
»Du hast hier nichts zu suchen. Und deine Fragen richtest du nicht an sie.«
»Ich dachte nur … solange die Vielfache Königin nicht da ist …«
»Solange die Vielfache Königin nicht da ist, werde ich alle Angelegenheiten regeln«, knurrt Emilia.
»Bei der Göttin«, stöhnt Arsinoe, als der arme Kerl die Schultern hochzieht und versucht, sich möglichst unauffällig davonzuschleichen. »Er hat mich nur gefragt, weil ich eine Naturbegabte bin und aus Wolfsquell komme.«
»Naturbegabte, Giftmischerin …« Emilia klingt genervt. »Du ziehst dir auch immer den Schuh an, der gerade am besten passt.«
Wieder stöhnt Arsinoe gereizt. »Sie kommen gut alleine klar, sie werden sich schon etwas überlegen«, wendet sie sich an den Mann, der sofort nickt.
»Nein«, widerspricht Emilia. »Bring sie im leeren Flügel des Lermont-Hauses unter, und wenn das nicht ausreicht, auch noch in den angrenzenden Dienstbotenquartieren. Sie sollen vor dem Kampf zufrieden und ausgeruht sein.«
»Sie werden nicht kämpfen«, raunt Arsinoe ihr zu.
»Manche schon. Mehr, als du denkst.« Emilia nickt dem Mann gebieterisch zu, woraufhin der sich kurz verbeugt und davoneilt. Arsinoe geht davon aus, dass die Kriegerin nun ebenfalls gehen wird, aber zu ihrem großen Missvergnügen rührt sich Emilia nicht vom Fleck.
»Gibt es sonst noch etwas?«
Emilias Blick wandert zu der Tür, hinter der Jules liegt. Sie hat niemandem außer Mathilde von Mirabellas Verschwinden erzählt, und Arsinoe kennt den Grund dafür. Emilia will verhindern, dass sich Unruhe unter den Rebellen breitmacht. Erst muss die Vielfache Königin wieder gesund werden.
Wenigstens dafür kann man wohl dankbar sein, denkt sie und hasst sich gleichzeitig dafür. Plötzlich sieht sie Emilia in einem gnädigeren Licht; sie denkt zurück an die vielen Stunden, in denen diese Jules nicht von der Seite gewichen ist.
»Emilia, ich …«
Als die Kriegerin sie ansieht, funkeln ihre Augen streitlustig, was Arsinoe sofort wieder gegen den Strich geht. Doch bevor eine der anderen eine Beleidigung an den Kopf werfen kann, stürmt ein brauner Jagdhund durch die Tür, dicht gefolgt von Jules’ Tante Caragh, die ein Baby um den Bauch gebunden trägt.
»Dachte ich mir schon, dass ihr zwei nicht miteinander klarkommen werdet«, stellt Caragh fest, während ihre Hündin begeistert an Arsinoe schnüffelt, um dann hechelnd um Camden herumzutoben.
»Caragh!« Emilia begrüßt sie mit einer Umarmung und lässt ihren Finger vor der Nase des Babys herumtanzen. »Und der kleine Fenn. Willkommen.«
»Caragh.« Arsinoe bringt den Namen nur mühsam heraus. Dann verdrängt sie den leisen Ärger darüber, dass Emilia sie zuerst begrüßt hat, und drückt sie fest an sich, wobei sie darauf achtet, Jules’ kleinen Bruder nicht zu zerquetschen. »Was machst du denn hier?«
»Ich habe die Verbrennung meiner Schwester verpasst.« Gedämpft fügt Caragh hinzu: »Aber von Jules wird mich niemand fernhalten. Außerdem musste ich Fennbirn Milone herbringen, damit er seinen Vater kennenlernt.«
»Ja«, nickt Arsinoe, »Matthew ist hier.«
»Ich habe ihn schon gesehen. Und ich bin meiner Mutter begegnet und habe sie dazu überredet, dir das hier zu geben.«
Caragh zieht ein Glasgefäß aus ihrem Mantel, in dem sich eine blutgetränkte Kordel befindet. Neben dem rostroten Ding liegt ein vergilbtes, gefaltetes Stück Papier.
Arsinoe erkennt sofort, was es mit Kordel und Blut auf sich hat: niedere Magie.
»Mehr hat Madrigal uns in Bezug auf die Bindung nicht hinterlassen. Sie hat nie besonders gerne geschrieben.« Caragh tippt gegen das Glas. »Es sind nur eineinhalb Seiten, aber alles dort drin. Alles, was sie darüber wusste.« Entschlossen drückt sie Arsinoe den Behälter in die Hand. »Und jetzt gebe ich es dir.«
»Cait hatte nicht vor, mir die Sachen zu geben?«
»Kann sein, dass sie wütend war. Vielleicht hat sie dir die Schuld gegeben. Doch falls es tatsächlich so war, ist das nun vorbei.« Caragh schaukelt das Baby auf der Hüfte. »Und es war falsch.«
»Wozu soll das gut sein?« Skeptisch späht Emilia in das Glas.
»Vielleicht zu gar nichts«, antwortet Caragh. »Womöglich ist es bereits zu spät. Oder ihr findet da drin irgendetwas, das ihr helfen könnte.«
Voll morbider Faszination wandert Mirabella durch die Gemächer des Prinzgemahls. Nicolas Martel starb, bevor er auch nur eine Nacht hier verbringen konnte, und trotzdem fühlen sich diese Räumlichkeiten an wie sein Grab. Sie streicht mit der Hand über die hellen Brokatbezüge der Sessel und berührt die frische Spitzendecke auf einem Tischchen. Der Teppich ist weich und brandneu. All diese Dinge hat Katharine für ihren toten Ehemann ausgesucht.
Ein trauriger Gedanke, der durch die Stille noch bedrückender wird. Gleichzeitig sieht Mirabella hier nichts Persönliches, nichts von emotionalem Wert – keinerlei Erinnerungen an Nicolas Martel, nicht einmal ein Porträt. Was aber wohl nicht verwunderlich ist. Ein solch tragischer Start wäre bei jeder Herrscherin hastig unter den Teppich gekehrt worden. Je schneller er vergessen wird, desto besser. Trotzdem fragt sie sich, wie es Katharine dabei geht. Jeder weiß, dass sie eine Affäre mit Pietyr Renard hatte, und zwar schon lange bevor sie Nicolas Martel begegnet war. Doch wenn eine Königin ihren auserwählten Partner so früh verliert … Es muss ihr auf jeden Fall wehgetan haben, ob nun Liebe im Spiel war oder nicht.
Nein, vermutlich war es kein Schmerz, denkt Mirabella weiter, als sie sich an die beiden als Paar zurückerinnert: Katharine und Nicolas, in kaltem, dunklem Glanz vereint. Vermutlich war es nur Enttäuschung.
Die Tür öffnet sich, und Mirabella richtet sich wachsam auf. Da Katharine nicht wie versprochen frische Kleidung geschickt hat, trägt sie noch immer das fleckige blaue Kleid vom Festland mit der zerrissenen Spitze.
Nun betritt eine Frau den Raum, die zu den schönsten zählt, die Mirabella jemals gesehen hat. In ihrem weißblonden Haar schimmern goldene Strähnen, und ihr beinahe statuenhaftes Gesicht bekommt durch das zarte Violett ihrer Augen eine ganz eigene Lebendigkeit. Selbst die sonst alles überstrahlende Bree, die hinter ihr eintritt, wirkt im Vergleich zu ihr etwas weniger beeindruckend.
»Bree!« Mirabella schiebt sich an der fremden Frau vorbei, um ihre Freundin zu umarmen, die vor Aufregung zittert.
»Du bist hier!«, ruft Bree. »Du bist tatsächlich hier!«
»Das bin ich.« Sie streicht sanft über Brees Wange, als müsste auch sie sich davon überzeugen, dass die Freundin tatsächlich vor ihr steht. »Verzeihung«, wendet sie sich dann an die Frau hinter sich. »Wir haben uns so … selten gesehen.«
»Aber natürlich, Mirabella«, entgegnet die, »lasst euch ruhig Zeit.«
Bei dem herablassenden Ton der Frau lösen sich die Freundinnen unvermittelt voneinander. »Du meinst wohl Königin Mirabella«, hakt Bree nach.
»Nein, meine ich nicht. Ich bin Genevieve Arron, Oberhaupt der Giftmischerfamilie Arron«, stellt sie sich dann vor und neigt in der Andeutung einer sarkastischen Verbeugung den Kopf.
»Genevieve Arron. Ohne den übermächtigen Schatten von Natalia hätte ich dich beinahe nicht erkannt. Ich möchte dir mein Mitgefühl ausdrücken. Es ist nicht leicht, eine Schwester zu verlieren.«
»Es hat den Anschein, ja.« Genevieve schnippt mit den Fingern, und Bree zieht eine finstere Miene. »Kümmere dich um sie«, fährt Genevieve fort, »und zwar zügig.« Missbilligend mustert sie Mirabellas Kleid. »Und sorge dafür, dass sie vorzeigbar aussieht.«
Als sie sich abwendet, schießt ein kleiner schwarz-weißer Specht so dicht an ihrem Gesicht vorbei, dass sie hektisch um sich schlägt. »Überall diese widerlichen Vögel«, zischt sie. Während sie hinausgeht, schlüpft Elizabeth durch die noch offene Tür. Die weiße Robe lässt ihre geröteten Wangen noch stärker leuchten. Sobald die drei Freundinnen allein sind, fallen sie sich in die Arme.
»Tut mir leid, dass Pepper so hereingeplatzt ist«, entschuldigt sich Elizabeth. »Ich konnte ihn einfach nicht aufhalten!«
»Dafür musst du dich nicht entschuldigen«, befindet Bree. »Er hat Genevieve den würdevollen Abgang versaut – einfach perfekt.« Mit großen Augen dreht sie sich zu Mirabella um. »Hast du dieses Fingerschnippen gesehen? Als wäre ich ihr Küchenmädchen!«
Mirabella tritt ein paar Schritte zurück, um sich ihre Freundinnen genauer anzusehen. Bree mit dem wachen Blick und den farbenfrohen Kleidern. Und Elizabeth, die schon wieder breit grinst und deren dunkler Zopf wie immer aus der Kapuze ihrer Robe hervorragt. In ihrem linken Ärmel schimmert die silberne Metallhand. Pepper hat sich auf Mirabellas Schulter niedergelassen und pickt irgendwo in der Nähe ihres Ohrs herum; unerschrocken versucht er, sich einen Weg in ihr Haar zu bahnen. Sie streichelt sein Köpfchen und die kleinen Flügel.
»Also«, beginnt sie schließlich seufzend. »Was sagen sie?«
Bree beugt sich dichter zu ihr. »Du bist keine Gefangene. Zumindest nicht ganz. Im Inneren der Festung und überall auf dem Außengelände darfst du dich frei bewegen. Aber ohne die ausdrückliche Erlaubnis der Königin darfst du die Festung nicht verlassen. Die ›zu deinem Schutz‹ abgestellten Wachen wurden zusätzlich mit Gift ausgerüstet.«
»Tödliches Gift, oder nur Beruhigungsmittel?«
Bree und Elizabeth wechseln einen schnellen Blick; das wissen nicht einmal sie mit Sicherheit.
»Katharine meinte, sie würde dich und Elizabeth schicken, damit ihr mir Trost spendet. Aber dann schickt sie Genevieve Arron mit. Wieder eine Demonstration ihrer Macht? Ein Hinweis darauf, dass sie am Drücker sitzt?«
Bree spitzt vielsagend die Lippen. »Willkommen im Volroy.«
Es klopft, und mehrere Dienstmädchen schleppen Kisten mit Kleidung und Schmuck herein. Elizabeth zeigt ihnen, auf welchen Tischen sie abgestellt werden können; der Rest landet einfach auf dem Boden.
»Danke«, sagt sie dann, »wir werden uns selbst um die Königin … um Mirabella kümmern.« Die Dienstmädchen knicksen kurz und verschwinden, während Elizabeth bereits anfängt, in den Kisten herumzuwühlen.
»Viel ist es nicht«, stellt Bree fest. »Keins deiner Kleider; die Zeit hat nicht ausgereicht, um etwas aus Rolanth kommen zu lassen. Aber es gibt hier wirklich anständige Geschäfte, und ich hatte sowieso ein paar deiner Schmuckstücke hier.« Sie kramt in einem der Kästen herum, bis sie eine Schachtel aus dunklem Walnussholz findet, die sie an Mirabella weiterreicht.
Es ist eine Halskette: drei große Edelsteine in feurigem Orange an einer kurzen Silberkette. Selbst in der Schachtel, wo kein Licht auf sie fällt, scheinen sie zu brennen.
Nachdenklich streicht Mirabella mit dem Finger über die Steine. »Diese Kette … hätte ich am Abend der Erwachenszeremonie getragen. Wenn nicht alles so schrecklich schiefgelaufen wäre.«
»Dann trägst du sie eben jetzt, als Glücksbringer.«
Elizabeth holt ein schwarzes Samtkleid aus einer der Kisten und breitet es aus. Es ist eher schlicht gehalten, mit nur wenig Stickerei. »Wie wäre es damit? Etwas Bequemes nach der langen Reise?«
»Es ist perfekt. Aber die Kleider sind mir völlig egal, ich will etwas über euch hören. Wie ist es euch ergangen? Elizabeth, wieso darfst du Pepper behalten, obwohl du jetzt die Armbänder einer Priesterin trägst?« Sie wendet sich an Bree: »Und wie kommt es, dass du plötzlich im Schwarzen Rat sitzt?«
»Zwei Fragen, eine Antwort«, erklärt Elizabeth. »Die Hohepriesterin wollte bei Bree Wiedergutmachung dafür leisten, dass sie dich im Stich gelassen hat, und hat ihr deshalb einen Sitz im Schwarzen Rat angeboten.«
»Und als Preis dafür, dass ich brav mitspiele, habe ich verlangt, dass Elizabeth Pepper zurückholen durfte.«
Mirabella betrachtet lächelnd den Vogel, der sich hinten an Elizabeths Robe festklammert. »Und wie ist der neue Rat so, Bree? Mit seiner Mischung aus Elementwandlern, Priesterinnen und Giftmischern?«
»Wir haben uns ständig in den Haaren gelegen, und das wird auch so weitergehen, wenn die Sache mit den Rebellen erst erledigt ist.«
Gerne würde Mirabella noch mehr Fragen stellen, aber es ist nicht zu übersehen, dass Bree und Elizabeth das nicht wollen. Sie möchten diesen einen Abend ganz für sich haben und so tun, als wären sie wieder in Rolanth, im Haus der Westwoods, und würden einfach nur miteinander tratschen. Ein einziger Abend, bevor das Spiel beginnt. Also pikt Mirabella Bree grinsend in die Schulter.
»Und?«, fragt sie frech. »Wer wärmt dir momentan das Bett? Ein schneidiger Soldat aus der Königlichen Garde? Oder vielleicht wieder irgendein Kaufmannslehrling aus der Stadt?«
»Die Frage ist wohl eher, wer noch nicht in ihrem Bett gelandet ist«, stellt Elizabeth fest, woraufhin Bree einen Handschuh nach ihr wirft. »Seit sie in Indridskamm angekommen ist, treten sich die Jungs gegenseitig auf die Füße, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Erst letzten Monat hätten sich zwei aus der Küche beinahe ihretwegen duelliert.«
»Duelliert?«, lacht Mirabella. »Und wer hat gewonnen? Welchen von ihnen hast du erwählt? Den Bäcker oder den Käsehändler?«
»Keinen!« Den zweiten Handschuh pfeffert Bree auf Mirabella. »Aber irgendwann werde ich vielleicht beide nehmen.« Sie zieht empört die Augenbrauen hoch, als Mirabella und Elizabeth spöttisch lachen, doch dann seufzt sie schwer. »Die Wahrheit ist, dass ich für so etwas gar keine Zeit hatte. Bei meiner Ankunft hier hatte ich vor, Pietyr Arron zu verführen …«
»Pietyr Arron? Du meinst wohl Pietyr Renard?«
»Ja, aber so nennt ihn niemand mehr. Er hat den Namen seiner Mutter abgelegt, wie ihre Schlangen ihre alte Haut abstreifen. So wie er hier hofiert wird, könnte man meinen, er wäre Natalia Arrons leiblicher Sohn.«
»Du sagtest, du hattest vor, ihn zu verführen. Dann hast du es also nicht getan?«
»Ich konnte nicht. Er hängt ebenso sehr an Königin Katharine wie an seinem Sitz im Schwarzen Rat. Vielleicht beides aus demselben Grund.«
»Das ist nicht wahr«, mischt sich Elizabeth ein. »Er liebt die Königin. Sonst liebt er vielleicht nichts auf dieser Welt, aber die Königin liebt er aufrichtig.«
»Das ist gut«, sagt Mirabella leise. »Auch wenn sie niederträchtig ist, bin ich froh, dass sie jemanden hat, der sie liebt.« Plötzlich muss sie an Arsinoe und Billy denken – den liebenswerten, gutherzigen Billy, der Arsinoe wohl mehr liebt, als je eine Königin auf Fennbirn geliebt wurde.
»Jedenfalls wäre er auch derjenige gewesen, vor dem du dich am meisten hättest in Acht nehmen müssen«, fährt Bree fort. »Er hätte dir niemals über den Weg getraut. Aber das ist ja nun egal.«
»Wieso?«
Überrascht starren Bree und Elizabeth sie an.
»Hast du es denn nicht gehört?«, fragt Bree dann.
»Ich bin gerade erst angekommen, ich habe noch gar nichts gehört.«
»Pietyr Arron wurde angegriffen. Vor knapp zwei Wochen wurde er gefunden, in einer riesigen Blutlache.«
»Ist er tot?«
»Das nicht, aber ohne Bewusstsein.«
Eine Blutlache. Mirabella blinzelt irritiert. »Wurde er erstochen?«
»Es wurden keinerlei Verletzungen an ihm entdeckt«, sagt Elizabeth leise. »Das ist ja das Rätselhafte. Niemand weiß, was seinen Zustand hervorgerufen hat, immerhin ist seine Giftmischergabe unglaublich stark. Da scheint es unmöglich zu sein, dass ihm etwas anderes als ein Pfeil oder eine Klinge einen solchen Schaden zufügen könnte.«
»Königin Katharine hat die besten Heiler der Hauptstadt und sogar einen aus Prynn für seine Behandlung kommen lassen. Sie sollen herausfinden, was mit ihm passiert ist. Aber das ist bisher keinem von ihnen gelungen.«
»Die arme Königin«, seufzt Elizabeth. »Blutüberströmt lag er in ihrem alten Zimmer in Greavesdrake Haus, und ausgerechnet sie hat ihn dort gefunden!«
Mirabellas Blick wandert zum Fenster, wo zwischen den Hügeln das Herrenhaus zu erkennen ist. »Und ausgerechnet sie hat ihn dort gefunden.«
Katharine lässt Mirabella später als erwartet zum Abendessen rufen. Während Bree und Elizabeth sie zu den Gemächern der Königin hinaufbegleiten, knurrt Mirabellas Magen so laut, dass es vermutlich sogar die fünf Wachen vor ihnen hören können.
»Wie gut, dass Arsinoe nicht hier ist«, murmelt Mirabella vor sich hin. »Die hätte inzwischen wahrscheinlich die Möbel angeknabbert.«
Bree wirft ihr einen fragenden Blick zu. »Was hast du dir in Bezug auf Arsinoe überlegt? Wirst du für sie bitten? Eine Begnadigung aushandeln?«
Wortlos deutet Mirabella mit dem Kopf auf die Wachen, was Bree verstummen lässt. Im Volroy gibt es zu viele gespitzte Ohren, zu viele Korridore, die jedes ihrer Worte wer weiß wie weit tragen könnten.
Als sie schließlich vor einer wuchtigen Holztür stehen, drücken Bree und Elizabeth sie noch einmal kurz an sich.
»Wir sehen uns später«, versichert Bree.
»Hab keine Angst«, fügt Elizabeth hinzu. »Sie ist wirklich freundlich.«
Die beiden gehen, und Mirabella strafft entschlossen die Schultern. »Zu euch vielleicht«, brummt sie, dann hebt sie den Arm, um anzuklopfen, doch die Tür öffnet sich bereits. Zu ihrer großen Überraschung steht kein Diener vor ihr, sondern Katharine selbst.
»Schwester«, grüßt sie, »komm herein.«
Vorsichtig betritt Mirabella den warmen, nur spärlich beleuchteten Raum. Dabei achtet sie sorgsam darauf, das Feuer nicht aufflackern zu lassen, als sie am Kamin vorbeigeht. Sie nimmt gegenüber von Katharine an einem kleinen, runden Tisch Platz. Alles ist sehr intim gehalten.
»Deine Kette gefällt mir«, lobt Katharine, »und auch das Kleid. So siehst du viel besser aus. Beinahe zu gut. Vielleicht sollte ich dich immer in Kleidern vom Festland herumlaufen lassen, damit mein Volk dir nicht auf den ersten Blick verfällt.«