Der Schwarze Thron 3 - Die Kriegerin - Kendare Blake - E-Book

Der Schwarze Thron 3 - Die Kriegerin E-Book

Kendare Blake

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

GAME OF CROWNS – Der Kampf der Königinnen ist noch nicht vorbei ...

Ihr Leben lang hat Katharine auf diesen Moment gewartet: Sie hat den Kampf um den Thron gewonnen und trägt die Krone des Reichs Fennbirn. Doch ihre Herrschaft wird angefochten – es gibt Gerüchte, ihre Schwestern seien noch am Leben und warteten nur darauf, Katharine zu stürzen. Tatsächlich haben Mirabella und Arsinoe überlebt. Sie verstecken sich auf dem Festland und werden dort von einer unheimlichen Vision heimgesucht: Die legendäre Blaue Königin weist sie an, nach Fennbirn zurückzukehren, um ihr Schicksal zu erfüllen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 619

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kendare Blake

DER SCHWARZETHRON

Die Kriegerin

Übersetzt von Charlotte Lungstrass-Kapfer

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel»Two Dark Reigns« bei HarperTeen, New York.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2018 by Kendare BlakeCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Waltraut HorbasUmschlaggestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft, unter Verwendung eines 3D Models von archstyle (turbosquid)Innenteil Karte: Virginia AllynBL · Herstellung: samSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingISBN 978-3-641-23256-6V003
www.penhaligon.de

Personenverzeichnis

INDRIDSKAMM

Hauptstadt, Heimat von Königin Katharine

DIE ARRONS

Natalia Arron, Matriarchin der Familie Arron, Oberhaupt des Schwarzen Rates (†)

Genevieve Arron, Natalias jüngere Schwester

Antonin Arron, Natalias jüngerer Bruder

Pietyr Renard, Natalias Neffe, Sohn ihres Bruders Christophe

ROLANTH

Heimat von Königin Mirabella

DIE WESTWOODS

Sara Westwood, Matriarchin der Familie Westwood; besonderes Element: Wasser

Bree Westwood; Sara Westwoods Tochter, Freundin der Königin; besonderes Element: Feuer

WOLFSQUELL

Heimat von Königin Arsinoe

DIE MILONES

Cait Milone, Matriarchin der Familie Milone; Familiaris: Eva, eine Krähe

Ellis Milone, Ehemann von Cait, Vater ihrer Kinder; Familiaris: Jake, ein weißer Spaniel

Caragh Milone, ältere Tochter von Cait, wurde in die Schwarze Kate verbannt; Familiaris: Juniper, eine braune Jagdhündin

Madrigal Milone, jüngere Tochter von Cait; Familiaris: Aria, eine Krähe

Juillenne »Jules« Milone, Tochter von Madrigal, stärkste Naturbegabte seit Jahrzehnten und Freundin der Königin; Familiaris: Camden, eine Berglöwin

DIE SANDRINS

Matthew Sandrin, ältester Sohn der Familie Sandrin, ehemaliger Verlobter von Caragh Milone

Joseph Sandrin, mittlerer Sohn der Sandrins, Freund von Arsinoe, wurde für fünf Jahre auf das Festland verbannt (†)

ANDERE

Luke Gillespie, Inhaber des Buchladens, Freund von Arsinoe; Tiervertrauter: schwarz-grüner Hahn Hank

William »Billy« Chatworth junior, Ziehbruder von Joseph Sandrin im Exil, Freier der Königinnen

Mrs. Chatworth

Jane

Emilia Vatros, Kriegerin aus Bastiansburg

Mathilde, Seherin

DER TEMPEL

Hohepriesterin Luca

Priesterin Rho Murtra

Elizabeth, Priesterin, Freundin von Königin Mirabella

DER SCHWARZE RAT

Natalia Arron, Giftmischerin

Genevieve Arron, Giftmischerin

Lucian Arron, Giftmischer

Antonin Arron, Giftmischer

Allegra Arron, Giftmischerin

Paola Vend, Giftmischerin

Lucian Marlowe, Giftmischer

Margaret Beaulin, Kriegerin

Renata Hargrove, keine Gabe

Die Schwarze Kate

400 Jahre vor der Geburt von Mirabella, Arsinoe und Katharine

Als die Wehen endlich einsetzten, waren sie heftig und blutig. Von einer Kriegerkönigin war allerdings auch nichts anderes zu erwarten, vor allem von einer so schlachtenerfahrenen Herrscherin wie Königin Philomene.

Die Hebamme legte der Königin ein kühles Tuch auf die Stirn, das diese aber sofort wegschob.

»Die Schmerzen sind unbedeutend«, sagte Königin Philomene. »Ich freue mich auf diese letzte Schlacht.«

»Du glaubst also, in Louis’ Heimat wird es keine Kriege mehr für dich zu führen geben?«, fragte die Hebamme. »Selbst wenn deine Gabe verblasst, nachdem du die Insel verlassen hast, kann ich mir das nicht vorstellen.«

Der Blick der Königin wanderte zur Tür, vor der ihr Prinzgemahl Louis auf und ab wanderte. Ihre dunklen Augen funkelten, so aufgeputscht war sie durch die Schmerzen. Ihre schwarzen Haare waren schweißverklebt.

»Er kann es kaum erwarten, dass unsere Zeit in Fennbirn endlich vorbei ist. Ihm ist zu spät klar geworden, was er sich mit mir eingebrockt hat.«

Was in gewisser Weise für alle galt. Königin Philomenes Herrschaft war vor allem durch Schlachten geprägt worden. Unter ihr wurde die Hauptstadt von Kriegsbegabten überrannt. Sie ließ große Schiffe bauen und plünderte mit ihnen die Küstenstädte sämtlicher Nationen, ausgenommen nur die Heimat ihres Prinzgemahls. Aber die acht Jahre brutaler Kriegerherrschaft waren nun vorüber. Selbst für eine Kriegerkönigin war das keine sonderlich lange Herrschaftszeit, trotzdem hatte sie die Insel ausgelaugt. Kriegerköniginnen standen für Ruhm und Einschüchterung. Für Schutz. Und so war nicht nur ihr Ehemann erleichtert, als die Göttin ihre Königin mit den Drillingen segnete.

Nun krümmte sie sich unter der nächsten Wehe und schob ihr Knie beiseite, um den immer größer werdenden Blutfleck auf dem Laken zu mustern.

»Du schlägst dich gut«, log die Hebamme. Aber was wusste die schon? Sie war jung und hatte ihren Dienst in der Schwarzen Kate gerade erst angetreten. Als Giftmischerin war sie zwar eine gute Heilerin, und sie hatte auch schon bei vielen Entbindungen geholfen, aber auf die Geburt von Königinnen konnte man sich nicht angemessen vorbereiten.

Lächelnd stimmte Philomene ihr zu. »Kriegerköniginnen bluten immer so stark. Trotzdem denke ich, dass ich es nicht überleben werde.«

Langsam tauchte die Hebamme das Tuch wieder in das kalte Wasser und wrang es aus, nur für den Fall, dass Philomene ihr doch noch gestatten würde, es zu benutzen. Vielleicht überlegte sie es sich ja anders. Immerhin sah sie ja niemand. Für die Insel war eine Königin so gut wie tot, wenn die Drillinge geboren waren. Draußen standen die fertig gesattelten Pferde bereit, die Louis und sie zu einem Flusskahn und dann zu ihrem Schiff bringen sollten. Und waren sie erst einmal fort, würden Philomene und er niemals zurückkehren. Selbst die weichherzige Hebamme würde sie vergessen, sobald die Babys da waren. Jetzt tat sie so, als wäre ihr das Wohlergehen der Königin wichtig, aber im Grunde bestand ihre Aufgabe nur darin, Philomene lange genug am Leben zu erhalten, um die Drillinge zur Welt zu bringen.

Die Kriegerkönigin musterte den Tisch, auf dem Kräuter, saubere schwarze Lappen und verschiedene Tiegel mit Schmerzmitteln standen, die sie natürlich alle abgelehnt hatte. Und auch einige Klingen – um die neuen Königinnen aus dem Mutterleib zu schneiden, sollte sich die alte Herrscherin als zu schwach erweisen. Das entlockte Philomene wieder ein Lächeln. Die Hebamme war ein kleines, zartes Ding. Ihr dabei zuzusehen, wie sie versuchte, die Babys herauszuschneiden, könnte interessant werden.

Seufzend registrierte Philomene, wie die Wehe abebbte.

»Sie haben es eilig«, stellte sie fest. »Wie ich damals. Schon vom Augenblick meiner Geburt an konnte ich es kaum abwarten, der Insel meinen Stempel aufzudrücken. Vielleicht wusste ich schon immer, dass mir nicht viel Zeit dafür bleiben würde. Oder vielleicht hat auch diese ständige Eile mein Leben so verkürzt. Du hast doch dem Tempel angehört, bevor du den Dienst hier in der Einsamkeit angetreten hast, oder?«

»Ich wurde dort ausgebildet, meine Königin. Im Tempel von Prynn. Aber ich habe nie die Gelübde abgelegt.«

»Natürlich nicht; ich kann sehen, dass du keine Bänder an den Handgelenken trägst. Ich bin ja nicht blind.« Mit der nächsten Wehe kam noch mehr Blut. Sie folgten jetzt immer dichter aufeinander.

Mit festem Griff umschloss die Hebamme Philomenes Kinn und zog ihre Augenlider hoch. »Du wirst schwächer.«

»Nein, werde ich nicht.« Sie sank in die Kissen und umfasste beinahe mütterlich ihren prallen Bauch. Aber sie würde nicht nach ihnen fragen, wenn die kleinen Königinnen auf der Welt waren. Es war nicht ihre Aufgabe, sich um sie zu sorgen. Diese drei Kinder gehörten einzig und allein der Göttin.

Mühsam stützte sich Philomene wieder auf die Ellbogen. Wilde Entschlossenheit machte sich auf ihrer Miene breit. Mit einem Fingerschnippen signalisierte sie der Hebamme, zwischen ihren Beinen Stellung zu beziehen.

»Du kannst jetzt pressen«, stellte diese fest. »Es wird sicher gutgehen – du bist stark.«

»Gerade hast du noch behauptet, ich würde schwächer«, brummte Philomene.

Die erste Königin kam stumm auf die Welt. Sie atmete zwar, schrie aber nicht einmal auf, als die Hebamme ihr einen Klaps auf den Po gab. Ein kleines, gut gewachsenes Mädchen mit einer gesunden Gesichtsfarbe, was erstaunlich war bei dieser schweren Geburt. Die Hebamme hielt die Kleine kurz hoch, damit Philomene sie sehen konnte, und einen Moment lang waren sie durch das königliche Blut in der Nabelschnur verbunden.

»Leonine«, gab Philomene der kleinen Königin ihren Namen. »Naturbegabte.«

Nachdem die Hebamme beides laut wiederholt hatte, brachte sie das Baby weg, um es sauber zu machen und in ein Bettchen zu legen, wo es von einer leuchtend grünen, mit Blumen bestickten Decke gewärmt wurde. Wenig später folgte das zweite Mädchen, das laut schrie und die winzigen Fäustchen ballte.

»Isadora«, verkündete die Königin, als das brüllende Baby sie mit großen, dunklen Augen anblinzelte. »Seherin.«

»Isadora, Seherin«, wiederholte die Hebamme, bevor sie es fortbrachte und in eine hellgrau und gelb gemusterte Decke wickelte, die Farben der Seher.

Die dritte Königin wurde in einem wahren Blutsturz geboren, als würde sie auf einer Welle herausgetragen. Das war für Philomene ein deutliches Zeichen dafür, dass sie eine neue Kriegerkönigin sein müsse. Doch als sie den Mund öffnete, um das zu verkünden, kam etwas ganz anderes heraus: »Roxane. Elementwandlerin.«

Die Hebamme bestätigte auch den dritten Namen und wandte sich dann ab, um das Baby zu waschen und in das letzte freie Bettchen zu legen, das sie dann mit einer blauen Decke ausstattete. Philomene blieb schwer atmend liegen. Sie hatte recht gehabt, das spürte sie deutlich. Die Geburt hatte ihren Tod eingeläutet. Aufgrund ihrer Stärke würde sie vielleicht noch so lange leben, bis man sie verarztet und in den Sattel gesetzt hatte, aber letzten Endes würde Louis mit einer Toten in seine Heimat segeln, um sie dort in einem Familiengrab beizusetzen. Wenn ihr Leichnam nicht bereits auf See über Bord geworfen wurde. Ihre Pflichten gegenüber der Insel hatte sie erfüllt, sodass diese nun keinen Einfluss mehr auf ihr weiteres Schicksal nehmen würde.

»Hebamme!«, stöhnte Philomene, als sie wieder von Schmerzen gepackt wurde.

»Ist schon gut«, erwiderte diese beruhigend, »das ist nur die Nachgeburt. Gleich vorbei.«

»Das ist nicht die Nachgeburt. Auf keinen Fall …«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht biss sie sich auf die Lippen und presste.

Ein viertes Baby glitt aus dem Bauch der Königin, vollkommen mühelos und ohne Probleme. Es schlug die dunklen Augen auf und atmete tief ein. Ein viertes Baby. Noch eine Königin.

»Eine Blaue Königin«, murmelte die Hebamme ehrfürchtig. »Ein viertes Kind.«

»Gib sie mir.«

Doch die Hebamme war wie erstarrt.

»Gib sie mir, los!«

Schnell hob das Mädchen die Kleine auf, und Philomene riss sie ihr regelrecht aus den Händen.

»Illiann«, verkündete sie dann. »Elementwandlerin.« Auf ihrem erschöpften, ausgelaugten Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Jede Enttäuschung darüber, keine Kriegerkönigin geboren zu haben, verflog, denn nun hielt sie ein großes Schicksal in den Händen. Einen Segen für die gesamte Insel. Und sie, Philomene, hatte ihn bewirkt.

»Illiann«, wiederholte die fassungslose Hebamme. »Elementwandlerin. Die Blaue Königin.«

Philomene lachte laut auf und hob das kleine Mädchen über ihren Kopf.

»Illiann!«, rief sie. »Die Blaue Königin!«

Die Wartezeit, bis jemand in der Schwarzen Kate eintraf, zog sich in die Länge. Nach der Geburt der Blauen Königin waren die Boten sofort mit der Nachricht in ihre Heimatstädte geritten. Wie immer hatten sie mit gesattelten Pferden bereitgestanden, sobald bei der Königin die Wehen einsetzten.

Ein viertes Kind. So etwas kam so selten vor, dass es schon beinahe in das Reich der Legenden gehörte. Als die Hebamme es verkündete, wussten die unerfahrenen Boten zuerst gar nicht, was sie tun sollten. Schließlich musste das Mädchen sie regelrecht anbrüllen.

»Eine Blaue Königin!«, hatte sie geschrien. »Ein Segen der Göttin! Sie müssen alle kommen, alle Familien. Und auch die Hohepriesterin. Nun reitet schon los!«

Wären einfach nur Drillinge geboren worden, so wären lediglich drei Familien und ein paar Priesterinnen zur Kate gekommen: die Familie Travers für die Naturbegabte, die aufstrebenden Westwoods für die Elementwandlerin und die Lermonts für die arme kleine Seherkönigin, um Zeuge zu sein, wie sie ertränkt wurde. Doch die Geburt einer Blauen Königin hatte zur Folge, dass die führenden Familien aller Gaben ihre Oberhäupter schickten, auch der Vatros-Clan, der die Haupt- und Kriegerstadt Bastiansburg beherrschte, und sogar die Giftmischerfamilie Arron aus Prynn.

In der Kate standen unter den dunklen Deckenbalken vier kleine Bettchen an der Ostseite des Raumes, damit die helle Morgensonne sie erreichen konnte. Aus drei von ihnen war kein Laut zu hören, nur unter der hellgrauen Decke regte sich etwas. Die kleine Seherin quengelte pausenlos. Vielleicht lag es daran, dass sie aufgrund ihrer Gabe wusste, was mit ihr geschehen würde.

Arme kleine Orakelkönigin. Ihr Schicksal war von Anfang an besiegelt gewesen. Seit der Herrschaft der wahnsinnigen Königin Elsabet, deren Sehergabe sie dazu getrieben hatte, drei ganze Familien ermorden zu lassen, weil diese angeblich ein Komplott gegen sie schmiedeten, wurden Seherköniginnen nach der Geburt umgehend ertränkt. So schrieb es das Dekret des Schwarzen Rates vor, erlassen kurz nachdem der Rat Elsabet entmachtet hatte. Ein solch ungerechtfertigtes Massaker durfte sich niemals wiederholen.

In den Tagen nach der Geburt verbrannte die Hebamme das Bettzeug der alten Königin. Es war so stark mit Blut durchtränkt, dass es sich unmöglich reinigen ließ. Dabei fragte sie sich nicht, wo die alte Königin nun sein mochte oder wie es ihr ging. Der Zustand der Laken ließ nur einen Schluss zu: Philomene musste tot sein.

Mehr als eine Woche verging, bevor die erste Familie eintraf – die Seherfamilie Lermont aus Sonnenmulde im Nordwesten. Die Stadt lag der Schwarzen Kate am nächsten, zudem behaupteten sie, bereits reisefertig gewesen zu sein, als der Bote eintraf, da sie die Geburt des Kindes vorhergesehen hätten. Stumm und ernst betrachteten sie die vier schwarzen Bettchen und musterten die kleine Seherkönigin.

Am nächsten Tag kamen die Westwoods. Die Familie hatte noch nicht lange die Führung der Elementwandler inne und war noch entsprechend albern. Sie hätschelten die Elementwandlerkönigin und hatten ihr als Geschenk eine leuchtend blaue Decke mitgebracht. »Wir haben sie extra für sie anfertigen lassen«, erklärte das Familienoberhaupt Isabelle Westwood. »Warum sollte sie nicht etwas bekommen, auch wenn sie nicht lange leben wird?«

Nach ihnen traf die Familie Travers aus der Robbenkopfbucht ein, und am gleichen Abend auch die Arrons und wenige Minuten später der Vatros-Clan, der seine Pferde beinahe zuschanden geritten haben musste. Sie alle würden stumm Zeugnis ablegen. Die reichen Vertreter der Familie Vatros, deren Gabe durch die Herrschaft der Kriegerkönigin noch stärker geworden war, brachten die Hohepriesterin aus der Hauptstadt mit.

Ehrfürchtig sank die Hebamme vor ihr auf die Knie und nannte ihr die Namen der Königinnen. Als sie bei »Illiann« ankam, schlug die Hohepriesterin die Hände zusammen.

»Eine Blaue Königin«, murmelte sie und ging zu der Kleinen hinüber. »Ich kann es kaum glauben. Bis jetzt dachte ich noch, der Bote hätte etwas missverstanden.« Sie holte das Kind aus seinem Bettchen und legte es sich in die Armbeuge.

»Eine Blaue Königin, die Elementwandlerin ist«, betonte Isabelle Westwood, wurde aber von der Hohepriesterin mit einem scharfen Blick zum Schweigen gebracht.

»Die Blaue Königin gehört uns allen. Sie wird nicht in einem Elementwandlerhaus aufwachsen, sondern in der alten Hauptstadt, in Indridskamm. Bei mir.«

»Aber …« Die Hebamme wollte protestieren, verstummte jedoch, als sich sämtliche Köpfe zu ihr umdrehten. Erst jetzt bemerkten alle, dass sie überhaupt noch im Raum war.

»Du, Hebamme, wirst die Sache mit den Schwestern der Königin regeln. Anschließend begleitest du uns.«

Ergeben senkte die Hebamme den Kopf.

Die Naturbegabtenkönigin wurde im Wald ausgesetzt und dort der Witterung und den Tieren überlassen. Das von vornherein zum Tode verurteilte kleine Orakel wurde im Fluss ertränkt. Und als schließlich die Elementwandlerkönigin auf ein kleines Floß gelegt und in die Strömung geschoben wurde, die sie aufs Meer hinaustragen würde, konnten weder Kind noch Hebamme die Tränen zurückhalten. Leonine, Isadora und Roxane – der Göttin zurückgegeben, die ihnen stattdessen Illiann gesandt hatte, um über sie zu herrschen.

Illiann, die Gesegnete.

Der Volroy

Königin Katharine sitzt Modell für ihr Porträt – in einem der hohen, nach Westen blickenden Räume des Westturms, genau ein Stockwerk unter ihren Privatgemächern. In der linken Hand hält sie eine leere Flasche, die auf dem Bild mit Gift gefüllt sein wird. Um das rechte Handgelenk wurde ein weißes Seil geschlungen, das sich durch den Pinsel des Malers in ein Abbild ihrer Schlange Herzliebchen verwandeln wird.

Sie dreht den Kopf Richtung Fenster und blickt auf die Stadt Indridskamm hinunter, auf die dunkelbraunen Dächer der Reihenhäuser im Norden und auf Straßen, die zwischen Hügeln verschwinden. Die Rauchsäulen aus den Schornsteinen beflecken den Himmel, vor dem sich die hohen, kunstvoll errichteten Steinbauten des Stadtkerns abzeichnen. Es ist ein schöner, ruhiger Tag. Arbeiter arbeiten, Familien essen, lachen und amüsieren sich. Und sie ist heute Morgen in Pietyrs Armen aufgewacht. Alles ist gut. Sogar besser als gut – jetzt, wo ihre störenden Schwestern tot sind.

»Bitte heb das Kinn ein wenig an, Königin Katharine. Und richte dich weiter auf.«

Sie befolgt die Anweisungen, woraufhin der Maler ihr ein ängstliches Lächeln schenkt. Er gilt als der größte Künstler von ganz Indridskamm und hat Erfahrung in der Abbildung von Giftmischern mit dem üblichen Beiwerk. Aber dies ist nicht einfach irgendein Porträt. Dies ist das Porträt der gekrönten Königin. Und bei einer solchen Arbeit kommt selbst ein großer Künstler schnell mal ins Schwitzen.

Man hat sie so positioniert, dass durch das Fenster hinter ihrer rechten Schulter Greavesdrake Haus zu sehen ist. Das war Katharines Idee, auch wenn die Arrons sich das auf die Fahnen schreiben werden. Dabei hat sie es nicht für sie getan, sondern allein für Natalia. Als kleine Geste, um dieses überragende Familienoberhaupt zu ehren, jene Frau, die Katharine großgezogen hat wie eine leibliche Tochter. Dank ihr wird Greavesdrake stets präsent bleiben und einen schattenhaften Einfluss auf Katharines Herrschaft haben. Ursprünglich wollte sie auch die Urne mit Natalias Asche auf ihrem Schoß positionieren, aber das hat Pietyr ihr ausgeredet.

»Königin Katharine.« Pietyr kommt herein. Wie immer sieht er in schwarzer Jacke und taubenblauem Hemd einfach umwerfend aus. Die eisblonden Haare sind straff zurückgekämmt. Abschätzend bleibt er hinter dem Maler stehen. »Das entwickelt sich prächtig. Du wirst wunderschön aussehen.«

»Wunderschön.« Katharine rückt die leere Flasche und das Seil an ihrem Handgelenk zurecht. »Ich komme mir albern vor.«

Pietyr klopft dem Maler kurz auf die Schulter. »Ich müsste einen Moment mit der Königin sprechen, wenn es nichts ausmacht. Wie wäre es mit einer kleinen Pause?«

»Selbstverständlich.« Der Mann legt den Pinsel hin, verbeugt sich und geht hinaus, nachdem er noch einmal kurz Flasche und Seil gemustert hat, um sich einzuprägen, wie er sie hinterher arrangieren muss.

»Ist es wirklich gut?«, fragt Katharine, nachdem der Maler gegangen ist. »Ich bringe es einfach nicht über mich, es mir anzusehen. Vielleicht hätten wir doch jemanden aus Rolanth kommen lassen sollen. Immerhin gehört diese Stadt jetzt ebenfalls mir, und du weißt, dass sie die besseren Künstler haben.«

»Aber selbst beim größten Meister von Rolanth könnten wir nicht sicher sein, dass er das Porträt nicht sabotiert – so kurz nach einem ziemlich umstrittenen Aufstieg.« Pietyr folgt ihr zum westlichen Fenster und schlingt von hinten den Arm um ihre Taille. »Ein Giftmischer ist am besten.« Er umfasst sie fester und lässt die Finger über das Mieder ihres Kleides wandern. »Erinnerst du dich noch an unsere ersten gemeinsamen Tage in Greavesdrake? Das scheint so lange her zu sein.«

»Alles scheint lange her zu sein«, murmelt Katharine. In Gedanken kehrt sie in ihr altes Zimmer im Herrenhaus zurück, das mit jeder Menge gestreifter Seide und weichen Kissen dekoriert gewesen war. Als Kind hatte sie sich immer ein Kissen in den Schoß gedrückt, während sie den Geschichten lauschte, die Natalia ihr vorlas. Und dann sind da noch die bodenlangen Samtvorhänge in der Bibliothek, hinter denen sie sich immer versteckt hatte, wenn Genevieve sie zur nächsten Giftlektion holen sollte.

»Irgendwie fühlt es sich an, als wäre Natalia noch dort, oder nicht, Pietyr? Als würden wir sie mit verschränkten Armen vor dem Fenster in ihrem Arbeitszimmer finden, wenn wir nur gründlich suchen.«

»Das stimmt, Liebste.« Er haucht Küsse auf ihre Schläfe, ihre Wange, und knabbert kurz an ihrem Ohrläppchen, bis sie ein wohliger Schauer packt. »Aber so etwas darfst du nie einem anderen gegenüber erwähnen. Ich weiß, dass du sie geliebt hast. Aber du bist jetzt Königin. Du bist jetzt die Königin, da bleibt keine Zeit für kindliche Sentimentalität. Komm und sieh dir das hier an.« Er führt sie zu einem Tisch und breitet einige Papiere aus, die sie unterschreiben soll.

»Was ist das?«

»Bauaufträge«, erklärt er. »Für die Schiffe, die wir der Familie von Prinzgemahl Nicolas schenken werden. Sechs prachtvolle Schiffe, um ihren Schmerz zu lindern.«

»Aber hier ist nicht nur von Schiffen die Rede«, stellt Katharine fest. Doch egal, wie viel sie zahlen, der Preis wird immer noch gering sein. Die Martels hatten ihren Lieblingssohn auf die Insel geschickt, damit er Prinzgemahl von Fennbirn wird, und nach nicht einmal einer Woche als solcher war er durch einen Sturz vom Pferd gestorben. Ein wirklich schlimmer Sturz, bei dem er einen Abhang hinuntergefallen war. Nachdem sein Pferd ohne Reiter zurückgekehrt war, hatte es noch einmal fast eine Woche gedauert, bis man ihn fand. Bis dahin war der arme Nicolas längst tot gewesen.

Wenn sie wüssten, wie lange. Die Geschichte vom Reitunfall war eine Lüge. Ein reines Fantasieprodukt, ersponnen von Pietyr und Genevieve, damit niemand jemals die Wahrheit erfuhr: dass Nicolas gestorben war, nachdem er mit Katharine die Ehe vollzogen hatte. Dass sie so durch und durch eine Giftmischerin ist, dass selbst die Berührung ihres Körpers tödlich enden kann. Niemand durfte das je erfahren. Nicht einmal die Inselbevölkerung, denn dann würden sie auch wissen, dass sie der Insel keine Kinder von einem Festlandvater schenken kann. Dass sie keine Drillinge gebären und die nächste Königinnengeneration von Fennbirn auf die Welt bringen kann.

Jedes Mal, wenn sie daran denkt, wird sie von nackter Angst gepackt.

»Was machen wir hier überhaupt, Pietyr?« Ihre Hand erstarrt mitten in der Unterschrift. »Wo ist der Sinn des Ganzen, wenn ich meinem Volk am Ende keine neuen Königinnen schenken kann?«

Pietyr seufzt schwer. »Sieh dir mit mir das Bild an, Kat.« Er nimmt ihre Hand, und sie stellen sich vor die Staffelei mit dem Porträt. Viel gibt es noch nicht zu sehen: ein paar Umrisse und Farbtupfer, wie zum Beispiel das Schwarz ihres Kleides. Aber der Maler hat eindeutig Talent, denn selbst jetzt schon kann Katharine sich vorstellen, wie das fertige Bild einmal aussehen wird. »›Katharine, die vierte Giftmischerkönigin‹, so wird es heißen. Katharine aus der Dynastie der Giftmischer. Sie folgte auf drei andere Giftmischer: Königin Nicola, Königin Sandrine und Königin Camille. Das bist du, und uns bleibt noch jede Menge Zeit, um Vorkehrungen für die Zukunft der Insel zu treffen.«

»Meine ganze, lange Regierungszeit.«

»Genau. Dreißig, vielleicht auch vierzig Jahre.«

»Ach, Pietyr.« Sie lacht laut auf. »Heutzutage herrschen Königinnen nicht mehr so lange.« Seufzend mustert sie ihr halb fertiges Abbild. Gerade erst begonnen und kaum zu erkennen, ähnlich wie sie selbst. Wer kann schon wissen, was sie in ihren Jahren als Herrscherin alles tun, welche Veränderungen sie herbeiführen wird? Pietyr hat recht. Die Menschen müssen nicht alles erfahren. Schließlich wissen sie ja auch nicht, dass sie in die Brecciaspalte gestoßen und durch die Geister der unzähligen toten Schwestern gerettet wurde, die auf ähnliche Weise in der Spalte verschwunden waren, nachdem sie an ihrem Aufstieg gescheitert waren. Und sie wissen nicht, dass sie gar keine nennenswerte eigene Gabe hat, sondern ihre Stärke von eben jenen toten Königinnen erhält, die in jeder Minute wie ein fauliger Strom durch ihre Adern fließen.

»Manchmal frage ich mich, wem die Krone eigentlich gehört, Pietyr«, flüstert sie. »Mir oder … ihnen. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.«

»Mag sein. Aber jetzt brauchst du sie nicht mehr. Ich hatte gedacht …« Er räuspert sich kurz. »Ich hatte gedacht, sie wären vielleicht verschwunden. Dass sie dich in Ruhe lassen, nachdem sie nun bekommen haben, was sie wollten.«

Katharine fühlt auf einmal ein nervöses Kribbeln in ihrem Bauch. Ihre Gier nach Gift und ihr Blutdurst haben nachgelassen, seit ihre Schwestern in den Nebel gesegelt und ertrunken sind. Also hat Pietyr möglicherweise recht. Vielleicht sind die toten Königinnen mit ihr fertig. Womöglich sind sie nun befriedigt und werden schweigen.

Schnell unterzeichnet sie die restlichen Papiere, die Pietyr ihr vorlegt, und greift dann wieder nach der leeren Flasche und dem Seil, als der Maler hereinkommt.

Er schlingt ihr das Seil mehrmals um das Handgelenk, bis es wieder genauso liegt wie zuvor. »Wir müssen uns jetzt beeilen, bevor das Licht schwächer wird.« Mit einem Finger drückt er ihr Kinn nach oben und schiebt ihren Kopf sanft in die richtige Position, wobei er es kurz wagt, ihr ins Gesicht zu sehen.

»Wie viele Augen sehen dich an?«, fragt sie ihn, worauf er mit einem verunsicherten Blinzeln reagiert.

»Nur deine Augen, meine Königin.«

Am nächsten Morgen erscheint Genevieve an der Tür zu Katharines Gemächern, um sie zum Schwarzen Rat zu eskortieren.

»Ah, Genevieve«, begrüßt Pietyr sie. »Nur herein! Hast du schon gefrühstückt? Wir sind gerade beim letzten Bissen.«

Sein Tonfall ist fröhlich, angereichert mit einer Spur Selbstgefälligkeit; Genevieves Lächeln hingegen wirkt so gezwungen, dass es einer Grimasse gleicht. Doch Katharine tut so, als merke sie nichts. Natalias Ermordung hat eine Lücke hinterlassen, die gefüllt werden muss, und unter den Arrons wird es zu heftigen Auseinandersetzungen um die Frage kommen, wer sie füllen soll. Außerdem hat Katharine – auch wenn sie Genevieve nach wie vor hasst – beschlossen, sie noch einmal neu einzuschätzen. Schließlich ist sie Natalias Schwester und nun die Matriarchin der Familie Arron.

»Ich habe bereits gegessen«, erklärt Genevieve, während sie den Teller der Königin mustert: Käserinden, Reste von gekochtem Ei und Giftbeerenmarmelade. »Ich dachte, wir hätten entschieden, nach dem Vorfall mit dem Prinzgemahl ihren Giftkonsum einzuschränken.«

»Das ist doch nur ein wenig Marmelade.«

»Vor zwei Tagen habe ich gesehen, wie sie sich mit Tollkirschen und Skorpionen vollgestopft hat, schneller als sie kauen konnte.«

Pietyr wirft Katharine einen fragenden Blick zu, und sie errötet. Die toten Kriegerinnen haben sie dazu getrieben, sich mit Waffen auszustatten, und die toten Naturbegabten wollten, dass sie durch die Gärten streift. Manchmal haben die toten Giftmischer eben auch ihre Bedürfnisse.

»Nun ja«, sagt er schließlich. »Ihren Konsum einzuschränken wird ihren Zustand vermutlich sowieso nicht umkehren.«

»Doch da wir genügend Zeit haben, wäre es einen Versuch wert. Und Zeit ist ja so ziemlich das Einzige, wovon wir genug haben, oder?«

Während die beiden sich weiter streiten, geht Katharine still zu Herzliebchens Behausung, um sie zu füttern. Die Korallenotter hat sich gehäutet und ist gewachsen und lebt nun in einem schönen neuen Gehege mit viel Laub zum Verstecken und einigen Steinen, auf denen sie sich sonnen kann. Katharine greift in einen zweiten, kleineren Käfig und holt eine junge Maus heraus. Es macht ihr immer wieder Spaß, Herzliebchen dabei zuzusehen, wie sie im warmen Sand ihrer Beute nachstellt.

»Gibt es einen besonderen Grund, warum du mich heute Morgen begleiten möchtest, Genevieve?«

»Allerdings. Hohepriesterin Luca ist zurück.«

»So schnell?« Hastig wischt sich Pietyr mit der Serviette den Mund ab und steht auf. Es sind erst zwei Wochen vergangen, seit die Hohepriesterin nach Rolanth aufgebrochen ist, um ihren Hausstand im dortigen Tempel aufzulösen und ihn wieder in ihre alten Gemächer im Tempel von Indridskamm zu verlegen. »Wir sollten gehen, Kat.«

Flankiert von Pietyr und Genevieve steigt Katharine die vielen Treppen des Westturms hinunter, bis sie schließlich das Erdgeschoss des Volroy erreichen, in dem auch der Ratssaal liegt. Die anderen Ratsmitglieder haben sich bereits versammelt, trinken Tee und unterhalten sich leise. Hohepriesterin Luca steht etwas abseits, ohne ein Getränk oder einen Gesprächspartner.

»Hohepriesterin Luca«, begrüßt Katharine sie und ergreift die Hände der alten Frau. »Du bist zurück.«

»Und so schnell«, stellt Genevieve stirnrunzelnd fest.

»Mein Haushalt wird auf Fuhrwerken hergebracht«, erwidert Luca. »Ich habe es geschafft, ein oder zwei Tage vor ihm einzutreffen.«

»Du solltest einen Teil deiner Sachen hier im Westturm unterbringen«, schlägt Katharine lächelnd vor. »Es wäre schön, wenn noch ein Stockwerk bewohnt wird. Aus der Distanz wirkt alles hier so prächtig, da war ich doch ziemlich überrascht, als ich feststellte, wie viele Etagen lediglich aus Küchen und Lagerräumen bestehen.«

Weder Königin noch Hohepriesterin nehmen die säuerlichen Mienen der Ratsmitglieder zur Kenntnis, und sie unterdrücken den eigenen Widerwillen. Katharine kann die alte Frau nicht besonders gut leiden, und die Art, wie Luca sie beobachtet, verrät ihr, dass die Hohepriesterin ihr ebenfalls weder Zuneigung noch Vertrauen entgegenbringt. Aber Natalia hat diese Vereinbarung ausgehandelt. Ihre letzte Vereinbarung. Also wird Katharine sie respektieren.

Sie deutet auf den langen, dunklen Tisch, und der Schwarze Rat nimmt seine Plätze ein, während die Dienstboten zwei volle Teekannen bereitstellen – eine davon mit Natalias bevorzugten Mangrovensamen – und die Schalen mit Zucker und Zitrone auffüllen. Nachdem sie auch noch das benutzte Geschirr abgeräumt und die Kekskrümel beseitigt haben, drehen sie die Lampen höher und ziehen die schweren Saaltüren hinter sich zu. Für Luca wurde ein Extrastuhl bereitgestellt. Pietyr sitzt auf Natalias altem Platz, obwohl er nicht den Vorsitz von ihr übernommen hat.

Katharine gibt sich alle Mühe zuzuhören, während Cousin Lucian das Tagesgeschäft durchgeht: Die Steuereinnahmen bei den Kaufleuten waren wegen des Duells der Königinnen höher als erwartet, und in Wolfsquell werden Ernteausfälle befürchtet. Aber im Moment haben sie alle andere Dinge im Kopf als die alltäglichen Geschehnisse auf der Insel.

»Kommt schon, wie lange wollt ihr uns noch warten lassen?«, ruft Renata Hargrove schließlich.

»Renata, sei ruhig«, mahnt Genevieve.

»Ich werde sicher nicht ruhig bleiben! Natalia hat dem Tempel drei Sitze im Rat versprochen. Und ihr wisst doch jetzt schon, wessen Sitze das sein werden.« Vielsagend blickt sie zu Lucian Marlowe, Paola Vend und Margaret Beaulin hinüber. Sie sind die Einzigen hier im Rat, die nicht der Familie Arron angehören. Marlowe und Vend sind zumindest noch Giftmischer, aber Margaret verfügt über die Gabe des Krieges, und die arme Renata hat überhaupt keine Gabe vorzuweisen.

»Wie kannst du wissen, welche Sitze es sein werden, wenn ich es nicht einmal selbst weiß?«, erwidert Katharine sanft. Dabei wirft sie Renata einen so durchdringenden Blick zu, dass diese unwillkürlich zurückweicht. Eine solche Reaktion hervorzurufen fühlt sich richtig gut an. Klein gewachsen, wie sie ist nach vielen Jahren der Gifteinnahme, macht Katharine äußerlich nicht viel her – sie ist mit Narben übersät und stets viel zu blass. Aber ihre Ausstrahlung straft den ersten Eindruck Lügen. Und das liegt nicht nur an dem Energieschub der im Laufe von tausend Jahren gefallenen Königinnen. Bald wird die ganze Insel das erfahren.

»Wie dem auch sei, Renata hat nicht ganz unrecht.« Mit einem breiten Lächeln wendet sich Katharine der Hohepriesterin zu. »Du bist zurückgekehrt. Und während deiner Abwesenheit hast du dir sicher Gedanken darüber gemacht, auf wen deine Wahl fallen wird.« Eigentlich hatte sie gehofft, die Hohepriesterin werde dem Blick der Königin ausweichen, die ihre geliebte Mirabella besiegt hat. Dass Luca sich ihr nicht fügen und deshalb gar nicht erst zurückkommen würde. Aber vermutlich hätte sie es besser wissen müssen. Bevor Mirabella und Arsinoe in den Nebel gesegelt waren, hatte Luca immerhin auch Mirabellas Hinrichtung zugestimmt.

»Das habe ich«, bestätigt Luca. »Und ich benenne mich selbst, die Priesterin Rho Murtra und«, entschlossen reckt sie das Kinn, »Bree Westwood.«

Lucian und Allegra stoßen unterdrückte Entsetzenslaute aus.

Pietyr hingegen gibt sich spöttisch. »Nie und nimmer.«

Katharine runzelt kurz die Stirn. Die einzige Überraschung auf der Liste ist Bree Westwood. Vielmehr hatte sie damit gerechnet, das Luca Sara auswählen würde, das Oberhaupt der Elementwandler-Familie. Aber nicht Bree, dieses leichtfertige Mädchen, das stets mit dem Feuer spielte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und natürlich Mirabellas beste Freundin war.

»Die Hohepriesterin kann nicht im Schwarzen Rat dienen«, faucht Genevieve.

»Es ist ungewöhnlich, aber in früheren Zeiten durchaus vorgekommen.«

»Der Tempel soll sich neutral verhalten!«

»Neutral gegenüber den Königinnen. Nicht neutral gegenüber den Angelegenheiten der Insel.« Damit wendet Luca gelassen den Blick von Genevieve ab, deren Lippen vor Wut zittern.

»Nun, Königin Katharine«, fährt die Hohepriesterin fort. »Meine Wahl kennst du nun. Wie lautet deine? Wer soll ersetzt werden?«

Katharine mustert ihre Ratsmitglieder. Aber eigentlich ist es nicht ihr Rat. Es ist Natalias. Ein paar von ihnen dienten sogar schon unter Königin Camille. Sie spürt ihre Feindseligkeit, was die toten Königinnen unter ihrer Haut aufhorchen lässt.

Die Arrons erwarten von ihr, dass sie drei der anderen entlässt, die anderen hingegen werden verlangen, dass sie bleiben dürfen, damit auch weiterhin alle Interessen vertreten sind. Auch die der Bevölkerung ohne Gabe. Genevieve würde ihr raten, die Entscheidung der Hohepriesterin rundweg abzulehnen. Und bestimmt sind sie alle der Meinung, sie solle Pietyr entlassen. Ihr ist nicht entgangen, welche Blicke die Ratsmitglieder ihm zuwerfen und wie sie jedes Mal misstrauisch die Augen zusammenkneifen, wenn er sie berührt.

Aber es interessiert sie nicht, was sie alle denken. Dieser Schwarze Rat soll ihr allein gehören.

»Lucian Marlowe und Margaret Beaulin, ihr seid entlassen. Ihr habt der Krone beide treu gedient, aber, Lucian, wir haben hier nun wirklich genug Giftmischer. Und Margaret: Sicherlich verstehst du, wie ich zu der Kriegergabe stehe, nach allem, was ich durch Juillenne Milone erleiden musste. Außerdem werden wir künftig eine Priesterin mit Kriegergabe im Rat haben, die sich um die Interessen von Bastiansburg kümmern kann.«

Margaret springt auf und schiebt heftig ihren Stuhl zurück. Ihre Hände kommen nicht zum Einsatz, allerdings geschieht es so schnell, dass Katharine nicht sagen kann, ob sie es mit ihrem Geist oder mit dem Fuß bewerkstelligt.

»Eine Priesterin hat keine Gabe«, knurrt sie. »Rho Murtras Stimme wird dem Tempel dienen, und niemandem sonst.«

»Ganz genau«, stimmt Lucian Marlowe zu. »Soll dein Rat tatsächlich nur aus Arrons und Priesterinnen bestehen?«

»Oh nein«, erwidert Katharine betont. »Renata und Paola Vend bleiben im Rat. Den letzten Platz wird Allegra Arron freimachen.«

Fassungslos reißt Allegra den Mund auf. Ihr Blick huscht zu ihrem Bruder Lucian, aber der weicht ihm aus, weshalb sie schließlich aufsteht und ergeben den Kopf neigt – so tief, dass Katharine den eisblonden Dutt auf ihrem Hinterkopf bewundern kann. Sie hat große Ähnlichkeit mit Natalia. Was ein weiterer Grund dafür ist, warum Allegra gehen muss.

»Werdet ihr bleiben, bis meine neuen Ratsmitglieder eintreffen?«, fragt Katharine die drei.

Lucian Marlowe und Allegra nicken, doch Margaret schlägt mit der Faust auf den Tisch.

»Soll ich vielleicht noch meinen Stuhl für die Priesterin polieren? Oder sie im Volroy herumführen? So kann man nicht herrschen. Du gestattest dem Tempel einfach, sich im Rat breitzumachen! Und gleichzeitig behältst du deinen Lustknaben an deiner Seite – als wärst du ernsthaft an seinen Ratschlägen interessiert.«

Katharines Hand wandert zu ihrem Stiefel.

»Wachen!«, ruft Genevieve, aber da ist Katharine bereits aufgesprungen und wirft eines ihrer mit Gift bestrichenen Messer nach Margaret. Die Waffe hat so viel Schwung, dass sie sich tief in die Tischplatte gräbt.

»Ich brauche keine Wachen«, sagt sie leise, während sie ein zweites Messer in ihre Hand gleiten lässt.

»Das erste war eine Warnung, Margaret. Das nächste bohrt sich direkt in dein Herz.«

Bastiansburg

Jules Milone stützt sich mit beiden Händen auf der Stadtmauer ab. Die Steine fühlen sich rau an, und warm von der Sonne, obwohl sie nun, nach Einbruch der Dämmerung, langsam abkühlen. Unter ihr breiten sich die grauen Schatten über Strand und Meer aus. Das Geräusch der Wellen und der salzige Geruch sind ein wenig wie zu Hause, aber das ist auch das Einzige. In Bastiansburg ist der Wind zahmer, und der Strand besteht nicht aus dunklem Sand und flachen schwarzen Felsen, auf denen Robben schlafen, sondern aus rötlichen und weißen Steinen, die von der Flut glattgeschliffen wurden. Es ist hübsch hier. Aber es ist eben nicht Wolfsquell.

Ihre Tiervertraute, die Berglöwin Camden, schmiegt sich so fest an ihren Rücken, dass sie richtiggehend gegen die Mauer gepresst wird. Schnell vergräbt Jules die Finger in dem weichen goldbraunen Fell der Raubkatze.

Sie werden auf ihrem Spaziergang von Emilia Vatros begleitet, der ältesten Tochter des Kriegerclans, der seit Menschengedenken in Bastiansburg das Sagen hat. Emilia mustert die Berglöwin stirnrunzelnd. Ihr wäre es lieber gewesen, das Tier wäre nicht mitgekommen, sondern in einem Versteck geblieben. Aber Jules ist eine Naturbegabte, die Früchte reifen lassen und Fische in ihr Netz locken kann. Und sie mag es nicht, ohne ihren Berglöwen unterwegs zu sein.

Camden erhebt sich auf die Hinterbeine und stützt sich mit der gesunden Vorderpfote auf der Mauer ab, um wie Jules auf die Wellen hinabschauen zu können. Doch die zieht sie schnell wieder runter, wobei sie sorgfältig darauf achtet, nicht das Schultergelenk der Raubkatze zu belasten, das im vergangenen Winter bei einem Bärenangriff verletzt wurde.

»Ist schon gut«, winkt Emilia ab. »Hier ist keiner, und solange sie die Sonne im Rücken hat, werden die Leute sie für einen großen Hund halten.«

Camden legt skeptisch den Kopf schief, als wollte sie sagen: Ich ein Hund? Aber klar doch. Dann schlägt sie spielerisch nach Emilia, als diese geschickt auf die Mauer springt. Jules schnappt erschrocken nach Luft. Die Mauer ist ziemlich hoch, und im Abgrund darunter warten wenig freundliche Felsen.

»Lass das«, empört sich Jules.

»Was denn?«

»Da so raufzuspringen. Du machst mich ganz nervös.«

Emilia zieht kurz die Augenbrauen hoch und hüpft dann von Stein zu Stein, bevor sie auf einem Fuß herumwirbelt.

»Du kannst so nervös werden, wie du willst. Aber ich laufe auf diesen Mauern herum, seit ich neun bin. Die Kriegergabe stärkt unseren Gleichgewichtssinn. Du kannst das genauso gut wie ich, vielleicht sogar besser. Schneller.« Als sie Jules’ skeptische Miene sieht, grinst sie breit. »Beziehungsweise du könntest es, wenn deine Mutter deine Kriegergabe nicht mit niederer Magie gebunden hätte.«

Damit wirbelt sie davon und stürzt sich in einen imaginären Kampf mit Schwert und Dolch. Ihre Bewegungen haben die Leichtigkeit eines Vogels. Oder einer Katze.

Vielleicht könnte Jules das tatsächlich ebenso gut wie Emilia. Schließlich ist sie mit dem Fluch der Pluralität geschlagen. In ihr schlummern zwei Gaben, die für Natur und die für den Krieg.

»Hätte Madrigal den Fluch nicht gebunden, wäre ich dem Wahnsinn verfallen und vor langer Zeit ersäuft worden.«

»Trotzdem kannst du deine Kriegergabe inzwischen nutzen. Sie ist schwach, aber eindeutig da. Dann wärst du vielleicht schon die ganze Zeit unversehrt geblieben.« Wieder wirbelt Emilia herum und zielt mit ihrem Fantasieschwert auf Jules’ Kehle. »Vielleicht ist dieser so genannte Fluch und der Wahnsinn nichts weiter als eine Lüge, die vom Tempel verbreitet wurde.«

»Warum sollten die so etwas tun?«

»Damit niemand je so mächtig wird, wie du es sein könntest.«

Jules kneift wenig überzeugt die Augen zusammen, und Emilia fährt achselzuckend fort: »Anscheinend bist du der Meinung, dass es das Risiko nicht wert ist. Na schön. Du verfügst über die Gabe des Krieges, egal, wie abgeschwächt, also werde ich dich auch weiterhin verstecken. Bis du dich irgendwann nicht mehr verstecken willst.«

Auf den Zehen balancierend hüpft Emilia zum nächsten Stein. Der ist allerdings lose, sodass sie gefährlich zu schwanken beginnt.

»Emilia!«

Grinsend lässt die Kriegerin die Arme sinken.

»Ich wusste, dass er wackelt«, erklärt sie und kichert belustigt, als sie Jules’ finsteren Blick bemerkt. »Ich kenne jeden Zentimeter dieser Mauer, jeden Riss im Mörtel, jedes Quietschen der Tore. Und ich hasse es.«

»Wieso hasst du es?« Jules lässt den Blick über die Stadt schweifen, die von der untergehenden Sonne in scharf abgegrenzte Licht- und Schattenflecken unterteilt wird. Für sie ist sie voller Wunder, klar strukturiert und gut befestigt. Alle Häuser wurden aus grauen Ziegeln und Holz errichtet. Die Stände auf dem Markt sind mit roten Stoffbahnen überdacht, deren Farbe so vielfältig ist wie das Warenangebot, je nachdem, wie stark sie im Laufe der Jahre ausgebleicht sind.

»Ich liebe Bastiansburg«, beteuert Emilia und springt zu Jules hinunter. »Aber ich hasse diese Mauer. Aufgrund unserer Gabe halten wir sie instand, einfach weil es unsere Art ist, stets auf alles vorbereitet zu sein. Aber seit wir den Nebel haben, braucht man keine Mauern mehr. So isoliert sie uns einfach nur.« Mit geballten Fäusten hämmert sie auf die Steine ein. »Bis wir irgendwann vergessen haben, dass es auf der Insel noch mehr gibt als nur uns. Die Mauer verleitet die Leute dazu, gleichgültig zu werden, faul in ihrem Gefühl der Sicherheit. Wen interessiert es schon, dass die Gabe sich immer weiter abschwächt? Wen interessiert es schon, dass wieder einmal eine Giftmischerin die Krone trägt?« Sie sieht zu, wie Jules mit dem Finger die Mauerfugen nachzieht. »In Wolfsquell gibt es vermutlich überhaupt keine Mauern.«

»Zumindest keine solchen.« Nur Holzzäune oder hübsch aufgestapelte Steine, mit denen die Grenzverläufe zwischen den einzelnen Höfen markiert werden. Über die kann jedes Pferd mühelos hinwegsetzen, mit genügend Anlauf sogar ein Mensch. »Als wir nach Indridskamm geritten sind, um Mirabella bei dem Duell gegen Katharine beizustehen, sind wir an den Überresten der ehemaligen Stadtmauer der Hauptstadt vorbeigekommen. Sie waren mit so vielen Flechten und Ranken überwuchert, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Etwas wie das hier gibt es sonst nirgendwo auf der Insel. Das ist nicht einmal mit dem Befestigungswall des Volroy zu vergleichen.«

»Angeblich gibt es in Sonnenmulde noch einen ganz anständigen Grenzwall«, seufzt Emilia. »Die Seher sind aber auch verdammt paranoid. Wirst du denn jetzt endlich tun, wofür du hergekommen bist, oder nicht?«

»Können wir zum Strand runtergehen?«

»Heute nicht, ich habe keine Späher vorgeschickt. Irgendwo in den Dünen könnten Leute unterwegs sein, die dich oder deine Katze erkennen und den Volroy benachrichtigen würden. Je länger die Giftmischerkönigin glaubt, du wärst noch bei ihren Schwestern auf dem Boot, desto besser.«

»Ja, je länger, desto besser.« Jules zieht eine silberne Schere aus ihrer Tasche. »Wie wäre es mit für immer?«

»Nichts hält ewig. Warum willst du eigentlich an den Strand runter?«

Langsam zieht Jules ihren langen braunen Zopf über die Schulter nach vorne.

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, um ihn ins Meer zu werfen.«

Emilia lacht laut auf.

»Sind alle Naturbegabten so sentimental?« Sie zeigt zu den roten und weißen Steinen hinunter. »Wirf ihn einfach irgendwohin. Die Seeschwalben werden sich einzelne Strähnen holen, um ihre Nester damit auszupolstern. Das müsste dir doch gefallen. Obwohl du es eigentlich gar nicht tun musst. Dieser Zopf ist so ziemlich das Letzte, was dich verrät. Viel eher werden es deine zweifarbigen Augen tun.« Mit einem Nicken zu Camden ergänzt sie: »Oder die da.«

»Ich werde Camden niemals wegschicken, du kannst dir deine Seitenhiebe also sparen«, faucht Jules.

»Das sind keine Seitenhiebe. Ich mag sie. Nur eine naturbegabte Kriegerin kann einen so wilden Tiervertrauten haben. Und jetzt mach endlich.«

Jules streicht über das Ende des Zopfes. Kurz fragt sie sich, wie lang Emilias schwarzes Haar wohl ist. Sie frisiert es immer auf dieselbe Weise: in zwei eng gedrehten Knoten weit unten im Nacken.

Schnell legt sie den Zopf zwischen die Scherenklingen, die sie knapp unterhalb des Kinns platziert. Arsinoe hat das früher auch immer getan. Jedes Jahr hat sie die nachwachsenden Haare abgesäbelt, um nur ja nicht dem eleganten, gepflegten Schönheitsideal zu entsprechen, das von einer Königin erwartet wurde. Einmal wurde das Ganze so schief, dass es hinterher aussah, als würde ihr Kopf schief hängen. Ihre Arsinoe. Bestimmt wäre sie jetzt stolz.

Jules holt noch einmal tief Luft, dann schneidet sie den Zopf ab und schleudert ihn so weit wie möglich auf das Meer hinaus, auf dem ihre Freundin davongesegelt ist.

Das Haus der Familie Vatros liegt im südöstlichen Teil der Stadt, dicht an die Mauer geschmiegt. Es ist groß, verfügt über mehrere Stockwerke und viele, mit braunen Läden versehene Fenster. Die Dachschindeln leuchten in tiefem Rot. Und es ist alt, manche Teile sogar so alt, dass sie aus denselben grauen Steinen erbaut wurden wie die Stadtmauer. Die neueren Anbauten hingegen sind weiß. Es gehört zu den prächtigsten Häusern in Bastiansburg, die für Jules allerdings alle sehr schön aussehen. Schließlich ist sie eher an Holzhütten gewöhnt, deren Farbe durch die feuchte, salzige Meerluft ausgebleicht wurde. Auch wenn die Kriegergabe im Laufe der Jahrhunderte an Kraft verloren hat, gibt man sich hier alle Mühe, es nicht danach aussehen zu lassen. Erst bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass das Mauerwerk an vielen Stellen geflickt ist – genau wie die Kleidung der Bewohner.

»Angriff mit halber Kraft.«

Emilia lässt den Kampfstock herumwirbeln. Eine klug konstruierte Waffe: Der feste, gut geölte Holzstab lässt sich im Handumdrehen auseinandernehmen und so in zwei kürzere Stöcke aufteilen, mit denen man beidhändig angreifen kann.

Jules gehorcht, auch wenn der Stock schwer in ihren ungeschickten Händen liegt. Doch es gelingen ihr zwei Tiefschläge, die auf Emilias Beine abzielen, bevor sie deren Angriffe abblocken und schließlich ausweichen muss, als die Waffe auf ihre Brust zielt. Das knappe Nicken ist die einzige Form von Lob, die von Emilia zu erwarten ist.

»Du verlangst nie, dass ich meine Kriegergabe einsetze«, stellt Jules fest. »Und du sagst mir auch nie, wann ich das am besten tun sollte.«

»Du wirst sie einsetzen, wenn du so weit bist.« Emilia zerlegt ihren Kampfstab. »Und dann wirst du es auch wissen.« Sie greift wieder an, noch immer mit reduzierter Geschwindigkeit, aber selbst so sind Jules’ Arme nicht schnell genug. Mit einem lauten Knall prallen die Stöcke aufeinander.

»Obwohl sie sich natürlich leichter zeigen würde, wenn du deine Mutter dazu bringst, die Bindung aufzuheben.«

Jules lässt ihre Waffe sinken, dehnt kurz die Finger und schiebt sich die Haare hinter die Ohren. Als sie sich von ihrem Zopf getrennt hat, sind sie etwas zu kurz geworden, sodass sie sich jetzt nicht mehr ganz zusammenbinden lassen. Das gefällt ihr nicht. Camden auch nicht. Die Berglöwin leckt abends im Bett immer über ihre Haare, als könnten sie so wieder zu einem Zopf zusammengeklebt werden.

»Hör auf, mich damit zu nerven«, knurrt Jules.

»Ist doch nur Spaß.«

Aber das stimmt nicht. Zumindest nicht ganz. Jules reibt sich das vom Gift geschwächte Bein, das wieder einmal schmerzt. Egal, ob mit oder ohne Gabe, aufgrund dieser alten Verletzung wird aus ihr vielleicht niemals die Kriegerin werden, die Emilia sich erhofft.

»Komm schon«, fordert die. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Sie stellen sich für die nächste Runde auf. Nein, den ganzen Tag haben sie nicht zur Verfügung, aber doch einen Großteil davon. Hell und heiß brennt die Nachmittagssonne auf Jules herab. Emilias dunkle Haare glänzen wie ein Spiegel; bei ihrem Geschick im Kampf wird sie sicher bald herausfinden, wie sie Jules damit blenden kann.

Während sie sich umkreisen, huscht Jules’ Blick kurz zu dem einzigen Baum hier in dem krude ummauerten Innenhof hinüber. Seine Krone ist nicht so dicht, wie sie es im Hochsommer sein könnte und sollte. Das könnte sie problemlos ändern und innerhalb von Sekunden jede Menge Blätter sprießen lassen. Dann hätten sie etwas Schatten, was Emilia vielleicht lange genug ablenken würde, damit Jules einen anständigen Treffer landen kann.

»Es stimmt, ich verlange nie, dass du deine Kriegergabe einsetzt«, nimmt Emilia den Faden wieder auf, sodass Jules sich ihr zuwendet. »Aber du setzt auch nie deine Naturbegabtentalente ein. Wieso nicht? Meinst du, andere Gaben wären bei uns nicht gern gesehen?«

Sie schlägt zweimal zu, beide Angriffe kann Jules abwehren.

»Eigentlich nicht.«

»Eigentlich nicht«, wiederholt Emilia betont. »Normalerweise nicht, meinst du. Aber bei dir schon, wegen des Fluches der Pluralität.« Mit einer mühelosen Bewegung schwingt sie ihren Stab gegen Jules’ Stirn. Hinter ihr stößt Camden ein leises Grollen aus.

»Kannst du mir das verdenken?«, wehrt sich Jules. »Sogar meine eigene Familie hatte Angst vor dem Fluch. Die Bewohner meiner Heimatstadt haben sich deswegen von mir abgewandt. Ich begreife immer noch nicht, warum du und die Krieger es nicht tun.«

»Wir sehen darüber hinweg, weil du Erstaunliches geleistet hast. Und noch viel Größeres leisten wirst. Du hast der schwächlichen Königin Kraft gegeben.« Als Jules wütend die Augen zusammenkneift, fügt sie schnell hinzu: »Arsinoe. Und selbst in gebundenem Zustand ist deine Kriegergabe ebenso stark wie meine. Du könntest sie hier und jetzt einsetzen. Könntest meine Waffe beiseiteschlagen, wenn du es wolltest. Wenn du dich traust.«

Ein konzentriertes Funkeln tritt in Emilias Augen, und ohne Vorwarnung geht sie auf Jules los. Mit voller Kraft und ungedrosselter Geschwindigkeit treibt sie Jules vor sich her, nutzt ihre antrainierten Fähigkeiten, um sie so lange zu bedrängen, bis ihr die Knie zittern. Als ihre Fersen hektisch über den Kiesweg rutschen, regt sich leiser Zorn in Jules.

Sie weicht aus und wirbelt herum, während Emilia weiter angreift. Dann wartet sie ab, bis sie genau richtig steht und Emilia sich so dreht, dass sie Camden aus den Augen verliert.

Jules schlägt mit aller Kraft zu, gleichzeitig katapultiert sich Camden in die Höhe. Die Raubkatze hat bereits in Lauerstellung gewartet und reißt Emilia nun von den Füßen, sodass sie auf dem Rasen landet.

»Autsch!«, ächzt Emilia und rollt sich auf den Rücken, sodass sie Jules und die Berglöwin sehen kann, die stumm auf sie herabblicken. Einen Moment lang presst sie die Kiefer aufeinander, und trotz ihrer Sonnenbräune färben sich ihre Wangen rot. Dann lacht sie. »Alles klar.« Liebevoll packt sie Camdens Fell und klopft ihr den Brustkorb. »Solange du sie hast, brauchst du keine Kriegergabe.«

Emilia wirft Jules einen der leichten roten Umhänge zu, die sonst von den Dienstboten getragen werden.

»Wo gehen wir hin?«, erkundigt sich Jules. Nachdem sie den ganzen Nachmittag trainiert haben, steht ihr eigentlich nicht der Sinn danach, noch einmal wegzugehen. Viel lieber beschränkt sie sich auf eine Schüssel mit heißem Eintopf und ihr gemütliches Bett.

»Drüben im Gasthaus tritt momentan eine Bardin auf. Vater hat mir erzählt, dass sie das Lied von Königin Aethiel kennt, das würde ich mir gerne anhören.«

»Kannst du nicht ohne uns gehen? Ich würde bestimmt nur über meinem Bier einschlafen, und ich möchte die Bardin nicht beleidigen.«

»Nein, ich kann nicht ohne dich gehen«, erwidert Emilia. »Aber Camden bleibt natürlich hier. Dort sind zu viele Menschen, denen wir nicht trauen können. Wir bringen ihr stattdessen eine schöne, fette Lammhaxe mit.«

Camden hebt gerade mal lange genug den Kopf von den Pfoten, um ausgiebig zu gähnen. Eine Lammhaxe und ein ruhiges Plätzchen sind ihr im Moment gerade recht.

Während Jules an Emilias Seite durch die Stadt läuft, zieht sie sich die Kapuze des Umhangs möglichst weit in die Stirn, um ihre Augen zu verbergen. So ziemlich alle Passanten grüßen Emilia im Vorbeigehen, entweder mit einem Nicken, oder indem sie den Blick senken. Die älteste Tochter des Hauses Vatros ist in der ganzen Stadt bekannt und wird allein schon an der Haltung ihres Kopfes oder dem energischen Schritt erkannt. Man verehrt sie hier, fast so wie Jules in Wolfsquell verehrt wurde, bevor die Sache mit dem Fluch bekannt wurde. Würde sie heute dorthin zurückkehren, würden dieselben Menschen sie in Fesseln legen und nach Indridskamm schleifen.

Als sie das Gasthaus erreichen, ist es schon ziemlich voll und die Bardin hat bereits angefangen. Emilia runzelt irritiert die Stirn. Aber die langen, größtenteils gesprochenen Lieder ziehen sich meist bis tief in die Nacht hin, mit wechselndem Publikum, da viele nur so lange bleiben, bis sie ihre Lieblingsstellen gehört haben.

»Das ist nicht einmal das Lied über Aethiel«, stellt Emilia fest. »Es ist die Rüstungsstrophe des Liedes über Königin Philomene, die ist endlos lang. Ich hole uns erstmal ein Bier und etwas zu essen.«

In dem warmen Gastraum streift Jules ihre Kapuze ab. Hier achtet sowieso niemand auf sie, alle sehen zu der Bardin hinüber, die in einer goldbestickten Tunika neben dem Kamin steht. Die Frau ist jünger als alle Barden, die Jules je gesehen hat, allerdings waren das auch nicht viele. Nach Wolfsquell hat sich kaum mal einer verirrt, vermutlich weil sie es leid waren, jeden Abend immer nur das Lied über Königin Bernadine und ihren Wolf zu singen. Die Bardin hier trägt einen leichten Mantel, ähnlich dem roten Umhang, den Jules übergestreift hat. Mit melodiöser Stimme rezitiert sie die Strophe, in der es nur um Rüstzeug geht: Beinschienen, Messer, Lederpanzer – Stück für Stück wird die Kriegerkönigin aus alten Zeiten für die Schlacht eingekleidet.

Jules entdeckt ganz hinten an der Wand einen freien Tisch und setzt sich. Als Emilia schließlich mit zwei Gläsern Bier zu ihr stößt, ist die Bardin bei der Beschreibung der unbezähmbaren Armee der Königin angekommen.

»Was gibt es zu essen?«, will Jules wissen.

»Lammhaxe, wie ich bereits sagte. Mit gekochtem Gemüse. Wir essen, bis wir satt sind, und bringen den Rest dann deinem Kätzchen mit.« Emilia sieht sich kurz im Raum um, bevor sie sich auf die Bardin konzentriert. »Wenn sie in dem Tempo weitermacht, schafft sie Aethiel auf keinen Fall. Vielleicht können wir sie an unseren Tisch holen, wenn sie eine Essenspause macht, und kriegen so ein paar Verse zu hören.«

»Oder du wartest einfach ab. Immerhin wird sie so lange in der Stadt bleiben, wie es Menschen gibt, die sie bezahlen können. Außerdem will ich nicht, dass sie in meine Nähe kommt. Barden reisen über die ganze Insel, sie könnte mich erkennen.«

»Selbst wenn, würde sie nichts sagen. Barden sind ein erstaunlich verschwiegenes Völkchen, auch wenn sie die ganze Zeit sprechen.«

»Woher weißt du das?«

Emilia zieht die Augenbrauen hoch. »Na ja, bislang musste ich noch nie einem die Zunge rausschneiden.«

Das Essen wird serviert, eine große Platte mit einer ganzen Lammhaxe auf Gemüsebett mit Bratkartoffeln.

»Danke, Benji.« Emilia nickt dem blonden Jungen zu, der eines Tages das Gasthaus übernehmen wird.

»Eine ganze Haxe für zwei«, stellt der fest. »Hätte nie gedacht, dass so ein kleines Persönchen einen solchen Appetit hat.«

Jules sieht kurz hoch und stellt fest, dass er sie offen anlächelt. Schnell senkt sie wieder den Blick.

»Mein Magen ist alles andere als klein«, antwortet sie.

»Na dann, lasst es euch schmecken. Ich bringe euch noch Bier.«

»Er interessiert sich für dich«, resümiert Emilia, doch Jules reagiert nicht. Sie ist keine sehr angenehme Gesellschaft, tut so, als würde sie der Bardin zuhören, und redet nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Vermutlich ist sie schon seit ihrer Ankunft hier in Bastiansburg so ein Trauerkloß. Aber es ist eben schwer, fröhlich zu sein, wenn sie bei jeder Mahlzeit an Arsinoe denken muss, deren Appetit fast schon legendär war. Und wenn jeder Junge mit einem verschmitzten Grinsen sie an Joseph erinnert, bis ihr dann wieder einfällt, dass er ja tot ist.

Als sie sich zwingt, wieder zu der Bardin hinüberzuschauen, stellt sie fest, dass die Frau ihr direkt ins Gesicht sieht, während sie gerade den Überfall auf die niedergebrannte Stadt beschreibt. Wütend starrt Jules zurück, obwohl sie gar nicht weiß, was sie eigentlich so reizt. Dann wendet die Frau ganz leicht den Kopf, und Jules bemerkt die breite weiße Strähne in ihrem Haar, die zu einem kleinen Zopf geflochten ist. Wie ein eisiger Fluss blitzt er zwischen ihren blonden Locken auf.

Weiße Strähnen dieser Art sind das bekannteste Merkmal der Seher.

»Das ist nicht nur irgendeine Bardin«, flüstert sie. »Emilia, was hast du vor?«

Emilia streitet es nicht einmal ab, sie ist sich keiner Schuld bewusst.

»Zwischen Kriegern und Sehern gab es schon immer eine starke Verbindung. Deshalb wussten wir auch, wann wir euch beim Duell der Königinnen zu Hilfe kommen mussten. Und nun werden wir herausfinden, was die Göttin mit dir vorhat. Was denn? Hast du etwa gedacht, wir würden dich einfach bis in alle Ewigkeit hier verstecken? Wie eine Gefangene?«

Jules beobachtet, wie die Bardin sich mit einer Verbeugung von ihrem Publikum verabschiedet, um etwas zu essen und ein wenig Wein zu trinken. »Du hast doch gesagt, ich wäre euch willkommen, solange es nötig ist«, murmelt Jules.

Die Bardin bleibt vor ihrem Tisch stehen.

»Emilia Vatros, es freut mich, dich wiederzusehen.«

»Ebenfalls, Mathilde. Bitte, setz dich doch. Iss und trink mit uns. Wie du siehst, haben wir mehr als genug.«

»Ihr kennt euch sogar«, stellt Jules fest, als Mathilde Platz nimmt. Aus der Nähe ist die Frau noch schöner: höchstens zwanzig, mit dichten blonden Locken. Der weiße Zopf darin ist so auffällig, dass Jules sich fragt, warum sie ihn nicht sofort bemerkt hat.

Emilia zieht ein Messer aus dem Gürtel und schneidet eine dicke Fleischscheibe von der Haxe, um sie dann zusammen mit Gemüse und Kartoffeln auf einen Teller zu schieben. Benji taucht mit einem Krug Bier und einem dritten Glas auf.

»Ich hätte gerne auch etwas Wein«, sagt Mathilde zu ihm, was er mit einem Nicken registriert, bevor er wieder geht. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Juillenne Milone.«

»Ach ja?« Jules bleibt misstrauisch.

»Ja. Aber warum siehst du mich so an, als würdest du mich verabscheuen? Wir haben ja noch kaum ein Wort miteinander gewechselt.«

»Heutzutage traue ich niemandem mehr. Hatte ein schlechtes Jahr.« An Emilia gewandt fügt sie hinzu: »Und sie brüllt meinen Namen laut heraus.«

Emilia und Mathilde sehen sich gelassen an. Wenn doch nur Camden da wäre, um ihnen eine zu verpassen!

»Mir ist klar, dass wir vorsichtig sein müssen«, erklärt Mathilde. »Und mir ist ebenso klar, dass deine Abneigung gegen Seher durch die Prophezeiung bei deiner Geburt hervorgerufen wurde, die den Fluch der Pluralität vorhersah. Aber diese Prophezeiung hat sich doch als wahr erwiesen, oder nicht?«

»Dass ich mit dem Fluch geschlagen bin, schon. Aber angeblich hat diese Seherin auch gesagt, man solle mich ertränken. Und das hat sich nicht bewahrheitet.«

Mathilde zieht stumm die Augenbrauen hoch und neigt leicht den Kopf. Fast als wollte sie sagen: Mag sein. Oder auch: Noch nicht. »Und sonst hast du nichts weiter gehört?«

»Was gibt es denn sonst noch?«

»Die Details der Vorzeichen kannten wir nicht. Durch die Augen eines anderen Sehers sehen wir nur den trüben Fluch.«

»Dann hast du sie also nicht gekannt?«, hakt Emilia nach. »Die Seherin, die bei Jules’ Geburt die Knochen geworfen hat?«

»Ich war noch ein Kind, als Jules geboren wurde. Falls ich ihr in Sonnenmulde mal begegnet bin, so kann ich mich nicht daran erinnern. Was heutzutage wohl für die meisten gelten dürfte. Denn diese Seherin ist damals nicht zurückgekehrt.«

»Was soll das heißen?«, faucht Jules.

»Dass deine Familie die Wahrheit wirklich tief begraben hat.«

Dass sie die Seherin umgebracht haben, will Mathilde damit sagen. Aber Seherin hin oder her, wirklich wissen kann sie es nicht. Das ist bloß eine Vermutung. Eine Unterstellung. Und Jules will sich gar nicht vorstellen, dass Oma Cait, Ellis oder sogar Madrigal einem alten Orakel den Schädel einschlagen könnten.

»Und wie sieht die Wahrheit über mich heute aus? Bist du nicht deswegen hier? Um uns das zu verraten?«

Mathilde nimmt sich ein Stück Fleisch von ihrem Teller. Das Lamm ist so zart, dass man es nicht einmal schneiden muss. Trotzdem scheint es ewig zu dauern, bis sie den Bissen zerkaut hat. Während sie auf eine Antwort wartet, schwört sich Jules, dass sie kein Wort glauben wird, das aus dem Mund der Seherin kommt. Gleichzeitig hofft sie auf eine Vision, auf Neuigkeiten von Arsinoe und Billy, darüber, wie es ihnen auf dem Festland ergeht. Ist Arsinoe dort glücklich? Ist sie in Sicherheit? Haben sie Joseph anständig bestatten können? Ihr scheint es eine Ewigkeit her zu sein, dass sie sich von ihnen getrennt und sie auf dem Boot kurz vor dem Festland zurückgelassen hat. Der Tag, an dem der Nebel von Fennbirn sie wieder verschluckt und zusammen mit Camden nach Hause gebracht hat.

Selbst Neuigkeiten von Mirabella wären ihr jetzt recht.

»Die Wahrheit über dich liegt noch in der Zukunft«, sagt Mathilde schließlich. »Ich weiß nur, dass du einst Königin warst und es wieder sein könntest. Diese Worte sind wie ein Lied in meinem Kopf aufgetaucht, als ich dich sah.«

Festland

Sobald die Glocke ertönt, hechten die Pferde über die Startlinie und preschen mit trommelnden Hufen los. Arsinoe klammert sich an das Geländer vor ihrem Sitz, sie hängt beinahe quer darüber, als die Tiere mit fliegenden Schweifen vorbeidonnern. Auf jedem der prächtigen Rennpferde klammert sich ein kleiner Mann fest, als ginge es um sein Leben.

»Da kommen sie!«, brüllt sie. »Jetzt biegen sie ein zum … dieses letzte Stück, von dem du gesprochen hast …«

»Auf die Zielgerade.« Billy packt sie lachend am Kleid. »Und jetzt komm da runter, bevor du noch in die Reihe unter uns fällst.«

Seufzend stellt sich Arsinoe wieder auf den Boden. Doch sie ist nicht die Einzige, die es von ihrem Platz gerissen hat: Viele andere sind ebenfalls aufgestanden, um zu applaudieren oder sich diese praktischen kleinen Vergrößerungsgläser vor die Augen zu halten. Sogar Mirabella steht und drängt sich in der Aufregung von der anderen Seite so eng an Billy, dass der zwischen den beiden Schwestern kaum noch Luft bekommt.

»Auch wenn es spannend ist«, stellt Arsinoe fest, »macht es dort unten direkt an der Bahn bestimmt noch mehr Spaß.« Mit einem tiefen Atemzug nimmt sie den Duft von gerösteten Kastanien in sich auf, und prompt fängt ihr Magen an zu knurren.

»Dort ist die Sicht vermutlich nicht so gut«, widerspricht Mirabella, was Billy nickend bestätigt. Sein Vater zahlt jedes Jahr viel Geld für diese schönen Plätze, zumindest hat er ihnen das auf dem Weg hierher gesagt.

»Und wie wäre es dann auf dem Pferderücken?«

»Frauen dürfen nicht mitreiten«, erklärt Billy, was Arsinoe mit einem gereizten Stirnrunzeln quittiert. Die müssten nur einmal Jules auf einem Pferd sehen, dann würden sie ihre Meinung sofort ändern. Die kleine, drahtige Jules lenkt ihr Pferd selbst in einer dichten Herde so geschickt, als wäre sie mit ihm verschmolzen.